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Über dieses Buch:

Elizabeth weiß: Es ist Zeit für eine Veränderung in ihrem Leben!

Ihr Studium erfüllt sie nicht mehr, sie ist einsam und weiß nicht, wie ihre Zukunft aussehen soll … bis sie dem liebenswerten Pensionär Otto begegnet, der ihr seine Geschichte erzählt: Einst arbeitete er als Gärtner im Haus der schönen Esther. Niemals hat er jene Frau vergessen, die Ende der dreißiger Jahre aus Berlin fliehen musste und die für ihn der Inbegriff von Schönheit, Eleganz und Lebenskunst war. Bis zum heutigen Tag hat er ihr Bild in seinem Herzen bewahrt. Während Otto erzählt, erliegt Elizabeth immer mehr Esthers Faszination – und trifft schließlich eine Entscheidung, die ihr Leben verändert …

Über die Autorin:

Tanja Wekwerth lebt und arbeitet in Berlin. Neben dem Schreiben widmet sie sich der Fotografie.

Bei dotbooks veröffentlichte Tanja Wekwerth ihre Romane »Das Geheimnis der Mitternachtstöchter« und »Das Haus der Hebamme«.

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eBook-Neuausgabe November 2017

Dieses Buch erschien bereits 2006 unter dem Titel Esthers Garten bei Knaur Taschenbuch.

Copyright © der Originalausgabe 2006 by Knaur Taschenbuch

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Luba V Nel, Disavorabuth, asharkyu, Le Do

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (sh)

ISBN 978-3-96148-264-1

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Tanja Wekwerth

Die Zeit der Magnolien

Roman

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1

Es ist ein Tag im Frühling, ein Tag zwischen Sonne und Schatten. Wie ein türkis-goldenes Osterei leuchtet die Kuppel der Synagoge durch den knospenden Kastanienbaum, der seine glatten dunklen Äste bis in das vierte Stockwerk hinaufstreckt. Aus dem Hinterhof schallen Stimmen, tiefe Stimmen von Männern, die gerade mit viel Getöse die Mülltonnen leeren. Elizabeth hört Fetzen einer Jazzmelodie, federleicht auf einem verstimmten Klavier gespielt, und das Zetern eines erschrockenen Spatzes. Wie aus einem gewaltigen Schalltrichter werden all diese Geräusche zu ihr getragen. Zu Essenszeiten strömen auch Gerüche von gedünsteten Zwiebeln und gebratenem Fleisch in die Höhe. Doch jetzt riecht es nur nach frühem Morgen und dem Kaffee, den sie sich gerade gekocht hat. Sie hört einen polternden Laut, dann beginnt ein Mann zu fluchen. Ein anderer lacht. Elizabeth geht ans offene Fenster und sieht, dass eine volle Mülltonne umgekippt ist. Der Abfall hat sich in den grau gepflasterten Hof ergossen. Hellblau leuchtet zwischen sprießenden Funkien eine zerbeulte Plastikflasche Weichspüler in einem schmalen, von zerbrochenen Ofenkacheln eingefassten Beet. Überall liegen zerknüllte Papierkugeln, Tüten, leere Joghurtbecher, nach denen sich der Mann im orangefarbenen Overall bückt. Während Elizabeth überlegt, ob auch ihr Abfall dabei ist, fällt ihr auf, dass die Sonnenstrahlen den Grund des Hofes nicht erreichen, gerade so, als würden sie sich nicht in den Schatten wagen. Abrupt halten sie an einer bestimmten Stelle an, ziehen eine scharfe Linie, teilen den Schacht in Hell und Dunkel. Erst die kleinen Balkone im ersten Stock stehen im Licht. Darunter herrscht der ewig grün bemooste Dämmerzustand eines Berliner Hinterhofes, voller Farngewächse, wilder Pfefferminze und einer Klopfstange, an der manchmal kopfüber ein stilles Kind hängt.

Der Müllmann schimpft noch immer vor sich hin, ein Flugzeug schwebt lautlos am Himmel.

Plötzlich erinnert Elizabeth sich daran, wie sie vor vielen Jahren zum ersten Mal in ihrem Leben, das damals noch ein glitzerndes, wogendes Meer voller Geheimnisse und Untiefen gewesen war, in einem Flugzeug gesessen hatte. Hingerissen war sie von den unbekannten Gefühlen, die auf sie einstürmten – Todesangst hatte sich in ihren jungen Nacken gekrallt, während das Flugzeug über die Startbahn raste, und parallel zu diesem entsetzlich kalten Griff schwoll eine geradezu ekstatische Lust in ihrem Unterleib heran, eine Lust zu leben, und beides vermischte sich in ihrem Solarplexus zu einem wollüstig-warmen Ausgeliefertsein. Seufzend überließ sie sich ihrem Schicksal, das sie in ihren Sitz presste und ihr den Atem nahm, sodass sie sich zusammenreißen musste, um nicht einfach loszuschreien vor Glück und der abstrusen Gewissheit, im nächsten Augenblick selig zu sterben. Doch sie starb nicht, das Flugzeug hob ab und flog eine scharfe Linkskurve über der Stadt Berlin, die in der Abenddämmerung dalag wie ein riesengroßes, flaches, atmendes Lebewesen am Grunde eines blauen Himmels, und Elizabeth hatte das Gefühl, sie überfliege ihr Leben, das unter ihr wogte, und sie brauche nur einzutauchen, denn alles war möglich zu dieser Zeit. Bald hatte das Flugzeug, eine Boeing 737, seine Reiseflughöhe erreicht. Ruhig und kraftvoll glitt es dahin. Elizabeths Hände, die bis eben noch zu Fäusten geballt waren, öffneten sich langsam und legten sich ausgestreckt auf ihre Oberschenkel. Sie lehnte den Kopf zurück, schloss kurz die Augen und fühlte sich geborgen wie im Innern eines Engels, der sie sicher über das Meer trug. Von einem lächelnden Steward wurde ihr ein Glas Tomatensaft serviert, dazu legte er ein Tütchen geröstete Erdnüsse auf die quadratische weiße Serviette auf dem Klapptisch vor ihr, und als sich ihr Herzschlag beruhigt hatte, erblickte sie im graublauen Abendhimmel einen einzigen Stern. Kauend fasste sie in ebendiesem Moment den Entschluss, nicht Floristin zu werden, nicht das Geschäft ihrer Mutter zu übernehmen, nicht morgens um vier aufzustehen, um auf dem Berliner Großmarkt eimerweise Tulpen, Rosen und Nelken einzukaufen und damit ins Blumenhäuschen am Spandauer Damm zurückzukehren, nicht immer kalte Füße und zerschnittene Hände zu haben wie ihre Mutter.

Elizabeth nahm noch einen Schluck des dickflüssigen Saftes. Nein! Sie würde Luft- und Raumfahrttechnik studieren. Rosen, Tulpen, Nelken – alle Blumen welken. Es war wie eine Eingebung. Und sie wusste, dass sie gerade die wichtigste Entscheidung ihres Lebens getroffen hatte, die mit so sphärischen Dingen wie Sternen, Sonnenaufgängen, ja, sogar Engeln und dem Universum zu tun hatte.

Doch schon nach wenigen Semestern hatte Elizabeth erkennen müssen, dass ein Flugzeug kein Engel war, sondern ein mit Hochdruckverdichtern, primären und sekundären Kontrollflächen ausgestattetes Fluggerät. Sie konnte aber nicht zugeben, dass der ursprüngliche Zauber sich verflüchtigt hatte, denn mit gebrochenem Herzen hatte ihre Mutter in der Zwischenzeit das Blumenhäuschen verkauft, die Lavendelkränze und präparierten Rosengestecke aus dem Schaufenster für einen Spottpreis verhökert und ihrer Tochter nicht vergeben. »Riech, riech nur diesen Flieder!«, hatte sie ihr früher oft befohlen und ihr einen ganzen Arm voll lila wippender Dolden unter die Nase gehalten. »Riech!«, befahl sie, als Elizabeth zurückzuckte, denn sie mochte den Geruch der Blüten nicht besonders, und sie machte ihn mitverantwortlich für die endlosen Nierenbeckenentzündungen und Halskrankheiten ihrer Mutter. »Riech doch!«, wiederholte ihre Mutter ungeduldig und versenkte dann selbst das Gesicht im Flieder, saugte lautstark das dunkle, leicht gasartige Aroma in sich hinein, als wollte sie jeden Winkel ihres Körpers damit füllen und ihr Gehirn betäuben. Wenn Kunden die gläserne Tür des Blumenhäuschens öffneten, hielten die meisten kurz inne, hoben die Nase und witterten mit übertriebener Geste wie hungrige Wölfe. »Aaaah«, machten sie und lächelten entrückt. »Dieser Duft!«

Wenn Elizabeth sich nach Schulschluss mit dem Schulranzen gegen die gläserne Eingangstür warf und das Geschäft betrat, bemerkte sie hinter dem zunehmend verhassten, übersüßen Durcheinander an Blütenausdünstungen vor allem den Geruch des nicht mehr ganz frischen Wassers in den Vasen, die sie gleich im Hinterzimmer zu säubern hatte. Mit Schwamm und Bürste schrubbte sie nachmittagelang an glitschigen Innenwänden von Eimern und hellgrün angelaufenen Vasen herum, während ihre Hände und Füße immer kälter wurden. Ihre Mutter befreite derweil die Stiele der Baccara-Rosen von ihren Dornen, schnitt sie schräg an, eine nach der anderen, bis wieder ein Kunde eintrat und »Aaaah!« machte und ihre Mutter diensteifrig durch den Vorhang eilte, der das hintere Zimmer vom Verkaufsraum trennte, um kunstvolle Gebinde zu zaubern, so flink und mühelos, dass es eine Freude war, ihr dabei zuzusehen. Kleine und große Sträuße entstanden, in die sie giftgrüne Birkenzweige oder Chinagräser band – und all ihre Liebe.

All ihre Liebe, während ihre Tochter im Hinterzimmer die Vasen schrubbte und den Boden fegte. Elizabeth schwor sich damals, dass sie, sollte sie jemals heiraten, in ihren Händen ganz sicher keinen Brautstrauß halten würde, sondern ... sie überlegte kurz, wobei sie sich auf den Besen stützte ... einen Ast vielleicht? Oder besser noch einen Apfel!

Sie war fünfzehn Jahre alt. Lady Diana, nur wenige Jahre älter, hatte gerade Prinz Charles geheiratet. Mit Levkojen, Rosen und Iris im Brautstrauß, aber sie, Elizabeth, würde mit einem leuchtenden grünen runden Apfel in der Hand heiraten, zwar wohl auch gerne einen Prinzen in einer Kathedrale, aber auf jeden Fall ohne eine einzige Blume.

Doch kein Prinz war gekommen, kein Apfel hatte in ihren Händen gelegen, auch keine Diplomarbeit. Zu glauben, dass allein das Verrinnen von Zeit zu einer Ordnung ihres Lebens beitragen würde, hatte sich als Trugschluss erwiesen.

Als Lady Diana starb und ein Blumenmeer die Straßen Londons überflutete, verwandelte sich Kensington Park in eine knisternde Cellophanwüste. »Die schönen Blumen«, hatte Elizabeths Mutter bei der Fernseh-Live-Übertragung von der Beerdigung geschluchzt, aber Elizabeth konnte nur denken: Was für eine Umweltverschmutzung! Was würde es kosten, diesen ganzen Müll wieder fortzuschaffen, und musste Cellophan nicht von den verwelkten Blumen getrennt und gesondert entsorgt werden? Während sich der Sarg, geschmückt mit weißen Lilien, weißen Rosen, weißen Tulpen, auf einer Geschützlafette, gezogen von sechs Rappen, langsam durch die weinenden Menschenmassen vorwärts bewegte, schluchzte Elizabeth mit ihrer Mutter, weinte über ihr eigenes Leben, über ihre Borniertheit und Engherzigkeit und darüber, dass sie bei dieser ergreifenden Trauerfeier nur an sich selbst denken konnte. Und an Mülltrennung.

»Ich habe das Gefühl, dass irgendetwas in meinem Lebensgetriebe klemmt wie ein Schwarm Krähen in einem Triebwerk, und ich weiß nicht, wie der Schaden zu beheben ist, der mich daran hindert, durchzustarten und endlich anzufangen zu leben, denn wenn es so weitergeht, ist es schon bald wieder vorbei damit«, hatte sie einmal in ihr Tagebuch geschrieben, und vor dem Fenster hatte zur gleichen Zeit der Kastanienbaum so weiß und optimistisch geblüht, dass sie den Eindruck bekam, er lächle ihr durch die geschlossenen Scheiben auf seine verschwiegene, baumartige Weise zu. Es war das erste und letzte Mal gewesen, dass etwas Blühendes sie nicht gestört hatte.

Seit Jahren jobbte Elizabeth. »Die ewige Studentin«, höhnte ihre Mutter, die nach der Aufgabe des Blumenladens erschreckend schnell dahinwelkte, wie eine Primel ohne Wasser. »In deinem Alter war ich bereits Mutter und selbstständig und habe nicht anderen Leuten Flitterzeug aufgeschwatzt.« Elizabeth hatte sich eine Zeit lang als Avon-Beraterin versucht, doch es war nicht »ihr Ding«, wie sie der Bezirksleiterin nach drei Wochen mitteilte. Danach fing sie an für Steakhäuser und mittelmäßige italienische und chinesische Restaurants Handzettel zu verteilen, die hinter ihrem Rücken von den eilenden Passanten wieder fortgeworfen wurden, sodass sie manchmal, wenn der Wind drehte, in einem Haufen ihrer eigenen Zettel stand, was sie als entwürdigend empfand.

Dann hatte sie japanische Touristen durch Berlin geführt, ihnen das Brandenburger Tor und das Hotel Adlon (von außen) gezeigt, den Dom, das Nikolaiviertel, hatte sich fotografieren lassen, denn sie war groß und blond und entsprach den klischeehaften Vorstellungen von einer deutschen Frau. Die Japaner fanden sie vielleicht nicht einmal besonders hübsch, aber auf jeden Fall originell, mit ihren hellbraunen Augen und dem schweren Inka-Schmuck an den Ohren. Elizabeth schlug alle schlüpfrigen, flüsternd vorgetragenen Angebote der männlichen Touristen aus, die ihr schnelles Geld gebracht hätten. Stattdessen deutete sie auf das Bodemuseum oder den Reichstag, antwortete: »No sex, only culture«, und verbarg hinter ihrem Lächeln, wie verletzt sie war.

Sie hatte in Fabriken gearbeitet, Wohnungen geputzt, sie hatte Klausuren geschrieben, mit schlechten Ergebnissen, und in der Mensa geraspelten Möhren- und Krautsalat gegessen, weil sie eine vegetarische Phase gehabt hatte, von der sie ihrer Mutter nichts erzählte. Das panierte Schnitzel, das sie jeden Sonntag von ihr vorgesetzt bekam, wagte sie nicht zu verweigern. Zu viele Erklärungen und Rechtfertigungen wären deswegen vonnöten gewesen, die doch nur in bitterem, hustend vorgestoßenem Weinen ihrer Mutter gegipfelt hätten, welche wie immer, wenn es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen kam, gejammert hätte: »Warum, warum nur ist alles so gekommen?«, als wäre Elizabeth eine Missgeburt.

Eine missratene Tochter war sie auf jeden Fall. Sie hatte mit Männern geschlafen, ohne sie vorher geküsst zu haben, hatte Joints geraucht, obwohl sie deren benebelnde, verblödende Wirkung nicht mochte, hatte sich die Haare abgeschnitten und sie wieder wachsen lassen, sie blond gefärbt, rot, braun – und von der Zukunft geträumt. So war die Zeit vergangen.

Betrunken hatte sie über das Gesicht einer flüchtigen Bekannten gestrichen und ihr dann ganz langsam die dunkelroten Spaghettiträger von den Schultern gestreift – wenn ihre Mutter hiervon erführe, würde sie auf der Stelle sterben –, Schultern, die weiß im Kerzenlicht schimmerten und die sie küsste, ergriffen von ihrer marmornen Schönheit, berauscht von der Schwere der Brüste, von Susannas Brüsten, so weich und tröstend, oder war es der Chianti, der ihr die Sinne verwirrte, denn mehr als eine Verwirrung konnte doch das alles nicht sein? Danach hatte Elizabeth die ganze Nacht geweint, weil es ihr so gut gefallen hatte und sie noch weniger wusste, was sie wollte oder wer sie eigentlich war, und sie sich besorgt fragte, wie viele Untiefen wohl noch in ihr schlummerten. Susanna sah sie nie wieder.

Bald begannen Elizabeths Freundinnen neue Leben zu führen, heirateten, und alle trugen sie einen Brautstrauß vor sich her, den sie nach der Trauung jubelnd hinter sich warfen, damit die ledigen Frauen ihn auffangen sollten, worum sie sich auch jedes Mal kreischend bemühten. Elizabeth hatte niemals mitgemacht, sondern nur voller Verachtung zugesehen. Als die letzte Freundin verheiratet war und die ersten Ultraschallaufnahmen von sicher in Gebärmüttern eingenisteten, bohnenförmig gekrümmten Föten die Runde machten, fand Elizabeth den Weg in einen buddhistischen Tempel, und während ihre Beine im Schneidersitz gefühllos wurden, meditierte sie lange und leidenschaftlich über Begriffe wie Vergänglichkeit, Vergebung und allumfassende Liebe. Dabei erinnerte sie sich, wie eines Morgens fünfzehn schwarz gewandete Nonnen mitten ins Café  Einstein geschwebt kamen, flüsternd, kichernd, und wie fröhliche Pinguine eine hinter der anderen die Treppe hinunter zu den Toiletten gegangen waren. Die Obernonne hatte es mit einer jungen Kellnerin, die ähnlich schwarz-weiß gekleidet war wie sie, so abgesprochen, und wenig später kamen sie alle wieder herauf. Gebannt beobachtete Elizabeth, wie ein verschleierter Kopf nach dem anderen auftauchte, bis sich alle Frauen gesammelt hatten und flüsternd, kichernd, ohne etwas konsumiert zu haben, auf die Straße zurückkehrten, wie freundliche Pinguine, die eben mal pinkeln mussten.

»Weltfremd«, hatte Elizabeth damals geurteilt, doch später erkannte sie, dass diese Frauen glücklich und frei waren. Sie hatten ihren Weg gefunden, im Gegensatz zu ihr, die immer noch durch die Religionsmeere dieser Welt schipperte, ihr Segel nach dem trendigsten Wind gerichtet, verbissen auf der Suche nach Erleuchtung oder wenigstens Erkenntnis. Und umso mehr sie suchte, desto deutlicher bekam sie den Eindruck, sich immer weiter von dem ihr vorbestimmten Weg – wenn es ihn geben sollte – zu entfernen.

Im Hof ist es wieder still. Elizabeth starrt auf ihre Hände. Kurz überlegt sie, ob sie weinen soll, aber sie entscheidet sich dagegen. Stattdessen verlässt sie die Wohnung des etwas heruntergekommenen, düster wirkenden Mietshauses, in dem sie seit vielen Jahren lebt. Ein von Abgasen grau angelaufenes Medaillon über der Tür trägt die Zahl 1906, von steinernen, undefinierbaren Blumen umkränzt.

Elizabeth betritt die Straße. Die lange Spitze des Fernsehturms sticht wie ein rot-weiß gestreifter Zahnstocher in den stahlblauen Himmel. Sie schlendert durch die morgendlichen Straßen und holt sich bei Starbucks einen Becher Kaffee. Das Schaufenster einer Boutique wird gerade mit gelb-orange karierten Schleifen, geschlungen um die verdrehten Äste einer Korkenzieherweide, neu dekoriert. Als frühlingshaft könnte man diesen Anblick bezeichnen. »Mach mir mal 'ne frisch-fröhliche Frühlingsdeko«, könnte die Boutiquebesitzerin dem jungen Dekorateur gesagt haben, dem daraufhin heidnische Osterattribute eingefallen waren, Eier und grünes Moos, Hasen. Ausgezogen – kann man eine Schaufensterpuppe überhaupt als nackt bezeichnen, fragt sich Elizabeth – steht eine männliche Puppe mit lächerlicher Ausbeulung zwischen den Beinen inmitten künstlicher Narzissen. Die weibliche Puppe trägt bereits ein geringeltes T-Shirt, unter dem sich ihr kreisrunder Busen abzeichnet. Zwischen ihren Beinen gibt es keine Beule. Gar nichts. Wie lächerlich das alles aussieht. Elizabeth seufzt. Sie merkt selbst, wie übellaunig sie ist, wie weit sie sich von dem verzauberten Moment im Flugzeug vor vielen Jahren entfernt hat, den sie merkwürdig verschwommen und zugleich glasklar in Erinnerung behalten hat, als wäre sie damals im Drogenrausch gewesen, unter dem Einfluss explosionsartig freigesetzter Glückshormone, die ihr junges Herz sprengen wollten. Das Leuchten ihres Glückssterns und unendliches Meerwasser, das sie in einem stählernen Engel überflog. Es war der intensivste Augenblick ihres Lebens geblieben. Und sie hatte damals gedacht, es wäre erst der Anfang.

Elizabeth verbrennt sich die Zunge am Kaffee und sieht plötzlich ihr eigenes Spiegelbild in der Schaufensterscheibe, vage, durchscheinend, so wie sie selbst. Eine wässrige, fade Person, schon wieder am Verblassen, ohne eine einzige Spur hinterlassen zu haben. »Absolut lächerlich«, befindet sie halb laut.

Die Schaufensterpuppe mit den angedeuteten Genitalien trägt inzwischen einen Strohhut und Sandalen. Gerade wird eine Kiste voll gelber Plüschküken in das Schaufenster gehoben. Der Dekorateur, mit grauen Wollschonern über den Füßen, blickt auf und lächelt sie über seine Nickelbrille hinweg an. Es ist alles so gewöhnlich und alltäglich, denkt Elizabeth, ohne zurückzulächeln, es ist, als würden all diese läppischen, alltäglichen Eindrücke ihren eigenen Zustand nicht nur widerspiegeln, sondern ihn zugleich verhöhnen. Was wollen ihr diese geschlechtslosen Plastikmänner mit Strohhüten auf ihren hohlen Schädeln sagen? Und die blödsinnigen gelben Küken? Stehen die für die Flausen, die sie in ihrem Kopf hat, nicht minder hohl?

Sie kommt an einem asiatischen Restaurant vorbei. In der offenen Tür pendelt ein Glücksbringer aus heller Jade, eine Espressomaschine zischt, es riecht nach gutem, frisch gebrühtem Kaffee, Popmusik pulsiert auf die Straße. Die Assoziationen wollen nicht zueinander passen. Brasilianischer Kaffee, fernöstlicher Aberglaube und Britney Spears' seichte Gesänge. Gewöhnliches, alltägliches Zeug. Sinnloses Durcheinander. Elizabeth läuft Unter den Linden entlang auf das Brandenburger Tor zu. Die ersten Touristen sitzen frierend auf Terrassenstühlen. Ein junges Liebespaar küsst sich. Schnell blickt Elizabeth weg. Auf dem Gehweg vor ihr entleert sich ein übergewichtiger Hund mit krummem Rücken. Der beachtliche Haufen, den er hinterlässt, dampft in der kühlen Luft. Elizabeth wischt sich Tränen aus den Augen.

Sie fühlt sich betrogen.

2

Ich brauche jemanden, der einmal am Tag nach ihm sieht, ein bisschen kocht und vielleicht mal mit ihm spazieren geht. Der Hauswart hat mich auf die Idee gebracht, Sie zu fragen.«

Erwartungsvoll steht eine kleine ältere Frau vor Elizabeths geöffneter Wohnungstür. Als eine Dame würde man sie früher bezeichnet haben. Sie wirkt sehr gepflegt, ihr silbergraues Haar ist am Hinterkopf toupiert, sie riecht nach Parfum und Handcreme.

»Wie bitte?«, fragt Elizabeth verwirrt und öffnet die Tür weit, um die Frau hereinzubitten.

»Kaminski«, stellt sie sich vor und sticht mit einem pastellrosa lackierten Zeigefingernagel in die Luft über ihrem Kopf, um anzudeuten, dass dort oben irgendjemand lebt, um den es gerade geht. Dann tippelt sie lächelnd an Elizabeth vorbei durch den schmalen Flur, wirft dabei einen Blick in Küche und Schlafzimmer und setzt sich mit übergeschlagenen Beinen auf das Sofa neben eine halb volle Packung Pralinen. Eine angebissene Marzipanpraline mit giftgrüner Pistazie auf dem Schokoladenguss ist von Elizabeth in die Schachtel zurückgelegt worden. Nun ist es ihr peinlich, denn sie sieht genau, wie die Frau auf die halbe Praline starrt, in der die Spuren von Elizabeths Zähnen deutlich erkennbar sind.

»Es geht um meinen Vater«, sagt die Frau und blickt Elizabeth an. Diese denkt erschrocken: Es geht um ihren Vater! Du lieber Gott, und ich dachte, es ginge um einen Cockerspaniel.

»Ich würde Sie natürlich bezahlen«, sagt Frau Kaminski jetzt und wechselt ihre Beinstellung. Eben lag das rechte Bein auf dem linken, nun schwingt sie beide Beine, die kurz in der Luft schweben wie die einer Tänzerin und dann geräuschlos wieder abgestellt werden. Das linke Bein landet auf dem rechten. Ob sie das vor dem Spiegel übt, fragt sich Elizabeth, die Schwierigkeiten hat, sich zu konzentrieren. Sie soll nach jemandem sehen? Einmal am Tag nach einem alten Mann? Ihm etwas kochen?

»Warum kümmern Sie sich nicht selbst um Ihren Vater?«, fragt sie.

»Weil ich keine Zeit habe«, antwortet Frau Kaminski beleidigt. Im offenen Fenster hinter ihr fuchtelt der Kastanienbaum mit seinen dunklen Astarmen, wogt und schüttelt sich, scheint in Aufruhr zu sein. »Ich lebe nicht in Berlin. Überlegen Sie es sich. Es ist praktisch für Sie, er wohnt im fünften Stock und sagt sowieso nicht viel, und für ihn wäre es auch gut, ein wenig Gesellschaft zu bekommen.«

Einmal am Tag nach ihm sehen und ein bisschen Gassi gehen, denkt Elizabeth.

»Sehr windig heute«, bemerkt Frau Kaminski, wie um Elizabeths Gedankengänge zu zerstreuen, die tatsächlich keine große Lust auf die Gesellschaft eines alten Menschen verspürt.

Im letzten Jahr hat sie für ein paar Wochen in einem Altersheim gejobbt und sich nicht an die Atmosphäre dort gewöhnen können. Betont munter gab sie sich, manchmal leicht burschikos, um sich ihre Betroffenheit nicht anmerken zu lassen. Jedes Mal, wenn sie die Eingangstür öffnete und in die grell beleuchtete Halle trat, in der zusammengeklappte Rollstühle und Gehhilfen bereit standen, schlug ihr ein Geruch entgegen, der sie berührte und den sie nie genau beschreiben konnte. War es der Geruch des Todes, der hier wie selbstverständlich ein und aus ging, bittersüß wie verfaulendes Obst, wie ein üppiger Strauß verblühter Orchideen, ekelhaft und doch berauschend intensiv, ein letztes absurdes trotziges Aufbegehren von Lebendigkeit am Abgrund? »Es riecht nach trauriger Vergänglichkeit«, notierte Elizabeth in ihrem Tagebuch. »Und Angst.« – »Haben alte Leute überhaupt Angst vor dem Tod?«, schrieb sie wenig später. »Ist es nicht einfach nur der Geruch unsauberer Unterwäsche und zu lang gekochter Gemüsesuppe?«

Jeden Abend um achtzehn Uhr schlurfte Elizabeth in Birkenstocktretern über den Gang, machte ihre Teerunde, rechts Kamille, links Fenchel, öffnete Türen, ohne anzuklopfen. »Es gibt Tee, möchten Sie Tee trinken?«, rief sie zu laut. »Mit Süßstoff?«

Fenchel. Kamille. Fenchel. Kamille. Fenchel. Kamille. Neben jeder Zimmertür steckten hinter einer Kunststoffscheibe drei bis vier Namenskärtchen, jederzeit austauschbar. Renate Bach, Barbara Schwarz, Mary-Anne Safeway, Berta Rauchinger. Als Mary-Anne Safeway nach einer langen Nacht gestorben war, hatte Elizabeth ihr Namenskärtchen herausgeholt und es nicht übers Herz gebracht, es einfach wegzuwerfen. »Ich trage die Namen von zwei englischen Königinnen«, hatte Miss Safeway einmal gesagt. »Ich auch«, hatte Elizabeth erwidert, und beide hatten gelacht.

Während sie den Schrank leerte, um Platz für die Habseligkeiten der nächsten alten Frau zu machen, konnte sie nur einen Gedanken fassen. Das Ende eines Lebens, dachte sie immer wieder erschüttert, faltete zwei Strickjacken, einen Pullover und etwas Unterwäsche zusammen und sah die Sachen in einem Schuhkarton durch. Ein zweimal geknicktes Hochzeitsfoto lag darin, ein goldenes Armband, ein Hahn aus billigem Porzellan und ein mit einem Gummiband zusammengehaltenes Bündel Kugelschreiber. Das Ende eines Lebens.

Als sie an diesem Abend auf die Straße trat, fühlte sie sich schlagartig müde, als wäre sie urplötzlich von einer heimtückischen Krankheit befallen worden. Die frische Luft machte es noch deutlicher, und ein am dunklen Himmel lautlos dahingleitendes Flugzeug erinnerte sie an die Klausur, die ihr bald bevorstand und auf die sie sich noch nicht vorbereitet hatte. Um periodische Aufeinanderfolgen von Verdichtungen und Verdünnungen im Fluid würde es gehen, um laminare Strömungen ...

»Du bist zu müde«, sagte sie halb laut, »zu müde und zu traurig.«

Sie hätte gerne auf der Stelle eine Krankheit bekommen, die ihr Aufschub gewährt hätte, die durchlitten werden müsste, die aber nach einer Weile abklingen und ihr eine neue Welt bescheren würde, wie Gesundete empfinden, wenn sie wieder am Leben teilnehmen dürfen und mit unerwarteter Intensität jeden Schmetterling wahrnehmen, jede Färbung des Himmels, den Wohlklang trommelnder Regentropfen auf dem Fensterbrett und dahinter glasklar den göttlichen Willen erkennen, vielleicht sogar eine alles umfassende Ordnung. Eine Krankheit wäre ein Segen gewesen.

Mit Beinen wie aus Blei schleppte sich Elizabeth durch die Straßen. Trotzdem wollte sie nicht in den Bus steigen, der gerade vor ihr hielt und sie die drei oder vier Häuserblocks weit gefahren hätte. Als sich die Bustüren zischend schlossen, bereute sie ihre Entscheidung. Nun musste sie jeden einzelnen beschwerlichen Schritt zurück in ihre leere Wohnung selbst machen. Gereizt blieb Elizabeth stehen. Es war noch nicht spät, sie wollte noch nicht nach Hause. Sie würde in ein Café  oder in eine Bar gehen und ein Glas Wein trinken. Was war dabei, nach Feierabend einen Schlummertrunk zu sich zu nehmen? Vielleicht ein paar nette Leute kennen zu lernen?

Als sie an einer Eckkneipe vorbeikam, zögerte sie nicht und stieß zwei beschlagene Schwingtüren auf. Es roch nach verschüttetem Bier, das wohl seit Jahren in dieselbe, immer fleckiger werdende Auslegware sickerte. Elizabeth nahm an einem kleinen runden Tisch Platz. Drei Männer am Nebentisch glotzten sie an. Sie bestellte Roséwein, ahnte, dass er billig und widerwärtig schmecken würde, wusste, dass sie hier, in dieser Spelunke, allein sitzend trotz des anbrechenden dritten Jahrtausends, einen falschen Eindruck auf diese Männer machte, wusste, dass sie den Wein nicht trinken sollte, weil er Kopfschmerzen und Übelkeit verursachen würde, fragte sich, ob er nicht sogar aus roten und weißen Resten gepanscht, womöglich sogar aus halb voll zurückgelassenen Gläsern anderer Gäste zusammengeschüttet worden war, und trank das Glas trotzdem in einem Zug aus. Viel zu heftig stellte sie es auf den Tisch zurück. Die Männer am Nebentisch applaudierten. Elizabeth hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Kurz hielt sie sich die zitternden Hände davor, unterdrückte die empörte Forderung ihres Magens, sich sofort wieder von dieser flüssigen Last zu befreien, holte dann einen Geldschein heraus, klemmte ihn hastig unter das Glas und eilte hinaus auf die Straße. Nun war ihr tatsächlich übel. Sie schwankte, fühlte in ihrer Hosentasche das kantige Namensschild der toten Miss Safeway und ging nach Hause, wo sie sich stundenlang schlaflos im Bett herumwälzte.

Am nächsten Morgen erwachte Elizabeth um halb sieben. Sie lag eine Weile da, schloss die Augen wieder und konzentrierte sich auf den pochenden Schmerz, der sich von ihrem Hinterkopf bis in die Stirn zog. Im Hof klirrte ein Fenster zu. Ein kleines Kind weinte lange und kläglich. Jemand warf Flaschen in den Glascontainer. Genervt öffnete sie die Augen. Sie starrte an die Zimmerdecke und bemerkte einen feinen Riss. Ob er sich vorwärts fressen, breiter werden und das ganze Haus eines Tages in zwei Hälften auseinander brechen lassen würde? Ihr sollte es recht sein. Seufzend stand sie auf und schlurfte im Morgenrock in die Küche. Es hatte geregnet. An den Fensterscheiben hafteten noch vereinzelte Tropfen. In winziger glitzernder Form spiegelten sie Elizabeths Umgebung wider. Ihre kleine Welt. Ihr kleines unwichtiges Leben.

Am Küchentisch sitzend trank Elizabeth wenig später Kaffee. Sie hörte ihr eigenes Schlucken überlaut und das Ticken der Uhr. Als die Tasse leer war, hatte sie beschlossen, nicht mehr in das Altersheim zurückzukehren.

Frau Kaminski sitzt immer noch abwartend auf dem Sofa. Lächelnd entknotet sie ihre Beine, setzt die Füße nebeneinander und kippt ihre aneinander gepressten Knie nach links. Unbequem sieht diese Stellung aus, aber elegant. Auf eine unmoderne Art elegant. Welche Frau sitzt heutzutage noch freiwillig so? Während Elizabeth solche Gedanken durch den Kopf gehen, durchschaut sie auf einmal die Taktik von Frau Kaminski, die ihre Beine pausenlos in so anmutiger Weise bewegt, als wären sie schön, und die so selbstbewusst mit ihnen umgeht, dass der Beobachter dabei übersieht, wie hässlich und plump sie eigentlich sind. Es sind ausschließlich die tänzerischen, grazilen Bewegungsabläufe, die glauben machen, ihre Beine wären formvollendet.

Elizabeth sagt zu. Ja, sagt sie, sie sehe gerne nach dem alten Vater. Es mache ihr nichts aus, im Gegenteil, es sei doch nur nachbarschaftliche Hilfe.

Die geschwollenen Knöchel von Frau Kaminski, die inzwischen in Königin-Mutter-Manier gekreuzt sind, haben auf aberwitzige Weise zu dieser Entscheidung beigetragen, auch das Fuchteln der Kastanienarme im Fenster und die Hoffnung, dass eine Handlung, irgendeine, eine weitere nach sich ziehen wird. Elizabeth hat nichts zu verlieren. Sie bekommt einen Schlüssel ausgehändigt, einen Zweihundert-Euro-Schein, eine handgeschriebene Liste mit Nahrungsmitteln, die dem alten Mann nicht zuträglich sind, und einen Zettel mit einer langen Telefonnummer.

»Bitte rufen Sie nur in dringenden Fällen an«, sagt Frau Kaminski, notiert sich noch schnell Elizabeths Kontonummer, dann steht sie auf, und während sie zur Wohnungstür stöckelt, starrt Elizabeth auf ihre prallen nylonbeschichteten Waden.

»Ich komme Weihnachten wieder. Auf Wiedersehen!«, ruft Frau Kaminski über die Schulter und ist fort.

»Auf Wiedersehen!« Elizabeth lässt die Tür offen stehen, geht zurück ins Wohnzimmer, nimmt den Schlüssel vom Tisch und steigt in ihren Wollsocken die Treppe in den fünften Stock hinauf. Mehr Licht fällt durch die Milchglasfenster der höher gelegenen Treppenabsätze. Die Krone des Kastanienbaums reicht nur bis in den vierten Stock. Der rotschwarze Sisalteppich ist hier nicht so abgewetzt. Weiter unten klappt eine Wohnungstür. Stimmen erklingen, dann Schritte, polternd, schnell leiser werdend. Elizabeth hält die Luft an, als täte sie etwas Verbotenes.

Vor dem Klingelschild »O. Kaminski« bleibt Elizabeth stehen. Ihr Herz klopft heftig. Sie weiß selbst nicht, warum. Etwas raubt ihr den Atem. Ist sie so unsportlich geworden? Schnaufend steckt sie den Schlüssel ins Schloss und drückt gleichzeitig auf die Klingel. Es macht »Ding-Dong«, sie dreht den Schlüssel und öffnet die Tür. Vor ihr liegt ein langer dunkler Flur. Sein Ende verliert sich in diffusem Schatten.

Die Wohnung ist viel größer als ihre, die im Zuge aufwändiger Sanierungsarbeiten geteilt wurde. Auch der vom Krieg verschont gebliebene Stuck wurde damals abgeklopft, und die dreieinhalb Meter hohen Decken der insgesamt zwölf Zimmer wurden, dem Geschmack der Zeit entsprechend, abgehängt. Mitten durch Elizabeths Wohnzimmer zieht sich eine Trennwand. Manchmal streicht sie mit ihren Händen darüber und fragt sich, wie es früher hier zugegangen war, als dieser Raum noch so groß wie ein Ballsaal gewesen sein musste, mit Fischgrätparkett und stuckverzierten Decken und vielen weiteren Zimmern, die sich durch hohe Flügeltüren anschlossen – Herrenzimmer, Kinderzimmer, Speisezimmer, Ankleidezimmer und weiter hinten, bei der Küche gelegen; die Dienstkammern. Mehr als ein Dienstmädchen wäre sie hier in der Vorzeit gewiss nicht gewesen, denkt sie, während ihr Ohr an der dünnen Wand liegt, so als könnte es in die Vergangenheit lauschen. Doch alles, was Elizabeth hört, ist monotones Stampfen von Popmusik und bis spät in die Nacht das Gemurmel eines Fernsehgeräts, unterbrochen von häufigem Telefonklingeln. »Hallo«, ruft sie nun leise in den dunklen Flur. Sie erhält keine Antwort. Was soll sie tun? Einfach losmarschieren, Herrn Kaminski aufstöbern, der wie ein verschrecktes Kaninchen in seinem verzweigten Bau hockt und sich nicht zeigen will?

»Herr Kaminski?« Zaghaft geht Elizabeth auf den Raum zu, der am Ende des Flurs hinter einer angelehnten Tür liegt. Rötliches Licht schimmert durch den Spalt, und während sie lautlos ihre Schritte setzt, fällt ihr auf, dass es in der Wohnung sonderbar riecht. Sie kann den Geruch nicht genau definieren, doch er ist ihr nicht unangenehm. Zimtig, ein wenig wie Weihnachten riecht es, feierlich, nicht nach Altersheim, stellt Elizabeth erleichtert fest, nicht nach Tod und Bratfisch oder verbrannter Milch. Sie hat die Tür erreicht, stößt sie sanft auf und sieht in einem Ohrensessel einen Mann sitzen, der sie aufmerksam ansieht, als habe er jedes Geräusch, das sie bisher gemacht hat, zur Kenntnis genommen, vom heftigen Atmen vor seiner Wohnungstür, dem Herzklopfen und dem Ding-Dong der Klingel, vom Drehen des Schlüssels bis zum Schnuppern im Flur und dem leisen Auftreten ihrer bestrumpften Füße.

»Guten Tag«, sagt er belustigt, und schlagartig kommt er Elizabeth überhaupt nicht mehr wie ein verängstigtes Kaninchen vor. Seine wachsamen dunklen Augen, die blitzschnell über ihr Gesicht und ihren Körper huschen, eine große, leicht gekrümmte Nase und seine zu weite dunkle Strickjacke geben ihm das Aussehen eines schwarz gefiederten Raben, mit schief gestelltem Kopf und hängenden Flügeln. Hinter ihm fallen durch halb zugezogene bordeauxrote Vorhänge Sonnenstrahlen. Sie sind es, die den großen Raum in rosiges Licht tauchen. Bücherregale reichen voll gestopft bis unter die hohe Decke, wo sie mit einem üppigen Stuckfries abschließen. Ein massiver Sekretär, von zwei großen Palmen flankiert, sodass sich der Schreiber an diesem Tisch wie im Urwald fühlen muss – tatsächlich hocken drei matt schimmernde Bronze-Affen darauf, die sich jeweils Mund, Augen oder Ohren zuhalten –, bildet den eindrucksvollen Mittelpunkt des Raums, in dem Elizabeth nun steht und nicht weiß, was sie sagen soll.

»Was werden Sie mir Gutes kochen?«, fragt der alte Mann, der sie nicht einen Moment aus den Augen gelassen hat.

Elizabeth räuspert sich. »Was essen Sie denn gerne?« Das erste Mal an diesem Tag lächelt sie.

»Kartoffelpuffer«, antwortet er schnell. »Selbst gemacht, mit Zwiebeln und Apfelmus.«

»Gut«, sagt Elizabeth. Ihr Lächeln geht in ein fröhliches Lachen über. Dieser alte Knabe gefällt ihr, und sie hat das Gefühl, dass das Zubereiten von Kartoffelpuffern sinnvoller sein wird als das meiste, was sie in letzter Zeit getan hat. Während sie wenig später in einer großen blau-weiß gefliesten Küche Zwiebeln so fein hackt, wie es ihr möglich ist, treten Tränen in ihre Augen und laufen über ihre geröteten Wangen, und Elizabeth lässt sie einfach fließen, auf das Hackbrett tropfen, auf dem schon die geschälten Kartoffeln bereitliegen, um geschabt, gesalzen, mit Eigelb und den gehackten Zwiebeln vermengt in heißem Öl gebraten zu werden. Warum ihre Augen so empfindlich auf die Zwiebeldämpfe reagieren, oder ob es ihre Seele ist, die sich aus unerfindlichen Gründen regt, das weiß sie nicht.

Ein köstlicher Duft zieht bald durch die Wohnung. Die Puffer sind Elizabeth gut gelungen, wie krosse goldene Sonnen zucken sie im brodelnden Fett. Sie öffnet ein Glas Apfelmus, das sie in der Speisekammer gefunden hat, deckt den Küchentisch, macht das Fenster auf, und

während sich wenig später der alte Herr Kaminski sein Mittagessen schmecken lässt, sieht sie sich in der Küche um. Sie ist zufrieden mit sich. Ihr Blick versinkt träumerisch in glänzend glasierten dunkelblauen Delfter Fliesen (Segelschiffe, Windmühlen), wandert weiter über ein Regal, in dem ein Döschen Brecht Kräutersalz neben einer Sammlung Mokkatassen und einem zugeschraubten Gurkenglas voll mit orangefarbenen und gelben nimm2-Bonbons steht, die in der sonnengefluteten Küche wie Bernsteine und Amber leuchten. Elizabeth verspürt große Lust auf solch einen Bonbon, als würde er in seinem Innern nicht einen Klacks Vitaminsirup, sondern die unberechenbare Kraft von jahrtausendealtem Baumharz bergen.

An einer Zuckerdose lehnt ein schwarz angelaufener Silberrahmen mit der Schwarz-Weiß-Fotografie einer Frau im Halbprofil. Ihr dunkles Haar ist auf kunstvolle Weise im Nacken zu einem enormen Knoten verschlungen, dessen Gewicht ihr den Kopf ein wenig nach hinten zieht. Oder hat sie ihr Kinn absichtlich so in die Höhe gereckt? Gebieterisch, stolz, ja, kämpferisch sieht sie aus. Doch dazu will der melancholische Ausdruck ihrer großen Augen nicht passen, die durch die mit pastellfarbenen Wolken bemalten Pappkulissen des Fotoateliers hindurch zu sehen scheinen, durch Mauern und Straßen, über Flüsse, Seen und Meere hinweg zurück in die Ewigkeit.

»Sie ist wunderschön, nicht wahr?«, fragt Herr Kaminski.

»Ja«, antwortet Elizabeth hastig, obwohl sie nicht ganz sicher ist. Sie hat diesen merkwürdigen Blick noch nicht deuten können. »Warum steht das Bild hier in der Küche?«

Der alte Mann fährt mit dem letzten Stück Kartoffelpuffer über den Teller, und bevor er es sich in den Mund steckt, sagt er grinsend: »Ich esse nicht gern allein.«

Elizabeth nickt verständnisvoll. »Wer war diese Frau?« »Die gnädige Frau Esther«, antwortet er und lehnt sich auf dem Stuhl zurück. »Aaaah«, macht er genießerisch, dann lächelt er. »Sie hatte so eine ganz gewisse Art, durch ihren Garten zu gehen. Meist war sie ja schwanger. Dann legte sie sich eine Hand auf den Bauch, und mit der anderen strich sie zart über Johannisbeerbüsche und Rosen. Anmutig beugte sie sich über alles, was da wuchs, und ich stand immer in ihrer Nähe und beobachtete sie, sah, wie sich ihre Lippen bewegten, wie sie seufzte, lächelte oder weinte. Für einen kostbaren Moment glaubte sie sich allein, aber ich war immer da und wachte über sie.«

Er lächelt nicht mehr, der alte Mann, sondern blickt ernst auf seinen leer gegessenen Teller.

»Und weiter?«, fragt Elizabeth neugierig.

»Machen Sie doch Kaffee«, schlägt er wie selbstverständlich vor, als wären sie ein gut eingespieltes Team, und geht hinaus. Elizabeth sieht ihm hinterher, wie er leicht o-beinig aus der Küche stampft. Vom alten Schlag, denkt sie. Seinen Teller hätte er wenigstens zum Spülbecken bringen können.

Während sie einen Topf mit Wasser auf den Herd stellt, wirft sie noch einen Blick auf die Fotografie. »Die gnädige Frau Esther« – wie veraltet das klingt. Gnädige Frau! Aber Herr Kaminski hat es mit so viel echter Zuneigung ausgesprochen ...

Elizabeth schrubbt die Pfanne und wäscht Teller und Besteck ab. Das flüssige Spülmittel verströmt einen Geruch, der sie an Limonen erinnert und ihr das Gefühl gibt, sehr tüchtig und reinlich zu sein. Sie poliert das Waschbecken, reibt an alten Kalkflecken herum, und während sie das tut, tritt ihr das Bild einer Frau vor Augen, einer schönen jungen Frau, gekleidet in schneeweiße Spitze, die in ihrem von efeubewachsenen Mauern umgebenen Garten wandelt, eine Taube auf der Schulter, oder besser noch eine singende Amsel.

Auf dem Herd kocht das Wasser. Elizabeth schreckt hoch, stellt das Gas ab und sieht zu, wie sich der aufgeregt bebende Topf beruhigt. Er ist nur noch halb voll, das Wasser muss eine Weile gekocht haben. Deutlich spürt Elizabeth den unergründlichen Blick der gnädigen Frau Esther in ihrem Rücken, als würde er sich in ebendiesem Moment durch die Jahrzehnte hindurchbohren, in dem Elizabeth in der fremden Küche steht und das Wasser aufhört zu brodeln.

Mit einem Tablett betritt sie wieder das Wohnzimmer, in dem Herr Kaminski die roten Vorhänge beiseite gezogen hat. Sonnenlicht strömt ungehindert in den Raum. Das rosige Licht hat Elizabeth bevorzugt. Nun sieht alles mit einem Mal so real aus. Auf dem Schreibtisch liegt viel Staub, auch die Palmenwedel sind davon bedeckt.

»Ah, der Kaffee«, sagt Herr Kaminski erfreut.

Elizabeth gießt ihm ein.

»Eine zweite Tasse!«, befiehlt er. »Sie haben schon nicht mit mir essen wollen. Trinken Sie wenigstens Kaffee mit mir.« Geräuschvoll nimmt der alte Mann den ersten Schluck. »Ein bisschen zu stark«, befindet er und wiegt skeptisch den Kopf hin und her. »Aber besser als zu schwach.« Er zwinkert ihr zu.

Was für ein komischer Kauz, denkt Elizabeth und geht zurück in die Küche, um eine Tasse zu holen. Sie will nicht mit dem alten Mann diskutieren, der stur wie ein Maulesel zu sein scheint, doch seine direkte Art gefällt ihr. Er weiß, was er will, im Gegensatz zu ihr. Und er scheint sogar zu wissen, dass sie gern eine Tasse Kaffee trinken möchte. Kurz darauf nimmt sie gegenüber von Herrn Kaminski Platz und lächelt unsicher. Sie greift zur Kanne, schenkt ihm nach und sich selbst ein. Ihr sind ihre Aufgabenbereiche in dieser Wohnung noch nicht ganz klar. Kochen soll sie, ein bisschen Konversation machen, obwohl es der alte Mann ist, der die ganze Zeit redet. Er kennt noch nicht einmal ihren Namen.

»Das war ein Garten!«, erzählt er schon wieder weiter. »Dort gab es eine ganze Magnolienbaumallee, die in einen Rosengarten führte, in dem nur Damascena-Rosen blühten. Keine Blume der Welt konnte sich mit der Perfektion dieser Rosenblüten messen. Ein ganzes duftendes Meer davon, können Sie sich das vorstellen?«

Plötzlich hat der Kaffee seinen samtenen Geschmack verloren und brennt bitter auf der Zunge. Er ist tatsächlich zu stark, da hilft auch noch so viel Zucker nicht.

»Ich mag Blumen nicht besonders«, stößt Elizabeth hervor und wird rot. Im Zimmer ist es ruhig. Herr Kaminski starrt sie an. Wie eine Maske sieht sein Gesicht auf einmal aus, wie eine faltige, ausdruckslose Maske, kein Muskel bewegt sich, die Augenlider stehen still. Elizabeth bemerkt, wie blau seine Iris ist, mit dunklen Sprenkeln darin.

Er beugt sich weit in seinem Sessel vor. »Was haben Sie da eben gesagt?«, flüstert er.

Sie geniert sich, fühlt sich wie ein dummes Kind, das gleich gescholten wird. Trotzdem wiederholt sie den Satz leise. »Ich mag Blumen nicht besonders.«

Herr Kaminski beugt sich noch weiter vor, gleich wird er auf den Fußboden kippen. Die Tasse, die er mitsamt Untertasse in der Hand balanciert, klappert leise. Es ist das einzige Geräusch im Raum, bis Herr Kaminski Luft holt. Oder ringt er nach Atem?

»Das ...«, sagt er langsam, »... das ist das Dümmste, was ich in meinem ganzen Leben gehört habe.«

Bevor Elizabeth beleidigt etwas erwidern kann, fängt der alte Mann schallend zu lachen an. Wiehernd schlägt er sich auf die Schenkel, Kaffee spritzt aus seiner schwankenden Tasse, was er gar nicht bemerkt, lacht immer weiter und weiter. Mit dieser Reaktion hat Elizabeth nicht gerechnet. Verwirrt beobachtet sie ihn, diesen merkwürdigen, äußerst belustigten Mann, der ihr auf einmal tückisch vorkommt. Er amüsiert sich auf ihre Kosten, und sie spürt, wie ihre Lippen schmal werden.

»Sie mag keine Blumen«, prustet Herr Kaminski und zieht wie ein Zauberer ein großes kariertes Stofftaschentuch aus der Sesselritze. Keuchend wischt er sich Lachtränen von den stoppligen Wangen. Er scheint bemüht zu sein, sich zu beruhigen, lacht noch einmal schnaubend in das Tuch, trocknet seine Augen und starrt dann Elizabeth fasziniert an. »Verzeihen Sie«, sagt er. »Das war nicht nett von mir.«

»Nein!«, herrscht ihn Elizabeth an. »Das war überhaupt nicht nett.«

Er räuspert sich. »Haben Sie schon einmal an einer Damascena-Rose gerochen?«, fragt er, ganz ernst geworden, mit verwandelter Stimme, die jetzt tief und warm klingt. »Ich kenne nur Bacchara-Rosen und Moosröschen«, erwidert Elizabeth. »Und die riechen nach nichts.«

Herr Kaminski nickt. »Dieser seelenlose Stickstoff-Mist aus Holland!«, knurrt er. »Aber ich meine die alten Rosen, die, die von den Rittern der Kreuzzüge mitgebracht wurden, die nach schönen Frauen benannt wurden. Bei der gnädigen Frau Esther gab es solch einen Rosengarten. Zu Beginn hatten die Blüten einen ganz zarten Hauch von Rosa, der später zu reinstem Weiß wurde, wie durchscheinendes Porzellan, wie Sterne in der Nacht. Ein ganzes Meer davon.«

Elizabeth horcht auf. Zum zweiten Mal an diesem Tag in dieser Wohnung hat sie das Gefühl, dass sie weinen möchte.

»Und dieser Duft«, schwärmt Herr Kaminski. »Als wäre ein Engel vorübergegangen. Ein Duft, der über die Seele streift. Verstehen Sie?«

Seine großen schwieligen Hände fahren mit sanften Bewegungen durch die Luft, als wollten sie einer Libelle die geknickten Flügel richten. »Und es war die gnädige Frau Esther, die alles geplant hat und anlegen ließ«, fährt er ein wenig atemlos fort, »das Wasserbecken voller Goldfische und Seerosen, die von Hortensien gesäumten Kieswege und die Magnolienbaumallee. Nach einer Italienreise ließ sie ein gläsernes Gewächshaus bauen, in dem die herrlichsten Bougainvilleen wuchsen, Palmen, Oliven- und Orangenbäume. Aus Florenz hatte sie drei wunderschöne mannshohe Terrakotta-Engel nachschicken lassen. Leider haben sie den kalten deutschen Winter nicht überlebt. Sie bekamen Risse, und als der Frost vorbei war, fielen sie einfach auseinander, hier ein Flügel, dort eine Hand. Das war schrecklich und komisch zugleich.«