Über dieses Buch:
Die Tatwaffe: ein gläserner Briefbeschwerer. Das Opfer: ein vermögender Textilfabrikant. Das Motiv: vermutlich klassisch – hatte die Ehefrau des Ermordeten ein Interesse daran, ihn aus dem Weg zu räumen? Thea Engel von der Mordkommission Stuttgart beginnt zu ermitteln. Doch dann nimmt der Fall eine ungeahnte Wendung, als ein weiterer Mord geschieht. Gemeinsam mit ihrem Partner Michael Messmer stößt Thea Engel auf ein Geflecht aus Lügen und Intrigen, das weit in die Vergangenheit zurückreicht – und mehr mit ihr selbst zu tun hat, als ihr bewusst ist …
Abgründige Fälle, knifflige Ermittlungen und sympathische Figuren – der erste Roman der Thea-Engel-Serie: »Eine gelungene Mischung aus Spannung, Liebe und Humor.« Stuttgarter Zeitung
Über die Autorinnen:
Silvija Hinzmann, geboren 1956 in Čakovec, Kroatien, lebt seit ihrer Kindheit in Deutschland und arbeitet als Übersetzerin, Dolmetscherin und Krimiautorin.
Britt Reißmann, geboren 1963 in Naumburg/Saale, war Intarsienschneiderin und Sängerin, bevor sie begann, für die Mordkommission Stuttgart zu arbeiten – und dadurch inspiriert wurde, ihre alte Leidenschaft für das Schreiben neu zu entdecken. Seitdem veröffentlichte Britt Reißmann zahlreiche Kriminalroman und Kurzgeschichten.
Silvija Hinzmann und Britt Reißmann schrieben gemeinsam den Kriminalroman »Die Farbe des Himmels«, dem drei weitere Fälle rund um die Stuttgarter Kommissarin Thea Engel folgten: »Der Ruf der Schneegans«, »Der Traum vom Tod« und »Die Einsamkeit der Nacht«.
***
Dieses eBook ist ein Kriminalroman: Alle Handlungen und Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen daher rein zufällig und nicht beabsichtigt.
***
eBook-Neuausgabe November 2017
Copyright © der Originalausgabe 2005 Hermann-Josef Emmons Verlag
Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Janne Parri und shutterstock/tichr
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)
ISBN 978-3-96148-109-5
***
Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
***
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Die Farbe des Himmels« an: lesetipp@dotbooks.de (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)
***
Besuchen Sie uns im Internet:
www.dotbooks.de
www.facebook.com/dotbooks
blog.dotbooks.de/
Silvija Hinzmann und Britt Reißmann
Die Farbe des Himmels
Ein Fall für Thea Engel
dotbooks.
Gewidmet den Mitarbeitern vom Dezernat 1.1 des Polizeipräsidiums Stuttgart sowie dem Personal und den Bewohnern des Weraheims, wo Stuttgarts erste Babyklappe eingerichtet wurde.
Wir müssen auf unsere Seele hören,
wenn wir gesund werden wollen!
Letztlich sind wir hier, weil es kein
Entrinnen vor uns selbst gibt.
Solange der Mensch sich nicht selbst in
den Augen und im Herzen seiner
Mitmenschen begegnet, ist er auf der Flucht.
Solange er nicht zulässt, dass seine
Mitmenschen an seinem Innersten
teilhaben, gibt es keine Geborgenheit.
Solange er sich fürchtet durchschaut zu
werden, kann er weder sich selbst noch
andere erkennen – er wird allein sein.
Alles ist mit Allem verbunden.
Hildegard von Bingen
20. November 1973
Die Stunden nach Sonnenuntergang sind die schlimmsten. Wenn das Tagesprogramm vorbei ist und wir in unseren Zimmern bleiben sollen, fallen die Erinnerungen über mich her wie schwarze Vögel, die mit ihren spitzen Schnäbeln auf mich einhacken. Ich kann sie nicht abwehren.
Jetzt im November geht die Sonne früh unter. Im Zimmer ist es kalt und dunkel. Wir dürfen nach zehn Uhr kein Licht mehr anmachen. Aber ich habe eine alte Haushaltskerze von der Signora bekommen und in eine leere Flasche gesteckt. So kann ich wenigstens mein Tagebuch schreiben.
Ich sitze an dem wackeligen Holztisch am Fenster und schaue in die Nacht. Draußen rattert der Zug in Richtung Herrenberg vorbei. Er ist so einladend erleuchtet. Ich stelle mir vor, was für Menschen darin sitzen, und frage mich, wohin sie unterwegs sind. Ich würde so gern mit einem von ihnen tauschen. Keine Ahnung, warum ich immer denke, dass andere glücklicher sind als ich.
Die Signora schläft schon. Endlich ist Ruhe, abgesehen von ihrem leisen Schnarchen. Den ganzen Tag lärmte Adriano Celentanos kratzige Stimme aus ihrem alten, klapprigen Plattenspieler. Nicht auszuhalten! Ich habe schon überlegt, ob ich das Ding einfach auseinander nehmen soll. Aber das wäre zu riskant. Der Verdacht würde sofort auf mich fallen. Außerdem mag ich die Signora. Nur dieses furchtbare Lied tötet mir den letzten Nerv.
Eigentlich heißt sie Sofia da Vito, aber Dali hat sie »Signora« genannt, weil sie immerzu von Italien redet. Sie stammt aus der Gegend um Mailand, ist aber seit vielen Jahren nicht mehr dort gewesen. Irgendwie tut sie mir Leid. Sie hört das Lied sicher aus Sehnsucht.
Ich höre Schritte im Flur. Die Nachtrunde fängt an. Eigentlich müsste ich jetzt schlafen, aber ich will nicht. Ich habe Angst, dass der Traum wiederkommt. Ich halte es nicht aus, jede Nacht von ihr zu träumen. Im Traum ist sie da, und ich kann sie berühren, streicheln und liebkosen. Doch wenn ich aufwache, muss ich weinen, weinen, weinen ...
Als der Alarmapparat klingelte, war Thea Engel allein im Geschäftszimmer. Sie erwartete ein Fax mit den Personalien eines Studenten, der sich am Abend zuvor aus Liebeskummer von dem sechsundfünfzig Meter hohen Bahnhofsturm gestürzt hatte. Selbstmorde waren keine Straftat, und Thea fragte sich manchmal, warum sie eigentlich von ihrem Dezernat bearbeitet wurden. Zugegeben, Stuttgart war laut Statistik die sicherste deutsche Großstadt, und tatsächlich passierte hier nur alle paar Monate ein Mord. Körperverletzungsdelikte und jede Menge unklare Todesfälle, die sich letztlich meist doch als natürliche Tode herausstellten, waren das tägliche Brot der Stuttgarter Mordkommission.
Thea nahm ab. »Engel, Dezernat 1.1.«
»Henning, Funkleitzentrale, guten Morgen.«
»Ich bin nicht sicher, ob der Morgen gut wird, wenn ich einen von euch am Telefon habe. Was gibt's denn?« Thea angelte nach Notizblock und Stift.
»Eine Frau Baric hat eben angerufen. Wenn ich sie richtig verstanden hab, meldete sie eine ›tote Person in Wohnung‹, in Sonnenberg, Orplidstraße 15, Wolf Hauser. Möglicherweise ihr Arbeitgeber. Die Frau war völlig hysterisch, und ihr Deutsch war ungefähr so gut verständlich wie ein Brief vom Finanzamt. Es klang nicht nach natürlichem Tod, aber das werdet ihr schon herausfinden.«
»Danke, wir sind unterwegs.« Thea griff nach dem Personalienblatt, das gerade aus dem Faxgerät kroch. »Du musst leider warten«, murmelte sie, schob es in die Ablage und lief den Flur hinunter.
Ein paar Türen weiter stürzte sie in das Zimmer des Dezernatsleiters Rudolf Joost, der eben sein Zigarillo ausdrückte und die letzte Rauchwolke in die Luft blies. Thea musste unwillkürlich an die kleine Dampflok denken, die im Höhenpark auf dem Killesberg Scharen von Besuchern durch die Anlagen fuhr.
»Ein Toter in Sonnenberg, wahrscheinlich ein nichtnatürlicher Tod«, stieß sie hervor.
Joost griff zum Telefon und wählte eine Nummer. »Micha, kannst du mit Thea zu einer Leiche fahren? Sie erzählt dir alles Weitere.«
Er legte auf. »Und ab mit euch.«
Thea hastete zu ihrem Büro, um ihren Rucksack zu holen. Aus dem Spiegel an der Innenseite der Schranktür blickte sie ihr erhitztes Gesicht an. Wie ich schon wieder aussehe, dachte sie, fuhr sich durch die dichte rote Mähne und band sie in aller Eile zu einem Pferdeschwanz.
»Es ist in der Orplidstraße«, rief sie, als sie die Tür ihres Kollegen Michael Messmer erreichte.
»Das weiß ich schon. Die Buschtrommeln funktionieren mal wieder prächtig.« Messmer steckte sein Handy ein, schloss das Büro ab und lief den Flur hinunter.
»Buschtrommeln? Ich benutze meistens das Telefon.« Thea hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Er war schlank und durchtrainiert und überragte sie um mindestens zwanzig Zentimeter.
Messmer grinste sie wortlos von der Seite an und lief noch schneller.
»Wieso rennst du so? Dem Toten hilft diese Hetze auch nicht mehr«, keuchte sie.
»Ihm nicht, aber dir. Das hält fit.« Messmer hielt ihr galant die Tür zum Treppenhaus auf.
Thea schwieg irritiert. Woher kam plötzlich diese kleine, züngelnde Flamme in ihrem Bauch? Der Kerl war für diesen Job eindeutig zu attraktiv. Seine braunen Augen standen in reizvollem Kontrast zu dem dunkelblonden, für die derzeitige Mode etwas zu langem Haar. Michael Messmer verfehlte seine Wirkung auf Frauen nicht, und Thea argwöhnte, dass er das auch wusste.
»Weißt du, wer dieser Wolf Hauser ist, ich meine, war? Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor«, fragte Thea, als sie auf die Pragkreuzung zurollten.
»Wenn mich nicht alles täuscht, ist es dieser Kleiderfabrikant. Merkle & Hauser, kennst du doch sicher.« Messmer bog auf die Heilbronner Straße ab und stieg aufs Gas. Er hatte kein Blaulicht aufs Autodach geklemmt, kümmerte sich aber trotzdem nicht um , die Geschwindigkeitsbegrenzung. »Die machen so Schickimicki-Klamotten, ohne die chemische Reinigungen nicht überleben können«, fuhr er fort. »In meinem Schrank findest du so was nicht. Aber Ulrike fährt mächtig drauf ab.«
Ulrike war Messmers Exfrau, und der Ton, in dem er von ihr sprach, sagte mehr über seine Ehe als das umfangreiche Scheidungsurteil, das Thea mal auf seinem Schreibtisch gesehen hatte. Messmers Trennung von Ulrike lag kaum ein halbes Jahr zurück und hatte ihn Nerven und eine Stange Geld gekostet.
Sie passierten den Hauptbahnhof, jagten durch den Wagenburgtunnel und schossen die Weinsteige in Richtung Degerloch hinauf. Die schlanke Nadel des Fernsehturms kam näher und verschwand dann hinter den Baumkronen.
»Wenigstens sind in der Urlaubszeit die Straßen frei. Die meisten Leute lümmeln wahrscheinlich gerade faul am Strand oder kraxeln die Berge hoch«, sagte Thea.
»Leider auch unsere Kollegen. Hoffentlich kommt jetzt keine Soko auf uns zu. Wir sind total unterbesetzt.« Messmer setzte seine Sonnenbrille auf und konzentrierte sich auf die Straße.
Thea sah auf die Uhr. Es war kurz vor elf. Die Hitze flimmerte über dem Asphalt, und feiner Dunst hing über der Innenstadt unten im Talkessel. Das Thermometer am Armaturenbrett zeigte neunundzwanzig Grad Außentemperatur an. Es war der heißeste August, den Thea bisher erlebt hatte.
Am Albplatz bog Messmer nach rechts ab und verlangsamte die Fahrt. »Wenn ich dir einen Tipp geben darf ...«, begann er und schob die Sonnenbrille nach oben.
Thea sah ihn überrascht an. Tipps brauchte sie so nötig wie unbezahlte Überstunden. Teamarbeit und Fachwissen fand sie viel angebrachter.
»Sperr deine Augen und Ohren auf und lass die Leute zuerst reden, reden, reden. Du musst nur alles aufschreiben. Sortieren können wir es später. Klaro?«
»Ein ganz toller Tipp, danke. Aber ich hab meine Ausbildung schon hinter mir, falls dir das entfallen ist.« Sie sah an ihm vorbei. Arroganter Kerl! Das hatte ihr noch gefehlt, dass er ihr bei jedem Schritt die Welt erklärte. »Du musst hier abbiegen«, erinnerte sie ihn nicht ohne Genugtuung.
Messmer bremste scharf und bog in die Orplidstraße ein.
Vor einem schmiedeeisernen Tor stand ein Streifenwagen. Messmer brachte den schwarzen Mercedes zum Stehen und stieg aus. Ohne auf Thea zu warten, ging er auf die zwei Polizisten zu, die vor der Absperrung warteten.
Thea verfluchte in Gedanken die Hose, die inzwischen an ihren Oberschenkeln klebte. Das T-Shirt war auch schon verschwitzt. Sie knallte die Wagentür zu und holte zwei weiße Schutzanzüge aus dem Kofferraum. Schon bei dem Gedanken, so ein Ding anziehen zu müssen, grauste ihr.
»Vermutlich wurde der Mann erschlagen. Er hat eine große Platzwunde am Kopf. Die Putzfrau hat ihn im Arbeitszimmer gefunden. Sie hockt da drüben, der daneben ist der Gärtner von schräg gegenüber«, hörte Thea den Schutzpolizisten sagen, als sie zum Streifenwagen kam. Resigniert starrte sie auf die Overalls in ihrer Hand. Sie kam also nicht drum herum.
Thea folgte Messmer zu der korpulenten Frau in grellbunter Kittelschürze, die unter einem Kastanienbaum saß. Der Gärtner, ein Inder oder Pakistani, nahm hektisch einen letzten Zug aus der Zigarette, die schon bis auf den Filter abgebrannt war. Aus den Taschen seines grünen Overalls hingen Arbeitshandschuhe heraus.
»Messmer, Kripo Stuttgart. Das ist meine Kollegin Engel. Haben Sie angerufen?«
Die Frau nickte und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Ja, ich Sie habe gerufen. Bosiljka Baric isch meine Name. Das alles isch schrecklich, so schrecklich. Wer macht so was?«
»Das kriegen wir schon raus. Kommen Sie, zeigen Sie uns, wo Sie den Toten gefunden haben.«
»Oben, in seine Zimmer.« Frau Baric schniefte und setzte ihre Körpermassen in Bewegung. Sie gingen auf die moderne Villa zu, deren weiße Fassade durch die Äste der Obstbäume schimmerte.
Messmer winkte dem Streifenpolizisten, der gestenreich versuchte, mit dem jungen Gärtner ins Gespräch zu kommen. »Habt ihr schon die Spurensicherung angerufen?«
Er nickte.
»Befragt auch mal die Gaffer da drüben und schickt sie dann nach Hause.« Er wies auf eine Menschentraube, die sich vor dem Grundstück drängte.
Bosiljka Baric zog einen Schlüssel aus der Schürzentasche und drückte die Glastür der Villa auf. Messmer warf einen prüfenden Blick auf das Schloss.
»Ist Ihnen an der Tür etwas Ungewöhnliches aufgefallen, als Sie kamen? War irgendetwas anders als sonst?«
»Nein, alles normal. Die Tür war zugezoge. Herr Hauser schließen nie ab, wenn er isch zu Hause. Und Alarmanlage war ausgeschaltet. Ich hab eine Schlüssel für diese komische Ding, nur einmal ich hab vergesse ausmachen und ... oh Gott, oh Gott ...«
Nicht übel, dachte Thea, als sie den mit hellem Marmor ausgelegten Flur betraten. Die Orientteppiche sahen teuer aus und waren es sicher auch. Sie gingen an einem antiken Tischchen vorbei, auf dem eine angebissene Butterbrezel lag. Auf dem Milchkaffee in der Tasse daneben schwamm eine dünne Haut.
»Meine Frühstück«, sagte Bosiljka verlegen, als sie Theas Blick auffing.
»Sie arbeiten schon lange hier?«, fragte Thea.
»Ja, schon fünf Jahre.« Sie rang nach Luft. »Ich hab geputzt, wie immer, zuerst hier und in der Küche, dann in Wintergarten. Und ganze Zeit liegt der arme Herr Hauser oben in seine Zimmer. Oh meine Gott, meine Gott!.
»Wie oft kommen Sie ins Haus?« Thea holte ihr Notizbuch hervor.
»Montag und Donnerstag, vier Stunde. Ich immer zuerst putze hier unten, und wenn ich fertig, dann ich gehe hoch ...«
»Die Details können Sie uns später bei der Vernehmung erzählen, Frau Baric«, fuhr Messmer dazwischen. »Wissen Sie zufällig, um wie viel Uhr Sie Herrn Hauser gefunden haben?«
»Oje, ich hab nix gesehen auf Uhr. Vielleicht war kurz vor halb elf.«
»War im Haus etwas anders als sonst? Waren Schränke oder Schubladen offen, fehlt irgendetwas?«
»Weiß nix. Aber oben war eine Fenster offen. Ich hab das gemerkt, weil es hat so gezoge, dass die Haustür hat geknallt, als ich reinkam. Wissen Sie, ich vertrag keine Durchzug. Bekomme gleich Kopfschmerzen ... Genau wie meine Mutter, Gott hab sie selig. Ich bin hoch und wollte zumache Fenster, und dann ich ihn hab gefunden. Hab bekomme eine Schock und bin schnell gerannt raus.«
»Klaro«, murmelte Messmer, der am oberen Treppenabsatz angekommen war. Thea ging hinter Bosiljka Baric, die bei jeder Stufe keuchte und dabei ohne Unterlass weiterredete. »Wissen Sie, zuerst hab ich gedacht, ihm isch schlecht geworde oder so was, und hab ihn geschüttelt an Schulter. Und da hab ich gesehen das Blut.«
»Haben Sie sonst etwas angefasst?«, wollte Messmer wissen.
»Nein! Ich bin so erschrocke, dass ich bin fast die Treppe runtergefalle. Deswegen ich hab auch vergesse meine Handy in Handtasche. Der Gärtner mir hat geliehen seine Telefon und ich gerufen Polizei.«
»Bitte nehmen Sie doch hier Platz.« Thea zeigte auf einen Ledersessel in der Ecke des Flurs, während sie ihren Overall auseinander rollte und den zweiten Messmer zuwarf. »Wir reden nachher weiter.«
»Ich lieber draußen warte. Das regt mich viel auf.«
»Gut, aber bleiben Sie bitte im Garten.« Thea sah der Frau nach, die wieder die Treppen hinunterschlurfte, als laste alles Übel der Welt auf ihren Schultern.
Sie stieg in den Anzug, zog den Reißverschluss zu und betrat das Arbeitszimmer.
Die Vorhänge waren zugezogen und blähten sich leicht im Wind. Messmer stand am Schreibtisch und beugte sich über die Leiche.
»So wie ich es sehe, hat er einen kräftigen Schlag auf den Kopf bekommen, aber es gibt keine Kampfspuren.«
»Sieht aus, als wollte er gerade telefonieren.« Thea wies auf den herunterhängenden Hörer.
Messmer richtete sich auf. »Das Schloss unten war unbeschädigt. Er muss seinem Mörder die Tür geöffnet haben.«
»Und die Alarmanlage war abgeschaltet. Vielleicht hat er den Täter gekannt«, ergänzte Thea. »Er kam nicht mal mehr dazu, aufzustehen. Es muss schnell gegangen sein.«
»Gut beobachtet. Den Rest überlassen wir der Spurensicherung.«
Thea lehnte sich an das Bücherregal aus poliertem Kirschholz. Sie betrachtete den Toten, dessen Oberkörper auf der Tischplatte lag. Sein rechter Arm war ausgestreckt und berührte den Telefonapparat, während der linke schlaff nach unten hing. Am Kragen des dunkelgrünen Frotteebademantels klebte Blut. Die linke Gesichtshälfte verschwand fast in der Blutlache, die sich inzwischen gebildet hatte. Weit aufgerissene stahlblaue Augen starrten sie mit leerem Blick an. Der Mund war leicht geöffnet, und am Mundwinkel war eine angetrocknete Speichelspur zu erkennen. Trotz des grauenhaften Anblicks konnte man sehen, dass Wolf Hauser ein attraktiver Mann gewesen war. Thea beschlich das eigenartige Gefühl, etwas in seinen Zügen zu erkennen, eine winzige Spur, die nur sie sehen konnte. Darüber zu reden hatte wohl kaum Sinn, denn dieses Gefühl ließ sich nicht in Worte fassen, und sie fürchtete, von Messmer nicht ernst genommen zu werden. Thea bemühte sich, den Blick nicht von dem Toten abzuwenden. Bei jeder Leiche übte sie, ein wenig länger hinzuschauen. Sie hoffte, es würde ihr helfen, irgendwann genauso routiniert wie Messmer und die anderen Kollegen mit dem Tod umgehen zu können.
Als sie den Anblick nicht mehr ertrug, ging sie auf den Flur hinaus. Im selben Moment flog unten die Tür auf.
»Micha!«, rief jemand.
Zwei Männer in weißen Papieroveralls und Überschuhen kamen eilig die Treppe hinauf.
Messmer ging ihnen entgegen. »Darf ich vorstellen: Alfred Geiger, besser bekannt als Spuren-Freddy, und Ulrich Moll, unser Starfotograf.«
»Hallo, ich bin Thea Engel.«
»Mit so einem Engel würde ich auch gerne zusammenarbeiten.« Geiger stellte grinsend den silbergrauen Koffer an der Türschwelle des Arbeitszimmers ab.
»Nur nicht neidisch werden«, sagte Messmer und ging hinein.
Thea ignorierte die Bemerkungen und beobachtete Moll, der das Zimmer und die Leiche von allen Seiten fotografierte. Geiger bestrich inzwischen den Schreibtisch mit Rußpulver, bis mehrere deutliche Fingerabdrücke sichtbar wurden.
»Ich schätze, die meisten Spuren sind vom Opfer selbst«, murmelte er und klebte einen breiten Plastikstreifen auf die Tischplatte.
Messmer kniete auf dem Boden und schaute unter das hochbeinige Regal, das hinter Hausers Schreibtisch stand. »Hier liegt was!«, rief er.
»Was immer es ist, lass es liegen!« Geiger kam eilig um den Schreibtisch herum und legte sich auf den Boden. »Uli, komm und mach deine Fotos. Und du, Micha, zieh lieber Handschuhe an oder noch besser, lass mich ran.«
Thea bückte sich ebenfalls. »Eine Glaskugel. Sieht aus wie ein Briefbeschwerer. Ich hab so was zu Hause.«
Messmer lächelte sie an. »Ich auch. Mundgeblasenes Glas?«
»Nein, Plexiglas, selbst gebastelt.« Thea stand abrupt auf. Sein Schwanken zwischen Arroganz und plötzlicher Freundlichkeit irritierte sie. Sie konzentrierte sich auf Ulrich Moll, der auf dem Boden robbte und die Kugel von allen Seiten fotografierte. Als er fertig war, holte Geiger sie hervor.
»Die Tatwaffe«, murmelte Messmer.
»Sieht ganz so aus.« Geiger richtete sich auf und legte den Briefbeschwerer vorsichtig auf eine Plastikfolie. »Aber ob verwertbare Fingerabdrücke darauf sind, wage ich stark zu bezweifeln. Alles ist verwischt und mit Blut beschmiert.«
Thea sah sich die faustgroße Kugel aus massivem Glas genauer an. Im Inneren verlief ein wirres Geflecht aus bunten ineinander verschlungenen Bahnen und unzähligen Luftbläschen, soweit man das unter dem Blut, das daran klebte, erkennen konnte. An der flachen Seite ging ein auffälliger, etwa fünf Zentimeter langer Riss durch das Glas.
»Dieser Sprung ist die einzige raue Stelle auf der Oberfläche«, sagte Geiger. »Vielleicht finden wir hier verwertbare DNA-Spuren, Hautabrieb vom Täter beispielsweise.«
»Das setzt voraus, dass der Sprung bereits vor der Tat da war«, überlegte Messmer. »Aber vermutlich ging das Ding erst kaputt, als es runterfiel und unter das Regal rollte.«
»Bei dem dicken Teppich?«, fragte Thea und sah nach unten.
»Alles ist möglich.« Geiger richtete sich auf. »Wenn dieser Briefbeschwerer dem Opfer gehörte und der Täter keine Waffe mitgebracht hat, dann sieht es ganz nach einer Affekttat aus. Aber schwätzen bringt uns jetzt nicht weiter. Ihr müsst schon die Laboruntersuchungen abwarten. Helft ihr uns beim Abkleben?«
Als sie fertig waren, ging Thea zum Fenster und sah auf die Straße, wo sich die Menschenmenge noch vergrößert hatte. Ein derartiges Polizeiaufgebot in der ruhigen Gegend war ja auch eine Sensation.
»Da kommt jemand«, sagte sie. »Ein roter BMW hält hinter dem Notarztwagen.«
Messmer zog die Gardine zur Seite. »Das wird die Dame des Hauses sein«, murmelte er. »Na, dann wollen wir sie begrüßen gehen.«
Die große, hagere Frau stand hinter dem Absperrband und redete auf den jungen Polizeibeamten ein. Von weitem schien sie dem Titelblatt der »Vogue« entsprungen zu sein, doch als Thea näher kam, sah sie die Falten um die stark geschminkten Augen. Das Haar war eine Spur zu platinblond.
»Was soll das? Ich wohne hier, also lassen Sie mich durch«, ereiferte sich die Frau mit schriller Stimme.
»Immer mit der Ruhe, der Kommissar kommt ja schon«, sagte der Polizist und versperrte ihr weiter den Weg.
Thea schätzte die Frau auf Mitte fünfzig. Das altrosa Kostüm saß wie maßgeschneidert und hatte sicherlich ein Vermögen gekostet. Diese halsbrecherischen Schuhe und die Louis-Vuitton-Handtasche würde sich Thea im Leben nicht leisten können – und auch nicht wollen.
»Guten Tag, Messmer, Kriminalpolizei.« Messmer drehte sich zu Thea um. »Meine Kollegin Engel.« Er zog seinen Dienstausweis aus der Jackentasche. »Und Sie sind Frau Hauser, nicht wahr?«
»Die bin ich allerdings«, herrschte sie ihn an, ohne den Gruß zu erwidern. »Würden Sie mir bitte sagen, was das hier soll?« Thea versuchte inzwischen, die Schaulustigen hinter der Absperrung ein Stück zurückzudrängen. Völlig erfolglos, wie sie bald feststellte. Es kamen immer noch mehr Leute hinzu. Eine Streifenpolizistin würde sich bestimmt mehr Respekt verschaffen als ich, dachte sie zerknirscht. Vielleicht war es doch nicht immer vorteilhaft, dass Kripobeamte keine Uniform trugen.
»Jesses, Jesses, was isch denn hier passiert? Ein Einbruch? Bei uns, am helllichte Tag?«, fragte eine dickliche Frau und quetschte sich nach vorne.
»Ein Einbruch? Was ist denn weggekommen?« Ein gepflegter älterer Herr nahm seine Brille ab und schielte zur Villa. Thea sah ein Hörgerät hinter seinem Ohrläppchen blitzen.
»Bitte, Sie müssen den Weg für die Fahrzeuge frei halten«, sagte Thea mit aller Autorität, die sie aufbringen konnte, und versuchte, die Leute vom Zaun wegzuschieben. Ebenso hätte sie versuchen können, einen Strang Zahnpasta in die Tube zurückzudrücken.
»Mir isch aber gar nix uffg'falla. Dabei bin i scho seit achte in der Küch' und mach' Maultasche. Meine Tochter und de Enkele kommet morge vom Urlaub hoim.« Die kleine Dicke strich mit ihren Händen über die Schürze, an der noch Teigreste klebten.
»Ich glaube, der Hauser ist tot«, spekulierte eine andere.
»Noi!«
»Hauser? Tot?« Der alte Herr drehte am Rädchen seines Gerätes, um besser hören zu können.
»Ach was! Des gibt's doch net. Des glaub i oifach net. Der war doch noch so jung.« Ein gebeugtes Mütterchen, das sicher auf die achtzig zuging, schüttelte nachdrücklich den Kopf.
»A Herzanfall wird er g'hett han. Isch ja jede Morge zom Jogga ganga«, vermutete ein anderer.
»I sag's ja, Sport isch Mord.« Die rundliche Frau stellte sich auf die Zehenspitzen.
»Mord!« Der alte Herr drehte sein Hörgerät bis zum Anschlag. »Des muss Mord gwä sein. Deshalb isch auch d' Polizei da!«
»Wenn Sie heute Morgen etwas beobachtet haben, erzählen Sie es den Kollegen von der Schutzpolizei«, sagte Thea und wies auf den Streifenwagen, doch die Leute ignorierten sie einfach.
»Wissen Sie schon, wer es war?«, fragte ein anderer Mann.
»Ein Ausländer wahrscheinlich«, spekulierte jemand. »Man hört so viel von rumreisenden Einbruchsbanden.«
»I sag's ja immer, am beschte isch, älles abschließa«, räsonierte die Dicke.
»Und was macht der Notarztwagen da, wenn dr Hauser doch tot isch?.
»Wer isch tot?«
»Dr Hauser!«
»Und die Frau Hauser war wieder mal fort, was?«, argwöhnte eine Stimme aus dem Gewühl.
»Bitte, meine Herrschaften ...« Thea breitete die Arme aus, als wollte sie einen Schwarm Vögel verscheuchen, doch die Dicke drückte sich an ihr vorbei. Eine Frau in einem meerblauen, tief ausgeschnittenen Kleid stand jetzt so dicht vor ihr, dass sie einen unfreiwilligen Blick in ihr Dekolletee werfen konnte. Thea hob den Kopf und sah für einige Sekunden ihr eigenes Gesicht, das sich in den Gläsern der Sonnenbrille spiegelte. Mit dem Pferdeschwanz sah sie wie ein Schulmädchen aus. Kein Wunder, dass die Leute sie nicht ernst nahmen und Messmer so herablassend zu ihr war.
»Machen Sie sofort den Weg frei, der Leichenwagen fährt vor«, befahl der Streifenpolizist und drängte die Leute auf die andere Straßenseite. Thea sah sich nach Helene Hauser um, doch die war bereits mit Messmer im Haus verschwunden. Sie überließ die Gaffer den Kollegen vom Revier und ging hinein.
Durch eine spaltbreit geöffnete Tür im Erdgeschoss hörte sie Frau Hausers gebieterische Stimme, die nach Auskunft verlangte. Messmer hatte es ihr also noch nicht gesagt. Thea trat ein und stand in einem Wintergarten. Messmer saß mit Helene Hauser zwischen Kübeln mit Palmen und blühenden Orchideen an einem runden Holztisch, auf dem sich Kakteen aller Art und Größe drängten. In einer Ecke stand eine Nachbildung der Venus von Milo aus weißem Marmor. Thea setzte sich in einen der Korbstühle, schob einige Pflanzen auf dem Tisch beiseite und legte ihr Diktaphon daneben.
»Mein Mann will sie schon seit Tagen umtopfen.« Helene Hauser wies auf die Kakteen. »Vielleicht können Sie mir erklären, was hier los ist, junge Frau. Ihr Kollege macht es für meinen Geschmack etwas zu spannend. Wurde hier eingebrochen, oder was?« Ihr gefiel es offensichtlich nicht besonders, im eigenen Haus wie ein Gast behandelt zu werden.
»Wir sind gerade dabei, es herauszufinden«, sagte Thea.
Helene Hauser sah ihr misstrauisch zu, wie sie das Diktiergerät einschaltete.
»Unsere Alarmanlage ist brandneu, und wir sind gut versichert. Was wollen Sie hier? Und überhaupt, wo ist mein Mann?«
Messmer räusperte sich. »Ich muss Ihnen bedauerlicherweise mitteilen, dass wir wegen Ihres Mannes hier sind.«
Gleich sagt er es ihr, dachte Thea und war insgeheim froh, es nicht selbst tun zu müssen.
»So reden Sie schon!« Helene Hauser rieb die Füße aneinander, als hätte sie das dringende Bedürfnis, die Schuhe abzustreifen.
»Ihre Putzfrau hat Ihren Mann in seinem Arbeitszimmer gefunden«, sagte Messmer. »Er ist tot.«
Helene Hauser schüttelte ungläubig den Kopf. »Das kann nicht sein. Wolf ist kerngesund. Er ernährt sich vernünftig und joggt jeden Morgen ...« Sie brach ab.
Thea beobachtete sie aufmerksam. Frau Hausers Nasenflügel bebten und ihre Hände flatterten wie kleine Vögel in ihrem Schoß. »Frau Hauser, Ihr Mann ist keines natürlichen Todes gestorben«, sagte sie eindringlich.
»Er wurde ermordet, vermutlich in den frühen Morgenstunden«, ergänzte Messmer.
Die Stille, die nun entstand, lastete schwer im Raum. Helene Hausers Gesicht war so bleich wie die Marmorstatue hinter ihr.
»Das Türschloss ist unbeschädigt. Der Täter wurde entweder von Ihrem Mann ins Haus eingelassen, oder er hatte selbst einen Schlüssel.« Messmer beugte sich nach vorn. »Wer außer Ihnen und Ihrem Mann hat noch einen Hausschlüssel?«
»Niemand außer unserer Zugehfrau«, sagte Helene Hauser abwesend.
»Haben Sie Kinder, Frau Hauser?«, fragte Messmer.
Helene Hauser schüttelte den Kopf. »Nein, Wolf wollte nie welche haben. Er sagte, sie machen nur Arbeit und kosten zu viel Geld. Manchmal habe ich ihn deswegen gehasst. Aber den Tod hat er nicht verdient.« Sie hob den Kopf und sah Thea mit glasigen Augen an. »Ich verstehe das nicht. Wo ist er?«
»Oben. Aber Sie können jetzt nicht rauf. Die Spurensicherung muss noch abgeschlossen werden.«
Helene Hauser nickte.
»Wenn Sie möchten, rufe ich Ihnen einen Arzt«, sagte Thea.
»Danke, das ist nicht nötig.«
»Ich muss Ihnen noch ein paar Fragen stellen«, sagte Messmer.
»Bitte.« Helene Hauser wirkte wieder gefasst.
»Wo kommen Sie gerade her?«
»Vom Flughafen.«
»Und wo waren Sie vorher?«
»Ich war geschäftlich in der Schweiz.« Helene Hauser setzte sich kerzengerade hin. In ihrem Gesicht war nun keine Regung mehr auszumachen.
»Was für Geschäfte?«, fragte Messmer.
Thea bemerkte, dass er sich zu ärgern begann. Diese Frau erinnerte sie an eine Auster, die sich partout nicht öffnen lassen wollte.
»Ich bin Exportchefin unserer Firma und kümmere mich um die Geschäfte in Europa und den USA. Zu unseren Kunden gehören große Modehäuser. Diese Woche war ich in Paris, danach einen Tag in Rom und zwei Tage in Genf. Zuletzt habe ich unsere Geschäftsfreunde im Tessin besucht.«
Messmer kratzte sich am Kinn. »Wie heißen diese Freunde?«
»Es ist eine Familie namens Maschio. Mein Vater ist mit Paolo Maschio seit der Schulzeit eng befreundet. Wenn ich in der Nähe bin, besuche ich die Familie in Lugano.«
»Und Sie kommen jetzt direkt von dort?«
»Das sagte ich doch.«
»Haben Sie bei diesen Freunden übernachtet?«
»Nein, ich war im Hotel ›Bellevue au Lac‹.«
»Mit welcher Fluggesellschaft sind Sie geflogen, Frau Hauser? Und wann sind Sie in Stuttgart gelandet?«
»Ich bin heute Morgen um sieben Uhr zehn mit einer Maschine der Swiss angekommen.«
»Sieben Uhr zehn«, sagte Messmer gedehnt und sah auf die Uhr. »Jetzt ist es fast elf. Sie wollen mir sicher nicht erzählen, dass Sie für die paar Kilometer vom Flughafen bis hierher fast drei Stunden gebraucht haben?«
»Natürlich nicht.« Helene Hausers Blick stellte unmissverständlich klar, was sie von Messmer hielt. »Mein Koffer war in Zürich liegen geblieben, und ich musste auf die nächste Maschine warten.«
Messmer wechselte einen kurzen Blick mit Thea, die sich eine Notiz machte.
»Können Sie sich vorstellen, wer ein Interesse am Tod Ihres Mannes haben könnte?«
»Nein.«
»Hatte er irgendwelche Feinde?«
Frau Hausers Blick wurde so kalt, dass Thea beinahe erwartete, Eisblumen an den Fenstern wachsen zu sehen. »Als Geschäftsmann konnte Wolf sich keine Feinde leisten. Er war immer bestrebt, Geschäftsfreunde zu gewinnen.«
»Und privat?«
»Als Geschäftsführer unserer Firma ging Wolf voll in seinem Beruf auf. Er hatte kein Privatleben.«
Wer's glaubt, wird selig, dachte Thea. Für so ein tristes Dasein, wie seine Frau es ihnen gerade weismachen wollte, war dieser Mann einfach zu attraktiv gewesen. Ihr Blick hing an einem großen, runden Kaktus in der Ecke neben der Tür. Sie erinnerte sich, diese Gattung schon im Gewächshaus der Wilhelma gesehen zu haben. Sie wurde im Volksmund »Schwiegermutterschemel« genannt. Wenn die Schwiegermutter vom Schlag Helene Hausers war, machte diese Bezeichnung tatsächlich einen Sinn.
»Danke, Frau Hauser. Wir werden in den nächsten Tagen sicher noch einmal auf Sie zukommen. Und von Ihren Mitarbeitern brauchen wir natürlich weitere Auskünfte.« Messmer stand auf.
»Wenden Sie sich an unseren Prokuristen, Herrn Klenk. Er ist seit mehr als dreißig Jahren bei uns.« Helene Hauser klang erschöpft. »Wenn Sie erlauben, ziehe ich mich jetzt zurück.«
***
»Schönen guten Tag, alle miteinander!« In der Tür des Arbeitszimmers stand der Gerichtsmediziner Professor Dr. Herbert Krach von der Universität Tübingen. »Die B 27 war doch wirklich mal frei heute.« Er stellte seinen Instrumentenkoffer auf einem chintzbezogenen Stuhl ab und gab Thea die Hand. »Sie sind also die Neue?«
Thea lächelte und wollte gerade sagen, dass sie sich bereits vor einigen Wochen im Dezernat kennen gelernt hatten, doch der Professor wandte sich seinem Koffer zu und streifte ein paar Plastikhandschuhe über. »Ja, ja, der Genosse Tod macht auch vor Geld und Macht nicht Halt«, murmelte er vor sich hin.
Krach stammte aus dem Osten der Republik, was sich deutlich in seinem Sprachgebrauch manifestiert hatte. Er war ein hochgewachsener Mittfünfziger, dessen eng stehende graue Augen prüfend durch die randlose Brille blickten. Seine etwas zu lang geratene Nase war schmal, und die Nasenlöcher wirkten, als hätten sie sich schützend zusammenzogen, um die Gerüche abzuwehren, denen sie täglich ausgesetzt waren.
»So hat also der Kapitalismus wieder mal ein neues Opfer gefordert«, sinnierte er.
»Wir sind noch weit davon entfernt, Näheres über das Tatmotiv sagen zu können. Geld, Macht, Eifersucht – es ist alles möglich«, sagte Messmer.
Wie kann man nur so einen Beruf ausüben, fragte sich Thea. Wer nimmt die Mühen eines Medizinstudiums auf sich, um dann freiwillig für den Rest seines Lebens Leichen zu sezieren? Während ihrer Zeit bei der Schutzpolizei war sie einmal einem Pathologen begegnet, der meinte, die Arbeit eines Arztes sei viel riskanter, solange die Patienten noch am Leben sind. Er sei jedenfalls noch nie wegen eines Kunstfehlers verklagt worden.
»Die Leichenstarre in den kleinen Gelenken ist schon eingetreten«, murmelte Krach, während er Wolf Hausers Kiefermuskulatur und die Handgelenke befühlte. »Ich würde sagen, er ist seit etwa drei Stunden tot, vielleicht etwas länger.« Er schlug Hausers Bademantel vorsichtig zurück. »Die Leichenflecken sind zu erkennen, aber noch nicht voll ausgeprägt und leicht wegdrückbar.« Er richtete sich auf. »Drei Stunden minimum. Genaueres gibt es nach der Sektion.«
***
28. November 1973
Wir sollten heute ein Bild zum Thema Geborgenheit malen. Ich saß vor dem leeren Blatt und habe nachgedacht. Schließlich habe ich eine nächtliche Straße gemalt, schwach beleuchtet vom Schein der Laternen, ein großes, dunkles Haus mit hellen Fenstern, und auf der Straße eine Frau, die den Mantelkragen hochgeschlagen hat und sehnsüchtig nach den erleuchteten Fenstern schaut.
Dali hat sich mein Bild lange angesehen und dann gesagt, ich sollte doch Geborgenheit malen und nicht das Gegenteil davon. Da wurde mir klar, wie ausgeschlossen ich mich fühle, und dass ich mir Geborgenheit nur außerhalb von mir selbst vorstellen kann.
Das Bild der Signora war ganz anders als meins. Sie hat ein blühendes Mohnfeld mit einem azurblauen Himmel gemalt, in den Zypressen wie dunkle Lanzen stechen. Im Geiste hat sie bestimmt wieder Celentano singen gehört.
Seltsamerweise hat mich das Bild sehr berührt. Plötzlich ist eine Sehnsucht in mir aufgestiegen, die ich kaum erklären kann. Für einen Augenblick habe ich mich dorthin gewünscht, einfach weg von hier und den Dingen, die ich lieber vergessen möchte. Ich glaube, dies ist eine Landschaft, in der meine Seele gesund werden könnte, wenn das überhaupt jemals möglich ist.
Wahrscheinlich habe ich heute zum ersten Mal verstanden, was in der Signora vorgeht, wenn sie stundenlang ihr »Azzurro« hört. Sie sagt, so würde der Himmel über Italien aussehen. Nirgendwo anders auf der Welt sei er so blau. Und das Lied erinnere sie an eine unglückliche Liebe und die schönste Zeit ihres Lebens. Ich kapiere nicht, wie sich eine unglückliche Liebe und diese schreckliche Schnulze mit der schönsten Zeit ihres Lebens vereinbaren lassen, aber sie lächelt nur ein wenig herablassend und meint, ich sei eben noch zu jung, um das zu verstehen. Wie dem auch sei, ich hasse das Lied. Mir wird übel, wenn ich bloß die ersten Takte höre.
Aber irgendwie beneide ich sie auch um diese Erinnerungen. Eine unglückliche Liebe ist sicher besser als gar keine. Ich weiß nicht, ob ich für einen Mann jemals so empfinden kann wie die Signora, aber ich wünsche es mir.
Dali behauptet natürlich, es sei pure Illusion, die Geborgenheit außerhalb von sich selbst zu suchen. Aber tun das nicht alle? Die meisten suchen sie in einem anderen Menschen. Die Signora sucht sie in ihrer Heimat. Und ich? Wenn doch damals dieser schreckliche Flugzeugabsturz nicht gewesen wäre. Dann wären Mama und Papa noch am Leben. Und ich wäre gar nicht hier und müsste mich nicht mit der idiotischen Aufgabe herumschlagen, die innere Geborgenheit zu malen.
***
Das Polizeipräsidium Stuttgart liegt oberhalb der zu jeder Tageszeit dicht befahrenen Kreuzung am Pragsattel, wo der höchste Wolkenkratzer Deutschlands, der »Trump-Tower«, hätte gebaut werden sollen. Doch nach monatelangen Diskussionen im Rathaus und in der Öffentlichkeit hatte die Stadt ihr Vorhaben zurückgezogen. Vor allem nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York war die Stimmung umgeschlagen, von den hohen Baukosten ganz abgesehen. Prompt war die Stadt von der Baugesellschaft verklagt worden, doch letztendlich war Stuttgart ein umstrittenes Bauwerk erspart geblieben.
Im verzweifelten Kampf gegen die endlosen Blechlawinen und Abgase hatten die Stadtväter beschlossen, den Pragsattel zu untertunneln. So war das Gelände innerhalb weniger Wochen zu einer riesigen Baustelle mutiert, was das Verkehrsproblem nur noch verschlimmerte.
Hinter dem langen Polizeigebäude, das bis in die siebziger Jahre das Robert-Bosch-Krankenhaus beherbergt hatte, erstreckten sich Weinberge. Hier rangen die berühmten Trollinger- und Rieslingreben unverdrossen ums Überleben, getreu dem Motto: Was uns nicht umbringt, macht uns stark.
Nach derselben Devise verrichteten die Beamten der Mordkommission täglich ihren Dienst. Als Thea das schmale Schreibbüro betrat, in dem außer dem Schreibtisch der Angestellten kaum mehr als drei Stühle Platz fanden, überlegte sie, wie viele Straftäter hier schon ihr Gewissen erleichtert und wie viele Zeugen ihre Beobachtungen zu Protokoll gegeben hatten.
Bosiljka Baric hatte auf einem der Stühle Platz genommen. Die schwarze Handtasche hielt sie fest am Griff umklammert und sah die beiden Beamten halb misstrauisch, halb erwartungsvoll an.
»Frau Baric, wir brauchen noch ein schriftliches Protokoll Ihrer Aussage!« Messmer leierte die übliche Zeugenbelehrung herunter, nur diesmal etwas langsamer als sonst.
Thea beobachtete die Zeugin, die nervös auf ihrem Sitz hin und her rutschte. Sie war sich nicht ganz sicher, ob die Frau alles verstanden hatte.
»Wir können gerne einen Dolmetscher für Ihre Muttersprache hinzuziehen«, sagte Messmer.
»Danke. Ich brauch keine Dolmetscher. Ich fast dreißig Jahre wohne in Stuttgart.« Eine leichte Röte breitete sich auf ihrem rundlichen Gesicht aus.
»Gut. Dann brauchen wir zunächst Angaben zur Person.«
»Welche Person?« Frau Baric sah ihn entsetzt an. »Ich weiß doch gar nix! Ich doch nix gesehen die Person! Ich bin gekommen später, da war Herr Hauser tot, und das hab ich Ihne schon gesagt.«
Thea sah Messmer an und unterdrückte ein Lächeln.
»Nein, nein, ich meine nicht die Person, die Ihren Chef umgebracht hat, sondern Ihre Person, verstehen Sie?«
»Ich doch nix wisse«, ereiferte sich Bosiljka und drückte den Griff ihrer Handtasche noch fester gegen die Brust.
»Frau Baric«, sagte Thea freundlich, »mein Kollege möchte etwas über Sie persönlich wissen.« Sie zeigte mit dem Zeigefinger auf die Zeugin.