Meine Kindheit in
einer fremden Welt
Die ersten Erinnerungen an mein Leben sind Erinnerungen an das Fremde. Ich war keine zwei Jahre alt, als meine Eltern mit meinen Geschwistern und mir nach Afrika zogen. In ein neues Leben. In eine neue Welt. Mein Vater hatte wohl genug von der alten Welt und seinem bisherigen Leben. Wer könnte es ihm verübeln? Mein Vater war Journalist. Kriegsberichterstatter. Zuletzt arbeitete er einige Monate in Nordirland. Er war ein harter Hund. Er war es gewohnt, am Limit zu leben. Aber die Zeit in Belfast hat ihn tief geprägt. Es herrschten nahezu bürgerkriegsähnliche Zustände, die zwischen Katholiken und Protestanten ausgetragen wurden. Nachts brannten Autos, es wurden Attentate und Bombenanschläge verübt, und auch vor Journalisten wurde nicht haltgemacht. Mein Vater fand regelmäßig irgendwelche Morddrohungen in seinem Briefkasten. Von Menschen, die seine Berichterstattung nicht mochten. Von Menschen, die sich in ihrer politischen Agenda von ihm gestört fühlten. Er konnte damit umgehen. Aber als er mit ansehen musste, wie sein bester Freund auf offener Straße mitten in einem Feuergefecht erschossen wurde, beschloss er, einen Schlussstrich zu ziehen. Mein Vater hatte mittlerweile zu viel gesehen und zu viele Menschen verloren, die ihm etwas bedeuteten. Er brauchte eine Pause. Er wollte weg. Weg aus Europa und weg von seinem alten Leben. Da meine Eltern schon immer sozial engagiert waren, bewarben sie sich für ein paar Entwicklungshilfeprojekte. Und bekamen ziemlich schnell das Angebot, nach Ruanda zu gehen. Ruanda war genau das Richtige für meinen Vater, denn es lag wortwörtlich am anderen Ende der Welt. Mein Vater wollte Abstand. Und mehr Abstand ging wirklich nicht. Er sagte zu. Und Ende 1983 zog unsere gesamte Familie nach Ostafrika.
Ruanda war eine andere Welt. Wir lebten in Mukoma, einem kleinen Dorf südwestlich der Hauptstadt Kigali. Mukoma heißt übersetzt so viel wie »Der Hügel«, und der Name passte ziemlich gut. Die Gegend war voller kleiner Berge mit grünen Wiesen. Ein richtiges Teletubbyland. Aber außer den Bergen gab es nicht viel in Mukoma. Ein paar Büsche, ein paar Sträucher, und hier und da lief die eine oder andere Ziege herum. In unserem Dorf lebten etwa 200 Menschen. Mukoma sah so aus, wie man sich afrikanische Dörfer im Allgemeinen vorstellt. Die Leuten wohnten in einfachen, runden Lehmhütten. Unsere Familie hatte immerhin ein Steinhaus. Mit Fenster und Türen. Einfacher Standard. Aber dennoch weit über allem, was es in der Gegend so gab. Strom gab es nicht. Batterien gab es nicht. Nur eine Kerosinturbine, die den Kühlschrank betrieb. Als ich ein paar Jahre später nach Deutschland kam, war ich ziemlich erstaunt, dass man nirgendwo Kerosin kaufen konnte. Außer am Flughafen. Ich habe mich gewundert, wie oft die Leute wohl zum Flughafen fahren müssten, um ihren Kühlschrank zu betreiben. Abgesehen von unserem Kühlschrank, hatten wir in Mukoma noch einen Gasherd mit einer Gasflasche, Kerzen und Petroleumlampen für die Außenbeleuchtung. In unserem Garten wohnten ein paar Ziegen, die man uns geschenkt hatte. Sie wurden bald zu meinen besten Freunden.
Das Leben im Dorf war ziemlich langweilig. Zwar kamen immer wieder die anderen Kinder zum Spielen vorbei, aber es gab für uns nichts zu tun. Zu Hause hatten wir eine Angestellte. Sie hieß Eugenie und war Haushälterin und Kindermädchen in einem. Sie machte die Wäsche, kochte Essen, schmiss den ganzen Haushalt und musste uns Kinder nebenbei noch irgendwie beschäftigen, während Mama und Papa arbeiten waren. Meine Eltern haben in Mukoma klassische Entwicklungshilfe geleistet. Hilfe zur Selbsthilfe. Mein Vater kümmerte sich um die Aufklärung der Dorfbewohner. Er erklärte ihnen etwa die Grundlagen zum Thema Empfängnisverhütung: Wo bekommt man Kondome her, und wie verwendet man sie? Außerdem brachte er den Menschen ein paar Sachen bei, die ihnen das Leben erleichtern sollten. Heute würde man sagen: Lifehacks. Er zeigte ihnen zum Beispiel, wie man einen simplen Lehmofen baut, damit sie Holz sparen können. Das mag trivial klingen, doch wenn ein ganzes Land 50 Prozent Holz spart, dann ist das mittel- und langfristig ein großer Erfolg.
In Mukoma hielten die meisten Einwohner Kühe als Nutztiere. Die Kuh war nicht bloß ein Statussymbol, sie brachte auch Milch. Wenn man ein Kalb aufgezogen bekam, konnte man damit viel Geld verdienen. Starb die Kuh allerdings, nachdem man sein ganzes Erspartes in sie investiert hatte, war das ein nahezu existenzielles Problem für die Bauern. Also hat mein Vater den Leuten erklärt, wie man Kaninchen züchtet. Wenn fünfzig von sechzig Kaninchen sterben, lässt man die anderen eine Woche rammeln und hat in kürzester Zeit wieder eine hohe Population aufgebaut. Mein Vater gab den Bauern zwei Männchen und fünf Weibchen und brachte ihnen bei, was die Kaninchen fressen, wie man sie hält und woran man merkt, dass sie krank sind. Anschließend schickte er die Leute in die anderen Dörfer, die wiederum ihr Wissen dort weitergaben. So stiegen die Menschen nach und nach von der Kuhzucht auf die Kaninchenzucht um. Die Bewohner waren fasziniert, dass sich die Tiere sehr viel schneller vermehrten, als man sie essen konnte. Selbst eine zehnköpfige Familie kam nicht mehr hinterher. Man konnte sogar noch Kaninchen verkaufen. Ein gutes Geschäft.
Meine Mutter war Krankenschwester und bildete in Ruanda andere Krankenschwestern aus. Das meiste, was sie den Frauen vor Ort beibrachte, war einfaches Handwerkszeug. Dinge, die schnell gelernt sind und die im Alltag von Nutzen waren. Es ging hauptsächlich um Hygiene und die Versorgung von Schnittwunden. Schnittwunden waren das größte Problem in Ruanda und hatten meistens eine von zwei Ursachen. Um Läuse zu vermeiden, schnitten sich die Bewohner die Haare kurz. Dafür wurden scharfe Rasierklingen benutzt, wobei es immer mal wieder zu Ausrutschern kam. Die zweite Ursache war das Bier. Genauer: die Bierflaschen. Alle paar Wochen kam es in der Dorfkneipe nämlich zu Rangeleien, bei denen sich die Betrunkenen gegenseitig eine Flasche Bier über den Kopf zogen. Wurden die Wunden nicht rechtzeitig versorgt, drohten den Verletzten schwere Infektionen.
Die zehn Prozent, die nicht aufgrund von Schnittverletzungen durch Rasierklingen oder Bierflaschen zu meiner Mutter kamen, wurden in das sogenannte Gesundheitszentrum gebracht. Das Gesundheitszentrum war ein ganz einfaches Hospital. Ein ebenerdiges Haus mit drei Zimmern, in denen ein paar Liegen herumstanden. Die zentrale Herausforderung war die Ausstattung. Es gab kaum Instrumente. Besonders sparsam mussten die Mitarbeiter mit den begehrten Mullbinden umgehen. Die Spritzen wurden ausgekocht und immer wieder benutzt. Aus hygienischer Sicht war das kein Problem. Allerdings wurden die Spritzen nach mehrfacher Anwendung stumpf. Zudem haben die Menschen in Afrika schon historisch bedingt eine härtere Haut als die Europäer. Man musste also ganz schön zustechen, um die Spritzen in die Venen zu bekommen. Aber die größte Leistung meiner Mutter war es, das Nummernsystem einzuführen. Jeder, der bei ihr behandelt werden wollte, musste eine Nummer ziehen und wurde aufgerufen. Für die Männer, die sich ständig vordrängelten, war das eine Ungeheuerlichkeit.
»Aber warum nehmen Sie die Frau vor mir dran?«, fragten sie.
Meine Mutter tippte dann immer nur auf das Zettelchen mit der kleinen Ziffer und ersparte sich somit jede Diskussion. Auf diese Weise brachte sie den Männern in Mukoma bei, was Emanzipation bedeutet. Ganz nebenbei.
*
Nach einem Jahr kam uns meine Oma in Ruanda besuchen. Sie hatte einen Korb voller Äpfel dabei. Äpfel. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Diese »Früchte« hatten eine komische Form und eine komische Konsistenz. Als Oma anfing, die Äpfel zu verteilen, bekam ich Panik. Ich traute ihr und diesen runden Dingern nicht. Ich lief durch das ganze Dorf und warnte die Bewohner, dass eine alte Frau gekommen sei, die vergiftete Tomaten verteilte. Die Leute schüttelten nur den Kopf und fingen an, untereinander zu tuscheln. Ich weiß bis heute nicht, ob sie dachten, ich sei verrückt. Ich meinte es aber eigentlich nur gut und wollte unser Dorf beschützen. Meine Eltern sahen das anders. Sie waren sehr wütend. Und Oma ziemlich traurig.
Unser Haus hatte einen schrägen Dachboden, den man nicht wirklich nutzen konnte, weil er bloß mit Gipskartonplatten bedeckt war. Es gab nur einen einzigen Grund, warum mein Vater manchmal die Holzleiter hochstieg. Er wollte Ratten jagen. Wenn mein Vater also unsere ungeladenen Mitbewohner vertreiben wollte, musste er vorsichtig auf den dicken Holzbohlen balancieren und durfte nicht auf die brüchigen Kartonplatten treten. Ich weiß bis heute nicht ganz genau, was passiert ist, aber ich erinnere mich noch ziemlich lebhaft daran, wie mein Bruder und ich gerade am Esstisch saßen und Papa gemeinsam mit einer Zwei-Meter-Platte durch die Decke krachte. Er musste wohl danebengetreten sein. Er hatte sich nicht verletzt, aber sein Durchbruch war das Spannendste, was in dem Jahr passierte.
Die Leute im Dorf wussten, dass meine Eltern ihnen keinen Reichtum bringen würden. Sie wussten, dass meine Eltern einfach nur da waren, um ihr Leben ein kleines bisschen besser zu machen. Die Leute hatten an sich ja schon ein gutes Leben. Ruanda ist nicht die Sahelzone, wo die Leute nach jedem Strohhalm griffen. Die Menschen in Ruanda hatten seit Jahrhunderten ein eingespieltes Leben. Und wenn plötzlich Menschen in dieses Leben treten, die sagen: »Hey, wenn du eine Wunde hast, können wir die versorgen«, sagen die Bewohner Ruandas: »Prima, danke!« – aber der Rest läuft weiter, wie er immer gelaufen ist. Wenn es um Behördenfragen ging oder jemand etwas aus der Stadt brauchte, dann kamen die Menschen zu meinen Eltern. Aber das war es auch schon. Die Einwohner hier hatten keine Existenzängste. Sie hätten auch ohne uns ganz normal weitergelebt.
Nach zwei Jahren in Ostafrika änderte sich plötzlich die Stimmung. Ruanda wurde von Tag zu Tag unsicherer. In vielen Städten und Dörfern gab es immer wieder kleinere Aufstände. Zwischen den beiden Völkergruppen – den Hutu und den Tutsi – kam es zu Auseinandersetzungen. Zuerst waren das einfache Prügeleien vor Kneipen. Man mochte sich halt nicht. Dann wurde es aber nach und nach immer heftiger. Es bildeten sich regelrechte Hutu-Mobs, die auf einzelne Tutsi losgingen. Auch in unserem Dorf spürte man eine aggressivere Grundstimmung. Aber die beschränkte sich darauf, dass meine Mutter ein paar mehr Schnittwunden aus Kneipenschlägereien zu versorgen hatte als üblich. Wie angespannt die Stimmung wirklich war, bekamen wir erst mit, als Menschen von der deutschen Botschaft zu uns nach Mukoma kamen. Sie sagten, dass man nicht mehr für unsere Sicherheit garantieren könne. Wir sollten unsere Sachen zusammenpacken und am besten sofort mitkommen. Also begleiteten wir die Männer auf das Botschaftsgelände. Dort seien wir fürs Erste sicher, teilte man uns mit. Meine Eltern diskutierten hin und her, wägten alles ab und beschlossen dann, dass es wohl an der Zeit sei auszureisen. Das Entwicklungshilfeprojekt war sowieso gerade abgelaufen, und sie wollten uns Kinder keiner größeren Gefahr aussetzen.
Anfang 1987 kamen wir zurück nach Deutschland. Ich war viereinhalb Jahre alt. Die Rückreise dauerte fast zwei Wochen. Wir flogen von Land zu Land. Von Ruanda nach Kenia. Von Kenia nach Äthiopien. Von Äthiopien nach Ägypten. Und so ging es immer weiter, bis wir schließlich in Paris landeten und von dort aus nach Frankfurt kamen. Doch die Länge der Reise war gar nicht das größte Problem. Das größte Problem war, dass drei von fünf Familienmitgliedern unter Malaria tropica litten. Und ich hatte zusätzlich noch Gelbfieber. So höllisch die Reise für uns alle auch war, zumindest hatten wir an den Flughäfen immer einen klaren Vorteil, wenn es darum ging, Flugtickets zu bekommen. Mit drei vollgekotzten Kindern ging es ganz schnell. Mein Vater musste nur versprechen, so schnell wie möglich wieder zu verschwinden. Ein fairer Deal. Bei einem Flug haben meine Eltern die Mitarbeiter am Ticketstand so lange genervt, bis sie uns trotz ausverkauftem Flug noch fünf Tickets zusteckten. Sie wollten uns loswerden. Was wir nicht wussten: Die Tickets einer anderen Familie wurden dafür storniert. Und zwar von den netten Menschen, die uns freundlicherweise geholfen hatten, unsere Koffer zu tragen. Sie standen in der Schlange direkt hinter uns und machten am Ticketschalter verständlicherweise einen mittelgroßen Aufstand. Glücklicherweise bekamen auch sie dann noch Tickets. Der Schwarze Peter wurde weitergereicht. An wen, bekamen wir nicht mehr mit. Wir machten uns auf den Weg, schnellstmöglich in den Flieger zu kommen. In solch unangenehmen Situationen muss man die Leute einfach nur zu Tode nerven, erklärte mir meine Mutter damals. Dann kommt man im Leben weiter. Ich versuchte, mir ihre Weisheit einzuprägen, und freute mich, dass wir einen Flughafen näher an unserem neuen Zuhause waren – an das ich eigentlich gar keine Erinnerung hatte.
Als wir endlich in Deutschland ankamen, gab es zunächst ein paar praktische Probleme. Im Flughafen sollte ich Rolltreppe fahren. Rolltreppen kannte ich aber nicht. Und sie waren mir auch gar nicht geheuer. In meinen Augen waren das Todesfallen. Da wollte ich nicht drauf. Da wollte ich auf gar keinen Fall drauf. Die Sanitäter, die uns versorgen sollten, schauten sich an und zuckten mit den Schultern.
»Dann fahren wir mit dem Fahrstuhl«, boten sie mir an.
»Was ist ein Fahrstuhl?«, fragte ich.
Als sie mir das Ding zeigten, schüttelte ich erneut mit dem Kopf. Da war ein winziger Raum, in den Leute hineingingen, dann schloss sich die Tür, öffnete sich wieder, und die Menschen waren weg. Egal, was passieren würde, ich würde nicht in diesen Zauberraum gehen. Unter gar keinen Umständen. Ich bin doch nicht bescheuert, dachte ich mir. Meine Mutter redete auf mich ein. Vergeblich. Mein Vater redete auf mich ein. Vergeblich. Ich wollte das nicht.
»Was ist mit dem Kind los?«, fragten die Sanitäter.
»Er kennt das alles nicht«, sagte meine Mutter, merkte aber schnell, dass eine Erklärung zu aufwendig wäre. »Gibt es noch einen anderen Weg?«
Es gab noch einen anderen Weg. Die Feuertreppen. Damit konnte ich gut leben. Es war allerdings ein längerer Aufwand, die alarmgesicherten Türen für uns freizugeben. Nur weil Klein-Enno sich weigerte, in den vermeintlich gefährlichen Zauberraum zu gehen. Aber auch ich hatte meine Prinzipien.
Als wir mit einigem Aufwand den Flughafen verlassen hatten, wurden wir in ein Spezialkrankenhaus gebracht. In eine Tropenklinik in Tübingen. Bis heute gibt es keine richtigen Medikamente gegen Malaria. Ich bekam Testmedikamente. Vor jeder Spritze mussten meine Eltern unterschreiben, dass wir auf eigenes Risiko handelten. Ich hatte zwar keine Angst vor den Spritzen. Aber ich traute den Ärzten nicht. Ich kannte diese Männer ja auch gar nicht. Ich war wohl ein sehr misstrauisches Kind. Die Spritze musste mir also meine Mutter geben. Die kannte ich. Der vertraute ich. Und sie war ja auch ausgebildete Krankenschwester. Wir verbrachten zwei Monate in der Klinik. Den Ärzten bin ich wahrscheinlich ziemlich auf die Nerven gegangen.
*
Nachdem wir aus der Klinik entlassen wurden, zogen wir nach Münster-Albachten in ein Reihenhaus mit einem kleinen Garten. Die Organisation, für die meine Eltern arbeiteten, hatte uns geholfen, das Haus zu bekommen. Die Zeit, die wir im Krankenhaus verbracht hatten, hatte mein Vater genutzt, um sich darum zu kümmern und alles bezugsfertig zu machen. Und kurz nachdem wir eingezogen waren, begann schon das nächste Kapitel in meinem Leben. Ich musste in den Kindergarten.
Das war für mich ein riesiges Drama, weil ich das Prinzip des Kindergartens einfach nicht verstand. Ich wollte da nicht hin. Warum zwangen mich meine Eltern? Ich könnte doch auch einfach zu Hause bleiben. Das war jahrelang gut gegangen. Wieso sollte ich auf einmal in einen ominösen Kindergarten? Doch nicht nur ich war unglücklich mit der Situation. Auch die Kindergärtnerinnen hatten ihre Probleme mit mir. Ich glaube, ich ging ihnen einfach ganz schrecklich auf die Nerven. Ich habe vieles von der Welt nicht verstanden. Ich litt schlicht unter einem riesigen Kulturschock. Jeder versuchte zwar, mir die Dinge, die mich umgaben und für die restlichen Menschen so selbstverständlich waren, zu erklären, aber oft waren ihre Erklärungen für mich nicht schlüssig oder logisch. Wieso musste ich zum Beispiel in diesem umzäunten Garten bleiben und konnte nicht den Rest der Gegend erforschen? Warum durfte ich nicht hinter die Absperrung?
»Weil das gefährlich ist«, versuchten es mir die Betreuerinnen geduldig zu erklären.
»Nein«, sagte ich. »Nachmittags, wenn kein Kindergarten ist, geh ich doch auch da lang. Da ist es nicht gefährlich.«
Es muss sehr ermüdend für die Betreuerinnen gewesen sein, einem Fünfjährigen stundenlang die Regeln und Funktionen unserer westlichen Zivilisation zu erklären. Aber sie gaben sich auch nicht so richtig Mühe. Fand ich.
Beim Mittagessen fiel mir einmal ein Teller vom Tisch. Das war mir extrem unangenehm. Ich kniete mich hin, um die Scherben aufzusammeln, aber da wurde alles nur noch viel schlimmer. Es gab eine Riesenpanik.
»Nicht anfassen!«, schrie ein Kind.
»Enno, bist du verrückt?«, ein anderes.
Ein Mädchen lief weinend zu den Betreuerinnen, die mich aufklärten, dass ich die Scherben nicht mit den Händen aufheben sollte.
»Warum nicht?«, fragte ich.
»Das ist gefährlich. Du kannst dich schneiden. Und dann blutest du.«
Ich war verwirrt. Solange ich mir die Scherben nicht in die Hand steckte, blutete ich auch nicht. Das dachte ich zumindest. Oder waren die Teller in Deutschland einfach anders gebaut als die Teller in Ruanda?
»Sind die Teller in Deutschland anders gebaut als die Teller in Ruanda?«, fragte ich.
»Komm, Enno, geh jetzt von den Scherben weg.«
Ich hielt die Menschen in Deutschland einfach für dumm. Die Kinder waren so dumm, dass sie vor ein paar Scherben panisch wegsprangen. Als wären es Atombomben. Und die Betreuer stellten Regeln auf, die sie mir nicht erklären konnten. Was sollte das?
Und dann war da noch die Sache mit den Lügen. Wenn man in Ruanda jemandem etwas erzählte, dann zweifelte selten jemand daran, dass es die Wahrheit war. In Deutschland wurden die Dinge, die jemand erzählte, oft infrage gestellt. Wenn ich im Kindergarten sagte, dass ich in Ruanda gewohnt habe, hieß es immer: »Neee, das kann nicht sein, der Enno hat eine blühende Fantasie.« In Afrika wohnt man ja nicht. Da wohnen nur die Afrikaner. Das fand ich komisch. Ich wusste nicht, wo das Problem lag und was ich falsch gemacht haben könnte, dass man mir einfach nicht glaubte. Deutschland war für mich ein sehr fremdes Land. Und ich brauchte einige Zeit, um mich an diese exotische Kultur zu gewöhnen.
Einmal fuhr ich mit meiner Mutter zu einer Tankstelle. Ich kannte Tankstellen, auch wenn sie in Ruanda ein wenig anders aussahen als in Deutschland. Da war zum einen die Tür. Die Tankstellentür in Deutschland hatte gar keinen Türgriff. Es handelte sich um eine automatische Schiebetür, aber woher sollte ich wissen, was eine automatische Schiebetür war? Zumal sie nicht aufging, als ich davorstand. Ich versuchte, sie aufzudrücken, und klemmte mir den Finger ein. Das war nicht sonderlich schlimm, die Tür öffnete sich irgendwann wieder, und die Finger waren draußen. Aber dem Pächter war das so unangenehm, dass er mir einen Schokoriegel schenkte. Und das war das eigentliche Ärgernis. So ein dummer Typ, dachte ich. Erst klemmt er mir die Finger ein, und dann gibt er mir einen Schokoriegel, der nicht schmeckt. Ich war die ganzen Aromen nicht gewöhnt. Wie hätte ich mich über einen Schokoriegel freuen sollen, der wie ein Block Chemie schmeckte? Das ärgerte mich den ganzen restlichen Tag.
Auch mein Bruder war von den komischen Deutschen verwirrt. Er hatte von dem kulturellen Bruch natürlich wesentlich mehr wahrgenommen als ich. In der Vorweihnachtszeit stellte er sich vor einen Supermarkt und sammelte Spenden für Ruanda. Er dachte, dass die Deutschen so viel Geld und so viel Überfluss haben, dass sie den armen Kindern in Afrika, die nur in einfachen Lehmhütten wohnten, etwas davon abgeben könnten. Am Ende des Tages hatte er fünf Pfennig gesammelt und war zutiefst entsetzt darüber, dass das Schicksal der Kinder in Afrika den Menschen hier so egal war.
*
Dabei berührte das Schicksal der Menschen in Ruanda einige Jahre später tatsächlich die Weltgemeinschaft. Am 6. April 1994 begann der große Völkermord, der international schockierte. Innerhalb von 100 Tagen kam es zu unzähligen tödlichen Übergriffen der Hutu-Mehrheit auf die Tutsi-Minderheit. Bis zu eine Million Menschen kamen ums Leben. Ich war elf Jahre alt, als ich die Berichte im Fernsehen sah. Die Orte, die sie gefilmt hatten, kannte ich fast alle. Nur dass die Aufnahmen Berge voller Leichen zeigten. Mir wurde schlecht, als ich begriff, was das eigentlich bedeutete. Meine Eltern waren genauso schockiert und telefonierten beinahe täglich stundenlang herum, um in Erfahrung zu bringen, was aus den Menschen geworden ist, mit denen wir drei Jahre zusammengelebt hatten. Nach einigen Monaten hatten wir die traurige Gewissheit, dass wohl alle tot waren. Die Front verlief einfach quer durch Mukoma. Das Dorf gab es nicht mehr. Es war ausgelöscht worden. Sämtliche Menschen aus der Gegend ermordet. Nur unser ehemaliges Kindermädchen Eugenie hatte mit ihren beiden Kindern überlebt. Sie hatten sich selbst vergraben und zwei Tage lang in der Erde ausgeharrt, bis die Front über sie gerollt war. Was für eine Tragödie.
In meiner Familie wurde viel über das gesprochen, was passiert war. Meine Eltern gingen sehr offen mit diesen Themen um. Es war ihnen extrem wichtig, uns immer alles sofort zu erklären. Unsere Fragen zu beantworten. Auch wenn sie schwierig waren. Meine Eltern hatten natürlich mehr von den Unruhen mitbekommen als wir. Und auch mehr als die nun schockierte Öffentlichkeit. Sie spürten schon damals, als wir noch in Ruanda lebten, wie die Stimmung langsam hochkochte. Dass viele Europäer die Gewaltexzesse als überraschend wahrnahmen, lag auch an der Informationskultur in Ruanda. Wenn in einer Kneipenschlägerei jemand erschlagen wurde, war das kein Thema, das man groß aufarbeitete. So etwas passierte immer wieder. Gerade zwischen Hutu und Tutsi. Irgendein Blödsinn provozierte einen Streit und kochte die Stimmung nach und nach hoch. Es gab immer wieder Wellen von Gewalt. Hutu und Tutsi wohnten direkt nebeneinander. Wenn in Berlin beispielsweise plötzlich »Ossis« und »Wessis« aufeinander losgehen würden, würde die gesamte Stadt im Chaos versinken. Und so war es auch in Ruanda. Dort haben verdammt viele mitgemacht. Ein Völkermord passiert nicht, weil es wenige machen. Das müssen Massen sein. Ich habe viele Jahre später einmal den General der UN-Blauhelmtruppen kennengelernt – Roméo Dallaire. Seine Soldaten waren vor Ort, um die Situation zu deeskalieren. Um die Bevölkerung vor sich selbst zu schützen. Aber da in der UN niemand wusste, was wirklich vor sich ging und wie angespannt die Situation vor Ort war, hatten die Soldaten keinen Schießbefehl. Sie durften nichts tun. Sie durften nur ihre Waffen einsetzen, wenn jemand zuerst auf sie geschossen hatte. Wenn neben ihnen jemand zu Tode gefoltert wurde, durften sie nicht einschreiten. Sie haben einzelne Bereiche notdürftig gesichert und dabei selbst zahlreiche Leute verloren. Nach seinem Einsatz in Ruanda versuchte Dallaire mehrmals, Suizid zu begehen. Wenn ein General wie er, der etliche Kriege gesehen hat, derart verzweifelt, muss es extrem hart gewesen sein. Von ihm stammten Zitate wie: »Ich weiß, dass es einen Gott gibt, weil ich in Ruanda dem Teufel die Hand geschüttelt habe.«
Das war kein normaler Krieg.
Gerade weil wir zu Hause so viel über Politik sprachen, war ich von den deutschen Kindern doch stark enttäuscht. Sie verstanden nicht, was in Ruanda passiert war. Sie wussten noch nicht einmal, dass es ein Land gab, das Ruanda hieß. Und als ich es ihnen erklären wollte, zuckten sie nur mit den Schultern. Ich verstand das einfach nicht. Wieso war ihnen das alles egal? Ich konnte mich besser mit den Eltern meiner Freunde unterhalten als mit meinen Freunden. Mit den Kindern, die bei uns zu Besuch waren oder bei denen ich zu Besuch war, konnte ich einfach nichts anfangen. Die haben meistens nur herumgesessen und Blödsinn im Fernsehen geguckt. Unterhalten konnte man sich nicht. Wir hatten in Deutschland im ersten Jahr nach unserer Ankunft noch gar keinen Fernseher. Wir haben uns einfach die Gegend angeguckt. Wie in Ruanda auch.
*
Vielleicht konnte ich mich umso mehr für Technik begeistern, als wir sie dann endlich hatten. Technik faszinierte mich. In allen Facetten. In Actionfilmen schossen die Helden immer mit Maschinengewehren. Ich fragte mich, wie das funktionierte. Wieso kamen da so viele Kugeln nacheinander aus der Waffe? War da eine Batterie drin? Oder ein Motor? Das waren Fragen, die mich beschäftigten. Aber Kinderwaffenbücher gab es nicht. War wohl damals ein Nischenthema. Ich verstehe heute noch nicht, warum. Die Rüstungsindustrie ist der größte Arbeitgeber in Deutschland, und wir verdienen das meiste Geld damit – warum schweigt man das Thema dann so konsequent tot? Aber statt Kinderwaffenbücher gab es jede Menge Kindertechnikbücher. Besonders die »Was ist was«-Bücher fand ich großartig. Ich verschlang sie regelrecht. Sie waren für mich so eine Art Einstiegsdroge. Dann kamen die großen Nachschlagewerke, wie der Fischer-Weltalmanach. Meine Eltern sammelten die Dinger, und ich verbrachte viele Stunden am Tag damit, diese Bücher durchzublättern und einfach Fakten zu lernen: was das größte Land der Welt ist, wo die meisten Menschen leben, wo die Länder liegen und warum sie die Grenzen haben, die sie haben. Einmal fiel mir auf, dass sich die Fläche von Deutschland in zwei Büchern verändert hatte. Aber nur ganz wenig. Das fand ich merkwürdig und begann zu recherchieren. Der Grund war nicht die Wiedervereinigung. Ich fand heraus, dass Länder dauernd winzige Gebiete austauschten. Ein Land will eine Brücke bauen, und das andere Land hat vielleicht einen Flusslauf, der knapp über der Grenze des anderen Landes verläuft. Und dann tauscht man. An diesem Thema bin ich lange hängen geblieben. Ich wollte genau wissen, wie so etwas funktioniert. Wer das aushandelt, wer das bezahlt, ob die Staaten sich Rechnungen schicken – einfach, was genau es damit auf sich hatte. Mit solchen Geschichten konnte ich ganze Tage verbringen. Das war natürlich total unnützes Wissen. Aber mich befriedigte es zu begreifen, wie die Welt funktionierte. Damit habe ich die halbe Kindheit verbracht.
Im Kindergarten war ich wohl einfach der komische Junge, der mit der westlichen Zivilisation nicht zurechtkommt. In der Schule hatte ich mir die Basics des kindlichen Zusammenlebens dann schon angeeignet, war zwar vielleicht immer noch ein wenig sonderbar, verstand aber die Regeln, sodass ich das Spiel mitspielen konnte. Ich hatte mich in Deutschland integriert. Und suchte meine eigene Nische.
*
Mein Vater hatte ein paar Jahre nach unserer Rückkehr nach Deutschland wieder angefangen, als Journalist zu arbeiten. Er spezialisierte sich auf linke und grüne Themen. Er schrieb viel über die Umwelt. Tschernobyl und die Auswirkungen der Atomkatastrophe beschäftigten ihn. Ich fand das toll und eiferte ihm nach. Als ich in die 3. Klasse kam, beschloss ich, ebenfalls Journalist zu werden. Da mir bewusst war, dass meine Publikationschancen in den großen Mainstreammedien noch relativ gering waren, beschloss ich einfach, meine eigene Zeitung herauszugeben. Und so gründete ich die Schülerzeitung JHZ, die Junior-Hustadt-Zeitung. Sie erschien einmal die Woche und bestand aus einer DIN-A4-Seite. Die Auflage war 20. Inhaltlich gab es pro Ausgabe drei Ministorys, die ich auf dem Computer getippt und ausgeschnitten hatte. Dann platzierte ich die Geschichten in einzelnen Spalten. Wie in einer echten Zeitung. Ich hatte auch ein wiederkehrendes Layout und einen wiederkehrenden Header. Ich kopierte und verkaufte sie dann. In Grundzügen war das schon ein sinnvolles Produkt.
Zunächst habe ich die JHZ für ein paar Pfennig verkauft, sodass ich die Kopierkosten genau wieder reinbekam. Irgendwann dachte ich daran, den nächsten Schritt zu gehen und zu expandieren. Ich ging in den Copyshop und verhandelte mit dem Besitzer.
»Wollen Sie mich nicht unterstützten?«, fragte ich.
Der Chef des Ladens schaute mich skeptisch an. »Wie meinst du das?«
»Na ja, ich habe ein wiederkehrendes Produkt. Eine Wochenzeitung. Die JHZ. Sie erscheint immer donnerstags.«
»Und wie sollen wir dich unterstützen?«
»Sie erlassen mir die Kopierkosten, und ich schreibe ein Dankeschön in die Zeitung.«
»Wie hoch ist die Auflage?«
»20.«
Der Copyshop-Besitzer dachte kurz nach. »Du hast Geschäftssinn, Kleiner. Also gut. Du kannst einmal die Woche zehn Blätter bei uns kopieren. Kostenlos. Den Rest musst du aber bezahlen.«
»Okay«, sagte ich und gab dem Mann die Hand. »Wir haben einen Deal.«
Jackpot, dachte ich mir. Für die Hälfte meiner Auflage entfielen die Druckkosten. Das bedeutete, dass mein Gewinn sich verdoppelte. Ein ordentlicher Verhandlungserfolg. Die kaufmännische Seite funktionierte schon mal sehr gut. Ganz im Gegensatz zum redaktionellen Bereich. Es war für mich gar nicht so einfach, mit dem Leserfeedback umzugehen. Ich befragte meine Kunden regelmäßig, welche Geschichten sie langweilig und welche Geschichten sie gut fanden. Ich wollte herausfinden, welche Themen funktionierten. Anschließend versuchte ich einen Spagat, mit dem ich allen 20 Stammlesern gerecht wurde. Das klappte mehr oder weniger gut.
Auch wenn die JHZ irgendwann eingestellt wurde – ich lernte doch einiges in dieser Zeit. Wenn man früh mit so etwas anfängt, ist es später einfacher, in dem Bereich aktiv zu werden. Weil man bereits gesehen hat, dass die Dinge gar nicht so schwer umzusetzen sind, wenn man einfach einmal beginnt. Zum Beispiel die Verhandlung mit dem Copyshop. Ich habe es einfach versucht. Das Schlimmste, was hätte passieren können, wäre ein »Nein« gewesen. Und auch dann wäre die Welt nicht untergegangen.
*
Während der Schulzeit trennten sich meine Eltern. Mein Vater blieb in Münster. Meine Mutter zog mit mir und meinen Geschwistern nach Bochum. Da kam sie ursprünglich her. Ich mochte den Ruhrpott. Ich kam gut mit der Mentalität der Menschen zurecht. Nach der Grundschule wechselte ich auf das Gymnasium. Dort fühlte ich mich allerdings extrem unwohl. Ich wollte dort nicht sein und verweigerte mich komplett. Ich flog nach dem ersten Halbjahr mit einem Schnitt von 5,0 von der Schule und wechselte auf eine Gesamtschule. Dort fühlte ich mich wohl, und mein Schnitt stieg wieder auf 1,3. Das war okay. An dieser Schule machte ich dann auch viele Jahre später mein Abitur.
Ich kam gut an meiner neuen Schule zurecht und fing an, mich zu engagieren. Statt ein Projekt wie die JHZ fortzuführen, schloss ich mich der Schülerzeitung dort an und wurde einfacher Redakteur. Außerdem wurde ich zum Klassen- und später zum Schülersprecher gewählt. Ich habe das ziemlich gerne gemacht. Ich habe gemerkt, was für eine Angst die anderen Schüler oftmals hatten, zu den Lehrern zu gehen und ihnen zu sagen, was sie schlecht fanden. Oder dass sie den Stoff nicht verstanden. Für mich war das kein Problem. Also kamen die Mitschüler zu mir und baten mich, dass ich dem Lehrer ausrichte, dass niemand bei ihm mitkommt. Daraufhin ging ich zu der besagten Person und erklärte die Lage.
»Hallo«, sagte ich. »Ich bin Enno, und ich kenne Ihren Unterricht nicht, aber einige Schüler haben sich bei mir gemeldet und gesagt, dass sie nicht mitkommen.«
»Warum sagen die Schüler mir das nicht direkt?«, beschwerte sich der Lehrer dann.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Schon okay, ich werde es noch einmal erklären«, seufzte er, erklärte in der nächsten Stunde alles wieder von vorne – und damit war das Problem gelöst. Ich wurde als der große Held gefeiert, dabei habe ich nur das gemacht, was ich auch gemacht hätte, wenn es um meine eigenen Lehrer gegangen wäre: nachfragen.
Ich fing nun an, mich immer stärker für Politik zu interessieren. Politik hatte mich ja schon mein ganzes Leben begleitet, und alles, was wir erlebten, war irgendwie politisch. Meinen Eltern war es auch wichtig, dass sie uns beibrachten, Interesse für die Dinge zu zeigen, die uns umgaben. Wenn Wahlen anstanden, dann erklärten sie uns, was gewählt wurde und wofür die einzelnen Parteien standen. Ich hatte noch immer das Bedürfnis, die großen Zusammenhänge auf dieser Welt zu verstehen, und da kam ich an der großen Politik natürlich nicht vorbei. Aber mich interessierten neben den großen Linien auch die kleinen Details. Ich liebte Fakten.
In der Süddeutschen Zeitung gab es mal eine Rubrik »Wissen für Besserwisser«. Damit kann man jeden noch so gebildeten Menschen in Deutschland beeindrucken. Es gibt nämlich kaum einen Deutschen, der mehr als zwei bekannte Politiker aus der Schweiz nennen könnte. Oder die amtierenden Präsidenten von Polen, Belgien oder den Niederlanden. Ich liebte es, mir diese Fakten zu merken. Auch wenn mir solche Details rein gar nichts brachten. Doch genau darauf kam es mir an. Auf die Details. Ich hatte das Gefühl, nur so könnte ich auch das große Ganze verstehen. Zum Glück hatte ich Eltern, die meinen Wissensdurst förderten. Die mich angehalten haben, weiter zu fragen, und mir zu verstehen gegeben haben, dass nur derjenige die besten Antworten bekommt, der lernt, die richtigen Fragen zu stellen. Meine Eltern pflegten selbst gute Kontakte zu Politikern. Besonders ein Mann ging bei uns ein und aus: Siggi Martsch. Ein Urgestein der Grünen. Er fand es wohl schon damals faszinierend, wie wissbegierig ich war. Wir ahnten zu diesem Zeitpunkt beide noch nicht, wie schicksalhaft eine spätere Begegnung mit Siggi für mich sein würde.
Wie ich zu einem
Hacker wurde
1996 bekamen wir Internet. Ich war 14 Jahre alt, und von heute auf morgen eröffneten sich mir komplett neue Welten. Ich war fasziniert von den Möglichkeiten, die dieses neue Medium bot. Man konnte mit wildfremden Menschen kommunizieren. Man bekam Zugriff auf nahezu unendlich viele Informationsquellen. Und man brauchte dafür keine großen Bibliotheken mehr. Es reichte ein einfacher grauer Kasten in meinem Kinderzimmer. Das Internet war mein Paradies. Irgendwann las ich in der Zeitung etwas von sogenannten Hackern. Das waren Menschen, die angeblich in andere Computersysteme eindrangen, um diese zu manipulieren. Ich begriff nicht im Ansatz, wie so etwas gehen sollte. Ich versuchte zu recherchieren, fragte meine Freunde, Bekannte und Bekannte von Bekannten, einfach jeden, der sich auch nur im weitesten Sinne mit Computern auskannte. Vergeblich. Niemand wusste etwas. Nur eine Person gab mir einen Tipp: »Enno, geh doch mal zum Chaos Computer Club.«
»Was ist der Chaos Computer Club?«
»Das ist so ein Verein. Die befassen sich mit genau diesen Themen. Die machen jedes Jahr einen Kongress.«
»Okay«, sagte ich. Und stellte einen Kontakt zu den Jungs vom CCC her. Die luden mich ein, einfach mal auf einem Kongress vorbeizukommen. Also fuhr ich Ende 1998 zum ersten Mal zu einem CCC-Kongress nach Berlin. Es war das bereits 15. Treffen dieser Art, und es stand unter dem Motto »All Rights Reversed«. Drei Tage lang sollte nur über IT-Themen debattiert werden. Das konnte ich mir gar nicht vorstellen. Ich fuhr also zum Haus am Köllnischen Park, wo die Veranstaltung stattfand. Es waren gut 1 500 Menschen vor Ort. Alte Menschen. Junge Menschen. Menschen mit verrückten Frisuren. Menschen mit normalen Frisuren. Und alle waren total nett. Ich ging zu dem Typen am Empfang und sagte ihm, dass mein Name Enno sei, ich 16 Jahre alt sei, keine Ahnung von dem ganzen IT-Zeug hätte, mir das aber wahnsinnig gerne alles einmal anschauen würde.
»Hallo, herzlich willkommen«, sagte er. »Sag mir einfach, wenn ich was für dich tun kann.«
Ich lief ein wenig in der großen Halle herum und schaute, was die anderen so machten. Die hatten überall ihre Computer aufgebaut und machten irgendetwas. Ich stellte mich einfach daneben und schaute zu.
»Hi.«
»Hi.«
»Kann ich dir helfen?«
»Vielleicht. Ich habe keine Ahnung, was du da treibst.«
»Na, dann erklär ich es dir.«
So ging das die ganzen drei Tage. Die Leute hatten großen Spaß daran, ihr Wissen zu teilen und anderen Leuten zu erklären, was sie taten. Da war niemand egoistisch. Da war niemand, der sich etwas darauf einbildete, einen Wissensvorsprung zu haben. Im Gegenteil. Wer sein Wissen weitergab, wurde in der Community respektiert. Mir gefiel das wahnsinnig gut.
Wenn mir jemand etwas zum tausendsten Mal erklärte und ich es immer noch nicht verstand, druckte er mir einen Text aus. »Pass auf«, sagte er dann. »Ich werde bescheuert mit dir. Aber lies mal diesen Text, und wenn du damit nicht klarkommst, kommst du wieder. Und wenn du es verstanden hast, kommst du auch wieder.«
Die CCC-Mitglieder waren alle ehrenamtlich engagiert. Niemand machte das für Geld. Ich fand das großartig und freundete mich in den drei Tagen mit zahlreichen Leuten an. Wir blieben über Chatprogramme in Kontakt. Und im nächsten Jahr fuhr ich wieder zu dem Kongress. Je länger man dabei war, desto lustiger wurde es. Es hatte fast schon Klassenfahrtcharakter. Ich bot an, bei der Organisation mitzuhelfen. Und so stand ich im nächsten Jahr an der Einlasskontrolle. Heute könnte man sich das gar nicht mehr so richtig vorstellen, dass bei so einem Event zwei Drittel der Servicekräfte 15 oder 16 sind. Aber Ende der 1990er waren die Zeiten noch ein wenig anders. Und der CCC war sowieso eine kleine Parallelwelt.
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