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1. Auflage 2018
© 2018 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Die englische Originalausgabe erschien 2017 bei Little, Brown and Company unter dem Titel Mind over Meds. MIND OVER MEDS Copyright 2017 © by Andrew Weil, M.D. All rights reserved.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Martin Rometsch
Redaktion: Frank Wittig, Silke Panten
Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer
Umschlagabbildung: Shutterstock: Antonina Tsyganko; MeSamong
ePub by Konvertus
ISBN Print 978-3-7423-0442-1
ISBN E-Book (PDF) 978-3-95971-970-4
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95971-971-1
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.rivaverlag.de
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Sämtliche Angaben für Deutschland (einschließlich der Handelsnamen der Medikamente) stammen nicht vom Autor und wurden in der Übersetzung nachträglich angepasst.
Für meine Kollegen in der integrativen Medizin
Liste der Mitwirkenden
Zu viele Medikamente: das Problem – und die Lösung
1Antibiotika
Das Problem mit Antibiotika
Methoden der integrativen Medizin zur Vorbeugung und Behandlung von Infektionen
Fazit
2Statine
Wer profitiert am meisten?
Die Probleme mit Statinen
Tipps für den Umgang mit Nebenwirkungen der Statine
Methoden der integrativen Medizin für die Senkung eines hohen Cholesterinspiegels
Fazit
3Medikamente bei GERD
Wie H2-Blocker wirken
Wie PPI wirken
Das Problem mit H2-Blockern und PPI
Methoden der integrativen Medizin für die Behandlung von GERD
Fazit
4Antihistamine
Allergische Reaktionen
Wie Antihistamine wirken
Übliche Anwendungen für Antihistamine
Die Probleme mit Antihistaminen
Methoden der integrativen Medizin für die Behandlung von allergischen Erkrankungen
Fazit
5Medikamente bei Schnupfen und Grippe
Die Grippeimpfung
Die Probleme mit Medikamenten gegen Erkältungen und Grippe
Rezeptfreie Mittel gegen Erkältung und Grippe
Methoden der integrativen Medizin für die Behandlung von Erkältungen und Grippe
Fazit
6Schlafmittel
Schlafstörungen
Rezeptpflichtige Einschlafhilfen: Wie sie wirken und welche Nebenwirkungen sie haben
Die Wirksamkeit von rezeptpflichtigen Schlafmitteln
Rezeptfreie Schlafmittel
Die Probleme mit Schlafmitteln
Methoden der integrativen Medizin für die Behandlung von Schlafstörungen
Fazit
7Steroide
Die Geschichte der Steroide
Steroide als Medikamente
Wie Steroide wirken: ein zweischneidiges Schwert
Anwendungen der Steroide
Die Probleme mit Steroiden
Methoden der integrativen Medizin für die Behandlung von entzündlichen Erkrankungen
Fazit
8Nichtsteroidale Entzündungshemmer (NSAID)
Wie nichtsteroidale Entzündungshemmer wirken
Übliche Anwendungen für NSAID
Die Probleme mit NSAID
Methoden der integrativen Medizin für die Behandlung von akuten Verletzungen, chronischer Entzündung und Schmerzen
Fazit
9Psychiatrische Medikamente für Erwachsene
Das biomedizinische Modell in der psychiatrischen Medizin
Antidepressiva
Atypische Antipsychotika
Medikamente gegen Angststörungen
Die optimale Anwendung von psychotropen Medikamenten
Methoden der integrativen Medizin für die Behandlung von affektiven Störungen
Fazit
10Psychiatrische Medikamente für Kinder und Jugendliche
Antidepressiva
Antipsychotika
Angstlösende Medikamente: Benzodiazepine
Die Grenzen der psychiatrischen Medikamente bei Kindern und Jugendlichen
Methoden der integrativen Medizin für die Behandlung von affektiven Störungen bei Kindern und Jugendlichen
Fazit
11Medikamente bei Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
Die Kontroverse
Medikamente gegen ADHS
Die Probleme mit Psychotonika
Methoden der integrativen Medizin für die Behandlung von ADHS
Fazit
12Opioide und die Behandlung chronischer Schmerzen
Die Natur chronischer Schmerzen
NSAID und Acetaminophen
Opioide
Die Probleme mit Opioiden
Methoden der integrativen Medizin für die Behandlung von chronischen Schmerzen
Fazit
13Blutdrucksenkende Medikamente
Wie man hohem Blutdruck vorbeugt – eine medizinische Revolution
Schnellreparaturen – der Aufstieg der blutdrucksenkenden Medikamente
Wie Blutdruckmedikamente wirken – und die Probleme mit ihnen
Medikamente, die das Renin-Angiotensin-System beeinflussen
Methoden der integrativen Medizin für die Senkung eines Bluthochdrucks
Fazit
14Medikamente bei Diabetes
Was ist Diabetes?
Diabetes-Medikamente – und die Probleme mit ihnen
Methoden der integrativen Medizin für die Behandlung von Diabetes
Fazit
15Medikamente bei Osteopenie und anderen Knochenerkrankungen
Häufige Krankheitsvorstufen, die mit Medikamenten behandelt werden
Die Behandlung der Osteopenie mit Bisphosphonaten
Andere Medikamente bei Osteopenie
Methoden der integrativen Medizin für die Behandlung von Osteopenie
Methoden der integrativen Medizin für die Behandlung von anderen Krankheitsvorstufen
Fazit
16Übermedikation bei Kindern
Übermedikation mit Erkältungsmitteln
Methoden der integrativen Medizin für die Behandlung von Krankheiten der oberen Atemwege bei Kindern
Übermedikation bei fettleibigen Kindern
Methoden der integrativen Medizin für die Behandlung von Fettleibigkeit bei Kindern
Fazit
17Übermedikation bei älteren Menschen
Verschreiben von zu vielen Medikamenten
Methoden der integrativen Medizin
Fazit
18Blindes Vertrauen in Medikamente – die Meinung einer Apothekerin
Schlusswort
Über den Autor
Danksagungen
Nützliche Anschriften
Anmerkungen
Register
Die in diesem Buch ausgedrückten Meinungen sind ausschließlich meine. Die unten genannten Kolleginnen und Kollegen stellten Informationen und Forschungsdaten zur Verfügung, die ich genutzt habe, um über die in diesem Buch diskutierten verschiedenen Gruppen von Medikamenten zu schreiben.
DR. MED. MAYA SHETREAT-KLEIN ist Neurologin für Erwachsene und Kinder, Expertin für Heilkräuter, Naturforscherin und Stadtbäuerin in New York. Sie ist Gründerin und Leiterin des Terrain-Instituts, eines Ausbildungsprogramms für Terrain-Medizin, das die Beziehungen zwischen Körper und Umwelt erforscht. Sie ist die Autorin von The Dirt Cure: Growing Healthy Kids with Food Straight from Soil (dirtcure.com).
DR. MED. STEPHEN DEVRIES ist Mitglied der Amerikanischen Gesellschaft für Kardiologie, Präventivkardiologe und Direktor des Gaples-Instituts für integrative Kardiologie außerhalb von Chicago, einer gemeinnützigen Bildungsorganisation, die über die Bedeutung der Ernährungs- und Lebensweise für die Gesundheit aufklärt. Er ist Koautor von What Your Doctor May Not Tell You About Cholesterol und Mitherausgeber von Integrative Cardiology.
DR. MED. GERARD MULLIN (thefoodmd.com) ist außerordentlicher Professor für Medizin im Johns Hopkins Hospital. Er hat mehr als 20 Jahre klinische Erfahrung in integrativer Gastroenterologie. Sein neustes Buch ist The Gut Balance Revolution: Boost Your Metabolism, Restore Your Inner Ecology, and Lose the Weight for Good!.
DR. MED. ALYSSA PARIAN ist Assistenzprofessorin für Medizin im Johns Hopkins Hospital. Sie ist Fachärztin für Innere Medizin und Gastroenterologie und auf die Behandlung entzündlicher Darmerkrankungen spezialisiert.
DR. MED. DR. PHIL. RANDY HORWITZ ist Internist, Allergologe und Immunologe sowie außerordentlicher Professor für Medizin an der University of Arizona. Zudem ist er medizinischer Leiter des Zentrums für integrative Medizin der University of Arizona, Mitherausgeber von Integrative Rheumatology und Autor des demnächst erscheinenden Buches Integrative Allergy and Asthma.
DR. MED. RUSSELL H. GREENFIELD ist klinischer Professor für Medizin im Fachbereich Medizin der University of North Carolina in Chapel Hill. Er unterhält eine Praxis für integrative Medizin in Charlotte und arbeitet mit Organisationen zusammen, die sich für integrative Wellness einsetzen.
DR. PHIL. RUBIN NAIMAN (DrNaiman.com) ist Psychologe, Schlaf- und Traumspezialist und klinischer Assistenzprofessor für Medizin am Zentrum für integrative Medizin der University of Arizona. Außerdem ist er Direktor der Circadian Health Associates, einer Organisation, die Ausbildung und Beratung über Schlafstörungen anbietet. Dr. Naiman ist Autor mehrerer Bücher, darunter Healing Night.
DR. MED. NISHA MANEK ist Fachärztin für Rheumatologie und integrative Medizin. Sie praktiziert integrative Rheumatologie im Honor-Health Scottsdale Shea Medical Center und im Kingman Regional Medical Center, beide in Arizona.
DR. MED. LEILA ALI-AKBARIAN hat einen Mastertitel in öffentlicher Gesundheit und ist Allgemeinärztin und medizinische Leiterin der Cancer Center Supportive Care Clinic der University of Arizona, wo sie Patienten in einem multidisziplinären, integrativen und unterstützenden Umfeld behandelt.
DR. MED. PATRICIA LEBENSOHN ist Allgemeinärztin und Leiterin des Programms Integrative Medicine in Residency (IMR) im Zentrum für Integrative Medizin der University of Arizona. IMR wurde von mehr als 60 Ausbildungsprogrammen für angehende Fachärzte in den USA, Taiwan und Deutschland übernommen.
DR. MED. MARI RICKER ist Allgemeinärztin und stellvertretende Leiterin des Programms Integrative Medicine in Residency im Zentrum für Integrative Medizin der University of Arizona.
DR. MED. JINGDUAN YANG (jdyangmd.com) ist Psychiater, Mitglied der Amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft, klinischer Assistenzprofessor für Psychiatrie und Leiter des Programms Akupunktur und orientalische Medizin im Krankenhaus der Thomas Jefferson University in Philadelphia. Außerdem lehrt er im Fachbereich Pädagogik des Zentrums für Integrative Medizin der University of Arizona. Dr. Yang ist der Gründer des Tao-Instituts für moderne Wellness (taoinstitute.com) und Autor des populären Buches Facing East: Ancient Health and Beauty Secrets for the Modern Age.
DR. MED. SANFORD NEWMARK ist Pädiater und Leiter des klinischen Programms am Osher-Zentrum für integrative Medizin an der kalifornischen Universität in San Francisco, wo er auch als klinischer Professor für Pädiatrie lehrt. Er ist Autor des populären Buches ADHD Without Drugs: A Guide to the Natural Care of Children with ADHD.
DR. MED. ROBERT BONAKDAR ist Leiter der Abteilung Schmerztherapie im Scripps-Zentrum für integrative Medizin in La Jolla, Kalifornien, und klinischer Assistenzprofessor im Fachbereich Medizin der kalifornischen Universität in San Diego. Er ist Mitherausgeber von Integrative Pain Management.
DR. PHIL. DR. MED. J. ADAM RINDFLEISCH ist Allgemeinmediziner und außerordentlicher Professor im Fachbereich Allgemeinmedizin und öffentliche Gesundheit der University of Wisconsin. Er führt eine Praxis für integrative Primärversorgung und leitet das Ausbildungsprogramm für akademische integrative Medizin der University of Wisconsin.
DR. MED. DENISE MILLSTINE ist außerordentliche Professorin für Medizin und Leiterin des Programms für integrative Medizin der Mayo-Klinik in Phoenix. Außerdem lehrt sie im Zentrum für integrative Medizin der University of Arizona.
DR. MED. ELIZABETH S. SMOOTS (DrSmoots.com) praktiziert Allgemeinmedizin in Seattle. Sie ist medizinische Direktorin des Programms praktische Prävention, das Gesundheitseinrichtungen hilft, ihre Kunden über Gesundheit, Fitness und Wellness aufzuklären. Dr. Smoots ist Autorin des populären Buches Allergy Guide: Alternative and Conventional Solutions.
DR. MED. HILARY MCCLAFFERTY ist Fachärztin für Pädiatrie, pädiatrische Notfallmedizin und integrative Medizin sowie Mitglied der Gesellschaft amerikanischer Pädiater. Außerdem ist sie außerordentliche Professorin im Fachbereich Medizin der University of Arizona und Leiterin der Abteilung pädiatrische integrative Medizin im Ausbildungsprogramm für Fachärzte des Zentrums für integrative Medizin der University of Arizona, wo sie zudem die Gesellschaft für integrative Medizin leitet. Demnächst erscheint ihr Buch Integrative Pediatrics: Art, Science, and Clinical Application.
DR. MED. JULIA JERNBERG absolvierte eine dreijährige Ausbildung als Fachärztin für Geriatrie an der University of Wisconsin. Sie lehrt im Fachbereich Geriatrie der University of Arizona und ist medizinische Leiterin der geriatrischen medizinischen Klinik Iora Health in Tucson.
KIM DERHODES ist Bachelor of Science und Apothekerin in Charlotte, North Carolina. Sie hat mehr als 35 Jahre Erfahrung als Apothekerin und Krankenhausapothekerin und besitzt ein Zertifikat im medikamentösen Therapiemanagement. Außerdem ist sie in der Anwendung von Vitaminen, Kräutern und Nahrungsergänzungsmitteln geschult. Sie überprüft die Medikamente von Patienten und erklärt ihnen, wie sie Ergänzungsmittel optimal nutzen können.
HANG M. (EMILEY) PHAM ist Doktor der Pharmazie und wurde im Zentrum für integrative Medizin der University of Arizona zur Fachärztin ausgebildet. Derzeit arbeitet sie als Apothekerin in El Cajon, Kalifornien.
Wir haben ein Problem. Mehr Menschen nehmen mehr Medikamente ein als je zuvor, und das ist besorgniserregend. Der Gebrauch verschreibungspflichtiger Medikamente stieg seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts steil an: Heute nehmen die Amerikaner zehn Mal so viel ein wie in den 1950er-Jahren. Etwa die Hälfte von ihnen nimmt mindestens ein Medikament ein1 – das ist ein Anstieg um über 20 Prozent allein seit 1994. In Deutschland hat sich in den zehn Jahren zwischen 2005 und 2015 der Arzneimittelumsatz von 25,3 auf 34,8 Milliarden Euro erhöht.* Der Gebrauch frei verkäuflicher Medikamente ist ebenso drastisch explodiert2. Und mehr Deutsche denn je nehmen Nahrungsergänzungsmittel, Kräuterarzneien und andere Produkte**, die wegen ihrer gesundheitlichen Wirkungen angepriesen werden, obwohl ihre Unbedenklichkeit und Wirksamkeit oft nicht wissenschaftlich bewiesen ist.
Wie viele Medikamente nehmen Sie? Und Ihre Eltern? Ihre Kinder? Ihre Freunde? Wissen Sie, wofür sie sind? Wie sie wirken? Welchen Nutzen und welche Risiken sie haben? Welche Wechselwirkungen sie mit anderen Medikamenten und Substanzen haben, die Sie vielleicht einnehmen? Ob es Alternativen zu Medikamenten gibt, um die Beschwerden in den Griff zu bekommen, die Sie oder Ihre Angehörigen haben?
Zu oft lösen Medikamente die Probleme nicht, die sie beseitigen sollen, oder sie lindern nur Symptome, ohne die eigentliche Ursache anzupacken. Zu oft gelten sie als schnelle, einfache Heilmittel für Krankheiten, die sich besser behandeln ließen, wenn wir uns anders ernähren und mehr bewegen, Schlafstörungen beheben und Stress samt seinen schädlichen Auswirkungen abbauen würden. Die am häufigsten verwendeten Medikamente erfüllen bestenfalls nicht einmal annähernd die Versprechungen der Hersteller, die zudem ihre Risiken herunterspielen. Schlimmstenfalls ist der Schaden vieler Medikamente größer als ihr Nutzen.
»Die Ärzte tun doch nichts anderes, außer uns Tabletten zu geben« lautet eine Klage, die ich von vielen Patienten höre. Und immer mehr Ärzte sagen mir, dass sie sich dabei unwohl fühlen. Eine Ärztin gestand mir kürzlich, sie sei »es leid, Pillenschieberin zu sein.« Ein Psychiater sagte, er sei bestürzt darüber, dass die meisten psychiatrischen Patienten nur vier Mal im Jahr einen Arzt aufsuchen – um innerhalb von fünfzehn Minuten ein neues Rezept zu bekommen.
Als Direktor des Zentrums für integrative Medizin der University of Arizona habe ich Hunderte von Ärzten, gleichgesinnte Angehörige anderer Gesundheitsberufe, Assistenzärzte und Studenten über den Nutzen und die Risiken von Medikamenten unterrichtet. Eine Frage, die ich immer stelle, lautet: »Wie konnte es dazu kommen, dass wir glauben, Medikamente seien die einzige oder die wirksamste Methode, Krankheiten zu behandeln?« Die Worte Medizin und Medikament sind von derselben indoiranischen Wurzel abgleitet, die in etwa »wohlüberlegtes Handeln, um Ordnung herzustellen« bedeutet. Aus der gleichen Wurzel stammen auch die Worte Maßnahme und meditieren. Ist es nicht seltsam, dass »wohlüberlegtes Handeln« zum Synonym für das Verabreichen und Einnehmen chemischer Substanzen geworden ist?
Medikamente sind mächtig. Manche sind unglaublich wirksam – zum Beispiel Opium und seine Derivate gegen Schmerzen und Antibiotika gegen bakterielle Infektionen, die fast während der gesamten Menschheitsgeschichte oft tödlich verliefen. Die Entdeckung des Insulins rettete viele Menschen mit Typ-1-Diabetes vor einem frühen Tod. Chemotherapeutika heilen einige Arten der Leukämie und des Lymphoms, die einst immer tödlich waren. Antivirale Medikamente haben die HIV-Infektion, die früher ein Todesurteil war, zu einer behandelbaren chronischen Krankheit gemacht. Kein verantwortungsbewusster Arzt würde heute Medikamente zur Behandlung von Krankheiten und zur Gesunderhaltung ablehnen.
Aber sie sind nur eine Methode. Viele andere Maßnahmen stützen sich nicht auf Medikamente, werden jedoch leider in der schulmedizinischen Ausbildung nicht behandelt. Das ist einer der Gründe dafür, dass die meisten Ärzte sich auf Medikamente verlassen. Ein Beispiel ist die Ernährungsumstellung. Wenn ich für einen Patienten einen Behandlungsplan schreibe, betreffen meine ersten Empfehlungen immer die Ernährung: Was soll er essen oder nicht essen, wovon soll er mehr essen, wie kann er seine Ernährungsgewohnheiten ändern, um gesünder zu werden? Als Erstbehandlung ist die Umstellung der Ernährung erstaunlich wirksam. Eine entzündungshemmende Kost kann Arthritis, Allergien und andere Krankheiten so sehr bessern, dass man Medikamente verringern und bisweilen absetzen kann. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass die Mittelmeerkost die Gesundheit und die Langlebigkeit fördert und das Krankheitsrisiko senkt3. Die DASH-Diät ist eine wirksame Methode, Bluthochdruck zu senken4. DASH ist ein Kurzwort für dietary approaches to stop high blood pressure, also den Ansatz, mithilfe der Ernährung Bluthochdruck entgegenzuwirken. Der Verzicht auf Kuhmilchprodukte führt häufig zu einer deutlichen Besserung von hartnäckigen Ohrenentzündungen bei Kindern und chronischer Sinusitis bei Erwachsenen. Der regelmäßige Verzehr von ganzen Sojaprodukten in jungen Jahren schützt in hohem Maße vor hormonell bedingten Tumoren – Brustkrebs bei Frauen und Prostatakrebs bei Männern. Da Ärzte jedoch nicht in Ernährungsmedizin ausgebildet werden, können die meisten von ihnen keinen einschlägigen Rat geben. Sie verlassen sich stattdessen auf Medikamente.
Pflanzliche Arzneien waren während unserer gesamten Geschichte in vielen Kulturen die Hauptsäulen der Volksheilkunde. Viele moderne Medikamente werden aus Pflanzen hergestellt oder sind Varianten von Molekülen, die man ursprünglich in Pflanzen entdeckte. Kräuterarzneien können sowohl sicher als auch wirksam sein. Ein gefriergetrocknetes Präparat aus Brennnesselblättern (Urtica dioica) lindert zum Beispiel Heuschnupfensymptome (tränende Augen, Niesen, laufende Nase) ebenso gut wie Antihistamine, und zwar ohne deren Nebenwirkungen. Baldrianextrakte (Valeriana officinalis) helfen vielen Menschen beim Einschlafen. Extrakte aus den Samen der Mariendistel (Silybum marianum) schützen die Leber vor Vergiftung durch Alkohol, flüchtige Lösungsmittel und Medikamente, von denen man weiß, dass sie diesem Organ schaden. Da Ärzte jedoch nicht in Pflanzenheilkunde ausgebildet sind, wissen die meisten von ihnen nicht, wie man pflanzliche Arzneien anwendet. Sie verlassen sich stattdessen auf Medikamente.
Mind-Body-Medizin ist ein allgemeiner Begriff für Therapien, die sich den Zusammenhang zwischen Körper und Geist zunutze machen. Dazu gehören Hypnose, geführte Imagination, Visualisieren, Biofeedback, Meditation und andere Techniken, die Kosten und Zeit sparen. Ich überweise Patienten häufig an Experten für Mind-Body-Medizin und beobachte immer wieder eine erstaunliche Besserung und manchmal das völlige Verschwinden von so unterschiedlichen Erkrankungen wie atopischer Dermatitis (Ekzem), Reizdarm und Autoimmunität. Doch weil das alles nicht zur schulmedizinischen Ausbildung gehört, wissen die meisten Ärzte nicht, wann und wie sie solche Überweisungen vornehmen sollten. Sie verlassen sich stattdessen auf Medikamente.
Atemarbeit – das Erlernen neuer Atemgewohnheiten und spezifischer Atemtechniken – hat erstaunliche physiologische Wirkungen. Sie kann nicht schaden, erfordert keine Ausrüstung und kostet nichts. Sie kann unter anderem manche Herzrhythmusstörungen und Magen-Darm-Probleme beseitigen und ist bei Angstzuständen die wirksamste Behandlung, die ich kenne, und die einfachste Methode, um Stress zu lindern. Doch weil Informationen über die Atemarbeit in der schulmedizinischen Ausbildung vollständig fehlen, können nur sehr wenige Ärzte Patienten darin schulen. Sie verlassen sich stattdessen auf Medikamente.
Die Beweise, welch gesundheitlichen Nutzen körperliche Bewegung hat, sind überwältigend. Bewegung kann Depressionen vorbeugen und lindern, zur Normalisierung eines hohen Blutdrucks beitragen und zusammen mit einer Ernährungsumstellung viele Fälle von Diabetes Typ 2 vollständig heilen. Ärzte erfahren zwar einiges darüber, aber sie lernen nicht, wie sie Patienten dazu bringen können, sich mehr zu bewegen. Sie verlassen sich stattdessen auf Medikamente.
Manuelle Heilverfahren, zum Beispiel Chiropraktik, Osteopathie und verschiedene Arten der Massage sind eine ungefährliche und wirksame Therapie, nicht nur bei Erkrankungen des Bewegungsapparates, sondern auch bei anderen Störungen. Die craniale Osteopathie kann hartnäckige Ohrenentzündungen bei Kindern heilen, und zwar ohne die schädlichen Nebenwirkungen häufiger Antibiotikabehandlungen. Die viszerale Manipulation, die manche Osteopathen ebenfalls anwenden, kann Fehlfunktionen der Unterleibsorgane beheben. Weil die meisten Ärzte jedoch mit manueller Medizin nicht vertraut sind, wissen sie nicht, wann und wie sie Patienten damit behandeln lassen können. Sie verlassen sich stattdessen auf Medikamente.
Traditionelle Heilweisen wie die chinesische Medizin und Ayurveda umfassen verschiedene Therapien, darunter Ernährungsumstellung, Kräuterarzneien, Massage und spezielle Techniken wie Akupunktur in der chinesischen Medizin und Entgiftungskuren im Ayurveda. Sie wirken bei einigen chronischen Krankheiten wie Asthma, Allergien und Reizdarm. Die Akupunktur kann akute Sinusitis, Rückenschmerzen und Depressionen erheblich lindern. Da Ärzte während ihrer Ausbildung jedoch nichts über diese Heilverfahren lernen, wissen die meisten von ihnen nicht, wann sie Patienten damit behandeln sollten oder wie sie einen geschulten Therapeuten finden. Sie verlassen sich stattdessen auf Medikamente.
Die Hersteller der Medikamente, die Pharmakonzerne, haben enormen Einfluss auf die Ärzte. Sie bezahlen Studien, auf die sich dann die Praxis beruft. In den Studien werden Medikamente mit Placebos verglichen, um ihre Wirksamkeit zu belegen – aber fast nie fließen Änderungen der Lebensweise in die Studien ein, obwohl sie vielleicht ebenso wirksam oder noch wirksamer sind. Die Informationen, auf die Ärzte sich stützen, wenn sie etwas verschreiben, stammen häufiger von der Industrie als von objektiven Quellen. Und trotz aller Versuche, den Einfluss der Pharmareferenten zu beschneiden, sind diese in Arztpraxen immer noch sehr häufig anzutreffen. Dort tun sie ihr Bestes, um Ärzte von ihren Produkten zu überzeugen. Werbung für Medikamente ist die Haupteinnahmequelle der medizinischen Zeitschriften; sie gefährdet daher die Objektivität dieser Zeitschriften, wenn es darum geht, Artikel anzunehmen oder abzulehnen, die über Studien mit Medikamenten berichten, und darüber zu entscheiden, welche von ihnen gut sichtbar präsentiert werden.
Obendrein wollen die meisten deutschen Patienten unbedingt Medikamente schlucken. Sie glauben ebenso sehr an die Wirkung der Arzneien wie ihre Ärzte. Wenn ein durchschnittlicher Arzt eine Krankheit ohne Medikamente behandeln müsste, wüsste er wahrscheinlich nicht, was er tun soll. Und wenn ein durchschnittlicher Patient wüsste, dass er am Ende eines Arztbesuchs kein Rezept bekäme, würde er sich wahrscheinlich betrogen fühlen und zu einem anderen Arzt gehen, um sein Rezept zu bekommen.
Man bedenke auch, dass Therapien ohne Medikamente eine aktive Teilnahme der Patienten erfordern und der Erfolg mitunter länger auf sich warten lässt. Veränderungen der Lebensweise sind besonders anstrengend. Die Menschen stellen ihre Ernährung nur um und treiben nur Sport, wenn man sie dazu motiviert. Viele Patienten scheuen die Mühe und schlucken lieber eine Tablette, deren Kosten eine Krankenkasse ganz oder teilweise übernimmt. Die Kosten für Nahrungsergänzungsmittel, Kräuterarzneien oder die erwähnten nichtmedikamentösen Therapien werden oft nicht ersetzt.
Es ist kein Wunder, dass wir nach und nach zu der Überzeugung gelangt sind, Medikamente seien die einzige oder wirksamste Methode, Krankheiten zu behandeln.
Warum ist das ein Grund zur Sorge? Aus zwei Gründen: Weil einerseits die Unbedenklichkeit unserer Medikamente fraglich ist und andererseits die Wirksamkeit nicht geklärt ist.
Zwischen einem Medikament und einem Gift besteht kein Unterschied, außer in der Dosis – Pharmakologie ist vom griechischen Wort für Gift abgeleitet. Alle Medikamente werden giftig, wenn man die Dosis erhöht, und manche Gifte sind in sehr geringen Mengen tatsächlich nützliche Arzneien. Heilpflanzen sind meist viel weniger gefährlich als ihre gereinigten Derivate, weil ihre aktiven Bestandteile in niedriger Konzentration vorhanden sind – selten mehr als 5 oder 10 Prozent des Trockengewichts der Pflanze, oft weniger. Kräuterarzneien sind verdünnte natürliche Medikamente. Sicherlich kann man aus ihnen flüssige oder feste Extrakte bereiten; doch diese Produkte haben immer noch einen geringen Wirkstoffgehalt, verglichen mit isolierten, gereinigten Präparaten. Und man kann diese Präparate so verändern, dass sie noch stärker werden – eine beliebte Strategie pharmazeutischer Chemiker. Die am häufigsten verwendeten Medikamente sind extrem stark. Das mag bei kritischen und schweren Krankheiten notwendig sein; aber wir verwenden sie heute bei allen Beschwerden, selbst bei leichten. Leider erhöht eine stärkere Konzentration unweigerlich die Giftigkeit; beide sind untrennbar miteinander verbunden.
Die Ärzte glauben inzwischen, dass die besten Medikamente jene sind, die eine schnelle und starke Wirkung haben. Die Folge des Vertrauens auf starke Medikamente sind sehr häufig unerwünschte Wirkungen, die von vorübergehendem Unbehagen bis zu dauerhaften Schäden und zum Tod reichen.
Mein Interesse an der Behandlung häufiger Krankheiten ohne Medikamente wuchs, als ich immer öfter Vergiftungen durch Medikamente beobachtete. Einen frühen Fall werde ich nie vergessen: Ein Patient starb, als ich 1969 mein praktisches Jahr im Mount Zion Hospital in San Francisco absolvierte. Während ich turnusgemäß einen Monat in der Neurologie arbeitete, nahm ich mit zwei Oberärzten und zwei Assistenzärzten an den Morgenvisiten teil. Eines Tages trafen wir einen neu aufgenommenen Patienten Ende 80 an, der einen massiven Schlaganfall erlitten hatte. Er lag im Koma, war nicht ansprechbar und hatte kaum Chancen auf Genesung. Das akute Problem waren seine häufigen Krämpfe, die bald gar nicht mehr aufhörten. Der Oberarzt wollte sie mit einer intravenösen Dosis des altbewährten krampflösenden Mittels Phenytoin beseitigen, aber ich meldete mich und sagte, ein Dozent im Fachbereich Medizin in Harvard habe in unserem Kurs erklärt, Diazepam (Valium), intravenös verabreicht, sei erst vor Kurzem zur Behandlung anhaltender Krämpfe zugelassen worden und es sei besser. »Dann probieren Sie es«, sagte der Oberarzt.
Während die anderen weitergingen, bat ich die Schwester, mir eine Spritze Valium zu bringen. Dann injizierte ich das Mittel entsprechend der Gebrauchsanleitung in den intravenösen Zugang des Patienten. Seine Krämpfe hörten innerhalb einer Minute auf. Zufrieden mit mir selbst verließ ich das Zimmer und schloss mich wieder der Gruppe an. Minuten später erhielt ich einen Notruf über den Piepser. Das Medikament hatte nicht nur die Krämpfe des Patienten beendet, sondern auch seine Atmung. Er war an Atemstillstand gestorben.
Es spielte keine Rolle, dass er schon im Sterben lag, bevor ich ihm Valium injiziert hatte, oder dass er friedlich gestorben war. Ich war tief bestürzt. Selbstverständlich habe ich nie wieder jemandem eine Valium-Spritze (oder ein anderes starkes Medikament) verpasst.
16 000 Menschen sterben auch in Deutschland jedes Jahr an unerwünschten Arzneimittelwirkungen*. Und ich rede hier nicht von falscher Medikation. In diesen allzu häufigen Fällen wird dem richtigen Patienten das richtige Arzneimittel in der richtigen Dosis verabreicht. Unerwünschte Wirkungen von Medikamenten belegen auf der Liste der häufigsten Todesursachen in unserem Land definitiv einen der vorderen Plätze.
Die europäische Zulassungsbehörde verlangt von den Herstellern, auf Beipackzetteln alle möglichen Nebenwirkungen zu nennen. Diese sind oft so zahlreich, dass sie auf einigen Beipackzetteln einen immensen Platz beanspruchen. Das gilt beispielsweise auch für das Psychopharmakon Brexpiprazol (Rexulti), das 2018 auch auf dem europäischen Markt zugelassen werden soll.* Rexulti ist ein antipsychotisches Medikament, das ursprünglich entwickelt wurde, um in Kombination mit Antidepressiva Depressionen zu behandeln. (Immer mehr Studien belegen, dass die am häufigsten verwendeten Antidepressiva nicht sehr wirksam sind und dass die Kombination nicht viel besser ist. Mehr über diese zweifelhafte Praxis lesen Sie in Kapitel 9.) Im Beipackzettel sind die Nebenwirkungen und Vergiftungen beschrieben, mit denen man rechnen muss, wenn man das Medikament einnimmt: unter anderem Verwirrung, Suizidgedanken, nicht steuerbare Körperbewegungen, Stoffwechselstörungen, Schlaganfälle und Tod.
Denken Sie daran, dass alle Medikamente mehrere Wirkungen auf verschiedene Organe und Körperfunktionen haben. Sie werden wegen einer einzigen Wirkung vermarktet, verordnet und eingenommen, während die anderen unter der Überschrift »Mögliche Nebenwirkungen« in die Bleiwüste des Beipackzettels verbannt werden. Doch bei einigen unglücklichen Menschen kann sich eine dieser Nebenwirkungen als Hauptwirkung herausstellen. Die populärste Gruppe von Antidepressiva, die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer oder SSRI, steigern die Produktion des Neurotransmitters Serotonin im Gehirn. Wir ignorieren häufig den Einfluss dieser Medikamente auf die Muskeln und die Geschlechtsorgane, außer wenn er alle positiven Wirkungen auf die Stimmung überlagert. Antibiotika, mit denen wir krankheitserregende Bakterien abtöten oder ihre Vermehrung hemmen, können die Leber- und Nierenfunktion sowie die Verdauung stören. Wer mit dem Gedanken spielt, Medikamente einzunehmen, sollte diese Risiken berücksichtigen, die viel größer sind als die Risiken einer anderen Lebensweise und der meisten nichtmedikamentösen Therapien.
Beachten Sie auch, dass Menschen unterschiedlich auf Medikamente reagieren. Diese hartnäckige Tatsache wird während der Ausbildung der Ärzte selten hervorgehoben. Manche Menschen vertragen beispielsweise keine Statine, weil sie bei ihnen zu starken Muskelschmerzen oder Schwäche führen. Wenn eine erhebliche Zahl von Menschen negative Folgen verspürt, sprechen wir von »Nebenwirkungen«. Wenn nur wenige betroffen sind, liegt eine »Idiosynkrasie« vor, also eine spezifische Reaktion eines Individuums. Unterschiedliche Reaktionen auf das gleiche Medikament können genetische Unterschiede oder biochemische Eigenarten widerspiegeln. Eine neue Ära einer gezielten medikamentösen Therapie zeichnet sich am Horizont ab: Genomanalysen werden vielleicht enthüllen, wer auf ein Medikament positiv und wer darauf negativ reagiert. Heute verschreiben die meisten Ärzte gewohnheitsmäßig eine »Dosis für alle«.
Glauben Sie bitte nicht, dass rezeptfreie Medikamente ungiftig sind. Sie können schwere unerwünschte Reaktionen auslösen und Wechselwirkungen mit verschreibungspflichtigen Medikamenten haben, die das Risiko bestimmter Nebenwirkungen erhöhen. Sie können heute rezeptfrei NSAID (nichtsteroidale Entzündungshemmer), Steroide und Säureblocker gegen Reflux kaufen. Das begünstigt die leichtfertige Anwendung ohne Rücksicht auf mögliche Probleme. Wie Sie auf den folgenden Seiten lesen werden, sind auch Probleme mit beliebten rezeptfreien Schlaftabletten sowie Schnupfen- und Grippemitteln nicht selten.
Viele medizinische Eingriffe (und viele unserer Aktivitäten) sind riskant. Entscheidend ist, dass wir zwischen Nutzen und Risiken abwägen. Impfungen können schaden; aber ich bin wie fast alle Mediziner der Meinung, dass ihr Nutzen viel größer ist als die Risiken. Anders gesagt, der Schaden, den die Krankheit anrichten kann, vor der die Impfung schützt, ist viel größer als jeder Impfschaden. Das mag ein schwacher Trost sein, wenn man schwere unerwünschte Reaktionen auf Impfungen erlebt; trotzdem ist es wahr.
Ich bitte Ärzte und Medizinstudenten oft, eine Liste der Medikamente zusammenzustellen, die sie auf eine einsame Insel mitnehmen würden. Meine Liste enthielte Aspirin, Penicillin, Morphin, Prednison und ein paar weitere Medikamente, deren Wirkung nach unserer kollektiven Erfahrung stark genug ist, um ein positives Risiko-Nutzen-Verhältnis zu bewirken. Generell bin ich der Meinung, dass die Hersteller den Nutzen ihrer Produkte ständig übertreiben und die möglichen Schäden herunterspielen.
Medikamente sind anscheinend zur Zeit ihrer Einführung am wirksamsten und ihre Wirkung lässt mit der Zeit nach. Ein häufig zitierter Spruch unter Medizinern lautet: »Nimm neue Medikamente möglichst oft, bevor sie ihre Heilkraft verlieren.« Der Grund dafür ist die Placebo-Wirkung: Der Glaube an ein Medikament oder an eine andere Behandlung kann eine innere Heilung bewirken. Sowohl Ärzte als auch Patienten glauben eher an die Wirkung neuer Medikamente, und dieser Glaube kann der eigentlichen Wirkung des Mittels einen Heiligenschein aus eingebildeter Wirksamkeit verleihen. Ich finde den Placebo-Effekt sehr positiv. Anstatt ihn abzuschaffen, wie es die meisten Forscher tun wollen, sollten wir nach Wegen suchen, ihn häufiger zu nutzen. Immerhin zeugt er von der Heilkraft, die dem Körper innewohnt. Aber ich möchte ihn nicht dadurch auslösen, dass ich Patienten mit Zuckertabletten täusche, sondern dadurch, dass ich eine wirksame Behandlung voller Überzeugung präsentiere und sanfteren Methoden gegenüber aggressiveren den Vorzug gebe, wann immer es möglich ist. Ich verordne lieber weniger starke Medikamente, immer mit dem Ziel die Wahrscheinlichkeit von günstigen Reaktionen zu erhöhen und die Gefahr eines Schadens zu verringern.
Die SSRI sind ein gutes Beispiel. Als Fluoxetin (Prozac) in den USA im Jahr 1986 auf den Markt kam, wurde es als Durchbruch in der Behandlung von Depressionen angepriesen. In den folgenden Jahren wurden dieses und verwandte Mittel Millionen Menschen verschrieben. Die Wirkung der SSRI-Antidepressiva wurde in zahlreichen randomisierten und kontrollierten Studien nachgewiesen. Solche Studien sind in der Medizin der »Goldstandard«, wenn es darum geht, die Wirksamkeit einer Behandlung wissenschaftlich nachzuweisen. Doch um die Wende zum 21. Jahrhundert schien die Wirkung der SSRI zu schwinden. Es gab nicht nur immer mehr Berichte über ernste Nebenwirkungen und unerwünschte Reaktionen, sondern es fiel den Forschern auch schwerer, Reaktionen auf SSRI von denen der Placebos zu unterscheiden. Die Fans der Medikamente räumten zwar ein, dass dies bei leichter Depression zutreffen könne, aber sie glaubten nach wie vor, dass SSRI bei mäßiger und schwerer Depression ihren Wert hätten. Anschließende Studien konnten die Wirksamkeit bei mäßigen Depressionen allerdings nicht nachweisen. Die letzten Anhänger sind der Meinung, SSRI seien nützlich für die Behandlung sehr schwerer Depressionen. Da die Wirksamkeit der SSRI stetig nachließ, überreden die Pharmakonzerne die Ärzte, sie mit anderen Medikamenten, vor allem mit Antipsychotika wie Rexulti, zu kombinieren und dadurch aufzupeppen.
Es ist eine Tatsache, dass trotz aller Vorschriften und Tests, einschließlich randomisierter klinischer Studien, viele wertlose und gefährliche Medikamente auf den Markt kommen. Studien können konzipiert, Daten manipuliert und Ergebnisse interpretiert werden, sodass neue Medikamente scheinbar wirksamer sind, als Zeit und Erfahrung es bestätigen werden.
Und selbst wenn Medikamente wirken, bewirken sie nicht immer das, was wir wünschen. Die Medikamente für den Knochenaufbau, die heutzutage häufig verwendet werden, um den altersbedingten Verlust der Knochendichte (Osteopenie) zu behandeln, vergrößern in der Tat die Knochenmasse, aber wie effektiv verhindern sie Frakturen? Das ist doch die Wirkung, die wir erzielen wollen! Wie Sie in Kapitel 15 sehen werden, lautet die Antwort: Nicht sehr. Statine senken LDL-Cholesterin (das »böse«) sehr stark, aber führt das zu besserer Gesundheit und niedrigerem Risiko für Herzanfälle? Wie Sie in Kapitel 2 erfahren werden, lautet die Antwort: Nicht unbedingt.
Mehr noch, viele der am häufigsten verordneten Medikamente können die Krankheit, die sie lindern sollen, sogar verlängern oder verschlimmern, wenn man sie langfristig einnimmt. Der Grund dafür hat etwas mit der Homöostase zu tun, einem Grundprinzip der Physiologie. Es bezeichnet den Umstand, dass ein lebender Organismus dazu neigt, ein Gleichgewicht zu bewahren. (Das Wort Homöostase hat griechische Wurzeln und bedeutet »Stillstand«.) Wenn eine äußere Kraft das Gleichgewicht des Körpers stört, wehrt sich der Körper dagegen, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Wenn Sie weniger Kalorien zu sich nehmen, verlangsamt der Körper den Stoffwechsel – sehr zur Enttäuschung der Diätgläubigen.
Die meisten unserer Medikamente stören oder unterdrücken bestimmte Aspekte der Physiologie. Sie bekommen rasch ein Gefühl dafür, wenn Sie die Namen der Arzneimittelgruppen betrachten. Wir verwenden Antispasmodika, Antihypertonika, Antidepressiva, Antiinflammatorika, Anti-dies und Anti-das. Starke gegensteuernde Medikamente sind durchaus nützlich für die kurzfristige Behandlung von Gesundheitsstörungen, deren Ursache schwere Ungleichgewichte in den Körperfunktionen sind. Werden sie jedoch langfristig angewandt, vor allem ohne Beachtung der Grundursachen der Krankheit, geraten Patienten wahrscheinlich in die homöostatische Falle. Der Körper wehrt sich gegen die pharmakologischen Wirkungen, sodass es schwierig wird, die Dosis zu senken oder das Mittel abzusetzen, ohne dass die Symptome zurückkehren.
Was geschieht, wenn Sie einem Patienten, der an einer gastroösophagealen Refluxkrankheit leidet, ein Medikament geben, das die Säurebildung im Magen blockiert? Der Körper versucht, mehr Säure zu produzieren, und wenn das Mittel abgesetzt wird, stellen sich die Symptome sofort wieder ein, oft heftiger als zuvor. Wenn Sie einem Menschen ohne Magenprobleme ein paar Monate lang eines dieser Medikamente geben und es dann plötzlich absetzen, kommt es meist zu Symptomen, die mit Säure zusammenhängen. Und Sie können sich die Folgen vorstellen, wenn Sie depressiven Patienten lange Zeit SSRI verabreichen: Die homöostatische Reaktion des Gehirns auf die höhere Serotoninproduktion, die diese Mittel auslösen, führt dazu, dass weniger Serotonin gebildet und die Zahl der Rezeptoren verringert wird. Dann ist es nicht nur schwierig, das Medikament abzusetzen, sondern die Depression verschlimmert sich oder dauert länger.
Die folgenden Kapitel enthalten weitere Beispiele für unbeabsichtigte Folgen des Vertrauens auf Medikamente; sie zeugen vom natürlichen Streben des Körpers, sich gegen Störungen zu wehren. Ich fürchte, sie kommen heutzutage allzu häufig vor. Diese Beispiele sollten Ärzte und Patienten dazu ermuntern, mit chronischen Krankheiten umzugehen, ohne sich allein auf Medikamente zu verlassen. Medikamente können bei kritischen und akuten Krankheiten Leben retten und sind zudem ein wichtiger Bestandteil der Therapie bei chronischen Erkrankungen innerhalb einer ganzheitlichen Behandlung, die Änderungen der Lebensweise und nichtmedikamentöse Therapien einschließt. Die langfristige Anwendung von Medikamenten als alleinige Therapie ist jedoch unklug.
Warum habe ich dieses Buch geschrieben? Die Gründe sind einfach: Ich glaube, dass nur wenige Menschen, die gängige Medikamente einnehmen, wissen, wie sie wirken, ob sie so wirksam sind, dass ihre Einnahme die Risiken rechtfertigt, und welche anderen effektiven Behandlungsmethoden es gibt, die man zusammen mit Medikamenten oder an ihrer Stelle anwenden kann. Zu Beginn dieses Projekts stellte ich eine Liste der Arzneimittelgruppen zusammen, die mir die größten Sorgen bereiten. Sie werden zu oft verordnet, zu oft falsch eingesetzt, zu oft eingenommen und zu oft missbräuchlich verwendet:
Antibiotika
Statine
Medikamente bei GERD
Antihistamine
Medikamente bei Schnupfen und Grippe
Schlafmittel
Steroide
NSAID – Nichtsteroidales Antirheumatikum
Psychiatrische Medikamente
Medikamente bei ADHS
Opioide
Blutdrucksenkende Medikamente
Medikamente bei Diabetes
Medikamente bei Osteopenie und anderen Knochenerkrankungen
Da ich kein Experte für all diese Gruppen bin, habe ich fachkundige Kollegen gebeten, mir beim Sammeln und Bewerten wichtiger Informationen zu helfen. Die meisten dieser Mitarbeiter sind promovierte Stipendiaten oder Fakultätsmitglieder des Zentrums für integrative Medizin der University of Arizona in der klinischen Praxis. Außerdem habe ich einen Pädiater gebeten, über unnötige Medikation bei Kindern zu schreiben, und einen Internisten für das Thema »Übermedikation bei älteren Menschen« gewonnen. Ich finde beides besorgniserregend. Und schließlich lud ich eine Apothekerin ein, ein Kapitel über die zu häufige und fehlerhafte Anwendung von Medikamenten zu schreiben.
Lassen Sie mich Letzteres erklären. Was Gesundheitsberufe anbelangt, verstehen Pharmazeuten am meisten von verschreibungspflichtigen und frei verkäuflichen Medikamenten. Sie wurden dafür ausgebildet, sowohl Ärzte als auch Patienten über die richtige Anwendung von Medikamenten und über ihre Wechselwirkungen zu beraten. Leider werden sie zu selten gefragt. (Im Idealfall sollten sie in der Lage sein, Rat zu erteilen über Kräuterarzneien, Ergänzungsmittel und andere natürliche Produkte, von denen behauptet wird, sie könnten die Gesundheit verbessern und Krankheiten heilen. Außerdem sollten Pharmazeuten wissen, welche Wechselwirkungen diese Mittel mit Medikamenten haben, aber in diesem Punkt lässt die Ausbildung meiner Meinung nach zu wünschen übrig.) In Kapitel 18 erklärt die Apothekerin Kim DeRhodes, wie Sie die Dienste, für die Apotheker ausgebildet wurden, in Anspruch nehmen können. Dieses Kapitel ist ein Kurzlehrgang über die medikamentöse Therapie und es hilft Ihnen, Medikamente klug anzuwenden und zu verhindern, dass sie Ihnen schaden.
Jedes Kapitel enthält auch ein oder zwei Fallgeschichten von echten Patienten, die erfahren haben, welche Probleme diese häufig verwendeten Medikamente zu oft hervorrufen. Ich werde ihre Wirkungen, Vorteile und Risiken erläutern und Sie darüber informieren, wie man die Krankheiten, die sie behandeln sollen, auf andere Weise in den Griff bekommt und wie eine integrative Behandlung bei diesen Krankheiten aussehen könnte.
Die Folgen der Übermedikation gehen über unerwünschte Reaktionen, Wechselwirkungen, Unwirksamkeit und unbeabsichtigte Verschlimmerung eines Gesundheitsproblems hinaus. Die Kosten für Medikamente, vor allem für verschreibungspflichtige Mittel, sind gewaltig, sowohl für die Patienten und ihre Angehörigen als auch für unser schwächelndes Gesundheitssystem. Die Handelsspanne ist bei Medikamenten größer als bei allen anderen Waren. Die Pharmakonzerne rechtfertigen das mit hohen Forschungskosten; aber was die Firmen für die Forschung ausgeben, ist nur ein Bruchteil dessen, was sie für Werbung und Verkaufsförderung aufwenden.
Die Kosten für Medikamente sind oft in den bescheidenen Eigenanteilen der Versicherten verborgen, aber Sie können sicher sein, dass die Hersteller ihr Geld bekommen. Letztlich zahlen wir alle. Die Deutschen geben jährlich 551 Euro pro Kopf für Medikamente aus und belegen damit laut einer Statistik der OECD den ersten Platz in Europa. Antidiabetika, Antidepressiva und bluttdrucksenkende Mittel werden in Deutschland deutlich häufiger verschrieben als in anderen europäischen Ländern*. In fast jedem Fall wäre eine integrative Therapie – eine andere Lebensweise, die umsichtige Anwendung von natürlichen Produkten und nichtmedikamentöse Therapien – bei häufigen Erkrankungen billiger als eine langfristige medikamentöse Behandlung.
Viel weniger Aufmerksamkeit widmen wir der Frage, welche Folgen die konsumierten Medikamente für die Umwelt haben. Zahlreiche Medikamente werden im Körper weder verdaut noch verändert; sie verlassen ihn und gelangen ebenso in die Umwelt wie Medikamente, die wir die Toilette hinunterspülen oder in den Mülleimer werfen. Sie reichern sich im Trinkwasser, im Boden und in unseren Nahrungsmitteln an. Möglicherweise nehmen wir ständig kleine Mengen dieser Substanzen auf, aber wir haben keine Erkenntnisse darüber, wie sie sich im Laufe eines Lebens auf unsere Gesundheit auswirken. Wir wissen aber, dass die dauerhafte Belastung der Umwelt mit Antibiotika – ein Großteil davon stammt aus der Landwirtschaft – heute eine ernste Gefahr für die Volksgesundheit ist, weil sie die Resistenz von Bakterien steigert. (Fast alle Nutztiere, auch Fische aus Farmen, bekommen Antibiotika, um das Wachstum zu fördern.)
Die Informationen in diesem Buch helfen Ihnen, ein kluger Verbraucher zu werden. Sie erfahren, ob Medikamente wirklich notwendig sind, wie Sie den Nutzen gegen mögliche Risiken abwägen und wie sehr Sie sich vor der Werbung der Pharmakonzerne in Acht nehmen sollten. Ich möchte Ihnen auch darlegen, dass Sie viele der Krankheiten, die wir in den folgenden Kapiteln besprechen, ohne Medikamente und mit integrativen Behandlungsplänen in den Griff bekommen. Dann brauchen Sie weniger oder schwächere Medikamente oder niedrigere Dosen.
Als ich Ende der 1940er- und 1950er-Jahre heranwuchs, schrieben die Ärzte Rezepte auf Lateinisch, um die Patienten hinsichtlich der Medikamente im Dunkeln zu lassen. Um ein Rezept einzulösen, musste man es einem Apotheker aushändigen, der hinter einer hohen Theke stand, damit man nicht sah, was er tat. Nur wenige Patienten hinterfragten diese Zustände. Natürlich haben sich die Zeiten geändert. Die paternalistische und autoritäre Art der Ärzte des vorigen Jahrhunderts ist heute aus der Mode und das Internet macht medizinische Informationen jedem Menschen zugänglich, der einen Computer besitzt. Meiner Meinung nach stellen die Leute trotzdem immer noch zu wenige Fragen zu ihren Medikamenten. Auch das trägt zu unseren Problemen bei. Es ist nie eine gute Idee, ein Medikament einzunehmen, nur weil der Arzt es sagt. Versuchen Sie immer herauszufinden, warum Sie es brauchen.
Sie können dieses Buch vom Anfang bis zum Ende lesen oder darin schmökern und es bei Bedarf zum Nachschlagen verwenden. Wenn Sie eines der Medikamente einnehmen, die ich bespreche, wollen Sie wahrscheinlich zuerst darüber lesen. Und wenn Ihnen beim Lesen mulmig wird, sollten Sie immer diesen Rat beherzigen:
Ärzte, die Sie aufsuchen, sind mit den nichtmedikamentösen Therapien und integrativen Methoden, die ich vorschlage, möglicherweise nicht vertraut. Meine