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FELIX KUCHER

KAMNIK

Copyright © 2018 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Umschlagabbildung:

© MsMoloko/iStockphoto

ISBN 978-3-7117-2058-0

eISBN 978-3-7117-5365-6

Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unter www.picus.at

Felix Kucher, geboren 1965 in Klagenfurt, studierte Klassische Philologie, Theologie und Philosophie in Graz, Bologna und Klagenfurt und ist Qualitätsmanager, Lehrer und Weinbauer. Er lebt und arbeitet in Klagenfurt und Wien. 2016 erschien sein erster Roman »Malcontenta« im Picus Verlag.

FELIX KUCHER

KAMNIK

ROMAN

PICUS VERLAG WIEN

Inhalt

Teil I

Kapitel 1 BUENOS AIRES, 1947

Kapitel 2 PODGORA, 1925

Kapitel 3

Kapitel 4 KLAGENFURT, 1920

Kapitel 5 BUENOS AIRES, 1947

Kapitel 6 KLAGENFURT, 1925

Kapitel 7 TAINACH, 1926

Kapitel 8 HAMBURG, 1926

Kapitel 9 MÜNCHEN, 1926

Kapitel 10 HAMBURG, 1926

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14 KÄRNTEN, 1926

Kapitel 15 BUENOS AIRES, 1947

Kapitel 16 AUF SEE, 1926

Kapitel 17 BUENOS AIRES, 1926

Teil II

Kapitel 18 BUENOS AIRES, 1926

Kapitel 19 ENTRE RÍOS, 1926

Kapitel 20 BUENOS AIRES, 1947

Kapitel 21 ENTRE RÍOS, 1926

Kapitel 22

Kapitel 23 BUENOS AIRES, 1927

Kapitel 24

Kapitel 25 BUENOS AIRES, 1947

Kapitel 26 BUENOS AIRES, 1928

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30 MÜNCHEN, 1930/32

Kapitel 31 BERLIN, 1933

Kapitel 32 BUENOS AIRES, 1935

Kapitel 33 BUENOS AIRES, 1947

Teil III

Kapitel 34 PODGORA, 1939

Kapitel 35 VÖLKERMARKT/KLAGENFURT, 1939

Kapitel 36 MAUTHAUSEN, 1939

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40 MAUTHAUSEN/GUSEN, 1945

Kapitel 41

Kapitel 42 TAINACH/BUENOS AIRES, 1945

Kapitel 43 BOZEN, 1945

Kapitel 44 BUENOS AIRES, 1947

Kapitel 45 GENUA, 1946

EPILOG KLAGENFURT, 2008

I

1

BUENOS AIRES, 1947

»Er hat Deutsch gesprochen. Ich habe versucht, Spanisch mit ihm zu reden, aber ich habe dann gemerkt, dass er mich nicht verstanden hat. Ich wollte nicht Deutsch reden.«

Veronika sagte es etwas zu schnell, unter der Entschuldigung schimmerte etwas durch, das Anton schon ausgelöscht geglaubt hatte. Er blies Luft durch die Nase. Er hat Deutsch gesprochen. Und wenn schon. Sie würden ihn nicht wiedersehen.

Anton musste daran denken, wie oft Veronika den Satz früher gesagt hatte. Der hat mit uns Deutsch gesprochen, schau, diese Familie pflegt auch noch Deutsch als Haussprache. Aber er hatte damals beschlossen, nur noch die Sprache der neuen Welt zu sprechen, und sie hatte sich gefügt. Er wollte nicht mehr an die alte Welt erinnert werden, an all das, was zurücklag, und sie hatte in das Vergessen eingewilligt. Anfangs, als sie das Verbot manchmal nicht beachtete, sagte er dann Sätze wie: Denk an die Armut und das Elend, das du zurückgelassen hast. Denk daran, wie du als Kind gehungert hast. Denk daran, wie aussichtslos alles war. Deutsch wird uns immer an die Armut erinnern. Hier ist unsere Zukunft, Spanisch ist ein Teil davon. Zehn, zwölf Jahre musste das her sein, mein Gott.

Und es hatte nur wenige Monate gebraucht, um die Sprache auszumerzen. Kurz hatte sich nach einigen Jahren ein Schlupfloch aufgetan: Als Anita ihre ersten Wörter brabbelte, musste Deutsch für Geheimnisse herhalten, vor Weihnachten oder wenn sie über Affären von Bekannten tratschten. »Warum redet ihr so komisch?«, fragte Anita zum ersten Mal, als sie fünf war.

»Ein Spiel von Mama und Papa«, sagte er anfangs. »Weißt du, wir spielen auch manchmal, mit Worten, einfach so. Es bedeutet nichts.« Dann hatte sie zu fragen aufgehört. Und die deutschen Worte wurden seltener und starben schließlich ganz.

Und jetzt wieder dieser Satz. »Er hat Deutsch gesprochen.«

Veronika reichte ihm ein Stück Papier.

»Das ist seine Karte. Ich finde es nett, dass er uns geholfen hat. Er hat die Rettung verständigt, ich musste ja bei Anita bleiben. Er hat mit uns gewartet, bis die Ambulanz eingetroffen ist.«

Anton musterte das Stück Papier, das sie ihm vor die Nase hielt, blickte auf seine Frau, die vor ihm stand, blickte auf seine Tochter, die auf dem Diwan lag, das rechte Bein in Gips. Nur wenige Minuten vor ihm waren sie nach Hause gekommen, Unfall beim Spielen. Er war völlig ahnungslos gewesen, Veronika hatte keine Zeit gefunden, ihn über den Vorfall zu verständigen. Er war in Erwartung von Essensgeruch aus der Firma gekommen und das Erste, was er sah, als er die Tür zur Wohnküche öffnete, war seine Tochter, die mit einem Gips am Bein auf dem Diwan lag. Warum musste sie ausgerechnet auf einen Baum steigen? Von ihm konnte sie das Draufgängerische nicht haben.

»Franz Steiner«, las er. »Fa. Foerster – technische Zeichnungen.« Die Adresse lag in Belgrano, ein paar Straßen weiter.

Anton wusste nicht, was er mit der Karte anfangen sollte.

Er wandte sich von Veronika ab, legte die Karte auf die Anrichte und ging zu Anita.

»Komm, ich trage dich in dein Zimmer!«

Sie legte die Arme um seinen Hals und ließ sich aufheben.

Schwer war sie geworden, dachte Anton, als er die Treppe in den ersten Stock hinaufstapfte. Er öffnete die Tür mit dem Ellenbogen. Ein Mädchenzimmer mit weißen Möbeln, rosa Tapete und Rüschenvorhang. Er legte sie ins Bett, deckte sie zu und setzte sich an die Bettkante.

»Es wird schon wieder. Tut es noch sehr weh?«

Anita schüttelte den Kopf, aber er merkte, dass sie die Zähne zusammenbiss. Sie wird jeden Tag größer, ich habe zu wenig Zeit für sie, dachte er.

»Das kommt bald wieder in Ordnung. Weißt du, ich habe mir auch einmal den Fuß gebrochen, da war ich schon etwas älter. Da war kein Arzt weit und breit. Aber bei jungen Menschen heilt das schnell. Und es ist ja nur angebrochen, nicht durch, hat Mama gesagt.«

Er versuchte linkisch, die Liegende zu umarmen.

»Du wirst bald elf, bist ein tapferes Mädchen.«

Er wusste schon lange nicht mehr, was er mit ihr reden sollte. So wenig Zeit. Was interessierte elfjährige Mädchen? Zuckerwatte? Pferde? Unter der Woche kam er immer spät aus dem Betrieb, und auf den sonntäglichen Ausflügen in den Palermo-Park oder in den Zoo zum Ponyreiten sprachen sie oberflächlich über die Schule, den schönen Tag und über die Dinge, die sie im Moment taten: eben spazieren oder Ponyreiten. Die Wochenenden waren für ihn wertvoll, mühsam erkämpftes Familienterrain nach so vielen Jahren der Plackerei und des Verzichts.

Er streichelte ihr übers Haar und blickte auf das Muster des Polsters. Rosen und Girlanden, rosa, weiß und grün.

Die Tür öffnete sich, Veronika kam herein. Sie trug einen Wasserkrug in der Rechten, mit der Linken stemmte sie eine Waschschüssel in die Hüfte.

»Komm, ich löse dich ab. Anita soll schlafen. Ich mache vorher noch Katzenwäsche.«

Anton erhob sich, dankbar.

Zwei Stunden später trat Veronika durch die Küchentür.

»Sie schläft jetzt.«

Sie sah müde aus. Anton schlug die Zeitung nieder. Er genoss es, abends im Lesesessel die Artikel zu überfliegen, auch wenn selten Gutes darin stand. Der Krieg war vorbei, jetzt übernahmen die Kommunisten Osteuropa.

»Gut.«

Veronika setzte sich an den Tisch und räumte die Rezepte weg.

»Es wird schon wieder, meinst du nicht?«

»Sicher.«

Er nahm die Zeitung wieder hoch. Diese banalen Dialoge! Was sollte man auf solche Fragen antworten?

Sie erhob sich, trat an den Herd und stellte einen Topf auf das Gaskochfeld.

Er blickte von der Zeitung auf und sah Zucker und Milch auf der Anrichte stehen. Bald würde der süße Karamellduft von Dulce de leche die Küche erfüllen.

Er schüttelte die Zeitung, um das Papier zu richten. Sowjetunion lehnt Marshallplan für Osteuropa ab.

Anita hatte einen Unfall gehabt. War einfach nur gestürzt. Nach drei Wochen würde sie wieder im Garten herumspringen, bei Kindern ging das so schnell. Er erinnerte sich an das Gesundbeten seiner Mutter. Wenn er sich einen blauen Fleck zugezogen hatte, spuckte die Mutter darauf, verrieb den Speichel und blies ihm Kühlung zu. Wenn etwas sehr wehtat oder er Fieber hatte, bat sie einen Heiligen um Beistand, Marija, poma’aj!, oder betete ein Gesätz des Rosenkranzes.

Er wollte die Zeitung lesen. Er hörte, wie Veronika die Milch in den Topf goss.

»Sollten wir uns diesem Steiner erkenntlich zeigen?«

Ihre Frage überraschte ihn. Er senkte die Zeitung.

»Wir könnten ihn zum Kaffee einladen«, sagte Veronika.

»Ja, wenn du meinst. Ich hätte ihm sonst eine Karte geschrieben und mich bedankt.«

Veronika hielt kurz inne, rührte und goss wieder Milch in den Kochtopf.

»Wir könnten wirklich einmal jemanden zum Kaffee einladen. Andere machen das auch.«

Anton hob den Kopf. Er grübelte, ob aus dem Satz ein Vorwurf herauszuhören war. Er schlug die Zeitung zusammen, erhob sich, drückte Veronika an sich und gab ihr einen Kuss.

»Meinetwegen. Wenn du es möchtest.«

Er setzte sich an den Schreibtisch im Wohnzimmer. Selten genug saß er da und schrieb private Briefe. Er überlegte.

Veronika hatte ja recht, sie kannte ihn zu gut. Er wollte mit anderen Menschen nur zu tun haben, wenn es unbedingt nötig war. In der Firma war es unumgänglich. Aber darüber hinaus? Wozu sich anderen Menschen anbiedern, er brauchte nichts von ihnen. Ihm hatte niemand etwas geschenkt, daher wollte er auch nichts von anderen. Außerdem wusste man nie, wem man trauen konnte in diesem Land. Das war in all den Jahren nicht anders geworden.

Hatte er Freunde? Damals, auf der Farm, ja, gemeinsam schuften und darben schweißt zusammen, das waren vielleicht Freunde gewesen, später dann Hugo. Aber jetzt? Die Leute in der Firma waren Untergebene, die vor ihm duckten. Die Zeiten, in denen er mit ihnen gefeiert hatte, waren lange vorbei. Mit den Österreichern in Belgrano, die vor zwei Jahren noch an den Endsieg geglaubt hatten, wollte er nichts zu tun haben. Er nahm Papier und Füllfeder.

Sehr geehrter Herr Steiner!

Ich danke Ihnen, dass Sie so freundlich waren, den Krankenwagen zu rufen und sich um meine Frau und meine Tochter zu kümmern, als diese neulich einen Unfall hatte.

Da ich gehört habe, dass Sie auch Österreicher sind, möchte ich Sie als kleines Dankeschön für einen der nächsten Sonntage zu Kaffee und Kuchen einladen. Wir trinken den Kaffee immer nach dem Essen gegen zwei Uhr.

Ich würde mich freuen, Sie kennenzulernen und Ihnen persönlich zu danken.

Anton Lipic

Er schrieb die Adresse darunter und widerstand der Versuchung, zwischen den Absätzen Tilden oder andere Verzierungen anzubringen, wie er es früher getan hatte.

Nachdem ein Wochenende verstrichen war, hatte er nicht mehr geglaubt, dass dieser Steiner aufkreuzen würde.

Am zweiten Sonntag, sie hatten das Essen auf der Terrasse des Hauses gerade beendet, schrillte vier Minuten vor zwei die Türglocke. Es war Ende Februar, der Herbst kündigte sich an und die ersten Blätter fielen von der Birke des kleinen Gartens, der das Haus umgab, und sprenkelten ein gelbes Muster auf den graugrünen Rasen. Anton hatte seinen Blick in dieses Muster versenkt, als ihn das Klingeln hochschrecken ließ.

Veronika war wohl gerade in Anitas Zimmer, sie hatte ihr über die Treppe geholfen und die Glocke vielleicht nicht gehört. War der Gedanke, dass Steiner vielleicht heute kommen könnte, zwischen beiden während des Essens noch im Raum gestanden, hatte er sich bald darauf verflüchtigt wie der Dampf über dem Suppentopf. Jetzt aber hatte Anton mit einem Schlag die Gewissheit, dass es sich um den Fremden handelte.

Wer sollte es sonst sein? Es klingelte ein zweites Mal.

Er erhob sich, sah Anita gerade von der Treppe herunterkommen, sagte im Vorbeigehen nur »Kaffee« und deutete zur Haustür. Durch das Rauchglassichtfenster der Tür zeichnete sich die Kontur eines Mannes mit Hut ab.

Anton öffnete. Vor ihm stand ein hagerer Mann Anfang fünfzig, der offenbar wenig geschlafen hatte, tadelloser beiger Anzug, Krawatte, Hut, unruhige Augen, energisches Kinn. Er zog den Hut.

»Guten Tag. Mein Name ist Steiner. Herr Lipic?«

Anton starrte ihn an. Er hatte Deutsch gesprochen, aber darauf war er vorbereitet gewesen. Aber der Akzent. Dieser Akzent, mit dem auf einmal die Vergangenheit wieder da war. Er war auch aus Kärnten. Die Verblüffung übertönte den Ärger, dass der Gast einfach auf Deutsch loslegte. Einem anderen hätte er ein Buenos días! entgegengeschmettert, aber es schnürte ihm die Kehle zu.

»Guten Tag! No habla castellano

Er versuchte das gezischte Doppel-L möglichst argentinisch hinzubekommen.

Der Mann räusperte sich.

»Entschuldigen Sie, ich spreche nur schlecht Spanisch, ich bin noch nicht lange hier. Vielen Dank für die Einladung.«

Der Akzent. Wie der Geruch eines erdfeuchten Raumes, eine Erinnerung an Rückständigkeit, Armut, das alte Leben. Anton schluckte und versuchte sich zu fassen.

»Aber gerne, bitte kommen Sie herein! Wir haben ja mit Ihnen gerechnet«, sagte er. Er hatte einen Kloß im Hals.

Sie würden Deutsch sprechen müssen, schoss es ihm durch den Kopf, als er voranging. Und wenn schon, er würde es überleben. Ruhig atmen. Er kann nichts dafür. Er geleitete den Gast auf die Terrasse, wo Veronika gerade das Kaffeegeschirr aufdeckte.

»Darf ich vorstellen? Meine Frau Veronika. Sie ist auch Österreicherin, wir haben uns aber erst hier kennengelernt. Aber ich bin ein Dummkopf, Sie kennen sich ja.«

Veronika blickte Anton erstaunt an – er hatte sie seit Jahren nicht mehr auf Deutsch angesprochen. Sie reichte dem Besucher die Hand, suchte nach deutschen Worten.

»Sehr erfreut, Sie wiederzusehen.«

»Anita hat schon gefragt, ob Sie wirklich kommen. Sie hat sich nach dem Essen niedergelegt, schläft aber nie länger als eine halbe Stunde. Der Gips kommt schon übernächste Woche herunter. Aber verzeihen Sie, alles der Reihe nach.«

Steiner lächelte höflich. »Vielen Dank, Sie sind sehr freundlich.«

Er wies auf den kleinen Garten vor der Terrasse, in dem Hortensien und Phlox in allen Farben wucherten.

»Sie haben es schön hier.«

Er legte ab, sie setzten sich und tauschten einige Höflichkeiten aus. Steiner betrachtete und lobte das Haus, das nach amerikanischem Vorbild eine Holzkonstruktion mit weiß getünchten Fassadenbrettern war, Giebel und Veranda mit Schnitzwerk verziert, als ob es aus New Orleans oder Louisiana stammte, sagte Steiner. Anton erzählte, dass er es vor acht Jahren gekauft hatte, weil es herrschaftlich wirkte, obwohl es nicht groß war. Von Baustilen hatte er keine Ahnung.

Veronika war in der Küche verschwunden. Endlich konnte Anton seine schon für letztes Wochenende einstudierten Dankesformeln loswerden. Die deutschen Worte kamen schleppend.

Steiner hob die Hände.

»Aber das war doch selbstverständlich! Das hätte jeder gemacht.«

»Meine Frau ist … gerät leicht aus der Fassung, wenn so etwas passiert.«

»Aber das versteht sich doch von selbst. Welche Mutter gerät nicht aus der Fassung, wenn ihr Kind vor ihren Augen einen Unfall hat!«

Sie sprachen über Unfälle auf Spielplätzen und im Straßenverkehr, dessen Zunahme das Leben für Fußgänger immer gefährlicher machte.

Anton musste sich eingestehen, dass dieser Steiner weder aufdringlich noch unangenehm, sondern höflich und zurückhaltend war. Die Überraschung über den Akzent war abgeflaut. Es war lange her, dass er mit einem Landsmann über alltägliche Dinge auf Deutsch gesprochen hatte. Er beruhigte sich: Er tut dir nichts. Er ist nur ein weiterer Emigrant. Tausende Österreicher waren nach Kriegsende ausgewandert, was wollte man in Argentinien anderes erwarten, als ständig neue Emigranten zu treffen? Castellano würde er schon noch lernen.

»Haben Sie auch Kinder?«

Steiner zögerte. »Ja, einen Sohn, aber … ich habe mich von meiner Frau getrennt. Sie sind beide in Österreich geblieben.«

Veronika trat auf die Terrasse mit dem Kaffeetablett, stellte es ab und ließ die Männer wieder allein.

Anton überlegte. Frau und Sohn. Sollte er nachfragen? Hatte er sie während des Krieges verlassen? Waren es politische Gründe? Doch er sagte: »Sie sind auch aus Kärnten?«

Steiner zog die Brauen hoch.

»Das ist ein Zufall, ja, aus einem kleinen Dorf in Oberkärnten, das keiner kennt. Mein Akzent ist wohl unüberhörbar. Woher kommen Sie, wenn die Frage erlaubt ist?«

»Ebenfalls aus einem kleinen Dorf, allerdings in Unterkärnten. Podgora.«

»Kenne ich leider nicht. Sicher sehr idyllisch.«

Er ist aus dem deutschen Teil des Landes, dachte Anton. Und er weiß, dass ich aus dem Teil bin, in dem niemand zu Hause Deutsch spricht, sondern Slowenisch. Für ihn die Sprache der Fuhrleute und Dienstboten. Die Sprache, die in den letzten Jahren verboten war. Er beobachtete Steiner genau. Keine Reaktion.

Beide schwiegen.

Anton dachte an seine Volksschulzeit, als noch das Bild des Kaisers im Klassenraum hing. Schon damals bläute ihnen der Lehrer ein: Daheim redet ruhig euer Windisch. Hier nur Deutsch! Und dann wurde mit jedem Jahr der Ton schärfer. Der Lehrer spottete über die Fehler, die ein Schüler beim Sprechen machte. Nur drei Kinder von Großbauern hatten Deutsch als Muttersprache. Nach dem Untergang der Monarchie ging es dann los mit dem Eindeutschen. Dann war er gegangen. Viel später, nach dem Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich, hatte ihm seine Mutter geschrieben, dass auf jedem Baum im Dorf ein Plakat mit der Aufschrift »Kärntner, sprich Deutsch! Die Sprache ist Ausdruck deiner Gesinnung!« hing. Schließlich sandte er sogar ihr, die nie Deutsch sprach, die Briefe in der Schulsprache, sie antwortete unbeholfen. Für moderne Dinge hatte die slowenische Haussprache keine Worte.

Steiner. Er musste etwas sagen. Idyllisches Dorf. Warum emigriert.

»Ich bin ja schon vor dem Krieg gekommen. Es waren keine rosigen Zeiten damals, wie Sie wissen. Die Inflation haben wir auch im Dorf zu spüren bekommen. Damals sind viele ausgewandert.«

Steiner nickte. »Auch ich habe Verwandte, die damals in die Vereinigten Staaten sind, aber der Kontakt ist abgerissen. Sonst wäre ich wohl dort. Damals war es ja wirklich eine schlimme Zeit in Europa.«

Er nahm einen Schluck Kaffee.

»Und heute ist das nicht viel anders. Schauen Sie, damals gab es die Inflation, die Leute haben gehungert. Und jetzt, nach dem Krieg, liegt Europa in Trümmern, die Leute hausen in Baracken und hungern wieder.« Er blickte auf den mit Schnitzornamenten verzierten Pfeiler der Veranda.

»Aber alle Achtung, Sie haben es zu etwas gebracht. Hier, wie man sieht, bekommt jeder Fleißige eine Chance.«

»Manche früher, manche später, manche sehr spät«, murmelte Anton.

»Sie machen Sachen mit Leder? Die Schrift an der Haustür.«

»Ja, nur ein kleiner Betrieb. Wir machen so ziemlich alles außer Schuhe. Gürtel, Mappen, Taschen, Prägungen.«

»Klingt ja interessant. An Leder gibt es in diesem Land sicher keinen Mangel.«

»Und Sie sind technischer Zeichner?«

»Ich hatte das Privileg, eine Höhere Technische Lehranstalt zu besuchen, Maschinenbau.«

»Dann haben Sie hier sicher nicht lange nach einem Job suchen müssen. Techniker sind sehr gefragt.«

»Anita!« Veronikas Stimme klang aus dem Wohnzimmer.

Das Kind stand in der Tür, verschlafenes Gesicht, Gipsfuß, Schlafoverall. Veronika erschien hinter ihr und trug ihr eine Krücke nach.

»Du sollst nur mit der Krücke gehen!«

»Geht schon, Mama«, sagte Anita und nahm unwillig die Gehhilfe. Ihr Haar war zerdrückt und fiel in Locken herunter.

Sie humpelte mit Krücke und Gipsbein, das an der Ferse einen Knauf zum Auftreten hatte, Richtung Tisch.

»Papa!«

»Komm her, mein Kleines!«

Wenn sie krank sind, sind sie gleich wieder kleine Kinder, dachte Anton, als sich Anita drehte, auf seinem Schoß postierte, das Gipsbein auf einen freien Sessel lagerte und sich an ihn schmiegte, wie früher.

Er wies sie auf Spanisch an, dem Gast die Hand zu reichen, doch sie wandte den Kopf ab. Steiner versuchte ein ¿Ola, que tal? Anita vergrub ihr Gesicht in der Achsel ihres Vaters, der mit den Schultern zuckte.

»Sie ist müde. Später vielleicht.«

Steiner griff in die Tasche seiner Jacke und zog eine kleine Tafel Schokolade hervor.

»Für dich«, sagte er.

Anita rührte sich nicht.

Veronika nahm Steiner die Schokolade aus der ausgestreckten Hand. »Vielen Dank, das ist sehr großzügig von Ihnen. Sie wird sich später bedanken.«

Sie löste Anita von Anton herunter, stellte sie hin und stützte sie.

»Komm wieder herein!«

»Warum redet ihr wieder die Geheimsprache?«, sagte Anita.

Veronika wandte sich zu Steiner.

»Sie ist noch nicht ganz ausgebacken, wie man bei uns früher gesagt hat.«

Steiner lachte. »Den Ausdruck kenne ich auch noch.«

Veronika geleitete ihre Tochter ins Haus.

»Sie versteht kein Deutsch«, sagte Anton. Er nahm einen Schluck Kaffee.

»Sie sprechen mit Ihrem Kind kein Deutsch? Ah.«

Anton zögerte. Welche Schlüsse würde der Besucher daraus ziehen?

Er musste in die Offensive gehen.

»Sie denken vielleicht, ich spreche Slowenisch mit ihr, da ich aus Unterkärnten komme. Da liegen Sie falsch. Ja, ich habe als Kind selbst nur Slowenisch gesprochen. Das war bei uns so. In der Schule habe ich Deutsch gelernt. Das Slowenisch ist dann im Dorf immer weniger geworden. Als ich ausgewandert bin, hat sogar meine Mutter Deutsch gesprochen. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich will mit diesen Sprach-Angelegenheiten nichts mehr zu tun haben. Ich habe hier ein neues Leben begonnen. Hier spricht man Spanisch, und damit hat es sich. Ich denke, ein neues Leben, das ist ja das, was Sie auch wollen.«

Ein kalter Luftzug wehte vom Garten her auf die Terrasse, Anton fröstelte.

»Natürlich, ich verstehe Sie«, sagte Steiner mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck. »Ich hatte nur noch keine Gelegenheit, Spanisch zu lernen. In der Firma sprechen alle Deutsch.«

Anton erschrak. War er zu scharf gewesen?

Steiner blickte sich um. Im Profil sah er strenger aus als von vorne, dachte Anton.

»Ein neues Leben. Das klingt schön. Ich denke, jeder Einzelne von den Tausenden Leuten, die hier einwandern, will ein neues Leben. Warum wandern die Leute sonst aus? Glauben Sie mir, auch ich bin froh, wenn ich nicht über mein altes Leben reden muss. Ich habe den Krieg gesehen. Ich war eingerückt, habe die letzten Kriegstage am Plattensee erlebt. Zum Schluss rannten wir um unser Leben, vor den Russen davon. Wer zu langsam war, ist jetzt in Sibirien.«

Steiner fixierte einen Punkt am Zaun, hinter dem gleich das Haus des Nachbarn stand.

Anton schwieg. Er hatte mehr gesagt, als er wollte, aber auch der Fremde hatte vielleicht sogar mehr offenbart, als er wollte. Wer wollte es ihm verdenken, wenn er hier einen Neuanfang versuchte?

Er sollte nichts gegen diesen Steiner haben, der belanglose Allgemeinheiten daherredete, ein Emigrant wie tausend andere. Vielleicht war Anton wirklich schon verschroben geworden in letzter Zeit.

Schon wieder war die Redepause etwas zu lang. Steiners Blick wanderte unruhig hin und her.

»Ja dann, ich will Sie nicht länger stören. Ich wollte eigentlich nicht vom Krieg reden, verzeihen Sie. Und offenbar bin ich doch ungelegen gekommen.«

»Nein, nein, Sie müssen entschuldigen, ich verstehe schon, was hätten Sie denn tun sollen. Sehen Sie, wir haben selten Gäste. Sind vielleicht ein bisschen eingerostet, was Gesellschaft betrifft. Sie verstehen, die Arbeit … als sein eigener Chef geht man nicht um fünf nach Hause. Und wir sind hier lieber für uns. Es ist schwer, Freunde zu finden, das können Sie mir glauben.«

»Das habe ich auch schon gehört. Trotzdem es tut mir leid, wenn ich Sie gestört habe.« Steiner stand auf. »Ich wollte ohnehin nicht lange bleiben.«

»Aber nein, Sie haben mich falsch verstanden«, sagte Anton und erhob sich ebenfalls.

»Kommen Sie doch wieder«, hörte er sich sagen.

Und dann: »Am nächsten Sonntag gehen wir in den Zoo. Es gibt neue Zebras, ich habe es Anita versprochen.«

Steiner blickte ratlos.

»Das ist schön, das wird sie freuen.«

»Wenn es nicht zu kindisch wäre, würde ich Sie einladen, mitzukommen. Offen gesagt, sind die beiden Frauen am liebsten für sich. Wenn Sie wollen.«

Er biss sich innen in die Wange. Warum sagte er das? Er wollte doch nichts von diesem Fremden. Es war ihm herausgerutscht, er könnte sich ohrfeigen dafür.

Steiner hob die Brauen, seine schmalen Nasenflügel flatterten. Wieder dieses säuerliche Lächeln.

»Wenn es Ihnen keine Umstände bereitet, gerne. Vielleicht habe ich bis dahin ein paar Brocken Spanisch gelernt.«

»Wie haben Sie eigentlich die Ambulanz gerufen?«, fragte Anton.

Steiner lachte. »Wörter wie ambulancia habe ich als Erstes gelernt. Wenn es nur die Vokabel wären. Es ist das Sprechen, das mir Schwierigkeiten macht.«

»Ging mir ähnlich. Bitte sehr.«

Anton geleitete den Gast hinaus, Veronika und das Kind waren nirgendwo zu hören.

»Also, bis auf Sonntag! Sie haben meine Telefonnummer.«

Anton blieb vor der Tür stehen, sie schüttelten einander die Hände. War Steiner ein Deutschnationaler gewesen? Spielte das noch eine Rolle?

Ich darf ihm nicht unrecht tun, dachte Anton. Er blickte dem Mann nach, bis er um die Ecke bog.

Wieder im Haus, fiel sein Blick durch den Flur bis in das von der Nachmittagssonne ausgeleuchteten Wohnzimmer mit seinen weißen Regalen und dunklen Tischen, auf die Terrasse und den dahinter liegenden blühenden Garten.

Ein Herrenhaus wie in Louisiana. Er hatte es geschafft. Er war Argentinier. Steiner würde es auch noch werden.

Eine Tür wurde geöffnet.

»Anton? Wo seid ihr? Anita möchte sich für die Schokolade bedanken.«

2

PODGORA, 1925

Liebe Mutter!

Mir geht es gut, ich hoffe, bei Ihnen ist alles in Ordnung.

Die Tiroler Baustelle geht für heuer dem Ende zu. Ich werde am 30ten den Frühzug ab Jenbach nehmen, dann bin ich am Tag vor Allerheiligen daheim. Am Feiertag kann ich mit Ihnen auf die Gräber gehen.

Es war eine schöne Zeit, ich habe gut verdient, nächste Woche ist die Auszahlung.

Ich habe viele Neuigkeiten für Euch.

Grüße auch an Josl und Bepa

Ihr Sohn

Anton

Er machte einen Schritt, blieb dann stehen und sah der Zuggarnitur nach. Eine Lokomotive, zwei Waggons, Schmalspurbahn. Die Dampflok spuckte schwarze Wolken aus, der Heizer hatte wohl gerade nachgelegt. Die Garnitur wurde kleiner und verschwand schließlich in einer Rechtskurve im Wald. Er wunderte sich, dass die Waggons nicht von den Schienen flogen, so hoch und schmal wie sie waren. Der Zug musste einen tiefen Schwerpunkt haben, dachte er, das Gegenteil von einem Heuwagen. Keine Zeit zum Grübeln, er musste weiter.

Er schulterte seinen Leinenrucksack und machte sich auf den Weg. Über ihm krächzte ein Rabe.

Anton war allein an der Haltestelle ausgestiegen, ein hölzerner Unterstand mit der zweisprachigen Aufschrift »Sittersdorf/Žitara vas«, Schablonenbuchstaben. Es war kalt, auf den Bergen, die sich vor ihm auftürmen, lag Schnee, auf dem Obir, der Oistra, sogar auf dem Sagerberg. Er klappte den Kragen seiner Lodenjacke hoch und schritt aus. Die fünf Kilometer bis Podgora würde er in weniger als einer Stunde schaffen.

Er blies die Atemwolken aus und merkte, wie kalt seine Wangen waren, sie mussten schon ganz rot sein. Die Bäume hatten die herbstlichen Farben schon verloren oder hier nie gehabt, das Knallgelb, das Blutrot, das er vor einer Woche noch in Tirol gesehen hatte, suchte er hier vergebens. Die wenigen Blätter, die noch an den Bäumen hingen, wirkten schmutzig, als schämten sie sich, dass sie gleich unnütz zu Boden taumeln würden. Es wurde auch schnell dunkel hier, früher als in den Tiroler Bergen. Er lief den kleinen See entlang, an dem sich seit einigen Jahren Sommerfrischler einfanden, Leute aus der Stadt, die noch Geld hatten. Jetzt lag er verlassen da, von einer dünnen Eisschicht überzogen. Anton verlangsamte seinen Schritt, der Weg wurde steiler. Er musste lachen. Was war diese Strecke schon im Vergleich zu den Wegen auf der Baustelle, den Kaskaden von Pfaden, Treppen, Stufen, die zu den Gerüsten führten, hinter denen die Staumauer Tagwerk um Tagwerk emporwuchs! Er war jeden Pfad blind gegangen und wenn das Gerüst erhöht wurde, lernte er die neuen Wege schnell kennen. Bald würde die ganze Baustelle unter zentimeterdickem Schnee liegen.

Er würde nicht zurückkehren im Frühling, obwohl ihn sogar der Polier darum gebeten hatte. Nie mehr würde er zu einer Staumauer aufblicken, nie mehr würde ihm der Stößel aus der Hand fallen, mit dem sie den feuchten Beton stampften, nie wieder würde er das Gelächter und Geblödel der Arbeiter hören, manchmal spotteten sie einen aus, der ungeschickt war, meistens versuchten sie, die Schufterei aufzulockern.

Als er den kleinen Wald erreichte, begann er zu singen. Pojd’mo na Štajersko, gledat kaj delajo. Ein Lied vom Weggehen von Kärnten in die Steiermark, dabei kam er doch nach Hause. Noch war es sein Zuhause, noch konnte er hier heimkehren. Heute würde er es verkünden, die Mutter ahnte es sicher schon. Nachdem er das Gehölz passiert hatte, sah er vor dem Abendhimmel den Rauch aus den Schornsteinen des Dorfes steigen, dann zeichnete sich die Keusche vom Krištof ab, die abseits stand, dann die anderen Häuser des Weilers, geduckt aneinandergelehnt.

Es war zwar schon dämmrig, aber er konnte ihre Armseligkeit fühlen, wie Nebelfeuchte kroch sie ihm jetzt unter das Gewand. Schon am Bahnhof Kühnsdorf hatte er sie geahnt, als er von der Bundesbahn in die Schmalspurbahn umgestiegen war. Während in Tirol sogar die kleinen Haltestellen herausgeputzt und frisch gestrichen waren, blätterte hier auf den Bahnhöfen die Farbe von den gusseisernen Stützen der Bahnsteigüberdachung ab, bröselten die mit viel Sand verputzten Mauern, waren die Hinweisschilder halb verwittert.

An den Häusern und Keuschen, an denen er sich vorbeidrückte, war der Putz von den feuchten Mauern gebröckelt, darunter schimmerten weiße Kalksteine und zinnoberrote Ziegel durch, die meisten Gebäude waren noch mit Stroh gedeckt. Wie im Mittelalter.

Hier würde er wieder Slowenisch reden, drei Monate war es nur Deutsch gewesen, ein bellendes, kehliges Baustellendeutsch, nicht behäbig und lang gezogen wie hier. In jeder Saison verlief es gleich: Anfangs bemühten sich die Arbeiter, die aus allen Gegenden Österreichs kamen, deutlich zu sprechen. Mit den Tagen wurden die Anweisungen immer kürzer und schrumpften schließlich zu Ausrufen, die wie tierische Warnlaute klangen. Als er heute in der Früh mit dem Nachtzug in Klagenfurt angekommen war, hatte er zum ersten Mal wieder seine Muttersprache gehört. Noch nicht ganz wach wankte er aus dem Zug, die Holzlattensitze der dritten Klasse hatten ihn kaum schlafen lassen. Ein Gepäckträger rief einem Dienstmädchen, das offenbar seine Freundin abholte, einen derben slowenischen Scherz zu. Anton fuhr zusammen. Um wie viel derber klangen die Scherze in dieser Sprache als auf Deutsch! Und wie vertraut und heimisch war sie ihm doch.

Anton schritt schneller aus, mit jeder Minute wurde es dunkler und kälter. Die Weinberge, die als schemenhafte Kuppen auftauchten, waren lange abgeerntet. Er sah den Rauch, der über dem Vaterhaus wie ein dünner Faden aufstieg.

Sebi hatte als Erster von dem Agenten erzählt, der durchs Dorf unten im Tal gekommen war. Am nächsten Abend stand der Mann im weißen Anzug bei ihnen im Speisesaal und erzählte den Arbeitern, die sich sonst den Feierabend mit Kartenspielen und Rauchen vertrieben, von Palmen und Sandstränden in Brasilien und Argentinien. Mit seinem weißen Strohhut sah er aus, als wäre er direkt von Südamerika nach Tirol gereist. Sie hingen an seinen Lippen, befühlten mit ihren rissigen, zementverätzten Händen die kolorierten Fotografien, die er vor ihnen ausbreitete. Der Hamburger Lloyd bietet ein Komplettservice, inklusive Unterbringung am Hafen vor der Ausreise, sagte der Mann und zupfte an seiner weißen Krawatte herum.

Sie schliefen lange nicht ein in dieser Nacht, Sebi riss Zoten über die Señoritas dort drüben, bis auch ihm die Energie ausging und ein zufriedenes Schnarchen seinen Schlaf ankündigte. Das Wort »Auswandern« hing wie eine Wolke im Schlafsaal. Auch Anton lag noch wach. Schon vor einem Jahr hatten sie darüber geredet, Hirngespinste. Er hatte es über den Winter nie vergessen, die Wirtschaftskrise wollte ja kein Ende nehmen. Doch er hatte mit niemandem in der Familie darüber gesprochen. Was würde die Mame sagen? Und seine Geschwister? Und jetzt lockte wieder die Gelegenheit. Weg von der Schufterei am Bau, weg von dem Hof, den er nie erben würde, weg von der verdammten Inflation, die Geld über Nacht vernichtete. Geld würde er haben nach diesem Sommer, er müsste bald eine Fahrkarte kaufen, bevor es wieder an Wert verlöre. Ein bisschen könnte ihm vielleicht noch die Mutter dazugeben, vom Marktgeld, das sie in der Kredenz hortete. Jede Woche fuhr sie die vierzig Kilometer mit dem Pferdewagen nach Klagenfurt, um auf dem Markt Eier zu verkaufen, im Sommer auch Heidel- und Johannisbeeren, zu Ostern Speck und Würste. Für Lebensmittel zahlten die Städter von Monat zu Monat mehr. Da die Inflation das Geld täglich entwertete, wechselte die Mutter das Geld bei der Sparkasse in Dukaten und verbarg diese in der Anrichte.

Mutter. Ihr würde er es nun beibringen müssen, dass er wegging. Dass es kein Hirngespinst mehr war. Dass ihr Sohn wegging. Vielleicht würde sie gar nicht weinen, sondern froh sein, dass einer der Fretterei und dem täglichen Kampf entkäme. Und vielleicht den anderen ein Geld schicken würde. Drüben ließ es sich gut verdienen, wenn man tüchtig war, hieß es. Keine Wirtschaftskrise, unendlich viel Land, riesige Weiden mit Tausenden fetten Rindern, jeder kann es dort schaffen.

Er stand vor dem Haus. Es war dunkel und kalt geworden. Gleich würde er sich am Ofen wärmen und alles erzählen.

Eine Stunde später lag er allein auf der Strohmatratze in seiner Bubenkammer und betrachtete den Nebel, der aus seinem Mund rauchte. Es würde noch brauchen, bis der gusseiserne Ofen die Kammer erwärmt hätte. Die Tränen drückten, wollten aber nicht heraus. Alles, alles hatte Josl zunichtegemacht. Anton war gar nicht zum Erzählen gekommen, nichts von alledem, was ihn bewegte, hatte er loswerden können. Kein Wort über die Strände, von denen der Agent geschwärmt hatte, nichts über seinen Entschluss, endlich ernst zu machen mit der Auswanderung, aber auch nichts von der Schufterei beim Betonieren der Tagwerke auf der Tiroler Baustelle, von den Gedanken, die ihm hoch oben am Gerüst während der Sommermonate gekommen waren, nichts von den fortschrittlichen Bautechniken, gegen die das heimische Mauern primitives Herumkleckern war, nichts von der Freiheit, die er da oben in den Bergen an den wolkenfreien Tagen gespürt hatte und von der jetzt in der klammen Kammer nichts mehr übrig war, nichts von seinen neuen Freunden, die auch auswandern würden.

Gleich hatte es Streit gegeben. Josl spottete schon, als die Mame ihn, den Heimkehrer umarmte und gleich in die Speisekammer lief, um ihm einen Becher rahmige Milch zu bringen, die er so gerne mochte. Während Anton ein paar Brocken Buchweizensterz mit Milch und Schmalz verschlang, kauerte Josl mit stierem Blick am äußersten Ende der Eckbank, den Ellenbogen auf dem Tisch abgestützt, wie ein Tier, das auf der Lauer lag. Viel in der Sonne gewesen, der feine Herr. Tiroler Speck gegessen, während uns das trockene Brot schon bei den Ohren herausstaubt. Fleisch gibt’s hier nur am Sonntag, schon vergessen. Anton kam sich vor wie der verlorene Sohn im biblischen Gleichnis. Doch hier war kein Vater, der den älteren Sohn zurechtwies.

Bepa hatte ihn stumm umarmt, ihm über den Kopf gestrichen und war in ihre Dachkammer gegangen. Deine kleine Schwester ist verliebt, sagte die Mutter. Sie wird heiraten. Mit neunzehn hat sie das richtige Alter, ein Straßenwärter ist es, in dritter Generation, staatlicher Posten, jedes Monat ein fixes Gehalt, wer hat das schon in diesen Zeiten. Lorenz heißt er, wohnt in einer Keusche, drüben, auf der deutschen Seite der Drau. Hat ein ruhiges Leben, füllt da und dort ein Loch mit Makadam auf, walzt einmal drüber und der Tag ist vorbei.

Um Bepa würde es ihm leid sein. Sie war die einzige Frau im Haus neben der Mutter, sie hatte ein weiches Gemüt und schlichtete oft den Streit zwischen ihm und Josl. Sie hatte ihm auch zugehört, als er ihr nach seinem ersten Sommer in Tirol über seine Fantasiereisen erzählte, die er sich während der Betonstampferei ausgedacht hatte. Er hörte ihr zu, wenn sie von Burschen schwärmte, die sie vielleicht heiraten würde.

Und jetzt ging sie wirklich weg. Es würde härter werden für ihn, wenn er hier mit Josl allein bliebe. Sicher war es gut, dass sie versorgt war in diesen Zeiten. Aber am Hof würde sie als Arbeitskraft abgehen. Vielleicht grollte Josl deswegen und sein Missmut wandte sich gar nicht gegen ihn. Ja, er wäre dann im Sommer völlig allein mit der Arbeit, würde einen Knecht aufnehmen müssen. Und die Inflation tat ein Übriges. Der Hof wurde von Tag zu Tag weniger wert.

Was Josl für ein Dickkopf geworden war! So arg war es noch nie gewesen. War das wirklich der Bruder, mit dem er vor zehn Jahren im Heu gespielt hatte?

Anton öffnete die Schublade seines Nachtkästchens und nahm ein paar Fotos mit weißem Rand heraus. Er, Josl und Bepa, dahinter der Heuwagen, Mote, der Knecht, und sein Vater, beide Männer schon lange tot. Er war zehn gewesen, als das Foto gemacht wurde. Josl hatte schon damals den verschmitzten Blick. Was er immer für lustige Einfälle hatte! Wenn wir groß sind, gehen wir nach Amerika. Sie spielten Seefahrt, der metallene Brühtrog war das Schiff, das nach zahlreichen Stürmen glücklich in den Hafen einlief. Bepa nahmen sie manchmal mit, manchmal war sie eine Indianerprinzessin. Und jetzt dieses Elend, niemand hatte Arbeit, von allem gab es zu wenig.

Er will einfach nicht arbeiten und trinkt mittlerweile jeden Tag, weißt du. Auch mit dem Kartenspielen wird es immer ärger, hatte ihm Bepa zugeflüstert. Nicht mehr lange, und er wird auch den Hof verspielen, sagte die Mame.

Anton horchte auf die Holzwand, hinter der er seine Schwester wusste. Seine Zähne schlugen noch immer aufeinander, die Ofenwärme ließ auf sich warten. Er musste an die knackenden Bulleröfen im Schlaf- und im Speisesaal der Arbeiterbaracke denken, die schon Ende September eingeheizt wurden.

Sein Magen knurrte. Richtig satt hatte er sich nicht gegessen. Er überlegte kurz, stand auf, zog sich die Jacke über das Nachthemd und schlich aus der Kammer. Wider Erwarten knarrten die Stufen der Holztreppe nicht. Der Mond schien durch die Fenster in die frostige Küche, auch sein Licht wirkte kalt. Vom Sparherd strahlte heimelige Wärme ab. Er legte seine Hände auf die Platte und drehte sich dann um. Sein Blick tastete die blasssilberne Küche ab. Auf dem Tisch fanden seine Augen, was er erwartet hatte: ein großes Jausenbrett, darauf ein Viertellaib Brot und ein Messer. Seine Mutter hatte es hingelegt, falls die Toten vorbeikommen am Vorabend vor Allerheiligen, damit sie etwas zu essen haben und das Haus von bösem Zauber verschonen. Za verne duše, für die armen Seelen, wie die Mame sagte. Er trat zum Tisch und säbelte vorsichtig eine Scheibe herunter. Er putzte die Krümel weg und aß sie auf. Er biss ab und kaute. Ob es in Argentinien so ein Brot gab? Am letzten Bissen kauend tappte er wieder die Treppe hinauf. Toter würde keiner mehr vorbeikommen. Die Mame würde genau merken, dass der Viertellaib kleiner geworden war, vielleicht würden ihre Mundwinkel zucken, aber sagen würde sie nichts.

3

Die Erinnerungen an die beiden Verstorbenen kamen auch diesmal so zuverlässig wie jedes Jahr, wenn die Familie nach der Allerheiligenmesse am Grab wartete, bis der Priester vorbeikam und das Grab mit Weihwasser besprengte. Die Gedanken stiegen auf wie Nebelschwaden am Nachmittag, wenn die Sonne schon bald nach Mittag hinter den Karawanken verschwand. Das erste Bild: ein Säugling, der tagelang schrie und schrie und dann auf einmal still war. Die andere: die Stimme des Vaters, auf dessen Schoß Anton saß, die kosenden Worte, die er in seine Haare hineinbrummte. Es waren dieselben Bilder wie immer, aber diesmal hatten sie den Beigeschmack des letzten Males. Sie waren der Welt zugehörig, von der er sich verabschiedete, das hier war der erste Abschied von langjährigen Gewohnheiten, nun war es Gewissheit. Antons Blick streifte über die Lettern des Grabsteins, wieder und wieder las er Namen und Daten seines Vaters und des Bruders, den er nie gekannt hatte. Festhalten an irgendetwas.

Das Rosenkranzgebet begann, das so lange gebetet wurde, wie der Pfarrer am Friedhof mit dem Weihwassersprenger unterwegs war.

Češčena si Marija, milosti polna, Gospod je s teboj

Die auf die Gräber verteilten Dorfbewohner murmelten die Gebetszeilen im Chor, und wie immer fand Anton es befremdlich, dass hier zweihundert Menschen, die rund um die Kirche auf die Namen ihrer Vorfahren starrten, etwas gemeinsam taten, Menschen, die unterm Jahr oft stritten, sich sogar prügelten. Er spürte, dass das öffentliche Gebet vielen peinlich war. Niemand hatte Hemmungen, in der Kirche zu beten und zu singen, aber hier im Freien schien sich jeder für den gemurmelten Glauben zu schämen. Anton starrte auf die zwei identischen Jahreszahlen. Neunzehnhundertzehn, das Jahr, das alles veränderte. Acht Jahre war er gewesen, als sein Vater starb, Oswald posthum geboren wurde und sein erstes Jahr nicht überlebte.

Die Erinnerung an den Säugling war verblasst, in den ersten Jahren wurde nicht über dessen Tod gesprochen. Erst Jahre später, als eine Tante auf Besuch war, die ebenfalls ein Kind im ersten Lebensjahr verloren hatte, sprudelte es aus der Mame heraus, lange mussten die Sätze in ihr gegärt haben. Wie Apfelwein in einem kalten Herbst. Du denkst, die Gärung ist vorbei, da wird nichts mehr, und im Frühjahr treibt es dann plötzlich den Spund mit einem Knall aus dem Fass. Er hatte lange nicht einschlafen können an diesem Tag.

Es war der vierte Säugling im Dorf, der in diesem Jahr an Keuchhusten zugrunde gegangen ist, sagte die Mame. Die Tante hörte zu, nickte, weinte zwischendurch. Anton saß auf der Ofenbank und lernte Mathematik, Dreieck, Flächeninhalt. Die Stimme der Mutter, obwohl gedämpft, fraß sich in sein Ohr, das Dreieck verschwamm vor seinen Augen und wurde wieder klar, verschwamm wieder, während er zuhörte.

Er hustete nicht viel zu Beginn, sagte die Mutter. Ich flößte ihm Thymiansirup ein, den ich im Sommer angesetzt hatte, aber der Husten hörte nicht auf. Ich legte ihn an die Brust, er sog ein wenig, dann begann wieder der Husten: Die kleine Zunge war so weit herausgestreckt, als müsste er sich erbrechen. Dann wurde es seltener, aber dafür stand sein Atem immer wieder still. Zusehen, wie das Kind keine Luft bekommt. Die großen Augen, der offene Mund, kein Atem, es war so schlimm.

Dann die Gewissheit, dass dein Kind sterben wird und du nichts tun kannst. Die Nachbarn redeten etwas von einer Impfung, aber dafür war es jetzt zu spät, vorher, du weißt, man denkt ans Geld. Und bei uns am Land weiß man sich selbst zu helfen. Aber der Thymiansirup war zu schwach. Nachher bist du klüger.

Sirotej