Ein bewegender Roman über Freundschaft, Verlust und Liebe – herzzerreißend traurig und zugleich wunderbar lebensbejahend
Als Kamryn ihren 32. Geburtstag in bester Laune mit einem Champagnerfrühstück im Bett beginnt, ahnt sie noch nicht, dass sich ihr Leben schon bald von Grund auf verändern wird. Denn unter all den Glückwunschkarten befindet sich eine Nachricht, die sie vollkommen verstört: Ihre ehemals beste Freundin Del liegt im Sterben und möchte sich mit ihr versöhnen. Del hatte Kamryn vor Jahren bitter enttäuscht. Nun schreibt sie ihr jedoch mit der Bitte, ihre vierjährige Tochter Tegan zu adoptieren. Für die ehrgeizige Karrierefrau kommt das zuerst überhaupt nicht in Frage, denn Kinder waren in ihrer Lebensplanung absolut nicht vorgesehen. Doch Dels letzten Wunsch kann sie nicht abschlagen. Schließlich beginnt für Kamryn und Tegan eine schwere Zeit des Abschiednehmens – und des Kennenlernens …
EBooks von beHEARTBEAT – Herzklopfen garantiert.
Dorothy Koomson ist Journalistin und arbeitete bereits für eine ganze Reihe von Frauenzeitschriften und Zeitungen. Zuletzt war sie für ein australisches Magazin tätig und pendelte zwischen Sydney und London. Jetzt lebt die Bestsellerautorin wieder in England.
Von nun an für immer
Aus dem Englischen von Ursula Walther
beHEARTBEAT
Digitale Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment | Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2006 by Dorothy Koomson
Titel der englischen Originalausgabe: My best friend’s girl
Originalverlag: Time Warner Books, London
Für die deutschsprachige Erstausgabe:
Copyright © 2006 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin. Erschienen im Ullstein Taschenbuch Verlag.
Übersetzung: Ursula Walther
Lektorat/Projektmanagement: Anne Pias
Covergestaltung: © www.buersosued.de
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar
ISBN 9783732550623
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Für Sam, Kathleen und David –ihr drei seid die mutigsten, liebevollsten und interessantesten Menschen, die ich je kennengelernt habe.
Ich möchte nur sagen: »Ich lächele, weil ihr meine Geschwister seid, ich lache, weil ihr nichts dagegen tun könnt.«
Um ehrlich zu sein, ich war schon so lange müde und abgespannt, dass ich mich nicht mehr erinnerte, wann mir klar wurde, dass mit mir etwas nicht stimmte. Ich fand mich damit ab. Redete mir ein, ich bräuchte mehr Ruhe und es würde vorübergehen. Doch es ging nicht vorüber.
Egal, wie viel ich schlief, ich war immer müde. Hundemüde. Erst als Tegan mich bat, zu unserer Hausärztin zu gehen, wurde es mir so richtig bewusst. Meine vierjährige Tochter hatte ausgesprochen, womit ich mich nicht auseinandersetzen konnte – auseinandersetzen wollte; sie wies mich darauf hin, dass ich nicht mehr ich selbst war. Ich war zu erschöpft, um mit ihr zu spielen, und das war sie genauso leid wie mein Nasenbluten und meine Atemlosigkeit nach der kleinsten Anstrengung. »Mummy, kann die Ärztin machen, dass es dir besser geht?«, fragte sie eines Tages aus heiterem Himmel. Sie sprach es aus, und ich folgte ihrer Aufforderung.
Ich saß im Sprechzimmer und erzählte der Ärztin, welche Beschwerden mir zu schaffen machten. Sie nahm mir Blut ab. Nach ein paar Tagen bestellte sie mich wieder, um weitere Untersuchungen durchzuführen. Mehr Tests mit Namen und Bezeichnungen, die ich bis dahin nur in den Arztserien im Fernsehen gehört hatte. Worte fielen, die im Fernsehen nie zu einem Happy End führten. Das alles konnte jedoch rein gar nichts mit mir zu tun haben. Eigentlich nicht. Sie schlossen nur alle Möglichkeiten aus.
Dann bekam ich den Anruf. Man sagte mir, ich solle unverzüglich in die Praxis meiner Ärztin kommen. Selbst da ... und sogar noch, als sie mir sagte ... als sie beteuerte, wie leid es ihr tue, und dann von Therapien und Prognosen anfing, glaubte ich es noch nicht. Nein, das stimmt nicht ganz. Ich glaubte es. Aber ich verstand es nicht. Nicht das Warum, nicht das Wie. Und noch immer dachte ich: Ich doch nicht.
Ich brauchte ein paar Tage, bis das, was ich gehört hatte, sich setzte. Vielleicht sogar eine Woche. Jede Sekunde zählte, hatten sie gesagt, doch ich konnte noch immer nicht begreifen. So krank sah ich doch gar nicht aus. Vielleicht war ich ein wenig blasser, ein bisschen langsamer, aber ich war doch nicht ernsthaft krank. Nach wie vor bildete ich mir ein, sie irrten sich. Ständig hörte man solche Geschichten von Fehldiagnosen, von Patienten, die sich den Theorien der Ärzte widersetzten, von Menschen, die herausfanden, dass sie Drüsenfieber hatten statt ...
Ungefähr eine Woche später war ich, auf dem Weg zur Arbeit, zu früh am Bahnhof – viel zu früh, wie gewöhnlich. Ich baute in letzter Zeit immer vor, um mir die normalen Aktivitäten im Alltag zu erleichtern – um mein Leben der Krankheit anzupassen, die sich in meinem Körper eingenistet hatte: Ich ging extra früh von zu Hause weg, damit ich nicht rennen musste, um den Zug zu erwischen; ich nahm etwas zu essen mit, damit ich in der Mittagspause nicht zum Sandwich-Shop gehen musste; ich kürzte die Arbeitszeit des Kindermädchens, um nicht in Versuchung zu kommen, nach der Arbeit noch etwas trinken zu gehen.
An diesem speziellen Tag saß ich im Bahnhof auf einer Bank, und eine Frau kam herein und blieb neben mir stehen. Sie holte ihr Handy aus der Tasche und tippte eine Nummer ein. Als sich die Person am anderen Ende der Leitung meldete, sagte sie: »Hallo, hier ist Felicity Hallidays Mutter. Ich möchte nur Bescheid sagen, dass meine Tochter heute nicht zur Schule kommt, weil sie sich nicht gut fühlt.« Es zerriss mir das Herz. Ich brach in Tränen aus. Genau in diesem Augenblick traf mich die Erkenntnis, dass ich womöglich nie die Gelegenheit haben würde, einen solchen Anruf zu tätigen. Wahrscheinlich konnte ich niemals etwas so Normales tun wie in der Schule meiner Tochter anrufen. Es gab eine Million Dinge, die ich vielleicht nie tun würde, und ein solches Telefonat war nur eines von ihnen.
Alle benahmen sich schrecklich britisch und ignorierten mich, solange ich weinte, schluchzte und heulte. Ja, ich heulte. Ich gab grauenvolle Laute von mir, während mein Inneres in eine Million, eine Trillion Stücke zerbrach.
Dann kam dieser Mann, dieser Engel, zu mir, setzte sich, legte den Arm um mich und ließ mich weinen. Der Zug kam und fuhr wieder ab. Genau wie der nächste und der übernächste. Und dieser Mann blieb bei mir. Er blieb, während ich weinte und weinte. Ich heulte und rotzte sein hübsches Anzugjackett voll, doch das schien ihm nichts auszumachen. Er wartete und hielt mich, bis ich aufhörte zu weinen. Dann erkundigte er sich behutsam, was mich so aus der Fassung gebracht hatte.
Zwischen Schluchzern stieß ich hervor: »Ich muss meinem kleinen Mädchen sagen, dass ich sterben werde.«
Der Postbote zuckte zusammen, als ich die Haustür aufriss und ihn ungeduldig begrüßte.
Wenn wir uns sonst von Angesicht zu Angesicht begegneten, hatte er zuvor in meiner Wohnung im ersten Stock geklingelt, und ich war die Treppe hinuntergeschlurft, während ich meinen Morgenrock zuzog und versuchte, mir den getrockneten Schlafsabber vom Gesicht zu reiben. Doch heute hatte ich aus dem Fenster gespäht und auf ihn gewartet. Trotzdem war ich wie immer, wenn ich meine Post empfing, im Morgenmantel und hatte meine vom Bett gestaltete Zottelfrisur, doch diesmal waren meine Augen keine schmalen Schlitze. Ich hatte mir das Gesicht gewaschen und lächelte.
»Ein besonderer Tag, wie?«, fragte er ohne jeden Humor.
Ihm gefiel dieser Rollentausch offensichtlich nicht. Er wollte mich verschlafen, still und verwirrt sehen, wenn er mir die Post aushändigte. Wahrscheinlich waren das die einzigen Minuten am ganzen Tag, in denen er ein bisschen Macht spürte. Ah, das ist nicht fair. Er war nett, mein Postbote. Die meisten Postboten sind nett, oder?
Genau genommen war an diesem Tag jeder nett.
»Ich habe heute Geburtstag.« Ich grinste und zeigte ihm meine frisch geputzten Zähne.
»Glückwunsch«, erwiderte er mürrisch wie ein Priester zur Gebetszeit und übergab mir die Post für alle vier Wohnungen in unserem Apartmenthaus. Ich nahm das von einem braunen Gummiband zusammengehaltene Bündel begeistert entgegen. Mir fiel auf, dass die meisten Umschläge rot oder violett oder blau waren. Die Farben von Glückwunschkarten. »Noch mal einundzwanzig, was?«, fragte der Postbote, ließ sich aber nach wie vor nicht von meiner guten Laune anstecken.
»Nee, ich bin zweiunddreißig und stolz darauf«, gab ich zurück. »Jeder Geburtstag ist ein Sonderbonus! Und außerdem werde ich heute Pailletten und Highheels tragen und mein Dekolleté mit Goldstaub pudern.«
Der Postbote richtete seine kleinen braunen Augen auf meine Brust. Obwohl es ein heißer, schwüler Hochsommertag war, trug ich einen Pyjama und einen dicken Frotteebademantel – er sah also nichts Verführerisches und konnte von Glück sagen, dass die Haut an meinem Hals nicht auch noch bedeckt war. Es schien ihn zu erschrecken, dass die Brust, von der ich sprach, vollkommen verhüllt war, und er wandte den Blick schnell wieder ab. Wahrscheinlich kam ihm in den Sinn, dass er die Frauen, denen er die Post auslieferte, nicht so eindringlich mustern sollte, insbesondere nicht, wenn eine Lady nicht so unbekleidet war, dass es sich auch lohnte.
Er wich zurück. »Schönen Tag, Liebes«, sagte er. »Ich meine, meine Liebe ... Ich meine, tschüs.« Und dann flitzte er schneller durch den Vorgarten, als man es einem Mann seiner Statur und seines Alters zutraute.
So hastig, wie sich der Postbote aus dem Staub machte, hörte er wahrscheinlich nicht, dass ich ihm »Ihnen auch!« nachrief, ehe ich die Tür schloss. Die Briefe, die heute bei dieser Adresse angekommen, aber frecherweise nicht für mich bestimmt waren, warf ich im Flur auf den Boden. Sie landeten einer auf dem anderen – Briefe, die wie Waisenkinder warteten und sich danach sehnten, aus ihrem Elend errettet zu werden. Normalerweise hatte ich Mitleid mit diesen Briefen und wünschte, die Leute, an die sie adressiert waren, würden ihnen ein schönes Zuhause bieten, aber an diesem Tag waren sie nicht mein Problem. Ich verschwendete keinen zweiten Gedanken an sie, als ich, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe zu meiner Wohnung hinaufstürmte.
Ich hatte mir im Schlafzimmer bereits mein Geburtstagsfrühstück angerichtet: frische Croissants mit geräuchertem Lachs, drei Schokoladentrüffel und ein Glas Moët.
Heute sollte alles perfekt sein. Alles. Ich hatte es so geplant. Ich wollte mein Spezialfrühstück genießen, bis zum Mittag im Bett bleiben und meine Geburtstagskarten öffnen, während ich Anrufe von wohlmeinenden Freunden und Verwandten entgegennahm. Dann hatte ich einen Termin bei meinem Friseur, um mir die Haare waschen, gründlich pflegen und schneiden zu lassen. Mir schwebte eine radikale Veränderung vor – aus meinem üblichen kinnlangen Bob sollte ein Stufenhaarschnitt mit schwungvollem Pony werden. Danach würde ich wieder nach Hause kommen und mich umziehen. Ich wollte wirklich ein Kleid mit goldenen Pailletten anziehen, das meiner dunklen Haut besonders schmeichelte, meine Füße in goldene High Heels zwängen und Goldstaub auf mein Dekolleté stäuben. Für später hatte ich ein paar Kolleginnen zu Drinks und Knabbereien eingeladen, bevor wir in die Stadt gingen, um die ganze Nacht zu tanzen.
Ich schlüpfte vorsichtig ins Bett, um nichts vom Tablett zu stoßen, dann trank ich Champagner und riss die Glückwunschkarten auf wie ein kleines Kind. Um mich herum häuften sich die bunten Kuverts, und ich zog eine Karte nach der anderen heraus und las lächelnd die Grüße.
Es war keine Ignoranz, dass sie mir nicht sofort auffiel. Sie war in das Bündel gerutscht und sah harmlos aus wie alle anderen. Und ich schaute sie, genau wie die anderen, gar nicht richtig an und versuchte auch nicht, die Handschrift auf dem Umschlag zu entziffern. Ich ignorierte selbst das Bild auf der Vorderseite. Ich öffnete das Kuvert einfach, weil ich unbedingt die auf die Karte gekritzelten lieben Glückwünsche lesen wollte. Mein Herz setzte aus. Ich erkannte die Schrift, ehe ich die Worte erfasste. Und als ich den Text las, fing mein Herz an zu rasen.
Liebe Kamryn,
bitte ignoriere das hier nicht. Ich muss dich sehen. Ich bin im St. Jude’s Hospital in Central London und liege im Sterben.
Liebe Grüße, Adele
PS: Du fehlst mir.
Hastig klappte ich die Karte zu. Erst jetzt merkte ich, dass auf der Vorderseite nicht die üblichen Geburtstagswünsche aufgedruckt waren, sondern die Worte »Ich liebe dich«.
Ich schleuderte die glänzende Karte quer durchs Zimmer, als hätte ich mir die Finger daran verbrannt. Sie landete auf dem Wäschekorb, von wo sie mich anstarrte. Die weiße Karte, das schlichte Design und die drei trügerischen Worte verhöhnten mich. Forderten mich heraus, sie mit Nichtachtung zu strafen. So zu tun, als hätten sich die handgeschriebenen Worte nicht längst in mein Gedächtnis gebrannt. Ich trank einen Schluck Champagner, doch er schmeckte mit einem Mal wie Essig. Das Croissant, das ich behutsam aufgeschnitten und mit Räucherlachs belegt hatte, war wie Sägemehl, als ich den ersten Bissen kaute. Die Trüffel klebten wie Kleister an meiner Zunge.
Noch immer starrte die Karte mich an. Trieb mich um. Missachte mich, wenn du kannst, spottete sie. Nur zu, versuch’s.
Ich schlug die Bettdecke zur Seite, stand auf und ging zu der Karte. Leidenschaftslos riss ich sie erst in zwei, dann in vier Stücke. Dann stapfte ich in die Küche, trat auf das Pedal, um den Mülleimer zu öffnen, und ließ die Papierfetzen auf verrottende Gemüseabfälle, fettige Speisereste und zusammengeknülltes Papier fallen.
»So. Das halte ich von alldem und von dir!«, zischte ich die Karte und die Absenderin an.
Danach ging ich zurück in mein Bett. So war es schon besser. Viel besser. Ich nippte an meinem Champagner und aß mein Frühstück. Alles war wieder gut. Sogar perfekt. Genau wie es an meinem Geburtstag sein sollte.
Nichts konnte ihn verderben. Auch wenn sich die Leute noch so sehr anstrengten. Und sie strengten sich mächtig an, das war nicht zu leugnen. Was konnte schlimmer sein als eine solche Nachricht in der Maske einer Geburtstagskarte? Sehr schlau. Verdammt schlau. Aber es funktionierte nicht. Ich würde nicht auf diesen Unsinn hereinfallen, sondern meine eigenen Pläne verfolgen. Mein Zweiunddreißigster sollte noch spektakulärer werden als mein Achtzehnter, Einundzwanzigster und Dreißigster zusammen.
Weil ich an meinem Zweiunddreißigsten goldene Pailletten, fünfzehn Zentimeter hohe Stilettos und Goldstaub auf dem Dekolleté tragen werde, genau wie ich es mir schon vor Jahren versprochen habe.
Die Tür war angelehnt und leistete keinen Widerstand, als ich sie vorsichtig aufschob. Ich klopfte nicht an. Ich klopfte nie an eine offene Tür, weil sie immer zu mir sagte: »Komm, du brauchst nicht anzuklopfen.«
Als ich in ihr Sichtfeld trat, lächelte sie mich aus den weißen Kissen an. »Ich wusste, dass du kommen würdest«, flüsterte sie.
Dolce & Gabbanna. Selbst jetzt, in der vermutlich finstersten Stunde ihres Lebens, trug Adele Designerklamotten – ein weißes D&G-T-Shirt lugte unter der Bettdecke hervor. Sie hatte immer schon mehr Stil gehabt als Verstand.
Früher hätte ich diesen Gedanken, so verdreht er auch sein mochte, gefühllos ausgeplappert, denn es hätte ihr gefallen. Heute konnte ich das nicht. Die Dinge zwischen uns hatten sich drastisch verändert. Erstens hatte ich sie zwei Jahre nicht gesehen. Zweitens hatte sie bei unserer letzten Begegnung die Finger in ihrem Haar vergraben, als wollte sie sich die blonden Locken büschelweise ausreißen; Wimperntusche lief ihr über die Wangen, und Rotz tropfte ihr aus der Nase. Sie redete, stolperte über die eigenen Worte und sprach Sachen aus, die ich nicht hören wollte. Ich packte meine Klamotten und meine Tasche, hielt blinzelnd die Tränen zurück und gab mir alle Mühe, nicht wie ein Häuflein Elend zusammenzubrechen. Nach einer solchen Auseinandersetzung konnte man nicht mehr zur Normalität zurückkehren. Und drittens war sie jetzt krank.
Wir schwiegen, während eine Krankenschwester um Adele herumschwirrte, die Daten notierte, die die Apparate anzeigten, die Infusion überprüfte und die Kissen aufschüttelte, damit die Patientin eine Stütze im Rücken hatte und sich aufsetzen konnte. Die Schwester hatte ein rundes, freundliches Gesicht und große braune, lächelnde Augen. Sie erinnerte mich stark an meine Mutter, auch weil sie die zu vielen Zöpfchen geflochtenen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Sie grinste mich an, als würden wir uns kennen, und wies Adele an, nicht zu viel zu sprechen. Dann ließ sie uns allein.
Wir wechselten immer noch kein Wort. Ein »Hi« erschien mir unpassend, um jemanden zu begrüßen, mit dem ich, wie ich mir damals geschworen hatte, nie mehr etwas zu tun haben wollte. Ich hatte mich in den letzten zwei Jahren wirklich daran gehalten und nie Verbindung zu Adele aufgenommen.
»Die Schwester da erinnert mich an deine Mum«, sagte Adele, als das Schweigen sogar das Summen der Apparate übertönte.
Ich nickte zustimmend, brachte aber immer noch kein Wort über die Lippen. Ich konnte einfach nicht. Dies war nicht die Adele – Del, wie ich sie nannte –, die ich zu sehen erwartet und für die ich mich innerlich gewappnet hatte, um nach dieser langen Zeit wieder mit ihr zu reden.
Ich weiß nicht, womit genau ich gerechnet hatte; ich hatte mir kaum Gedanken darüber gemacht, als ich in den Zug gestiegen war, um die zweihundert Meilen von Leeds nach London zu fahren, aber auf diesen Anblick war ich ganz bestimmt nicht vorbereitet. Wenn ich die Augen schloss, sah ich Del vor mir, wie ich sie in Erinnerung hatte. Die honigblonde Lockenflut, die sie immer schulterlang getragen hatte, und den sanften, unnatürlich gesunden Schimmer ihrer cremeweißen Haut. Was war das Auffallendste an diesem Bild? Ihre Augen, die die blaugraue Farbe von poliertem Stahl hatten, oder das Lächeln, das sie so großzügig an ihre Mitmenschen verschwendete? Was immer es auch war, hinter meinen geschlossenen Lidern würde ich immer die echte Del vor mir sehen. So vollkommen und dreidimensional, dass ich die Arme hätte ausbreiten und sie umarmen können.
Mit offenen Augen sah ich eine andere Del Brannon – eine veränderte.
Die Del, die in den Kissen lehnte, hatte eine grau, weiß und gelb gefleckte Haut. Das Gesicht war ausgezehrt, weil sie so viel Gewicht verloren hatte, und unter den tief liegenden Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Die Augenbrauen fehlten ganz, und sie hatte einen königsblauen Schal um den Kopf gewickelt, wahrscheinlich um zu verbergen, dass ihr die Haare ausgegangen waren. Mir wurde eiskalt. Ihr wunderschönes Haar war weg. Ausgefallen infolge der Therapien und Medikamente, die sie eigentlich gesund machen sollten.
Ich hatte nicht gewusst, dass sie so aussah. Wie anämisches Herbstlaub – so ausgedörrt, spröde und zerbrechlich, dass sie schon bei der kleinsten Berührung in eine Million Stücke zerfallen würde.
»Es ist gut, dich zu sehen«, sagte sie mit krächzender Stimme. Ich stellte mir vor, dass das Sprechen so schmerzhaft für sie war wie für mich, sie anzuhören. »Ich bin froh, dass du gekommen bist.«
»Was ist mit deiner Stimme?«, fragte ich.
»Das kommt von der Behandlung. Sie macht meinen Mund ganz trocken, und meine Zunge fühlt sich an, als wäre ihr ein Fell gewachsen.«
»Gott, erinnerst du dich, dass wir uns genauso fühlten, wenn wir uns am Abend zuvor betrunken hatten?«, bemerkte ich und hätte mich sofort ohrfeigen können. Ich meinte es nicht so, wie es geklungen hatte – ich wollte Mitgefühl ausdrücken, doch so war es ganz und gar nicht herausgekommen.
Dels trockene, aufgesprungene Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Typisch für dich«, sagte sie. »Kein anderer Mensch traut sich, solche Sachen zu mir zu sagen. Wahrscheinlich haben sie Angst, mich zum Weinen zu bringen. Sie fürchten, ich könnte zusammenbrechen und vor ihren Augen sterben. Es sieht dir ähnlich, dass du das Tabu brichst.«
»Das war keine Absicht«, erwiderte ich beschämt. »Ich bin eben, wie ich bin.«
»Und ich würde dich nicht anders haben wollen«, erwiderte sie.
»Was fehlt dir?«, erkundigte ich mich. Auch das klang falsch. Schroff. Unsensibel. Zugegeben, irgendwie war ich immer noch die Frau, die ihre Siebensachen zusammengepackt und sich geschworen hatte, sich nie wieder derart verletzen zu lassen, aber im Grunde hatte ich ein gebrochenes Herz. Ich war es gewohnt, Probleme durch Taten zu lösen, und jetzt stand ich hier vor jemandem, der unter Schmerzen litt und sich quälte, und wusste, dass ich nicht das Geringste dagegen tun konnte. Deshalb war ich so barsch. Ich fühlte mich hilflos, und damit kam ich gar nicht gut zurecht. »Ich meine, du hast geschrieben, dass du ... Was für eine Krankheit hast du?«
»Leukämie.«
»Ich dachte, so was bekommen nur Kinder«, platzte es aus mir heraus, ehe ich mich zurückhalten konnte.
»Genau das hab ich auch gesagt!«, rief Del aus. »Als die Ärztin mir die Diagnose nannte, hab ich dieselbe Antwort gegeben. Mir war kotzschlecht, das kann ich dir sagen.«
»Da bin ich aber froh, dass ich nicht die Einzige bin, die unpassende Sachen von sich gibt«, murmelte ich.
»Stimmt. Ich kann das sogar noch auf der Schwelle des Todes«, meinte sie vergnügt und gelassen. Ich verspürte den Drang, sie an den Schultern zu packen und durchzuschütteln. Heftig. So kräftig, dass sie sich daran erinnerte, was mit ihr los war. Wie konnte sie derart ruhig sein? Sich so ohne Weiteres mit diesem Gedanken abfinden?
Ich hatte immer noch Mühe zu verstehen, wie eine Frau in meinem Alter, die ins Fitnessstudio ging, sich relativ gesund ernährte, nie geraucht und ungefähr so viel Alkohol getrunken hatte wie ich, eines Morgens aufwachen und sozusagen das Ticken ihrer Lebensuhr hören konnte, entdeckte, dass sie der Begegnung mit ihrem Schöpfer um einen großen Schritt näher war als ich. Ich kämpfte mit dieser Vorstellung, seit ich die Karte gelesen hatte.
»Es ist gut, weißt du. Ich habe das, was mit mir geschieht, akzeptiert«, versicherte Del, als könnte sie meine Gedanken lesen. »Es hat gedauert, aber jetzt bin ich so weit. Ich weiß, dass du Zeit brauchst, bis du mich in diesem Punkt eingeholt hast.«
»Nur ein kleines Weilchen«, gab ich sarkastisch zurück.
»Ich musste mich schnell damit zurechtfinden«, fuhr sie fort. Sie ignorierte nicht, was ich gesagt hatte, sondern wie ich es gesagt hatte. »Ich musste Pläne machen. Es geht nicht nur um mich. Sosehr ich mir auch wünschte, so zu tun, als wäre nichts, musste ich doch an die wichtigste Person in meinem Leben denken und daran, dass sich jemand um sie kümmert.«
Tegan. Sie sprach von ihrer Tochter Tegan. Wie bewältigte sie diese Situation? Wenn ich Probleme hatte, damit fertigzuwerden, wie erging es dann einer klugen Fünfjährigen?
»Ich nehme an, du ahnst inzwischen, weshalb ich dich sehen wollte«, sagte sie nach einem weiteren langen Schweigen.
»Um mir Schuldgefühle zu machen, weil ich dich zwei Jahre ignoriert habe?«, fragte ich.
»Abgesehen davon ...« Del holte tief Luft. »Ich möchte, dass du Tegan adoptierst.«
»Was?«
»Ich möchte ... nein, ich verlange von dir, dass du Tegan nach meinem Tod adoptierst.«
Ich spürte, wie sich meine Stirn in Falten legte und mein Gesicht eine »Bist du verrückt geworden?«-Miene annahm.
Del starrte mich an, als erwartete sie sofort eine Antwort auf das, was sie mir gerade entgegengeschleudert hatte.
»Du machst Witze, oder?«
»Sehe ich so aus?«, gab sie verärgert zurück. »Wenn das ein Witz wäre, dann hätte er eine Pointe und wäre lustig. Nein, Kamryn, ich mache keine Witze. Ich will, dass du meine Tochter adoptierst, wenn ich tot bin.«
»Also schön, Adele, wenn du das ernst meinst, dann gebe ich dir auch eine ernste Antwort: Nein. Absolut nein.«
»Du hast nicht einmal darüber nachgedacht.«
»Es gibt nichts, worüber ich nachdenken müsste. Du hast immer gewusst, dass ich keine Kinder will. Das hab ich dir oft genug gesagt. Ich werde nie Kinder haben.«
»Ich verlange ja auch nicht von dir, dass du Kinder bekommst – du sollst nur meins zu dir nehmen.« Del atmete tief durch, was ihre Kräfte zu erschöpfen schien. Ihr Gesicht wurde noch grauer. »Ich hab die ganze Schwerarbeit geleistet, die morgendliche Übelkeit, die verdorbene Figur und vierundzwanzig Stunden Wehen ausgehalten ... Du brauchst nichts weiter zu tun, als für sie zu sorgen. Sei ihr eine Mutter. Liebe sie.«
»Nur für sie sorgen?« Ihr nur eine Mutter sein? Als ob das so einfach wäre. Und außerdem ... »Del, wir haben zwei Jahre kein einziges Wort miteinander gesprochen, und jetzt verlangst du von mir, dass ich ein Kind adoptiere? Erkennst du nicht, dass an diesem Bild irgendetwas nicht stimmt? Warum ich Schwierigkeiten damit habe?«
»Tegan ist nicht ›ein Kind‹«, fauchte sie aufgebracht. Von all den unverschämten Sprüchen, die ich seit dem Betreten des Krankenzimmers von mir gegeben hatte, brachte sie dieser richtig auf die Palme; sie war so wütend, dass ihre stahlblauen Augen regelrecht glühten. »Sie ist dein Patenkind. Du hast sie mal geliebt, und ich weigere mich zu glauben, dass sich daran etwas geändert hat.«
Das konnte ich nicht bestreiten. Ich hatte Tegan geliebt. Ich liebte sie immer noch.
Ich warf einen Blick auf das Foto auf dem Nachtkästchen. Es steckte in einem schlichten Glasrahmen – eine Großaufnahme von Tegan und Del. Tegan hatte die Ärmchen um den Hals ihrer Mum geschlungen und drückte ihr Gesicht ganz nah an das von Del. Beide grinsten in die Kamera. Tegan war in jeder Hinsicht eine Miniaturausgabe ihrer Mutter, nur die Nase stimmte nicht ganz. Die Stupsnase hatte sie von ihrem Vater geerbt.
»Kam, ich halte dich immer noch für meine beste Freundin«, sagte Del. »Und du bist der einzige Mensch, der einzige Mensch auf der ganzen Welt, dem ich meine Tochter anvertrauen möchte. Früher war sie wie dein Kind. Und – es tut mir leid, dich darauf hinweisen zu müssen – ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt. Ich kann es mir nicht leisten, irgendwelche Spielchen zu spielen. Was wird aus ihr, wenn du sie nicht zu dir nimmst? Es gibt sonst niemanden. Kein Mensch könnte ...« Das Weiß ihres Augapfels verfärbte sich rot, und ihre Brust hob und senkte sich heftig. »Ich kann nicht einmal mehr weinen«, flüsterte sie zwischen den schweren Atemzügen, »weil ich keine Tränenflüssigkeit mehr produziere.« Statt Tränen zu vergießen, rang sie um Atem und hustete, und ihr abgemagerter Körper zuckte jedes Mal krampfhaft.
Ich legte eine Hand auf ihren Arm. »Bitte nicht«, sagte ich in dem verzweifelten Bemühen, sie zu beruhigen. »Ich werde darüber nachdenken. Aber ich verspreche nichts, okay?«
Del schnappte nach Luft, bis sie sich wieder gefasst hatte. »Du willst wirklich darüber nachdenken?«, fragte sie, als sie wieder sprechen konnte.
»Ja.«
»Das ist alles, worum ich dich bitte – dass du es dir überlegst.«
»Gut, aber ich denke nur darüber nach.«
»Danke«, flüsterte sie. »Ich danke dir.«
Wir verfielen in Schweigen, und ich hätte mich verabschieden sollen. Sie hatte es getan, sie hatte mich um das Unvorstellbare gebeten, was blieb mir noch zu tun, als zu gehen, mich zurückzuziehen und, wie versprochen, über die Sache nachzudenken?
»Kam«, begann sie von Neuem. Die Art, wie sie meinen Namen aussprach, zwang mich, sie anzusehen, und ich wusste sofort, was als Nächstes kam. Ich wollte es nicht hören. Sie sollte besser nicht daran rühren. »Was damals passiert ist –«
»Hör auf«, fiel ich ihr warnend ins Wort.
»Du hast nie zugelassen, dass ich es dir erkläre«, flehte sie.
»Hör auf«, warnte ich sie noch einmal.
»Kam, bitte. Ich habe nicht –«
»Ich sagte: Hör auf!«, schrie ich so unvermittelt und laut, dass ich selbst erschrak. »Ich will nicht daran denken, nichts davon hören und schon gar nicht darüber reden. Das ist erledigt. Belass es dabei.«
Diese Wunde war noch nicht verheilt. Del hatte am Schorf gekratzt, der nur dünn die Oberfläche einer sehr tiefen Verletzung verschloss; die kleinste Erschütterung würde eine heftige Blutung auslösen. Trotzdem hätte ich meinem Zorn nicht auf diese Weise Luft machen sollen. Sie war krank. Sie hatte nicht die Kraft, sich zu wehren.
»Belass es dabei«, wiederholte ich ruhiger. »Bitte.«
Del hielt sich daran und wandte sich dem Foto auf dem Nachtkästchen zu. Sie lächelte matt, doch ich erkannte die Traurigkeit in ihren Augen. Tegan war Adeles Ein und Alles. Das würde ich vermutlich nie ganz verstehen. Auch mir hatte Tegan viel bedeutet, aber für Adele schien sie der einzige Lebensinhalt zu sein. Alles, was sie tat, dachte und sagte, drehte sich um Tegan. Nichts und niemand kam vor Adeles Kind. Der Gedanke, die Kleine allein zurückzulassen, musste unerträglich für sie sein. Und wie erklärte man einem Kind, dass man für immer gehen musste? Wie sagte man dem eigenen Kind, dass man im Sterben lag?
»Wo ist sie jetzt?«, fragte ich, um die angespannte Atmosphäre im Raum und die Schuldgefühle in meiner Seele zu lindern.
Del schloss kurz die Augen, bevor sie mit leiser Stimme die nächste Bombe platzen ließ: »Bei meinem Vater und seiner Frau.«
Mein Herz setzte einen Schlag aus. War es so schlimm, dass sie Tegan tatsächlich bei diesen Leuten gelassen hatte? »Und wie läuft das?«, erkundigte ich mich so diplomatisch wie möglich, wobei ich am liebsten »Bist du verrückt?!« geschrien hätte.
»Es ist furchtbar.« Ihre Augen röteten sich wieder – wenn sie gekonnt hätte, wäre sie in Tränen ausgebrochen. »Sie erlauben ihr nicht, mich zu besuchen. Seit ich hier bin, haben sie sie nur ein einziges Mal mitgebracht. Einmal in vier Wochen. Sie sagen, die Fahrt wäre zu lang. Sie bringen sie nur mit, wenn es ihnen gerade in den Kram passt. Ich telefoniere mit ihr, aber das ist nicht dasselbe. Sie fehlt mir sehr. Und ich merke bei jedem Gespräch mit ihr, dass sie trübsinniger wird. In sich gekehrter. Sie kann nicht verstehen, warum sie jetzt, wo ich sie am meisten brauche, nicht bei mir sein darf. Mein Vater und seine Frau wollen sie nicht bei sich haben, und das weiß sie. Kam, ich möchte mit meiner Tochter zusammen sein. Mir bleibt nur noch wenig Zeit, und die möchte ich mit ihr verbringen.« Ihre stahlblauen Augen flehten mich an, dieses Problem für sie zu lösen. »Ich will sie nur sehen, bevor ... du weißt schon.«
Nein, weiß ich nicht. Ich bin noch damit beschäftigt, das alles zu begreifen, schon vergessen? Ich bin noch nicht so weit, Del, antwortete ich ihr im Stillen. »Gibt es sonst niemanden, bei dem sie bleiben könnte?«, fragte ich. Ich wusste, dass Del keine weiteren Verwandten hatte, aber sie musste doch Freunde haben. Irgendjemanden außer ihrem Vater und ihrer Stiefmutter.
»Nein. Als mir klar wurde, dass ich ernsthaft krank bin, habe ich dir geschrieben, um dich zu fragen, ob du dich einige Zeit um Tegan kümmern könntest, aber du hast mir nie geantwortet.«
»Ich habe den Brief gar nicht geöffnet«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Ich hatte ihn noch. Er lag, zusammen mit all den anderen Briefen von ihr, ganz unten in meiner Wäscheschublade – ich war zu entrüstet gewesen, um sie zu öffnen, aber auch zu feige, um sie wegzuschmeißen. Sie lagen in der Schublade, wurden älter und verstaubten ungeöffnet und meistens unbeachtet.
»Das dachte ich mir. Ich habe auch andere Leute gefragt, aber eine so große Verantwortung wollten sie nicht übernehmen, also blieb nur mein Vater.« Del sprach immer von ihm als »mein Vater«, und wenn sie ihn persönlich anredete, sagte sie »Vater«, niemals »Dad« oder »Daddy«. Zwischen den beiden herrschte eine gewisse Formalität, die nie durchbrochen wurde – nicht einmal jetzt, wie es schien. »Als wir bei ihm eingezogen sind, war er schrecklich streng mit Tegan, aber ich hatte nicht genügend Energie, mich mit ihm oder seiner Frau anzulegen. Wenn ich eine Sache in meinem Leben anders machen könnte, würde ich das ungeschehen machen, was –«
»Wohnen sie immer noch in dem Haus in Guildford?«, unterbrach ich sie, weil ich nicht zulassen konnte, dass sie sich durchs Hintertürchen wieder an dieses eine Thema heranschlich.
Sie schüttelte leicht den Kopf. »Ihren Eigensinn hat Tegan von dir«, behauptete Del. »Sie ist genau wie du – wenn sie etwas nicht tun will, dann tut sie es auch nicht. Ich dachte immer, das hätte sie von mir, aber das stimmt nicht, es ist eindeutig von dir. Aber – ja, sie leben noch in Guildford.«
»Okay.« Ich holte tief Luft. Ich kann nicht glauben, dass ich das wirklich vorhabe. »Wie wär’s, wenn ich hinfahre und nach ihr sehe?«
Dels Miene hellte sich auf. »Das würdest du tun?«
»Das heißt nicht, dass ich sie adoptieren werde oder so was. Ich sehe nur nach, ob es ihr gut geht, okay? Es ist nur ein Besuch.«
»Danke.« Del lächelte. »Danke, danke, danke.«
»Erinnert sie sich überhaupt noch an mich?«, fragte ich.
»Natürlich. Sie malt dich immer noch in ihren Bildern und spricht oft von dir. Und jedes Mal, wenn zu ihrem Geburtstag und zu Weihnachten anonyme Karten und Geschenke ankamen, habe ich ihr gesagt, sie seien von dir. Sie fragt ständig, wann du aus dem Urlaub zurückkommst.«
»Urlaub?«
»Du warst von einem Tag auf den anderen weg, deshalb habe ich ihr erklärt, du würdest lange Ferien machen. Sie sollte denken, dass du eines Tages wiederkommst. Wir hätten es beide nicht ertragen, wenn uns nicht wenigstens die Hoffnung geblieben wäre, dass du irgendwann zu uns zurückkommst«, sagte sie. Plötzlich fielen ihre Lider zu und blieben geschlossen.
Beklommenheit und Angst machten sich in mir breit, als die Minuten verrannen und sie die Augen nicht mehr öffnete. Die Apparate summten und piepsten immer noch rhythmisch, daher wusste ich, dass sie noch nicht ... Und wenn das der Anfang war? Wenn dies der Niedergang war?
Dels Augen öffneten sich langsam zu ganz schmalen Schlitzen, ihre Haut war inzwischen noch grauer als bei meiner Ankunft. Ich hatte sie zu sehr angestrengt. Ich sollte gehen. Aber ich wollte nicht. Ich wollte bei ihr bleiben. Mit ihr zusammen sein. Nur für den Fall ... Ich wollte den ganzen Tag hier sitzen. Und die ganze Nacht. Für immer.
»Ich gehe jetzt besser«, sagte ich. Ich musste mich zwingen, nicht meinen dummen Wünschen nachzugeben. Hier konnte ich nichts tun. Ich half ihr mehr, wenn ich ihr Neues von ihrem Baby erzählen konnte.
»Wenn ich Tegan heute noch besuchen will, mache ich mich besser auf den Weg.« Ich stand auf und hängte mir die Tasche über die Schulter.
»Richte ihr ganz liebe Grüße von mir aus.« Dels Stimme war schwach. »Sag ihr, dass ihre Mummy sie sehr lieb hat.«
»Mach ich. Selbstverständlich.«
An der Tür blieb ich stehen und wartete auf eine Antwort, bekam aber keine. Ich drehte mich noch einmal zu ihr um; ihre Brust hob und senkte sich langsam und gleichmäßig, und ich sah, dass sie eingeschlafen war. Ich betrachtete sie noch eine Weile, stellte mir vor, ich sei eine Art Schutzengel, der über sie wachte und auf sie aufpasste. Wieder schalt ich mich, weil ich so dumm war. Ich ging aus dem Krankenzimmer, verließ die Klinik und flüchtete in den nächsten Pub.
Adele und ich kannten uns unser halbes Leben lang – zwölf Jahre.
Wir hatten uns im ersten Collegejahr an der Leeds University kennengelernt, als wir eingeteilt wurden, zusammen eine Englischarbeit zu machen.
Ich ächzte leise, als ich hörte, dass ich mit Adele Hamilton-Mackenzie eine Arbeitsgemeinschaft bilden sollte. Mit siebzehn war ich eine standhafte Vertreterin der Arbeiterklasse, die gezwungen wurde, sich mit einer höheren Tochter mit doppeltem Nachnamen und allem Drum und Dran zusammenzutun. Sie war bestimmt so eine Internatszicke mit vornehmer Aussprache, für die ich ihr eine hätte runterhauen können. Sie drehte ihren Blondkopf und suchte Kamryn Matika unter ihren Kommilitonen. Sie nickte mir lächelnd zu, und ich tat es ihr gleich, bevor sie sich wieder nach vorn drehte. Gott, dachte ich verbittert, sie bildet sich bestimmt ein, die Welt würde sich nur um sie drehen. Bestimmt versucht sie, mich herumzukommandieren. Kein Zweifel – ich bin verflucht. Und dieser Fluch verdammt mich dazu, mit einer albernen, hochgestochenen Zicke zusammenzuarbeiten.
Am Ende der Stunde sammelte ich hastig meine Bücher, Hefte und Stifte zusammen, denn ich plante den schnellsten Abgang der Menschheitsgeschichte, doch als ich meinen Rucksack gepackt hatte und mich aufrichtete, stand ein schlankes junges Mädchen vor mir, das sich kleidete wie eine Fünfzigjährige – sie trug ein dunkelblaues Polohemd und eine dunkelblaue Gabardinehose. Ich war entsetzt, weil sie so schnell vor mir aufgetaucht war – es schien fast, als wäre sie aus dem Nichts gesprungen.
Sie zeigte mir grinsend ihre geraden weißen Zähne und schleuderte ihre dichten blonden Locken nach hinten.
»Hi, ich bin Adele«, begrüßte sie mich, und ihre Stimme klang ebenso munter und lebhaft wie kultiviert. Sie ist nicht nur hochgestochen, sondern noch dazu dreist. Kann mein Leben eigentlich noch schlimmer werden?, dachte ich. »Wie wär’s, wenn wir uns einen Kaffee gönnen und über die Englischarbeit sprechen.« Das war keine Frage, sondern ein subtiler Befehl.
»Ich denke, wir sollten nach Hause gehen, darüber nachdenken und uns in ein paar Tagen treffen«, entgegnete ich mit einem zähneknirschenden falschen Lächeln. Niemand kommandierte mich herum – weder auf subtile Weise noch sonst wie. Außerdem – welche Siebzehnjährige, die noch ganz bei Verstand war, fing an dem Tag, an dem sie eine Aufgabe gestellt bekam, mit der Arbeit an? Ich ganz gewiss nicht.
Daraufhin sackte Adele geradezu in sich zusammen; sie ließ die Schultern sinken und blickte trübsinnig auf den Parkettboden. Ich hätte mich in den Hintern treten können. In Wirklichkeit war sie gar nicht so selbstbewusst, und ich war nicht so unverschämt und hartgesotten, wie ich vorgab. Anfangs vermittelte ich vielleicht den Eindruck, kühl und unnahbar zu sein, doch sobald sich mein Gewissen einschaltete, zerbröckelte diese Fassade – ich war kein echtes Miststück.
»Um ehrlich zu sein, ich bin kein Fan von Kaffee«, sagte ich so freundlich, wie es mir möglich war. »Wie wär’s stattdessen mit einem Drink in der College-Bar?«
»Wenn du wirklich willst«, antwortete sie vorsichtig.
»Ja«, murrte ich und fühlte mich einigermaßen manipuliert, »ich will es wirklich.«
»Was ist ›Kamryn‹ eigentlich für ein Name?«, fragte Adele mich ohne Scheu.
»Ein erfundener«, lautete meine knappe Antwort. Als sie in ihrer Handtasche nach Kleingeld gekramt hatte, hatte ich zufällig ihren Studentenausweis gesehen und wusste jetzt, dass ich mit Lucinda-Jayne Adele Hamilton-Mackenzie trank und höfliche Konversation trieb. Sie fragte mich nach meinem Namen, dabei hatte sie selbst einen ellenlangen mit zwei Bindestrichen – damit ging sie in ihrer Unverfrorenheit einen Schritt zu weit.
»Es ist kein Schreibfehler? Du heißt Kamryn. K-A-M-R-Y-N«, buchstabierte sie. »Nicht C-A-M-E-R-O-N, Cameron wie der Jungenname?«
»Doch, eigentlich schon. Ich fand die andere Schreibweise nur lustiger. Ich liebe es, wenn mich die Leute danach fragen. Du scheinst ziemlich clever zu sein, weil du mir so schnell auf die Schliche gekommen bist. Du könntest direkt Miss Marples schlaue kleine Schwester sein.«
Adele zog die linke Augenbraue ein klein wenig nach oben und verzog ihren vom Lipgloss glänzenden Mund zu einem schiefen Lächeln. »Du bist nicht sehr freundlich, was?«, bemerkte sie.
»Wahrscheinlich nicht«, stimmte ich ihr zu. Sie hatte vier Drinks gebraucht, um zu erkennen, dass ich nicht von der redseligen Sorte war. Ich fand, dass viel zu viele Menschen anderen ihre Herzen öffneten und freimütig von ihrem Leben erzählten. Warum sollte man einem anderen so viel Macht über sich geben? Wenn man jemanden zu nahe an sich heranließ, riskierte man, eines Tages einen emotionalen Tritt in den Hintern zu bekommen.
»Wenigstens bist du dir darüber im Klaren«, sagte sie und kippte die Hälfte ihres Malibu mit Cola in einem damenhaften Schluck hinunter. »Ich mag dich trotzdem.«
»Ich fühle mich geehrt.«
»Nein, ich fühle mich geehrt.« Sie legte eine schlanke Hand über ihre linke Brust. »Ehrlich.«
Sie sah mich so freundlich und offen an, dass ich den Köder bereitwillig schluckte. »Wieso das?«, wollte ich wissen.
»Du bist nett und hübsch.« Sie klang sogar aufrichtig. »Ich habe bisher nicht viele Menschen kennengelernt. Und wenn es doch mal so weit kommt, fühle ich mich geehrt. Als ich dich in der Klasse sah, hatte ich sofort das Gefühl, dass du richtig nett bist. Du tust nur so, als wärst du stachlig und abweisend, aber im tiefsten Inneren – na ja, so tief muss man gar nicht gehen – bist du einfach großartig.«
»Du bist doch keine Lesbe oder so was?«, fragte ich barsch.
»Nein.« Sie lachte. »Aber wenn ich eine wäre, würde ich mich definitiv für dich interessieren.«
»Das würde ich sogar verstehen«, log ich. Nicht einmal kleine, fette, hässliche Männer interessierten sich für mich. Was ich ihnen nicht einmal verübeln konnte: Ich trug weite, flattrige Klamotten, um mein Übergewicht zu verstecken; meine trockene, fleckige Haut sah nie Make-up; nur den krausen Mopp auf meinem Kopf zähmte ich, indem ich in die Strähnen schulterlange schwarze Extensions flocht. Ich bildete mir keineswegs ein, schön oder hübsch zu sein, und schon gar nicht, die richtigen Männer auf mich aufmerksam machen zu können. Zusätzlich zu all dem fehlte mir nämlich das gewisse Etwas, womit hässliche Mädchen Männer anzogen: Ich war weder witzig noch charmant noch in irgendeiner Weise sexy. Kurz gesagt – die böse Hexe aus dem Märchen hatte wahrscheinlich mehr Aktivitäten unter der Bettdecke erlebt als ich.
»Du redest echt einen Haufen Scheiße.« Adele lachte wieder. Wenn sie »Scheiße« sagte, klang es seltsam, irgendwie falsch. In meinem Londoner Dialekt waren Flüche oder Schimpfworte überhaupt nichts Besonderes, aus Adeles vornehmem Mündchen klangen sie wie eine kleine Rebellion. Es wäre aussagekräftiger gewesen, wenn sie »Unsinn« oder »Quatsch« gesagt hätte – zumindest hätte sie dann nicht den Eindruck erweckt, sie wollte ihre Mitmenschen unbedingt schockieren. »Ich glaube dir kein Wort«, fuhr sie fort. »Deshalb bist du so giftig. Du meinst, die Menschen würden dich nicht mögen oder toll finden, deshalb versuchst du, so zu tun, als wäre es dir egal, was andere denken. Ich kenne solche Typen wie dich. Vermutlich haben die Jungs in der Schule dich schikaniert. Wahrscheinlich weil du anders bist als die anderen und keine Lust hast, dich anzupassen.«
Ich rückte ein Stück von ihr ab. Woher weiß sie das? Wie kommt sie darauf? Steht mir das so deutlich ins Gesicht geschrieben? War es für dieses hochgestochene Prinzesschen so offensichtlich, dass ich Zielscheibe des Spotts gewesen war, dass man mir gemeine Zettelchen zugeschoben und mich mit Telefonanrufen und Kritzeleien an den Wänden beleidigt hatte? Was sollte ich tun, wenn man mir das wirklich ansah? Das College – zweihundert Meilen weit weg von allen, die mich kannten – war mein Zufluchtsort. Meine Chance, die scheußlichen Jahre hinter mir zu lassen und mich selbst neu zu erfinden. War die Mühe vergeblich gewesen? Hatte ich einen Stempel auf der Stirn, der mich als »Außenseiterin« brandmarkte?
Ich zwang mich zu einem Lächeln, damit Adele nicht merkte, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Was soll ich sagen? Wie kann ich diesen Angriff parieren?
Sie beantwortete mein Lächeln mit: »Eine meiner Schulfreundinnen war wie du, weißt du. Sie wurde gepiesackt, bis sie überhaupt kein Selbstvertrauen mehr hatte und sich vollkommen verschloss, weil sie niemandem mehr traute. Genau genommen war sie keine richtige Freundin. Ehrlich gesagt, ich habe nicht viele Freunde.«
»Wenn du öfter solche Dinge von dir gibst, kann ich mir das gut vorstellen«, fauchte ich.
»Es war nur eine Feststellung«, protestierte sie.
»Ja. Vielleicht solltest du solche ›Feststellungen‹ besser lassen, insbesondere da du nicht das Geringste über mich weißt. Was macht dich eigentlich zu einer solchen Expertin? Augenscheinlich führst du doch ein perfektes Leben mit reichen Eltern, die dich auf die besten Privatschulen schicken konnten.« Ich war gehässig, und es scherte mich nicht. Ich wollte sie niedermachen. »Also, was weißt du schon von einem beschissenen Leben?«
Sie nahm ihr Glas und drehte es langsam zwischen den Händen, sodass die schmelzenden Eiswürfel aneinanderstießen. Dabei sah sie mich lange an, dann starrte sie in ihr Glas. »Meine Mutter starb kurz nach meiner Geburt, weil es zu Komplikationen gekommen war. Mein Vater wollte nie Kinder haben, und das hat er mir mein Leben lang fast täglich unter die Nase gerieben. Außerdem gibt er mir die Schuld am Tod meiner Mutter. Er wollte nichts mit mir zu tun haben, deshalb verbrachte ich die meiste Zeit bei einem Kindermädchen, bis mein Vater wieder heiratete. Seine Frau kann mich nicht ausstehen, und sie macht kein Geheimnis daraus.« Adele sah mich lächelnd an. »Ich habe nicht viele Freunde, weil ich den meisten Menschen zu viel bin. Ich bemühe mich zu sehr, was für andere ziemlich anstrengend ist. Aber ich kann nicht anders. Ich bin so, wie ich bin – ich müsste mich ändern, aber ich weiß nicht, wie das geht. Ich war zu viel mit Menschen zusammen, die mich nicht mögen, und musste mich sehr anstrengen, sie nicht noch mehr gegen mich aufzubringen. Du siehst, ich kenne mich ein bisschen aus mit einem beschissenen Leben. Meines ist vielleicht nicht so schlecht wie das von manchen, aber perfekt ist es ganz bestimmt nicht.«
Plötzlich fühlte ich mich wie eine Massenmörderin. »Tut mir leid«, murmelte ich. »Das wusste ich nicht.« Das Schlimmste war, dass sie gar nicht versuchte, mir ein schlechtes Gewissen zu machen, weil ich sie falsch eingeschätzt hatte. Sie war einfach nur offen und ehrlich. Adele hatte keine manipulative Ader. Ich war kein Miststück durch und durch, und Adele war weder arglistig noch arrogant. Sie war in allem, was sie tat und sagte, direkt und aufrichtig.
»Ist schon gut«, sagte sie und straffte die Schultern, warf ihr Haar zurück und strahlte mich an. »Das konntest du ja nicht ahnen.«
»Hör zu, Adele, falls wir öfter zusammen herumhängen, dann musst du damit aufhören«, sagte ich.
»Womit?«
»Die ganze Zeit so verdammt nett zu sein. Das ist unnatürlich.«
Adeles stahlblaue Augen fingen an zu leuchten. »Du willst mit mir rumhängen, meine Freundin sein?«
Ich zuckte lässig die Schultern.
Sie grinste. Dieses vornehme Geschöpf namens Adele, das sprach, als hätte sie sich in jede Backe fünf Pflaumen gestopft, grinste mich an. Dieses Lächeln brachte nicht nur ihr Gesicht zum Strahlen, sondern zauberte ein Glitzern in ihre Augen und einen rosigen Schimmer auf ihre Wangen. Und es zeigte Wirkung – ich schloss Adele ins Herz. Fest. Ich musste sie einfach gernhaben. Sie sollte zu einem wichtigen Menschen in meinem Leben werden und mir helfen, der Mensch zu werden, der ich jetzt bin. Keine Ahnung, wie ich das damals schon wissen konnte – es war mir einfach klar. Aus unerfindlichen Gründen war mir sofort bewusst, dass ich lange Zeit mit ihr zusammen sein würde.
Wir wurden nahezu unzertrennlich, weil wir miteinander wuchsen. Sobald sich Adele ins College-Leben eingewöhnt hatte, fand sie sich auch mit ihrer Persönlichkeit zurecht. Sie lernte sich selbst richtig kennen und ergründete, wer sie war. Und sie kleidete sich nicht mehr wie eine Fünfzigjährige – nie wieder verhüllte eine Gabardinehose ihre Beine. Oft hatte sie Wutanfälle, bei denen sie schrie, fluchte und auch mal mit Gegenständen um sich warf. Endgültig jedoch machte sie der verängstigten Adele, mit der ich in der College-Bar gesessen hatte, den Garaus, als sie sich ein Nabelpiercing stechen ließ.
Ich nahm unterdessen etliche Pfunde ab, lächelte öfter und murkste die Kamryn, mit der Adele in der College-Bar gesessen hatte, ab, als ich einem umwerfenden Mann den Sex verweigerte, weil er eine Unterhose mit Paisley-Muster trug. Doch all das stand uns zu dem Zeitpunkt, über den ich hier rede, noch bevor. In diesem Moment war Adele überglücklich, weil ich mit einem Achselzucken meine Zustimmung gegeben hatte, mich mit ihr abzugeben, und ich freute mich insgeheim wie eine Schneekönigin, dass mich jemand nett und hübsch fand.
»Übrigens, ich dachte, wir sind schon Freundinnen«, sagte Adele. »Ein Fremder ist ein Freund, dem du noch nicht begegnet bist ... und so weiter.«
»Ach, halt den Mund und hol uns noch was zu trinken.«
Stocknüchtern erhob ich mich von dem Tisch im Pub. Ich hatte vorgehabt, mich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken, um die Realität – meine Fahrt nach London und mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie krank Del war – auszuschalten, doch statt eines doppelten Wodka Orange, den ich stets trank, wenn Vergessen gefordert war, hatte ich einen doppelten Wodka Orange ohne Wodka bestellt.
Der Barmann zeigte sich gänzlich unbeeindruckt – wahrscheinlich dachte er, ich wollte witzig sein – und funkelte mich finster an, als ich nach dem Glas griff. Mir ist überhaupt nicht nach Witzen zumute, wollte ich sagen. Es ist nur: Ich hab eine Freundin, die nie wieder Alkohol trinken wird. Und aus Loyalität zu ihr trinke ich auch keinen. Doch das würde er nicht verstehen. Und warum sollte es ihn auch interessieren?
Der Orangensaft ohne Wodka war buchstäblich unberührt stehen geblieben, während ich mich an das erste Zusammentreffen mit Del erinnert hatte.
Ich schlüpfte in meinen roten Regenmantel. Ich musste nach Guildford und hätte im Grunde schon vor über einer Stunde losfahren sollen. Doch ich schob das Unvermeidliche hinaus. In der Sekunde, in der ich in den Zug nach Surrey stieg, verstrickte ich mich noch mehr in diese Sache. Das hatte ich nicht vorgehabt. Ursprünglich wollte ich nach London fahren, mir ansehen, wie krank sie war, und sofort nach dem Besuch in der Klinik wieder nach Leeds zurückkehren. Falls ich den letzten Zug verpasst hätte, wäre ich ü