Madame le Commissaire und die tote Nonne

Pierre Martin

Madame le
Commissaire
und die tote Nonne

Kriminalroman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Pierre Martin

Hinter dem Pseudonym Pierre Martin verbirgt sich ein Autor, der sich mit Romanen, die in Frankreich und in Italien spielen, einen Namen gemacht hat. Für seine Hauptfigur Madame le Commissaire hat er sich eine neue Identität zugelegt.

 

Von Pierre Martin sind im Knaur Taschenbuch folgende Titel erschienen:
Madame le Commissaire und der verschwundene Engländer
Madame le Commissaire und die späte Rache
Madame le Commissaire und der Tod des Polizeichefs
Madame le Commissaire und das geheimnisvolle Bild
Madame le Commissaire und die tote Nonne
Madame le Commissaire und der tote Liebhaber
Madame le Commissaire und die Frau ohne Gedächtnis
Madame le Commissaire und die panische Diva

Impressum

© 2018 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Dr. Gisela Menza

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: Arcangel Images/Roberto Pastrovicchio; Arcangel Images/Beatrice Preve; FinePic/shutterstock

ISBN 978-3-426-45082-6

1

Es hörte sich einfach an und war doch so schwer: Vivre le moment présent! Nicht an die Vergangenheit denken, auch nicht an die Zukunft, sich vielmehr ganz auf den Augenblick besinnen. Isabelle, die mit geschlossenen Augen im Schatten einer Pinie saß, lächelte leise vor sich hin. Das Hier und Jetzt zu genießen war eine hohe Kunst, die sie erst üben musste. In ihrem früheren Beruf war sie darauf trainiert gewesen, der Gegenwart immer einen entscheidenden Schritt voraus zu sein. Die permanente Anspannung hatte sie geprägt. Im Augenblick zu leben, sich gar an ihm zu erfreuen, das hatte sie nie gelernt, weder im Beruf noch privat.

Aber sie machte Fortschritte. Vivre le moment présent! Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und glaubte das Salz des nahen Meeres zu schmecken. Es roch nach Eukalyptus und Piniennadeln. War das der Duft von Zedernholz? Sie hörte das Gelächter von Kindern, sogar das Gezwitscher eines Vogels.

Isabelle zwang sich, die Augen geschlossen zu halten. Ihr altes Leben war vorbei, es drohte keine Gefahr, von nirgendwo, von niemandem.

O ja, sie hatte viel dazugelernt, seit sie in der Provence lebte. Vor allem hatte sie vieles verlernt, was fast noch wichtiger war. Zum Beispiel fortwährend ihre Umgebung zu observieren oder …

»Hallo, Isabelle, aufwachen!«

Sie öffnete die Augen und blinzelte. Vor ihr stand ihre Freundin Jacqueline. Sie hatte sie nicht kommen hören. Das wäre ihr früher nicht passiert. Auch das war ein gutes Zeichen.

Jacqueline hielt zwei Weingläser in den Händen. »Rosé, schön kühl.« Sie setzte sich zu Isabelle an einen kleinen Gartentisch und hob ihr Glas. »Ich gratuliere.«

»Gratulieren? Wozu?«

»Zu deiner Entscheidung, Paris adieu zu sagen, um fortan im Süden zu leben. Ich verstehe dich mit jeder Minute besser.«

Isabelle schmunzelte. »Oui, c’est pas mal. Man kann sich daran gewöhnen.«

»Du hast es verdient, nach allem, was geschehen ist.«

»Wenn du meinst. Santé!«

Ihr schoss durch den Kopf, dass sie nie und nimmer ihren alten Job aufgegeben hätte, wäre nicht am Arc de Triomphe eine Bombe explodiert. Sie wäre bei diesem Attentat fast ums Leben gekommen. Unter dem Tisch ballte sie eine Hand zur Faust. Verdammt, jetzt dachte sie doch an die Vergangenheit. Vivre le moment présent! Warum war das so schwer?

»Lieb, dass du mit mir hergefahren bist«, sagte Jacqueline. »Ich weiß, dass du es eigentlich gar nicht so mit Pflanzen hast.«

Nun, da hatte sie recht. Aber auch auf diesem Gebiet machte sie Fortschritte. Außerdem war Jacqueline nur für wenige Tage zu Besuch, da wollte sie ihr jeden Wunsch erfüllen.

»Kein Problem, es gefällt mir hier.«

Das war nicht gelogen. Es gefiel ihr wirklich hier, zu ihrer eigenen Überraschung.

Sie saßen auf der Terrasse des Café La Ferme, einem ehemaligen Gärtnerhaus inmitten der Domaine du Rayol. Die botanischen Gärten gingen auf eine private Gründung Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. In Canadel-sur-Mer direkt am Meer gelegen, waren sie später in Vergessenheit geraten und der Verwahrlosung anheimgefallen. Heute standen sie unter Naturschutz und boten auf über zwanzig Hektar eine unvergleichliche Vielfalt mediterraner Pflanzen aus aller Welt. Es gab verschiedene Gebäude, die nicht im besten Zustand waren, aber gerade deshalb einen morbiden Charme ausstrahlten, darunter das einfache Gärtner-Café La Ferme, vor dem sie gerade saßen. Gleich dahinter wuchsen Agaven, Yuccas und riesige Säulenkakteen. Jacqueline, die ein Faible für exotische Gewächse hatte, schien im Glück. Schon auf ihrem bisherigen Rundgang hatte sie fortwährend fotografiert. So würde es gleich weitergehen, auch mit ihren botanischen Erläuterungen, die Isabelle geduldig ertrug. Manche waren sogar interessant.

In den botanischen Gärten von Rayol vergaß man schnell die Nähe zu den schicken und mondänen Plätzen der Côte d’Azur. Man glaubte sich in einer anderen, entschleunigten Welt. Das war ausgesprochen wohltuend – aber wie sich gleich zeigen sollte, eine Illusion, denn plötzlich war eine Sirene zu hören. Dann hetzten Sanitäter mit Notfallkoffern vorbei. Wenig später folgten Polizisten in Uniform. Einige kamen wieder zurück, weil sie sich im Gewirr der Pfade verlaufen hatten, und schlugen einen neuen Weg ein.

»Da ist was passiert«, stellte Jacqueline fest.

Wohl wahr. Aber das war kein Grund, nicht in aller Ruhe den Rosé auszutrinken. Bald saßen sie alleine im Café La Ferme. Alle anderen Gäste waren von Neugier getrieben aufgestanden, um den Sanitätern und Polizisten zu folgen.

»Komm, wir gehen in die andere Richtung«, schlug Isabelle vor, »da haben wir den Park für uns alleine.«

»Gute Idee. Irgendwo da vorne muss der frühere Obstgarten sein.«

 

Zwanzig Minuten später näherten sie sich dem Steilufer, wo es mit der beschaulichen Ruhe vorbei war. Es schien, als ob sich alle Besucher der Rayol-Gärten hier versammelt hätten. Jacqueline ließ sich von der Neugier anstecken und drängelte nach vorne. Sie gab Isabelle ein Zeichen, ihr zu folgen, was diese nur widerstrebend tat, denn sie hasste Menschenansammlungen. Unter einer weit ausladenden Aleppokiefer befand sich ein Zaun. Von dort konnte man hinunter auf die Klippen blicken. Wenn man sich weit vorbeugte, sah man nicht nur die Polizisten und Sanitäter, sondern …

Jacqueline hielt sich erschrocken eine Hand vor den Mund. Isabelle war weniger zart besaitet. Sie fand sogar, dass das dargebotene Bild eine gewisse ästhetische Qualität hatte. Auf den rötlichen Felsen, an denen das Meer anbrandete, lag wie hingebettet eine regungslose Frau – in der Ordenstracht einer Nonne. Wie auf einem Gemälde. Nur tragisch, dass sie ganz offensichtlich tot war.

Jacqueline gab Isabelle einen Stoß. »Komm, das schauen wir uns genauer an.«

Isabelle zögerte. »Warum?«

»Eine Leiche, das fällt doch in deinen Zuständigkeitsbereich.«

»Nein, ganz sicher nicht.«

»Sei kein Frosch. Da liegt eine tote Nonne, da können wir doch nicht einfach weitergehen und uns exotische Pflanzen anschauen.«

Genau das sollten sie tun, dachte Isabelle. Sie sah Jacqueline zweifelnd an. Aber wenn es ihr Wunsch war, warum nicht?

»Wie du meinst. Dann komm mal mit.«

Links neben dem Zaun war eine Lücke. Isabelle zwängte sich durch. Jacqueline folgte ihr. Sie hielten sich an Macchia-Büschen fest und kletterten nach unten.

Aufgeregt stellte sich ihnen ein junger Polizist in den Weg.

»Das ist polizeiliches Sperrgebiet«, blaffte er sie an. »Schaulustige haben hier nichts zu suchen. Machen Sie sofort, dass Sie wegkommen!«

Isabelle zeigte ihm wortlos ihren Dienstausweis.

Der Polizist riss die Augen auf. »Oh, pardon, Madame le Commissaire«, stammelte er, »ich konnte ja nicht ahnen, äh, bitte entschuldigen Sie.«

»Kein Problem, Sie machen nur Ihren Job. Ich kann Gaffer selber nicht ausstehen. Was ist passiert?«

Er deutete über die Schulter. »Eine tote Nonne.«

Nun, das war unschwer zu erkennen, auch ohne seine Hilfe.

»Wie ist sie zu Tode gekommen?«

»Vermutlich ausgerutscht und unglücklich gestürzt. Jede Hilfe kam zu spät. Mehr weiß ich nicht, die Ermittlungen leitet Sergent Poullin. Er steht da unten.«

»Ich sehe ihn, bitte lassen Sie mich vorbei.«

»Selbstverständlich, Madame le Commissaire. Bitte vergeben Sie mir meine Ungeschicklichkeit.« Er hüstelte verlegen und deutete auf Jacqueline. »Aber Ihre Begleitung darf nicht mit, das verstehen Sie sicher.«

Isabelle konnte nicht anders, sie musste lächeln. »Lieber Kollege«, sagte sie, »Sie sollten denselben Fehler nie zweimal machen.«

Schon hielt ihm Jacqueline ihren Ausweis der Police nationale unter die Nase. Der war von Maurice Balancourt persönlich ausgestellt und trug die Unterschrift des Innenministers. Der junge Polizist bekam ein rotes Gesicht und kam ins Straucheln.

Isabelle hielt ihn fest. »Vorsicht, ein Opfer reicht für heute.«

 

Sergent Poullin kannte Isabelle und begrüßte sie freundlich, wenn auch sichtlich irritiert. Mit ihrem Auftauchen hatte er nicht gerechnet. Ob man sie benachrichtigt habe, wollte er wissen. Um sich dann gleich selbst die Antwort zu geben, dass das wohl kaum sein könne. Erstens nicht in der Kürze der Zeit, und zweitens handle es sich hier um keinen Kriminalfall, sondern um einen stinknormalen, wenn auch äußerst unglücklichen Unfall.

Isabelle antwortete, dass sie privat hier sei, um sich die Gärten von Rayol anzusehen, zusammen mit einer Kollegin aus Paris.

Sergent Poullin zündete sich erleichtert eine Zigarette an.

Sie konnte sich denken, was in seinem Kopf vorging. Das Auftauchen einer Kommissarin, die für ihre unkonventionelle Art bekannt war und dafür, dass sie ihre Anweisungen von höchster Stelle in Paris erhielt, verhieß nichts Gutes. So etwas konnte einem den schönsten Tag vermiesen.

Poullin deutete mit der Zigarette nach oben, wo einige niedrige Büsche über den steilen Felsabbruch rankten. »Dort hat sich die Ordensschwester zu weit vorgewagt, dann hat sie den Halt verloren und ist in die Tiefe gestürzt.«

Jacqueline flüsterte: »Quelle tragédie!«

Er runzelte die Stirn. »Nonnen mögen sich für Engel halten, können aber nicht fliegen.«

Isabelle fand das nicht witzig, verkniff sich aber eine Bemerkung.

»Warum hat sie sich dieser Gefahr ausgesetzt?«, fragte Jacqueline. »Die Nonne muss ja zunächst durch die Lücke neben dem Zaun gestiegen sein.«

»Ja, genau das hat sie getan. Zeugen haben sie dabei beobachtet und sich sehr gewundert.« Poullin blickte erneut nach oben. »Ich muss schon sagen, um dort rumzuturnen, braucht es viel Gottvertrauen.«

Jacqueline nickte. »Bleibt die Frage nach ihrem Beweggrund.«

Isabelle musste lächeln. Ihre Freundin war ganz schön hartnäckig.

»Ganz einfach, dort oben wachsen seltene Heilkräuter. Die Nonne hat sie gesammelt.« Er deutete auf ein Leinensäckchen, das neben der Toten lag. »Ein Gärtner des Parks hat sich den Inhalt gerade angeschaut. Die Nonne hat die Pflanzen mitsamt den Wurzeln ausgegraben. Das ist natürlich verboten.« Er räusperte sich und grinste schief. »Kleine Sünden straft der liebe Gott sofort.«

Isabelle ging zur toten Nonne, blieb vor ihr stehen und betrachtete sie. Die Frau lag auf dem Rücken. Ihre Kopfbedeckung war verrutscht, man sah ihre kurz geschnittenen brünetten Haare. Sie war noch jung und hatte ein hübsches Gesicht. Irgendwas störte Isabelle bei ihrem Anblick, aber sie konnte nicht sagen, was es war. Der blutverschmierte Mund war es nicht. Jedenfalls nicht allein.

Hatte sie erwartet, dass eine Ordensschwester, die ihr Leben Gott geweiht hat, im Tod selig lächelte und die Hände zum Gebet gefaltet hielt? Nein, natürlich nicht. Was war es dann?

»Das ist nicht exakt die Position, in der man sie gefunden hat, richtig?«

Sergent Poullin schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Die Sanitäter haben versucht, sie wiederzubeleben. Aber nur kurz, dann haben sie es aufgegeben.«

»Konnten Sie ihre Identität feststellen?«, fragte Isabelle.

»Noch nicht, sie hat keine Ausweispapiere bei sich.« Poullin zuckte mit den Schultern. »Wird aber nicht schwierig sein. Ist nur eine Frage der Zeit, bis eine Vermisstenmeldung eintrudelt. Außerdem war vorhin ein Presseheini da, der hat Fotos gemacht. Morgen steht’s in der Zeitung. Spätestens dann wird sich jemand melden.«

»Gibt bestimmt eine schöne Überschrift«, stellte Jacqueline fest.

Sie hatte wohl recht, dachte Isabelle. Schön im Sinne von geschmacklos.

»Ich frage mich, wie die Nonne zur Domaine gekommen ist«, überlegte sie laut.

»Keine Ahnung«, antwortete Poullin. »In Canadel-sur-Mer gibt’s eine Bushaltestelle.«

»Wer hat die Nonne entdeckt?«

»Ein älteres Ehepaar aus Belgien beim Fotografieren.« Poullin zog an seiner Zigarette und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Warum stellen Sie all diese Fragen?«

Ja, warum fragte sie? Es gab keinen Grund. Sie folgte nur der üblichen Routine, für die es hier zugegebenermaßen keinen Anlass gab. Die Nonne hatte Heilkräuter gesammelt, die oben am Klippenrand wuchsen. Sie war dabei beobachtet worden. Sie trug Sandalen mit glatten Sohlen. Ein tragisches Unglück, der Sergent hatte recht.

Sie rang sich ein Lächeln ab. »Berufsbedingte Neugier, die lässt sich nicht so einfach abstellen.«

Er schnippte die Zigarette in Richtung Meer. »Kann ich verstehen.« Wieder kniff er die Augen zusammen. »Und Sie sind ganz sicher nur zufällig hier?«

»Ja, und wir sind auch schon wieder weg. Wir wollen Sie nicht länger bei Ihrer Arbeit stören.«

»Sie stören nicht. Ich warte auf den Arzt, der muss überflüssigerweise ihren Tod feststellen. Dann kommt die Nonne in die Blechkiste und kann weg.«

Blechkiste? Ging’s noch geschmackloser? Isabelle mochte diese zynische Sprache nicht. Aber unter Polizisten war sie weit verbreitet, wohl aus Selbstschutz, um keine Emotionen an sich ranzulassen. Deshalb auch der makabre Humor. Wie war das doch gleich? Nonnen mögen sich für Engel halten, können aber nicht fliegen. Isabelle warf einen letzten Blick auf den Leichnam. Nein, fliegen konnte sie nicht, aber die Nonne hatte zumindest ein Antlitz wie ein Engel – wäre da nicht der blutverschmierte Mund.

2

Auf der Rückfahrt nach Fragolin, die sie von der Küste ins gebirgige Hinterland des Massif des Maures führte, hatten sie reichlich Zeit zu plaudern. Genau genommen war es vor allem Jacqueline, die fortwährend redete, während sich Isabelle zurückhielt und weitgehend aufs Zuhören beschränkte. Entspannt steuerte sie ihren privaten Renault über die enge Landstraße. Sie war sie schon so oft gefahren, dass sie jede Kurve auswendig kannte. Nur selten kam ein Auto entgegen, dann wurde es eng. Wer nicht aufpasste, geriet mit den Außenrädern in den Straßengraben. Das war nicht nur eine Frage des Augenmaßes, sondern auch der Nerven. Ihr war das noch nie passiert. Es stimmte eben nicht immer, dass der Klügere nachgab. Zumindest auf diesen Straßen war man da schnell der Dümmere.

»Mir hat der junge Polizist leidgetan«, sagte Jacqueline. »Fast hatte ich ein schlechtes Gewissen, als ich ihm meinen Dienstausweis unter die Nase gehalten habe.«

Isabelle lächelte, schaltete herunter und nahm die nächste Kurve.

»Warum? War doch lustig.«

»Er hat geglaubt, ich sei jemand ganz Wichtiges, dabei bin ich nur …«

»Du kennst doch Miss Moneypenny aus den James-Bond-Filmen«, fiel ihr Isabelle ins Wort. »Sie hütet beim britischen Geheimdienst MI6 das Vorzimmer von M. Du bist so was Ähnliches, nur dass dein Boss, der auch der meine ist, Maurice Balancourt heißt. Viel wichtiger geht’s doch nicht.«

»Stimmt schon, aber nicht, was meine Person betrifft. Apropos Maurice, ihm geht’s besser.«

»Nach seiner Gallenblasenoperation? Freut mich. Darf er schon wieder rauchen?«

»Noch nicht. Er muss für die nächsten Tage auf seine geliebten Zigarren verzichten.« Jacqueline zog eine Grimasse. »Aber das hält er nicht durch.«

»Kein Problem, er wird sich einfach über das Verbot hinwegsetzen.«

»Hoffentlich, denn ohne seine Zigarren ist er unausstehlich. Wie auch immer, morgen muss ich zurück. Der Alte kann jeden Tag wieder im Büro auftauchen. Schade, ich würde gerne noch bleiben.«

»Musst halt wiederkommen, bist immer herzlich eingeladen.«

»Das mach ich, versprochen.«

»Heute Abend feiern wir in Jacques’ Bistro deinen Abschied. Clodine kommt auch.«

»Und der Bürgermeister?«

Isabelle lächelte. »Thierry? Ja, ich denke, auch er wird sich die Ehre geben, ganz sicher sogar.«

Isabelle überholte einige Radfahrer, die sich den Berg hinaufquälten.

Sie merkte, dass Jacqueline sie von der Seite ansah.

»Na, wie kommt er damit klar?«, fragte ihre Freundin.

Sie wusste genau, worauf Jacqueline anspielte, stellte sich aber ahnungslos. »Womit?«

»Mit eurem Arrangement. Schließlich warst du noch vor zwei Wochen mit Rouven in der Karibik auf Saint-Barthélemy. Weiß Thierry davon?«

»Natürlich, aber wir reden nicht darüber. Jetzt bin ich ja wieder hier.«

Jacqueline lachte. »Du bist schon eine coole Socke. Hast zwei Männer gleichzeitig.«

»Nicht gleichzeitig, abwechselnd.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass das funktioniert.«

Isabelle warf ihr einen Blick zu und lächelte vieldeutig. »Ich auch nicht.«

Weitere Kommentare verkniff sie sich. Das Arrangement war ja tatsächlich sehr speziell – und der Ausgang blieb ungewiss. In Fragolin hatte sie eine Beziehung mit Thierry Blès, dem Bürgermeister. Und zwischendurch gönnte sie sich Auszeiten mit Rouven Mardrinac, einem milliardenschweren Bonvivant und Kunstsammler. Thierry und Rouven kannten sich und wussten voneinander. Rouven war ein entspannter Typ, der nahm das locker. Thierry dagegen war von Natur aus eifersüchtig und musste über seinen Schatten springen, um ihre kleinen Fluchten zu akzeptieren. Sie hatte erfahren, dass er heimlich in Therapie ging. Das war kein gutes Zeichen. Und sie selbst? Was war mit ihr? Eine Therapie brauchte sie nicht. Aber war sie wirklich glücklich?

»Mir geht immer wieder die tote Nonne durch den Kopf«, riss Jacqueline sie aus ihren Gedanken.

Isabelle war für den Themenwechsel dankbar.

»Ja, geht mir ähnlich.«

»Ein tragisches Unglück. Hast du ihr hübsches Gesicht gesehen?«

Isabelle nickte. Aber warum sollten junge Nonnen hässlich sein? Und machte das einen Unterschied?

»Weshalb war ihr Mund blutverschmiert?«, fragte Jacqueline.

»Vielleicht war sie nach ihrem Sturz noch kurz am Leben und hat Blut gespuckt. Dann kamen die Sanitäter und haben versucht, sie zu beatmen.«

»Ja, so wird es gewesen sein.«

 

Eine halbe Stunde später setzte Isabelle ihre Freundin in der Auberge des Maures ab. Jacqueline wollte sich vor dem Abendessen noch etwas ausruhen und frisch machen. Isabelle beschloss, kurz im Kommissariat vorbeizuschauen, wo ihr Assistent die Stellung hielt. Er hätte genauso gut freinehmen können, schließlich hatten sie aktuell keinen Fall zu bearbeiten. Aber Sous-Brigadier Jacobert Apollinaire Eustache war sehr gewissenhaft und der Meinung, dass auch das Nichtstun durch geregelte Arbeitszeiten eine sinnvolle Struktur bekam.

Auf dem Weg zum Hôtel de ville, wo ihr Kommissariat untergebracht war, kam sie beim Laden Aux saveurs de Provence vorbei. Clodine bediente gerade Kunden und winkte ihr fröhlich zu. Das Geschäft mit den provenzalischen Seifen, den Düften und Kräutern schien zu laufen. Schmunzelnd sah sie auf ein Gestell mit Fotos von Henri Matisse und einer Tänzerin, die ihm Modell stand. Aber das war eine andere Geschichte.

Beim Öffnen der Bürotür überlegte sie, in welcher Verfassung und vor allem in welcher Körperhaltung sie Apollinaire antreffen würde. Kopfstand mit runtergerutschten Hosenbeinen und freiem Blick auf seine verschiedenfarbigen Socken? Ausgestrecktes Liegen auf seinem Schreibtisch zur Entlastung der Bandscheiben? Oder meditative Zwiesprache mit dem Kaktus auf der Fensterbank?

Nichts dergleichen. Er war immer wieder für Überraschungen gut. Diesmal im umgekehrten Sinne. Apollinaire saß wachen Zustandes und relativ geordnet an seinem Schreibtisch. Geordnet? Nun, die unfrisierten Haare standen ihm zu Berge. Auf der einen Seite war der Hemdsärmel hochgekrempelt, auf der anderen nicht. Er legte die Schere weg, mit der er gerade an der Tastatur seines Computers zugange war.

»Bonjour, Madame, ich habe mit Ihrem werten Erscheinen heute nicht mehr gerechnet. Wie war’s in der Domaine du Rayol?«

Sie warf einen Blick zur Fensterbank. »Ich habe eine schlechte Nachricht für Sie. Unser Kaktus ist ein rechter Kümmerling. In der Domaine gibt’s Exponate, die sind über zwei Meter hoch.«

Apollinaire schüttelte protestierend den Kopf. »Was unseren Pilosocereus chrysostele betrifft, sind Minderwertigkeitskomplexe völlig fehl am Platz. Erstens liegt das bonsaihafte Erscheinungsbild an seiner speziellen Gattung, zweitens wird er noch wachsen, was zugegebenermaßen einige Zeit in Anspruch nimmt, und drittens …« Er sah sich suchend um. »Drittens hätten wir in unserem Büro definitiv keinen Platz für ein riesenhaftes Kakteengewächs der Art Carnegiea gigantea

Dass er die lateinischen Namen parat hatte, wunderte sie nicht. Auch nicht die Ernsthaftigkeit, mit der er ihre Anmerkung beantwortete. Oder umspielte da doch ein leichtes Zucken seine Mundwinkel?

»Was ist mit Ihrer Tastatur?«

»Funktionsausfälle im Bereich häufig genutzter Buchstaben.« Er winkte ab. »Lässt sich gewiss beheben.« Das Zucken um die Mundwinkel wich einem breiten Grinsen. »Oder ich schleiche mich morgen früh ins Büro des Bürgermeisters und tausche die Tastaturen aus. Er hat dasselbe Modell.«

Sie sah ihn mit gespieltem Entsetzen an. »Das würden Sie tun?«

»Nein, natürlich nicht. Und wenn ja, würde ich es Ihnen nicht verraten.«

Isabelle sah auf ihren aufgeräumten Schreibtisch und warf einen Blick in die Ablage. Ihre Mailbox hatte sie schon von unterwegs gecheckt.

»Von der Tastatur abgesehen gibt’s nichts Neues, richtig?«

»Vor dem Café des Arts wurde letzte Nacht ein Bistrostuhl geklaut. Aber um dieses Kapitalverbrechen kümmert sich die Gendarmerie. Sonst ruht alles in Frieden. Zumindest hier in Fragolin.«

Die Ereignislosigkeit war in ihrem verschlafenen Ort der Normalzustand. Weshalb ihr Kommissariat auch andere Aufgabenbereiche hatte – die weder definiert waren noch jemand von außen verstehen konnte. Entweder bestimmte sie ihre Zuständigkeit nämlich selbst, oder sie bekam aus Paris eine mission spéciale, einen Spezialauftrag von Maurice Balancourt. Doch der war gerade mit seiner nicht mehr vorhandenen Gallenblase beschäftigt.

»Na wunderbar. Dann kann ich ja wieder gehen.« Sie schnippte mit den Fingern. »Da fällt mir noch was ein. Sie könnten mal recherchieren, ob irgendwo eine junge Nonne vermisst wird.«

Er sah sie verwirrt an. »Eine Nonne? Warum, haben Sie eine gefunden?«

»Ich nicht, aber in der Domaine du Rayol wurde heute Nachmittag die Leiche einer Nonne entdeckt. Wir sind zufällig dazugestoßen.«

Apollinaire bekreuzigte sich. »Oh mon Dieu! Wenn sie jung war, wird sie nicht an Altersschwäche gestorben sein. Was ist passiert?«

»Wie es aussieht, ist sie beim Kräutersuchen ausgerutscht und abgestürzt. Ein tragisches Unglück.«

»Kräutersuchen, ausgerutscht, abgestürzt«, wiederholte Apollinaire, seiner Angewohnheit folgend. »Feststellen, ob und wo vermisst.«

Isabelle nickte. »Die Nonne hatte keine Ausweispapiere bei sich. Der Fall wird von Sergent Poullin bearbeitet.«

»Poullin? Ich kenne ihn aus Toulon, er betrügt seine Frau.«

»Was hier nichts zur Sache tut.«

»Da haben Sie recht. Darf ich mir vorübergehend Ihre Tastatur ausleihen?«

»Natürlich, aber bitte wieder zurückgeben. Hat übrigens keine Eile, geht uns auch nichts an. Doch Poullin macht einen trägen Eindruck, der rührt wahrscheinlich keinen Finger.«

»Davon können Sie ausgehen. Poullin ist eine Schnarchnase.«

»So, ich bin dann weg. Später treffe ich mich mit Jacqueline im Bistro. Ist ja ihr letzter Abend. Sie können auch gerne kommen.«

»Sehr freundlich, vielen Dank, aber Shayana wartet auf mich. Sie macht ihr berühmtes Couscous nach dem alten tunesischen Rezept ihrer Familie. Leider ohne Kamelfleisch, das bringt unsere Boucherie einfach nicht her.«

3

Am nächsten Tag war Isabelle schon früh wach. Sie öffnete die Fenster und sah in den blauen Himmel, wo vereinzelt kleine Wolken wie Wattebäusche in Richtung Meer segelten. Sie atmete die klare Luft ein und dachte an Paris, wo man das besser nicht tat. Jedenfalls nicht dort, wo sie früher gelebt hatte. Da staute sich schon frühmorgens der Verkehr, während es hier in Fragolin zu dieser Stunde keinem einfiel, mit dem Auto durch die Gassen zu fahren. Warum auch? Man konnte alles bequem zu Fuß erreichen. Außerdem waren die Bewohner keine Frühaufsteher. Isabelle lächelte. Auch in dieser Beziehung hatte sie sich bereits angepasst. Sie könnte jetzt einige Kniebeugen und Liegestützen machen – oder sich wieder hinlegen und noch eine Runde schlafen. Später frische Croissants holen und die regionale Tageszeitung Var-Matin. Keine Eile, nur keinen Stress. Alternativ käme eine Jogging-Runde auf ihrer Lieblingsstrecke in Betracht, die durch den Kastanienwald zu einer einsam gelegenen Chartreuse führte. Unwillkürlich dachte sie an die tote Nonne. Ob sie von dort stammte? Ihr fiel ein, dass das Kloster im 12. Jahrhundert von Kartäusern gegründet worden war. Heute lebten dort Mönche einer katholischen Ordensgemeinschaft. Das stand auf einer Tafel am Weg. Also kam es nicht infrage. Wäre auch ein allzu großer Zufall gewesen.

Isabelle beschloss, auf die üblichen Morgenrituale zu verzichten. Jacqueline erwartete sie in der Auberge des Maures zum Frühstück. Später würde sie ihre Freundin nach Marseille fahren. Von dort ging es mit dem Hochgeschwindigkeitszug TGV zurück nach Paris – für Jacqueline, nicht für sie. Isabelle lächelte. Was für ein Glück!

 

»Hast du schon gelesen?« Jacqueline deutete auf die Tageszeitung neben ihrem Orangensaft. »Unsere Nonne hat es auf die Titelseite geschafft.«

Isabelle sah sie missbilligend an. »Auf dieses Privileg hätte sie gerne verzichtet.«

»Entschuldige, so habe ich das nicht gemeint.«

»Steht im Artikel etwas über ihre Identität?«

»Nein, die sei unbekannt. Hier heißt es, dass die Polizei um Hinweise bittet. Die Überschrift ist übrigens nicht so schlimm, wie wir befürchtet haben.«

Isabelle nahm die Zeitung. »Tragischer Unfall: Nonne zu Tode gestürzt«. Das war in seiner schlichten Sachlichkeit tatsächlich akzeptabel.

»Sergent Poullin hat recht«, sagte Jacqueline. »Ganz sicher wird sie irgendwo vermisst. Wahrscheinlich bekommt er gerade die ersten Anrufe.«

»So wird es wohl sein«, bestätigte Isabelle. Und nach einer kurzen Pause: »Oder auch nicht.«

»Wie kommst du darauf?«

Isabelle zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, nur so ein Bauchgefühl.«

»Bitte halte mich auf dem Laufenden. Die Zeitungen in Paris werden kaum darüber berichten.«

»Mach ich«, versprach Isabelle. Sie sah auf die Uhr. »Hast du schon gepackt? In einer halben Stunde müssen wir los.«

»Klar. Meine Reisetasche steht an der Rezeption.« Jacqueline legte den Kopf zur Seite und sah sie neugierig an. »Darf ich dich was fragen?«

»Nur zu!«

»Wo hast du heute Nacht geschlafen?«

Isabelle musste lächeln. Ihre Freundin war ganz schön wissbegierig. »Zu Hause, wo sonst?«, antwortete sie. »Und wenn du es ganz genau wissen willst: alleine, nur mit meinem Kopfkissen.«

 

Einige Stunden später befand sich Isabelle auf dem Rückweg von Marseille. Jacqueline hatte ihren Zug erreicht und war wahrscheinlich schon halb in Paris, während sie selbst bei Toulon viel Zeit in einem Stau verloren hatte. Das machte aber nichts, sie hatte keine Termine. Sie hatte ihre Badesachen dabei, um in ihrer Lieblingsbucht zu schwimmen, entschied sich dann aber spontan anders. In Canadel-sur-Mer nahm sie die Abzweigung, die zu den Gärten der Domaine du Rayol führte, parkte und rief Apollinaire an. Von ihm erfuhr sie, dass es keine Neuigkeiten gab, weder bezüglich des geklauten Gartenstuhls vor dem Café des Arts noch hinsichtlich der Identität der Nonne. Er habe gerade mit einem Kollegen in Toulon telefoniert. Überraschenderweise seien bis jetzt keine Hinweise eingegangen.

Isabelle hätte nicht erklären können, was sie mit ihrem erneuten Besuch der botanischen Gärten bezweckte. Aber sie musste sich nicht rechtfertigen, denn niemand interessierte, was sie tat.

Sie schlenderte am Café La Ferme vorbei, dann in Richtung Meer zur Unglücksstelle. Im Unterschied zu gestern war sie alleine. Am Zaun unter der Aleppokiefer blieb sie eine Weile stehen. Sie blickte hinunter auf die Klippen, wo nichts mehr auf das Ereignis hindeutete. Dann stieg sie durch die Lücke und ging nach vorne, dorthin, wo die Nonne den Halt verloren haben musste. Tatsächlich wuchsen hier viele Kräuter, die sie nicht näher identifizieren konnte. Offenbar befanden sich Heilpflanzen darunter. In ihren Augen hätte es sich durchweg auch um Unkraut handeln können. Dass es gefährlich war, sich auf dieses Terrain zu begeben, war offensichtlich. Auch der Nonne musste klar gewesen sein, dass es nur wenige Meter weiter steil nach unten ging. Isabelle zog die Schuhe aus und näherte sich vorsichtig dem Abgrund. Dabei stellte sie fest, dass hier keine Kräuter mehr wuchsen, nur noch gelbgrüne Grasbüschel und vom Wind zerzauste Büsche, denen bestimmt keine heilende Wirkung innewohnte. Dazwischen braune Erdstellen und lose Steine. Warum sollte die Nonne das Risiko eingegangen sein, sich so weit vorzuwagen? Das machte keinen Sinn. Ein Suizid kam nicht in Betracht – da hätte sie zuvor keine Kräuter gesammelt. Isabelle trat vorsichtig den Rückzug an. Sie rupfte einige Blätter von den niedrig gewachsenen Pflanzen. Vielleicht konnte ein Experte herausfinden, ob es sich tatsächlich um Heilkräuter handelte. Plötzlich stockte sie. Fast hätte sie übersehen, dass vor ihr ein Schäufelchen zwischen den Pflanzen lag, spitz zulaufend, offenbar scharfkantig und mit Holzstiel. Natürlich, die Nonne brauchte zum Ausgraben eine kleine Schaufel. Aber wenn das ihre war, widersprach es jeder Logik, dass sie einige Meter vom Klippenrand entfernt lag. Dann hätte sich die Nonne ohne ihre Schaufel so weit nach vorne gewagt, hätte also gar keine Pflanzen mehr ausgraben können – abgesehen davon, dass da auch keine mehr wuchsen. Isabelle nahm das Schäufelchen mit zwei Fingern an der Spitze und wickelte es in ihr Taschentuch, stand auf und sah sich um. Weit und breit war niemand zu sehen. Das war natürlich nicht immer so, kam aber offenbar vor. Sie erinnerte sich an Poullin, der von Zeugen gesprochen hatte, die die Ordensschwester durch die Lücke neben dem Zaun hatten klettern sehen. Doch anscheinend waren sie dann weitergegangen.

Isabelle kletterte barfuß hinunter ans Meer zum Felsen, wo die Leiche der Nonne gelegen hatte. Heute versperrte kein eifriger Polizist den Weg, und es gab auch keinen gelangweilten Sergent, der Zigaretten rauchend dummes Zeug redete. Die Felsen waren nass und glitschig. Hätte gestern nicht zufällig ein belgisches Ehepaar ihren Leichnam entdeckt, wäre er wohl von der Flut und der Brandung erfasst und hinaus aufs Meer gespült worden. Isabelle stand eine Weile da und sah gedankenverloren über die Wellen zum Horizont, im Ohr das Meeresrauschen, auf den Lippen den salzigen Geschmack der See. Was hatte sie sich gestern vorgenommen? Vivre le moment présent! Den Augenblick genießen. Das wäre wieder so ein Moment, ganz ohne Zweifel, wäre da nicht die tote Nonne, die ihre Gedanken beschäftigte.

Isabelle machte sich auf den Rückweg. Sie kletterte nach oben, setzte sich auf einen Stein und zog sich die Schuhe an. Mittlerweile hatten sich doch einige Besucher eingefunden. Sie nahmen von ihr keine Notiz und erfreuten sich am Ausblick. Taten sie das wirklich? Jeder hatte ein Smartphone vor der Nase und machte Fotos. Isabelle fand das schrecklich. Die Welt nur noch durch die Optik und auf dem Display einer Kamera zu sehen erschien ihr abartig und irgendwie pervers. Auf diese Weise verlernten die Menschen das Sehen. Vivre le moment présent! Den Augenblick genießen? Mit einem Plastikteil vor den Augen war das unmöglich.

Sie wendete den Besuchern den Rücken zu und lief durch die Rayol-Gärten zum einstmals prachtvollen, jetzt dringend sanierungsbedürftigen Hôtel de la Mer, wo die Rezeption untergebracht war. Dort zeigte sie ihren Ausweis und fragte, ob man sich an die Nonne erinnere, die gestern tot aufgefunden worden sei. Auch wollte sie wissen, ob sie beim Lösen der Eintrittskarte alleine oder in Begleitung gewesen sei.

Die Kassiererin wusste sofort Bescheid. Natürlich könne sie sich an die Ordensschwester erinnern. Sie sei schon früher einige Male hier gewesen. Die Nonne sei definitiv alleine gekommen, sagte sie. Übrigens habe sie keinen Eintritt bezahlen müssen, das sei doch selbstverständlich.

Isabelle fragte, ob die Nonne von der Sprache her Französin gewesen sei.

Bien sûr, bekam sie bestätigt. Aber sonst wisse sie leider nichts von ihr. Sie habe ein sanftes Lächeln gehabt und ein freundliches Wesen. Ganz so, wie man sich eine Frau vorstellte, die ihr Leben Gott geweiht habe. Oh mon Dieu, et maintenant elle est morte! Was für ein Unglück!

Ob nachts ein verlassenes Auto auf dem Parkplatz gestanden habe, fragte Isabelle.

Die Kassiererin schüttelte verneinend den Kopf. Als sie heute Morgen zur Arbeit gekommen sei, sei der Besucherparkplatz leer gewesen. Die Gärtner würden woanders parken.

Isabelle bedankte sich für die Auskünfte und ging zu ihrem Renault. Dort verstaute sie das gefundene Schäufelchen und die abgerissenen Blätter in ihrer Badetasche. Dann nahm sie ihr Handy und rief Apollinaire an.

In Lyon werde eine Nonne vermisst, berichtete er, aber schon seit einem halben Jahr. Außerdem sei sie fast hundert Jahre alt, komme also nicht in Betracht.

»Ich habe eine Bitte«, sagte sie. »Rufen Sie Sergent Poullin an, richten Sie ihm schöne Grüße von mir aus und teilen Sie ihm meinen dringenden Wunsch mit, dass die tote Nonne einer sorgfältigen Leichenschau unterzogen wird. Außerdem brauche ich ihre Fingerabdrücke.«

»Meine Fingerabdrücke? Warum denn das?«, fragte Apollinaire verwirrt.

»Nicht Ihre, mein lieber Apollinaire, sondern jene der toten Nonne.«

»Ach so, natürlich«, stammelte er. »Wie konnte ich nur. Ich rekapituliere, Leichenschau und Fingerabdrücke, und zwar von der Nonne.«

»Korrekt.«

»Er wird fragen, warum.«

»Sie haben recht, das wird er. Und weil ich keine Lust habe, diese Frage zu beantworten, rufe ich ihn nicht selber an. Sagen Sie einfach, dass Sie das auch nicht wüssten. Aber ich sei eine unangenehme Chefin und würde Ihnen den Kopf abreißen, wenn der Auftrag nicht erledigt würde.«

»Unangenehme Chefin, Kopf abreißen? Aber Madame, das ist gelogen.«

Isabelle lächelte. »Seien Sie sich da nicht so sicher.«

4

Am späten Nachmittag gab es in Fragolin einen kleinen Empfang. Thierry Blès, der Bürgermeister, hatte im Rathaus zu einem Gläschen Champagner geladen und zu Canapés. Isabelle hatte es nicht weit, sie musste von ihrem Kommissariat nur die Treppe ins nächste Stockwerk gehen. Thierry freute sich über ihr Kommen und umarmte sie herzlich. Er hatte keine Skrupel, dies in aller Öffentlichkeit zu tun. Alle wussten, dass sie eine Beziehung hatten. Oder wie nannte man das? Waren sie ein Paar? Sie lebten nicht zusammen. Aber war das ein Kriterium? Konnte man nicht auch mit getrennten Wohnungen oder Häusern ein Paar sein? Isabelle fand es müßig, darüber nachzudenken. Es war, wie es war. Dass sich alles noch viel komplizierter darstellte, weil sie nebenher eine Liaison mit Rouven Mardrinac hatte, ging keinen etwas an. Nur Thierry Blès wusste davon, würde aber einen Teufel tun und mit Dritten darüber sprechen. Selbst ihr gegenüber vermied er es, Rouven zu erwähnen. Er tat sein Möglichstes, den Mann aus seinem Bewusstsein zu verdrängen. Aber sie spürte, dass es ihm nicht wirklich gelang. Nach ihrer Überzeugung war das auch der falsche Ansatz. Verdrängen war das Gegenteil von akzeptieren.

Nicht einmal Clodine wusste, dass Rouven Mardrinac in ihrem Leben noch eine Rolle spielte. Ihre Freundin glaubte, dass er für sie vorbei und vergessen war. Und die Tage und Wochen, in denen sie abtauchte, um mit ihm zusammen zu sein? Dafür hatte sie eine Erklärung. Im Ort war bekannt, dass sie früher bei der Police nationale in Paris irgendwelche geheimen Operationen geleitet hatte. Sie hatte durchsickern lassen, dass sie zwischendurch wieder ihrer alten Tätigkeit nachging. In Wahrheit war sie mit Rouven zusammen, in fernen Gefilden wie auf Saint-Barthélemy. Ach so, natürlich wusste Apollinaire davon, aber der konnte so verschlossen sein wie eine Auster.

Isabelle spürte, wie sie angerempelt wurde.

»He, woran denkst du?«, fragte Clodine, die auch zum Empfang eingeladen war.

Isabelle lächelte verlegen. »Entschuldigung, ich war geistig gerade etwas abwesend.«

»Das habe ich gemerkt.«

Clodine reichte ihr ein Champagnerglas. Isabelle sah, dass Thierry derweil mit Capitaine Briand sprach, dem Leiter der örtlichen Gendarmerie. Apollinaire plauderte mit Sergent Albertin, der ebenfalls der Gendarmerie angehörte und in Fragolin gerne rumspazierte wie der Dorfsheriff. Allerdings fehlte ihm kontinuierlich der Durchblick. Traditionell waren sich die Police nationale und die Gendarmerie nicht besonders grün. Aber hier in Fragolin hatte man sich arrangiert, was schon deshalb gut funktionierte, weil sie ein Kommissariat für besondere Aufgaben leitete. Polizeiliche Tätigkeiten in Fragolin gehörten nicht dazu. Das übliche Kompetenzgerangel blieb also aus.

Thierry klopfte gegen sein Glas und bat um Ruhe.

»Mesdames et Messieurs, ich darf mich herzlich für Ihr Kommen bedanken. Ich freue mich, mit Ihnen auf die verbesserte Sicherheit in Fragolin anstoßen zu dürfen. Mein Dank gilt allen Bürgern und Institutionen, die es mit ihren Spenden ermöglicht haben, ein modernes Videoüberwachungssystem aufzubauen, das wir heute in Betrieb nehmen. Unser Ort ist seit jeher ein friedvolles Fleckchen Erde. Aber die Zeiten ändern sich und mit ihnen die Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen. Die Zahl der Besucher wächst beständig. Das ist eine erfreuliche Tatsache …«

»Le vieux Georges würde das anders sehen«, warf ein Gast lachend dazwischen. »Der wollte Fragolin zur besucherfreien Zone erklären.«

»Georges ist tot, Gott hab ihn selig«, sagte ein anderer.

»Seit er nicht mehr lebt, ist der Pastisausschank im Café des Arts dramatisch zurückgegangen.«

»Da braucht es viele Touristen, um Georges auszugleichen.«

»Die trinken keinen Pastis, die Weicheier.«

Thierry klopfte erneut gegen sein Glas.

»Georges ist unser Ehrenbürger, wir halten sein Andenken hoch. Aber auch er könnte sich nicht gegen die Zeit stellen. Ein gemäßigter Tourismus ist für Fragolin wichtig.«

»Stimmt«, flüsterte Clodine, »sonst könnte ich meinen Laden zusperren. Von den Einheimischen kauft keiner meine Lavendelseifen.«

»Um also auf den Anlass unseres Zusammentreffens zurückzukommen«, fuhr Thierry fort. »Wir stoßen heute auf die Inbetriebnahme unseres modernen Videoüberwachungssystems an. Santé!«

Die Gäste erhoben ihre Gläser. Isabelle entdeckte nicht in allen Gesichtern uneingeschränkte Freude.

»Ich weiß, es gibt Kritiker«, sagte Thierry. »Sie fürchten um ihre Privatsphäre, aber ich darf Ihnen versichern, dass es für diese Sorgen keinen Anlass gibt. Die Kameras konzentrieren sich auf die Besucherparkplätze und auf wenige neuralgische Punkte wie unseren Marktplatz und die Bankfilialen mit ihren drei Geldautomaten. Natürlich wird auch unser kleines Matisse-Museum überwacht. Die Videoaufzeichnungen sind temporär und werden nach einer Woche automatisch gelöscht. Für die Einhaltung der Datensicherheit steht unsere Gendarmerie gerade, die die Anlage betreibt.«

»Also kann ich weiter unbeobachtet in den Fluss pinkeln.«

Das war Jean-Pierre.

Isabelle schmunzelte. Thierry hatte sich den Rahmen feierlicher vorgestellt. Dabei sollte er seine Bürger doch kennen.

»Pass nur auf, dass du beim Pinkeln nicht reinfällst. Das sieht dann auch keiner.«

»Könnte man im Video erkennen, wer meinen Bistrostuhl geklaut hat?«, fragte der Besitzer des Café des Arts.

»Wahrscheinlich schon«, antwortete Capitaine Briand. »Leider wird die Anlage erst in dieser Minute freigeschaltet. Bisher lief sie nur im Probebetrieb ohne Aufzeichnung.«

»Lassen Sie uns hoffen, dass wir in Fragolin nie schlimmere Delikte als einen geklauten Bistrostuhl haben«, fuhr Thierry fort. »Wir leben in Zeiten neuer Bedrohungen. In Nizza wird das Überwachungssystem seit dem Attentat von 2016 kontinuierlich ausgebaut. Gleiches gilt für Cannes. In Monaco sorgt bereits an jeder Straßenecke eine Kamera für Sicherheit und Ordnung. Wir können uns dieser Entwicklung nicht verschließen. Wir können nicht so tun, als ob wir auf einem fernen Planeten leben würden.«

»Das nicht, aber Fragolin ist nicht Nizza.«

Jean-Pierre bekreuzigte sich. »Dieu m’en garde! Gott bewahre!«

Dann stimmten alle gemeinsam ein altes Volkslied an, in dem die Schönheiten Fragolins gepriesen wurden und das friedliche Leben im arrière-pays des Massif des Maures. Auch Isabelle sang mit. Den Text im provenzalischen Dialekt der Region kannte sie noch aus ihrer Kindheit.

 

Stunden später saß sie mit Thierry auf der Terrasse seines Hauses. Den Grill hatte er bereits angeworfen. Marinierte Lammkoteletts lagen bereit, Zweige von Rosmarin und Thymian. Schon jetzt duftete es vielversprechend, auch aus dem offenen Fenster der Küche, wo im Ofen das Kartoffelgratin seiner Vollendung entgegenbrutzelte. Thierry war ein großartiger Koch, gleichzeitig entspannt und frei von jeder Eitelkeit. Es gab Männer, die musste man loben, wenn sie in der Küche oder am Grill vermeintlich Großartiges vollbrachten. Thierry genügte es völlig, wenn es einem schmeckte – und der Rotwein keinen Kork hatte.

Trotz der Zwischenrufe zeigte sich Thierry zufrieden mit dem feierlichen Start des Videoüberwachungssystems. Diskussionsbedarf habe es ohnehin nicht mehr gegeben, immerhin sei dem Projekt ein einstimmiger Beschluss des Gemeinderats vorangegangen. Aber er schätze es immer, wenn sich die Bürger lebhaft zu Wort melden würden. Fragolin mache zwar gelegentlich den Eindruck eines verschlafenen Nestes, in Wirklichkeit sei der Ort aber voller Charakter und Leidenschaft.

Voller Charakter? Isabelle musste lächeln. Vor allem voller Charakterköpfe. Selbst nach dem Tod des alten Georges gebe es in Fragolin noch genügend liebenswerte Menschen, die mit störrischem Eigensinn dem Zeitgeist trotzen würden.

Thierry wiegte zweifelnd den Kopf. Auf den einen oder anderen Querulanten könne er gerne verzichten. Er nahm einen Schluck Rotwein und grinste. Aber nicht wirklich, er würde jeden einzelnen vermissen. Vor allem seine Stimme bei der Bürgermeisterwahl. Außerdem sei es höchste Zeit, die Lammkoteletts auf den Grill zu legen. Das Kartoffelgratin sei bald fertig. Er stellte das Weinglas ab und stand auf. Ob sie heute Nacht bei ihm bleibe, fragte er wie nebenher.

Im selben Ton, dachte Isabelle, hätte er fragen können, ob sie als Beilage zu den Lammkoteletts haricots verts wolle. Fast hätte sie geantwortet, dass sie grüne Bohnen durchaus mochte. Stattdessen hob sie eine Augenbraue und lächelte vieldeutig. On verra – man würde sehen.

5

Apollinaire begrüßte sie am nächsten Morgen im Kommissariat. Isabelle war zuvor noch zu Hause gewesen und hatte sich umgezogen. Jetzt freute sie sich auf eine zweite Tasse Kaffee.

»Um Ihrer Frage zuvorzukommen«, begann Apollinaire einen Satz.

Weil er dann aber nicht weitersprach, sah sie ihn amüsiert an.

»Und die wäre?«

»Ach so, ja, die Nonne.«

»Und wie genau lautet meine Frage, der Sie zuvorzukommen beabsichtigen?«

Apollinaire hüstelte. »Ob mittlerweile ihre Identität bekannt ist. Das wollen Sie doch sicher wissen. Also, sie ist es nicht. Niemand vermisst eine Nonne, wenn Sie verstehen, wie ich es meine. Das ist natürlich blöd, und zwar in mehrerlei Hinsicht. Wohin mit ihrem Leichnam? Und dann wäre noch …«

»Was ist mit der Autopsie?«, unterbrach sie ihn.

»Die ist angeordnet, ganz wie von Ihnen gewünscht. Übrigens war Sergent Poullin am Telefon darüber wenig erfreut. Ich würde sogar sagen, er war ausgesprochen missgelaunt. Er hat sich dann aber doch breitschlagen lassen. Genauso wenig hat er verstanden, warum Sie die Fingerabdrücke der Nonne haben wollen. Außerdem falle die Angelegenheit nicht in Ihren Zuständigkeitsbereich. Ich habe ihm gesagt, dass er sich da mal nicht täuschen solle.«

»Er hat ja recht«, sagte Isabelle. »Das alles geht mich nichts an. Trotzdem, gibt’s schon Ergebnisse der Leichenschau? Und was ist mit den Fingerabdrücken?«

»Negativ, aber ich bleibe dran.«

Isabelle lief mit ihrer Kaffeetasse im Kommissariat auf und ab. Sie könnte nicht erklären, warum sie sich so für die tote Nonne interessierte. Oder vielleicht doch, denn seit ihrem zweiten Besuch der Gärten von Rayol hatte sie mehr als ein flaues Magengrimmen. Jetzt war sie auch mit dem Verstand dabei.

»Apollinaire, wie kommt es, dass es keine Hinweise auf die Nonne gibt? Die Zeitungen haben doch ausführlich über den Unglücksfall berichtet. Auch im Radio kam es und sogar im Fernsehen. Irgendwo müsste sie doch vermisst werden.«

Er zog eine Grimasse. »Verstehe ich auch nicht. Jeder entlaufene Hund wird als vermisst gemeldet, und sei er noch so hässlich. Aber diese Nonne fehlt keinem. Wieso?«

Das war zwar sehr flapsig formuliert, aber der springende Punkt.

»Vielleicht steckt in der Frage die Antwort. Wie sehen die Tätigkeitsfelder einer Nonne aus? Sie könnte in einem christlichen Krankenhaus arbeiten, in einer karitativen Einrichtung, in der Seelsorge, keine Ahnung. Überall dort würde man auf die Berichterstattung in den Medien aufmerksam und sich bei der Polizei melden. Aber nichts dergleichen. Die einzige Erklärung, die mir einfällt, ist ganz simpel. Unsere Nonne stammt aus einem weltabgeschiedenen Kloster, wo man keine Zeitung liest, kein Radio hört, kein Fernsehen sieht.«

Er kratzte sich mit dem Bleistift am Kopf. »Weltabgeschieden, keine Zeitung, kein Radio«, wiederholte er. »Ich verstehe. Ja, das würde es erklären. Und vermisst wird sie nicht, weil sie womöglich Urlaub hatte.« Er sah sie fragend an. »Oder machen Nonnen keinen Urlaub?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Wie auch immer«, fuhr sie fort, »wir wissen von der Kassiererin am Empfang der Rayol-Gärten, dass unsere Nonne Französin war und schon einige Male dort zu Besuch. Vermutlich ist sie mit dem Bus gekommen. Das legt den Schluss nahe, dass sie im weitesten Sinne aus unserer Region stammt.«

Apollinaire wirbelte den Bleistift durch seine Finger. Er konnte das gut, musste aber dann doch meistens unter dem Schreibtisch nach ihm suchen. Heute ging es glatt.

»Ich rekapituliere. Wir suchen ein abgeschiedenes, irgendwie weltfernes Nonnenkloster in der näheren oder ferneren Umgebung, jedenfalls im Département Var gelegen. Oder daran angrenzend, wie auch immer. Jedenfalls nicht in der Bretagne oder auf Korsika. Korrekt?«

Sie nickte. Gleichzeitig war ihr klar, dass die Hypothese eines ebensolchen Klosters als Herkunftsort der Nonne auf höchst vagen Überlegungen basierte.

Apollinaire riss die Augen auf. »Doch nicht unsere Chartreuse?«

»Nein, sie wird von einem Mönchsorden betrieben.«

»Stimmt, aber den Namen des Ordens habe ich nicht präsent. Ich muss gestehen, ich kenne mich mit Klöstern nicht aus. Eine unverzeihliche Wissenslücke.«

Endlich einmal. Es kam selten vor, dass Apollinaire einen solchen Offenbarungseid leistete.

»Dann bietet sich die einmalige Gelegenheit, die Wissenslücke ein wenig zu schließen. Sie könnten mal recherchieren, ob und wo es in der Provence infrage kommende Klöster gibt. Im nächsten Schritt könnten wir dort nach unserer Nonne fragen.«