Stephan Baier
Die Seele Europas
Von Sinn und Sendung des Abendlands
Vorwort
Am Ende aller Sicherheiten?
Die Vergänglichkeit der Staatlichkeit
Das blutige Ende einer trügerischen Illusion
Untergang und Wiederkehr der Diktatur der Lüge
Verwelkt oder zerfällt Europa?
Römisches Europa
Die Urkatastrophe Europas
Der Untergang des alten Europa
Vielfalt als Wesensmerkmal
Frieden und Ordnung statt Krieg und Chaos
Päpste auf der Suche nach Europas Seele
Der letzte Untergang des Abendlands?
Das Europa der Schrebergärtner
Mare Nostrum?
Katholische Architektur vor der Küste des Orient
Kein sicherer Hafen im Orient
Die türkische Frage
Europa in der demographischen Falle
Wege aus der demographischen Falle
„Wir trauen wohl der Zukunft nicht recht“
Die Angst vor dem Islam
Die Umwertung aller Werte
Religion nur mehr in Reservaten?
Gibt es eine Identität Europas?
Nicht nur Wurzel, sondern Blüte
Über den Autor
„Ein Bild des Niedergangs“ biete Europa heute, meinte der in London und Washington wirkende Historiker Walter Laqueur in seinem 2006 veröffentlichten, faktenreichen Buch „Die letzten Tage von Europa“. Tatsächlich gibt es reichlich Gründe für Dekadenztheorien und Anlässe für Pessimismus. Doch Zivilisationen und staatliche Gebilde sind keine Jahreszeiten, bei denen der Winter unweigerlich auf den Herbst folgt – und keine Menschen, die das Greisenalter zu erwarten haben, wenn sie nicht zuvor sterben.
Die Krisen und Irrwege Europas habe ich in den zurückliegenden Jahren, ja Jahrzehnten in zahlreichen Beiträgen in der „Tagespost“ und in anderen Medien analysiert. Im „VATICAN-Magazin“ schreibe ich seit einigen Jahren eine monatliche Kolumne mit dem wenig optimistischen Titel „Europa im Sinkflug“. Gleichwohl bin ich zuversichtlich, dass wir Europäer die Krise unserer Gesellschaften wie unserer Staatlichkeit überwinden können. Dann nämlich, wenn wir sie als Identitätskrise erkennen. Und wenn wir uns neuerlich auf die Suche nach dem Kern der europäischen Identität machen, nach dem, was wir in Anlehnung an den heiligen Papst Johannes Paul als „Seele Europas“ bezeichnen können.
Diese „Seele Europas“ gilt es aufzustöbern, zu suchen, wiederzuentdecken – nicht zu basteln, zu konstruieren oder zu erfinden. Wer sollte sich mit einem Europa identifizieren, das am Schreibtisch skizziert und in Politikerrunden konstruiert wurde? Vielleicht hat zumindest ein Teil der Skepsis und der Ablehnung, die der Europäischen Union von vielen ihrer Bürgerinnen und Bürger heute entgegenschlagen, ihre Ursache darin, dass die EU allzu artifiziell und konstruiert wirkt – mehr Turmbau zu Babel als Schatzsuche? Das Urteil mag ungerecht sein, wie es die Weltgeschichte bekanntlich oft ist.
Einer der großen Vordenker des vereinten Europa, der österreichische Kaisersohn und bayerische Europapolitiker Otto von Habsburg, dem ich in seiner letzten Legislaturperiode im Europäischen Parlament als Assistent und Pressesprecher dienen durfte, meinte oft: „Europa muss wachsen wie ein Baum, und darf nicht hingestellt werden wie ein Wolkenkratzer.“ Der Erbe einer Dynastie, die in Europa über viele Jahrhunderte Kaiser und Könige gestellt hat, war zutiefst skeptisch gegenüber künstlichen Staatskonstruktionen, weil er um die Stabilität des geschichtlich Gewachsenen wusste.
Dieses Buch versucht, ein kleiner Beitrag zu einer solchen Spurensuche nach der Seele Europas zu sein, in der Hoffnung darauf, dass Europa Zukunft hat. Ich widme es deshalb meinen Kindern Linus, Balthasar, Sophia, Theresa und Timotheus – und allen Kindern dieses vermeintlich alten Kontinents.
Die am Beispiel von Huhn und Ei vielfach ins Absurde gewendete Frage, was nun Ursache und was Folge sei, ist schwer zu beantworten: Sind die Gesellschaften in Europa fragil geworden, weil Sicherheit spendende – oder wenigstens suggerierende – Stabilitäten zusammenbrachen? Oder brechen Strukturen zusammen, weil die Gesellschaften und deren Mentalität fragiler wurden? Am sichtbarsten tritt das Phänomen in der Staatenwelt Europas zutage: Zwar leben wir in einer Epoche des Etatismus, einer bis heute tief sitzenden, naiven Staatsgläubigkeit, die auch eine Folge der gesellschaftlichen Verdrängung Gottes ist, doch zugleich purzeln die Staaten die Kellertreppe der Geschichte hinab.
Überdauerten das Römische und später das Heilige Römische Reich ebenso wie das orthodox geformte oströmische Reich von Byzanz trotz vielfachen Wandels jeweils rund ein Jahrtausend, so sahen wir im 20. Jahrhundert viele Staaten kommen und gehen. Im Ersten Weltkrieg zerbarst die Friedens- und die Staatenordnung Europas: Das zaristische Russland wich dem roten Imperium Lenins, das deutsche Kaiserreich einer tief verunsicherten und geschwächten Weimarer Republik, das habsburgische Österreich-Ungarn einer Vielzahl kaum lebensfähiger und in sich zerrissener Kleinstaaten, das viele Völker beheimatende Osmanische Reich dem laizistischen Nationalstaat Atatürks sowie südlich davon den Protektoraten von Briten und Franzosen im Nahen Osten. Unübersehbar litten viele der neuen Staaten an schweren Geburtstraumata: die Weimarer Republik, die erste Republik Österreich, das verstümmelte Ungarn, der zerrissene Nahe Osten. Die neuen Kunststaaten trugen unüberwindbare Spannungen, ja einen Keim des Todes bereits in sich: Jugoslawien, die Sowjetunion, die Tschechoslowakei.
Anders als beim Wiener Kongress am Ende der Napoleonischen Kriege suchte nach dem Ersten wie auch nach dem Zweiten Weltkrieg niemand nach einer für alle gerechten oder wenigstens stabilen Ordnung Europas. Die Sieger verteilten die Beute. Völker, die zuvor Opfer des Kriegs geworden waren, wurden Opfer des Friedens. Doch während sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter amerikanischer Patronanz im Westen so etwas wie eine neue Ordnung, ein Gefüge der Staaten Europas friedlich entwickeln konnte und zur Europäischen Union reifte, verhüllte die Sowjetdiktatur lediglich die ungelösten staatlichen und nationalen Probleme ihres Herrschaftsraums. In dem Moment, in dem sich die Grabplatte der Diktatur hob, zerbröselten die künstlichen Staaten in Serie. Estland, Lettland, Litauen, die Ukraine, Weißrussland, Georgien, Armenien, Aserbaidschan und andere rissen sich von Moskau los; Tschechien und die Slowakei trennten sich friedlich; Jugoslawien zerfiel unter Strömen von Blut und unsagbarem Leid in viele Teile.
Der grüne Trieb am sterbenden Baum der europäischer Staatlichkeit könnte das vereinte Europa sein: geboren aus der Erkenntnis, dass die nationalstaatliche Verkeilung der Europäer nur durch gemeinsame Interessen und Ideale friedvoll und zum allseitigen Nutzen gelöst werden kann. Weltweit wird dieses Modell bewundert. Bewundernd oder auch neidvoll blicken Millionen Menschen außerhalb Europas auf diesen einzigartigen Raum des Friedens, des Rechts, der sozialen Sicherheit und – trotz aller Gefährdungen und Verwerfungen – auch des Wohlstands. Einzig die Europäer selbst können mit ihrer Erfindung wenig anfangen: Verunsichert durch die Fragilität der eigenen Staatlichkeit scheint ihnen die Europäische Union zu stark und zu schwach zugleich: kein Raum der Sicherheit, sondern vielfacher Verunsicherungen.
Im Gegensatz zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegen die Ursachen für große Katastrophen und Erschütterungen unserer wirtschaftlichen Sicherheiten heute längst nicht mehr in Europa: Eine amerikanisch-russische Verstimmung, ein neuer Krieg im Mittleren Osten, ein paar islamistische Machtübernahmen im südlichen Mittelmeerraum, eine Eskalation im südchinesischen Meer – und unsere Energieversorgung bricht zusammen. Ob in Indien ein Bürgerkrieg ausbricht und in China ein Systemwechsel droht, dürfte für unsere wirtschaftlichen Interessen langfristig wichtiger sein als die nächste Parlamentswahl in einem beliebigen europäischen Nachbarstaat.
Auch der Rückzug ins Private bietet immer weniger Sicherheit. Gerade das Familiäre ist äußerst zerbrechlich geworden. Im Kampf gegen den Patriarchalismus fielen die Vater-Bilder und die väterlichen Vorbilder. Im Namen des Feminismus fielen schließlich auch die Mutter-Bilder und die mütterlichen Vorbilder. Heute ist ganz Europa arm an Vätern und Müttern geworden, arm an Kindern und deshalb zukunftsarm. Zerbrechende Ehen, zerfallende und sich neu formierende Familien sind vom Rand- zum Massenphänomen geworden. Sicher, die gesellschaftlichen Tabus hielten früher oft auch zusammen, was nicht zusammenpasste, verursachten damit auch viel Leid. Doch die totale Enttabuisierung von Ehebruch, Scheidung und multipler Wiederverheiratung, der vor- und nebenehelichen Beziehungen brachten einzelnen nicht nur Freiheit und Glück, sondern mindestens im selben Maß Verunsicherung, Verletzung und Verbitterung. Die leidenden Scheidungswaisen, die nicht mehr durch Krieg, sondern durch Beziehungsdramen vaterlos aufwachsenden Generationen, die mehrfach verlassenen und schließlich vereinsamten Menschen vererben diese Unsicherheit: Wie soll jemand den Mut zu einer – sakramentalen oder zivilrechtlichen – dauerhaften Lebensentscheidung aufbringen, wenn er rund um sich nur gescheiterte Lebensentwürfe, zerrüttete Familienverhältnisse und zerbrochene Lebenspartnerschaften sieht? Wo soll Bindungsfähigkeit wachsen, wenn Bindung nur temporär und konditional, also nie lebenslang und bedingungsfrei erlebt wird?
Wie kann man der eigenen, subjektiven Zukunft trauen, wenn es keine uns umgebenden, objektiven Sicherheiten gibt? Woran hält sich fest, wer den Staat und die Weltanschauungen, die Wirtschaft und die Währung, die Eltern und die Familien nur als Treibsand erlebte, wem Werte und Orientierungen, Ziele und Visionen als Welle auf dem Ozean der Zeitgeschichte präsentiert werden?
Ist die Zukunftsangst nun Henne oder Ei – Ursache oder Folge der fragiler gewordenen Gesellschaft? Soziologisch und psychologisch belegbares Faktum ist, dass unsere Gesellschaft auch von Ängsten und von Süchten – Versuchen, die Ängste zu betäuben – geprägt und geschüttelt ist. Psychiater und Psychotherapeuten können davon berichten: Nicht nur die Gesellschaften, sondern auch die einzelnen Menschen sind fragiler geworden. Wer sagt uns eigentlich, wer wir sind, wenn auf keinen Gott, keinen Vater, keine Mutter, keinen Staat, keine Religion oder Weltanschauung, keinen Markt und kein Gesetz mehr Verlass sein soll? Im Gegensatz zu seinem Handy ist der Mensch eben nicht selbsterklärend. Ohne Zuspruch von außen – oder von oben – wird sich der Mensch selbst zu einem Rätsel, das uns weder die bunte Fülle am Bahnhofskiosk noch Wikipedia lösen kann.
Kein Wunder, dass viele psychische Erkrankungen in erschreckendem Maß zunehmen. Gewalt an und unter Kindern, Drogen, Spiel- und Internet-Sucht sind kein Zeichen von Freiheit, sondern von Flucht. Wo die eigene gläserne Identität zu zerbrechen droht, weil die Gesellschaft keine sie bergende Watte mehr bereit zu halten scheint, bieten sich heute viele Illusionen von Fluchtmöglichkeiten an. Die Religion soll Opium für das Volk sein? Der Opiate sind heute viele: ein bunter, postmoderner Markt der Illusionen und der Eitelkeiten. Und es kann lange dauern, teuer werden und auch teuer zu stehen kommen, bis sie sich im Sinne Kohelets als „Windhauch und Luftgespinst“ entzaubert und verflüchtigt haben.
Europa dürfe kein Staat, erst Recht kein „Superstaat“ werden, mahnen die Europa-Skeptiker. Europa sei und werde kein Staat, erst Recht kein „Superstaat“, beschwichtigen die Europa-Befürworter. Was genau ein Staat ist, und wozu er dienen soll, wagt man angesichts solcher Dogmatisierung kaum zu thematisieren. Dann nämlich würden all die Lehrbuchweisheiten schnell an der Realität zerschellen. Wenn sich der Staat primär durch Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt definiert, was ist dann mit den Vielvölkerstaaten – vom Heiligen Römischen Reich bis zur Sowjetunion? Was ist mit dysfunktionalen Staaten, denen die Staatsgewalt längst entglitten ist? Was ist mit kriminellen – mafiosen, pseudo-religiösen oder ideologischen – Großorganisationen, die zwar nicht als Staaten anerkannt sind, jedoch faktisch bestimmte Regionen kontrollieren und die dort lebende Bevölkerung ihren Regeln und Gesetzen gnadenlos unterwerfen? Gestehen wir uns also lieber freimütig ein, dass der Terminus „Staat“ höchst unterschiedliche Wirklichkeiten bezeichnet.
Ein Zweites dürfen wir uns eingestehen: Staaten kommen und gehen – im 20. Jahrhundert erwiesen sich manche sogar als erstaunlich kurzlebig. Meine Großmutter mütterlicherseits wurde im Österreich-Ungarn Kaiser Franz Josephs geboren. Ohne ihren Bauernhof in Böhmen zu verlassen, befand sie sich als junge Frau plötzlich in der Tschechoslowakei, ein paar Jahre später im Großdeutschen Reich. Neuerlich in einer zweiten Tschechoslowakei zu leben, verweigerte ihr – und Millionen anderer Deutscher und Ungarn – Edward Beneš. Sowohl das Großdeutsche Reich wie die beiden Tschechoslowakeien waren letztlich weniger haltbar als meine Großmutter, die 98 Jahre alt war, als sie in ihrer zweiten Heimat Bayern starb. Ähnliches haben viele Menschen erlebt, die vor mehr als einem Jahrhundert beispielsweise in Klausenburg (Cluj), Marburg (Maribor), Danzig (Gdansk) oder Lemberg (Lviv) geboren wurden. Die Europäer – und nicht nur die des 20. Jahrhunderts – sahen viele Staaten kommen und gehen: föderalistische wie zentralistische, liberale wie totalitäre, homogene wie multiethnische, kleine wie große, schwache wie starke.
„Vor nicht allzu langer Zeit, als alle gebildeten Europäer noch mit einer Mischung aus Evangelien und antiken Texten groß wurden, war ihnen allen die Vorstellung der Sterblichkeit, bei Staaten ebenso wie bei Individuen, nur allzu vertraut“, schrieb der britische Historiker Norman Davies, der an den Universitäten London, Harvard, Stanford, Krakau sowie an der Columbia University of New York lehrte, in seinem fulminanten Werk „Verschwundene Reiche“ (im Original: „Vanished Kingdoms – The History of Half Forgotten Europe“). Heute wird die eigene Sterblichkeit möglichst lange verdrängt, die der Verwandten an Krankenhäuser delegiert und die der Staaten ignoriert. Staaten haben aber keine Ewigkeitsgarantie, ihre Haltbarkeit hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem von ihrer Fähigkeit zur Anpassung an die Notwendigkeiten und die Gefahren der jeweiligen Zeit.
Staaten sind überdies ein menschheitsgeschichtlich eher junges Phänomen. Nach dem derzeitigen Stand der Forschung ist unser Planet maximal fünf Milliarden Jahre alt. Seit etwa 3,5 Milliarden Jahren gibt es, so behaupten zumindest Wissenschaftler, so etwas wie Leben auf der Erde. Menschen gibt es seit maximal zwei Millionen Jahren, vielleicht auch kürzer. Die längste Zeit sahen diese Menschen überhaupt keinen Grund, etwas Staatsähnliches zu konstruieren. Familienverbände, Sippen und Dorfverbände genügten vollauf. Die ersten Gebilde, die wir halbwegs als Staaten bezeichnen können, existierten vor rund 5.000 Jahren. Als Ägyptens Altes Reich, die Stadtstaaten der Sumerer oder später die erste belegte chinesische Dynastie bereits über eine beachtliche Hofhaltung und eine Art Beamtentum verfügten, konnte in Europa von Staaten noch überhaupt keine Rede sein. Dem antiken Hellas verdanken wir viel auf vielen wissenschaftlichen Gebieten, aber das erste europäische Großreich mit eigener Staatsidee und einem staatsphilosophischen Erbe, das verdanken wir Rom. Kein Wunder, dass der römische Reichsmythos die Entwicklung der Staatlichkeit in Europa inspirierte und prägte.
Abgesehen von kurzen Phänomenen wie der Regentschaft des Staufers Friedrich II. auf Sizilien gab es bis zum Ende des Mittelalters keine zentral verwalteten, modernen Staatsgebilde. Die Macht des Herrschers war immer eine relative, keine absolute. Selbst das vergleichsweise zentralistische Frankreich kannte vor der Französischen Revolution keinen totalen Durchgriff der Spitze auf das Leben der Bürger. Der Historiker und Journalist Franz Herre schrieb über den „Sonnenkönig“ Ludwig XIV., der bis heute als Klischee eines absoluten Monarchen herhalten muss: „L‘ état c‘est moi – Ich bin der Staat, erklärte Louis Quatorze, der… nicht nur allein herrschte, sondern auch selbst regierte, den Staat verkörperte – noch den Absolutismus im Staate, noch nicht, was erst die Französische Revolution zuwege bringen sollte, den Absolutismus des Staates.“ Abgesehen davon, dass Ludwig den ihm zugeschriebenen Satz vermutlich nie gesagt hat und dass „les états“ zu jener Zeit die Stände bezeichnete, ist Herres Bemerkung richtig: Der Staat selbst war – unabhängig davon, wer wie regierte – nicht absolut, und konnte es auch nicht sein. Der fürstliche Absolutismus beschreibt die Macht des Fürsten im Staat, nicht die des Staates im Leben der Menschen.
Doch die technischen Möglichkeiten und der Herrscherwille, die Untertanen wirksam zu beherrschen, nehmen zu. Das vom Preußenkönig Friedrich Wilhelm II. in Kraft gesetzte „Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten“ von 1794 regelt bereits in 19.000 Paragraphen das Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Der englische Staatsrechtler Jeremy Bentham sah den Zweck des Staates darin, ein größtmögliches Glück für eine größtmögliche Menge zu verwirklichen. Wenn aber der Staat für das Glück des Menschen verantwortlich ist, dann muss er immer mehr, und am Ende gar die absolute Macht beanspruchen. Bei Jean-Jacques Rousseau ist das noch Theorie, bei Maximilien de Robespierre bereits blutige Praxis. Zudem setzt mit der Französischen Revolution ein Schub der Zentralisierung ein, der die Rechte der Provinzen weithin beendet. An die Stelle eines organisch gewachsenen Gemeinwesens tritt der zentrale Verwaltungs- und Obrigkeitsstaat: Das ist die Geburtsstunde des Nationalstaates. An die Stelle der personalen Einheit des Gemeinwesens, verkörpert durch den Monarchen, tritt die nationale Einheit. Die Einwohner eines Landes sind nicht mehr Untertanen eines Königs oder Fürsten, sondern Bürger einer Nation, ob diese sich nun als Sprach-, Kultur- oder Blutsgemeinschaft definiert. Damit ist aber auch der Ideologisierung der Massen bereits der Weg gebahnt.
Tatsächlich aber hatte sich der Staat damit bereits mächtig überhoben, denn seine Rolle als Glücksbringer seiner Bürger wie seine Identifikation mit der Nation sind reine Fiktion. Die Illusion, für das Glück seiner (oder gar aller seiner) Bürger verantwortlich zu sein, brachte den Sozialismus und den Kommunismus hervor, die Vision des totalen Wohlfahrtsstaates, die zum Totalitarismus entartete. Die Illusion, mit der Nation deckungsgleich sein zu müssen, brachte die Nachbarschafts- und Bruderkriege des 20. Jahrhunderts hervor: von den Balkankriegen 1912 und 1913 über die beiden Weltkriege bis zu den Vernichtungs- und Vertreibungskriegen Slobodan Miloševićs in den 1990er Jahren.
Eine Redimensionierung der Staatsidee ist darum vonnöten. Der Staat ist weder Gott noch Götze, weder Religionsersatz noch Heilslehre. Der Staat ist vielmehr eine Folge der Erbsünde. Oder, für weniger katholische Ohren: Die Notwendigkeit des Staates folgt aus der erfahrungsgesättigten Erkenntnis, dass der Mensch als Individuum keineswegs immer gut, wohltätig, gemeinwohlorientiert und selbstlos handelt. Der Staat existiert also nicht um seiner selbst willen, sondern in einer Dienstfunktion am Gemeinwesen. In diesem Sinn schrieb der Vater des modernen Europa-Gedankens und Gründer der Paneuropa-Bewegung, Richard Graf Coudenhove-Kalergi, bereits 1937 in seinem epochalen Werk „Totaler Staat – Totaler Mensch“: „Der Mensch ist ein Geschöpf Gottes. Der Staat ist ein Geschöpf des Menschen. Darum ist der Staat um des Menschen willen da – und nicht der Mensch um des Staates willen. Menschen ohne Staaten sind denkbar – Staaten ohne Menschen sind undenkbar. Der Mensch ist ein Ziel: kein Mittel. Der Staat ist ein Mittel: kein Ziel. Der Wert eines Staates ist genauso groß wie sein Dienst am Menschen: soweit er der Entfaltung des Menschen dient, ist er gut – sobald er die Entfaltung des Menschen hemmt, ist er schlecht.“
Mao Tse-tung konnte Chiang Kai-shek besiegen. Aber überwand er auch Konfuzius? Atatürk konnte Kalifat und Sultanat abschaffen. Aber überwand er auch Mevlana und Mohammed? Lenin stürzte Alexander Kerenski und ließ die Zarenfamilie ermorden, aber konnte er Dostojewski und Tolstoj besiegen? Die Kulturträger der Nationen überdauern die Kulturrevolutionäre. Die Identitäten überdauern die Staaten. Das lindert nicht den Schmerz, den die Kulturrevolutionäre verursachen, mindert nicht den dröhnend militanten Schritt, mit dem Ideologen mit ihren Staatsgründungen des 20. Jahrhunderts auf den Völkern und Volksgruppen herumtrampelten. Die Sowjetunion war der Prototyp eines missratenen Staates, der so viel Terror, Krieg, Leid und Schmerz über die von ihm geknechteten und bedrohten Völker ausgoss, dass die Welt beinahe daran erstickt wäre.
Titos Jugoslawien war nur für den fernen Betrachter eine harmlosere, spielerischere Variante dieses Modells. Für die hier zusammengepferchten Völker war sie eine kleine, nur außenpolitisch unaggressivere Variante der Sowjetunion. Beide behaupteten, Staatenbünde zu sein und waren doch Bundesstaaten mit zentralistischer Tendenz, beide predigten Befreiung und praktizierten Unterdrückung, beide propagierten Internationalismus und die Überwindung des nationalen Chauvinismus, doch förderten sie den Nationalismus durch die faktische Vorherrschaft einer Nation. Beide unterdrückten die christlichen und muslimischen Gläubigen, weil die ganze Gesellschaft den kommunistischen Atheismus als Staatsreligion inhalieren sollte. Beide Staatsgebilde widersprachen der religiösen, der kulturellen, der ethischen und der nationalen Tradition der Völker, die sie umfassten. Und doch glaubte der Westen wider alle Logik, wider die Interessen jener und der eigenen Völker an die Ewigkeit dieser Kunststaaten, der Sowjetunion wie Jugoslawiens.
Unvergessen bleibt dem Autor ein Streitgespräch im Hause eines westlichen Diplomaten in Belgrad, im August 1990. Wandeln werde sich Jugoslawien, aber nicht zerbrechen, beteuerten mehrere Diplomaten auch noch im vertraulichen Kreise. Vielleicht lasen sie nur Diplomatenpost, nicht die Speisekarten der Dorfwirtshäuser zwischen Prishtina und Ljubljana? Vielleicht hätten sie eine Radtour durch das Kosovo unternehmen sollen, per Anhalter durch Bosnien-Herzegowina fahren, Kirchen in Dalmatien und in Altserbien besuchen, statt auf Diplomatenempfängen in Belgrad mit Diplomaten diplomatisch zu reden. Vielleicht hätten sie auch nur in jene Geschäfte und Lokale gehen müssen, in denen Menschen ohne Diplomatenpass und dickes Portemonnaie verkehren, denn das Auseinanderbrechen Jugoslawiens war mit Händen zu greifen, haptisch fassbar wie die Zeitungen, wie die Farben der Häuser, wie die Weinflaschen einer dalmatinischen Konoba.
An Kulturgrenzen, die mitten durch Staaten laufen, muss man weder einen Reisepass vorzeigen noch ein Visum beantragen. Und doch sind diese Grenzen viel wirklicher und tiefer als so manche Staatsgrenze. Mitten durch Jugoslawien lief die Grenze zwischen Mitteleuropa und Südosteuropa, zwischen dem katholisch geformten, von lateinischer, italienischer und österreichischer Kultur berührten Slawentum der Slowenen und Kroaten – und dem orthodox geformten, byzantinisch wie osmanisch geprägten Slawentum der Serben, Makedonen und Montenegriner. Und dann waren noch jene, die sich zu Jugoslawien nicht bekennen konnten, weil sich Jugoslawien – schon von der Wortbedeutung als Land der Süd-Slawen – nicht zu ihnen bekannte: die Albaner, die gar keine Slawen sind, sondern die Autochthonsten der Autochthonen, die unter der Wahrnehmungsschwelle gehalten und wie Unberührbare, die „Dalits“ Jugoslawiens, behandelt wurden. Ein altes und stolzes Volk, reich an Fremdheit und Eigenheit, seit Jahrhunderten geübt in scheinbarer Anpassung und echtem Widerstand, voll Misstrauen gegenüber allem, was nach Staat riecht, seinem eigenen Recht – dem Kanun – und seinen Sitten gehorchend.
Die albanische Dimension Jugoslawiens – traumatisch verdichtet in der Kosovo-Frage – hätte das Potenzial gehabt, diesen Völkerkerker in die Luft zu sprengen. Und vielleicht hat Slobodan Milošević, in dem alles Gestalt gewann, was faul war im Staate Titos, genau dies erwartet. Vielleicht suchte er deshalb zuerst die Konfrontation mit den Kosovaren, provozierte hier zur Gewalt, bekannte hier seine Konversion vom Sozialisten zum rassistischen Nationalisten, schürte hier den großserbischen Nationalismus. „Keiner darf euch schlagen!“, rief Milošević den serbischen Demonstranten auf dem Amselfeld 1989 zu. Und die Menge verstand sofort, was sie verstehen sollte: dass die Zeit gekommen sei, zuzuschlagen, zurückzuschlagen – endlich, nach sechs Jahrhunderten, hier auf dem Kosovo Polje, auf dem Amselfeld, wo der serbische Fürst Lazar 1389 von den Osmanen besiegt wurde, weil er sich für das himmlische Reich entschied und das irdische dahingab. Hier wurde aus dem sozialistischen Technokraten Milošević der großserbische Charismatiker, der neue Fürst Lazar, der sich für das irdische Reich entschied, der für sein Volk nicht zu sterben, sondern zu morden entschlossen war.
Ja, leicht hätte Jugoslawien an der albanischen Frage zerbrechen können. Doch es zerbrach an einer ganz anderen: Die Republiken Slowenien und Kroatien hatten die Nase voll von der serbischen Dominanz, vom kommunistischen Mief, von Belgrader Umverteilung und Despotismus. Sie rüttelten am kommunistischen Monopol, gaben der Freiheit und der Demokratie Raum, putzten sich staatlich ein wenig neu heraus. Am 7. März 1990 beschloss das Parlament in Ljubljana, dass Slowenien nicht länger eine „sozialistische“ Republik sei. Am 22. April hielt Kroatien freie Wahlen ab. Im Mai wurde der „Bund der Kommunisten Jugoslawiens“ zu Grabe getragen. Am 2. Juli erklärte Slowenien, dass Republiksgesetze über Bundesgesetzen stünden. 95 Prozent der Slowenen sprachen sich zu Weihnachten 1990 für die Unabhängigkeit aus. 94 Prozent der Kroaten folgten fünf Monate später diesem Beispiel. Am 25. Juni 1991 erklärten die Parlamente Sloweniens und Kroatiens die Unabhängigkeit ihrer Republiken.
Trügerisch waren sie gewesen, jene Illusionen des Gemeinsamen und Verbindenden, die im Herbst 1918 zum „Staat der Serben, Kroaten und Slowenen“ (SHS-Staat) geführt hatten. Vergiftet wurden sie von Anfang an durch den serbischen Nationalismus, erschossen in politischen Attentaten, erdolcht von der Despotie der Königsdiktatur, erdrosselt durch den Belgrader Zentralismus. Es hätte des atheistischen Kommunismus’ Titos und seiner Schergen nicht bedurft, um Jugoslawien zur Tragödie werden zu lassen. Aber Tito prolongierte und vertiefte die Tragödie. Milošević inszenierte ihr blutig-schauriges Finale.
Noch war die Feierlaune in Slowenien nicht verklungen, da besetzten Truppen der Jugoslawischen Bundesarmee die slowenischen Grenzübergänge zu Österreich, Ungarn und Italien. Zehn Tage dauerte der Krieg Belgrads gegen Slowenien. Er kostete 74 Menschen das Leben und endete mit dem Sieg der slowenischen Territorialverteidigung über die serbischen Generäle. Die aber stürzten sich umso vehementer auf Kroatien, später auf Bosnien-Herzegowina.
Wie gebannt vor Angst und Ahnungslosigkeit starrte der Westen auf das balkanische Blutbad vor seiner Haustüre. Die die Lage durchschauten, Politiker wie Otto von Habsburg und Alois Mock, Journalisten wie Carl Gustaf Ströhm und Johann Georg Reißmüller, schrien sich die Stimme heiser. Es half nichts: Der Westen schwankte zwischen Unfähigkeit und Unwilligkeit, während die von Milošević gesteuerte Bundesarmee gemeinsam mit den Tschetnik-Truppen von Arkan und Šešelj mordeten, vergewaltigten, vertrieben und folterten. Im Westen debattierte man noch, ob es nicht besser gewesen wäre, das ungeteilte Jugoslawien zu reformieren, während es den Kriegsherren längst nicht mehr um ein notfalls kleineres Jugoslawien ging, sondern um ein jedenfalls größeres Großserbien. In der kroatischen Krajina wie im bosnischen Norden und Osten setzten die serbischen Anti-Sezessionisten längst auf die Sezession der Serben von Zagreb beziehungsweise Sarajevo. Das makabre Wort von der „ethnischen Säuberung“ entlarvte den Jugoslawismus als imperialistischen Rassismus.