Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-26303-3
ISBN E-Book 978-3-688-10751-3
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-10751-3
Für Jamie und Rob
Als der Traum zu Ende war, wachte sie auf. (Schaukeln, Wiegen, ein Eisenbahnwaggon.) Sie lag vollkommen still, fast ohne zu atmen und versuchte, wieder zurückzusinken in den Traum. Sie hielt die Augen geschlossen, sie klammerte sich mit ihren Gedanken daran, an das Gefühl, das sie im Traum gehabt hatte, die Sinnlichkeit des warmen Körpers, in dem sie eben noch in jener anderen Umgebung gelebt hatte. Sie versuchte es festzuhalten, als es sich zurückziehen wollte, sie spürte ihm nach, sie wandte ihre Vorstellungskraft darauf, es voll auszukosten, es auszusaugen. (Starr auf meinem Platz, mit steifem Rücken, trotz der Bewegungen des Zugs.) Sie preßte die Augenlider noch fester zusammen und versuchte wieder einzuschlafen, obwohl sie wußte, daß das nie funktionierte. Selbst wenn du wieder einschläfst, selbst wenn du weiterträumst, ist es doch nie derselbe Traum. Und sie wollte diesen und keinen anderen.
(Nein, ein anderes Abteil, jetzt, viereckig, wie ein Kasten. Keine fest angebrachten Sitze. Ein Mann. Sitzt da, starrt mich an. Starrt. Ich fühle seinen Blick auf mir. Er steht auf, er kommt auf mich zu, warum? Geht an mir vorbei, tritt hinter mich, steht da. Er preßt seinen Körper an die Rückenlehne des Sitzes. Sein Körper atmet hinter meinem Kopf.)
Sie erinnerte sich an den Druck. Wahnsinnig, die Kraft stummer Existenz, ein Körper allein ist Macht, wie er da hinter ihr stand, nötigte er sie, seine Gegenwart zu spüren. Er berührte sie nicht.
(Dann, plötzlich, war es zuviel. Zuviel, und sie mußte nachgeben, und gab nach, ah, neigte den Kopf nach hinten, ließ ihren Hals sich biegen, lehnte den Kopf, ah, gegen seinen Bauch. Warm. Ruhe. Ein Seufzer läuft durch ihren Körper, das Wunderbare daran, Ruhe. Wärme. Jemand anders.)
Vertrauen. Darum ging es, deshalb wollte sie den Traum zurückhaben. Er hatte sie mit Wärme überschwemmt, hatte ihren Körper fließend, weich zurückgelassen. Sie lag in dem klobigen Bett mit schmerzhaftem Verlangen; ihr Körper wollte in ein Paar Arme gelegt werden, an einen anderen Körper.
(Weich und fest war sein Bauch. Empfängt bereitwillig meinen Kopf. Läßt mich dort ausruhen. Dann berührt er mich, sanft. Er zieht mich hoch, wir gehen zusammen und legen uns hin. Wir liegen in einem ausgehöhlten Baumstamm, oder vielleicht in einer großen Wiege. Wir liegen völlig bekleidet beieinander, halten uns. Die Wiege schaukelt, ganz sanft, wie das Wiegen des Zugs. Wir selbst bewegen uns nicht, die Bewegung bewegt uns. Die Luft um uns bewegt sich, elektrisch, vibrierend, geladen. Alles bewegt sich, und wir bewegen uns mit, bereitwillig. Kein Festhalten, kein Widerstand. Schaukeln, Schaukeln und Wiegen.)
Der Traum und das Gefühl, das er in ihr ausgelöst hatte, wichen immer weiter zurück, bis sie gestrandet dalag, immer hohler und immer trockener werdend. Ihr Körper kribbelte, ihre Geschlechtsteile schmerzten. Sandiger Körper am Vertrocknen. Ihre Wangenknochen sehnten sich nach Wasser. Sie setzte sich im Bett auf, zog die Stirn kraus. Ihr Körper war am Verdursten, er teilte es ihr mit. Der Gedanke paßte ihr nicht, sie wollte es nicht wahrhaben. Ihr Körper unterminierte sie! Wie konnte er es wagen! Wie war das möglich?
Wie immer hielt sie sich an die Analyse, schließlich war sie eine Frau des 20. Jahrhunderts und somit dem Irrglauben unterworfen, daß, was der Kopf begriffen hatte, dem Herzen nicht mehr weh tun konnte und daß du fest in der Hand hattest, was du über die Lippen brachtest. War es darum gegangen in diesem Traum, daß die Sinnlichkeit sich nach all den Jahren heimlich wieder Einlaß verschaffte? Heimtückisch von ihrem Körper Besitz ergriff, gegen den Willen ihres Verstands, nach so langer Zeit ruhiger Gefaßtheit. Nein, wohl doch nicht, denn da war noch etwas anderes. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihr, daß da noch etwas anderes war. Sie lehnte den Kopf gegen das harte, hölzerne Kopfteil des Betts und schloß die Augen wieder.
(Großes Abteil, voller Menschen, die auf Packkisten sitzen. Männer sitzen an die Wand gelehnt auf Apfelsinenkisten und blicken ins Leere. Gebeugte Köpfe, die nichts sehen. In der Mitte die Frauen mit ihren Kindern, die Kisten dicht aneinander gerückt, damit sie beisammen sein können, alle in verschiedenen Winkeln zueinander, aber doch irgendwie einander gegenüber.)
Wo ist der Mann, mein Mann? In der Ecke, an die Wand gelehnt, mich von seiner Kiste aus anstarrend. Eindringlich starrend. Ich sehe ihn an. Die Frauen schwatzen miteinander. Schrecklich, sagen sie. Aber habt ihr gehört, was mit Anna ist? Und erst mit der armen Rosalie! Ihre Stimmen sind leicht und klangvoll, sie seufzen und klagen, ihre Stimmen schwingen sich empor und tauchen hinab, sie flüstern, sie lachen. Sie erzählen ihre Leidensgeschichten. Jede Frau kennt viele solcher Geschichten: ihre eigene, die ihrer Mutter, die ihrer Schwestern. Sie tragen ausgetretene Schuhe und abgetragene Mäntel über baumwollenen Hauskleidern. Manche haben sich Kopftücher umgebunden. Sie halten ihre Babies im Arm, sie bewegen sie sanft auf und ab, während sie sprechen. Eine Frau unterbricht das Gespräch. Sie ist hübsch mit ihrem runden rosigen Gesicht. Sie sagt, ihr Leid sei schlimmer. Die Frauen verstummen, hören ihr zu. Sie zeigt auf das kleine Kind auf der Kiste, die mir am nächsten steht. Es ist ein kleines Mädchen von etwa achtzehn Monaten, rund und rosig und golden, das Haar eine Flut dichter goldener Locken. Die Kleine ist fröhlich, sie schaukelt auf ihrer Kiste hin und her und plappert und singt vor sich hin. Sie sieht uns erstaunt und vergnügt an. Ich glaube, sie weiß nicht, daß wir müde sind und gebeugt und schäbig, mit ausgetretenen Schuhen.
Die Frau zeigt auf die Kleine und sagt, es sei ihr Kind. Sie erzählt mit ruhiger, lieblicher Stimme – von den Reisen, die sie unternommen haben, sie und ihr Mann und das Kind. Sie haben kein Geld mehr, sie haben nichts mehr. Sie sind bei unzähligen Ärzten gewesen, überall auf der Welt. Aber schließlich hat ihnen der letzte die entscheidende Diagnose gestellt: Das kleine Mädchen hat Krebs. Es wird sterben.
(Die Frauen verharren stumm. Schweigend drücken sie ihre Babies an sich. Die Falten in ihren Gesichtern weinen.
Ich sehe das kleine Mädchen an, die Frau. Ich sehe hinüber zu dem Mann, meinem Mann. Sie sind eine Familie. Es ist sein Kind. Ich senke die Augen.)
Sie hob ihre Augen.
Mein Gott. Ja, ein Viehwagen, es sollte ein Viehwagen sein, so wie sie sich als Kind Viehwagen vorgestellt hatte, als sie davon las, daß solche Wagen benutzt worden waren, um Menschen in Todeslager zu transportieren. Ja, auch sie, die Menschen in ihrem Traum, waren unterwegs zu irgendeinem schrecklichen Ort, irgendeinem letzten Ziel. Sie alle wußten es, sie alle waren traurig, aber die Frauen beklagten ihr Leben, nicht ihren Tod. Ja, sie reisten einfach so dem Tod entgegen, wie jeder Mensch, und wärmten sich an dem Gedanken, daß sie beisammen waren. Und auf der anderen Seite des Waggons der Mann, ihr Mann, der Mann, an den sie den Kopf lehnen, dem sie vertrauen konnte. Gar nicht ihr Mann.
Sie wollte nicht mehr darüber nachdenken.
Sie stand auf und putzte sich die Zähne und zog sich an und stieg die drei Treppen hinunter, vorsichtig wegen des gefährlich abgetretenen Läufers, zum Speiseraum und zu den fettigen Spiegeleiern, dem kalten Toast und dem dünnen Kaffee, die im Preis für das klobige Hotelbett eingeschlossen waren. Aber jetzt, wo sie nicht mehr darüber nachdenken wollte, ging es ihr immer wieder durch den Kopf. Das schöne kleine Mädchen, krebskrank! Und die Erleichterung, die sie empfunden hatte, als sie den Kopf zurücklehnte, der wunderbare Trost, der von dem Körper des Mannes ausgegangen war. Was war mit ihr los? Sie hatte in der letzten Zeit seltsame Dinge bei sich bemerkt – wie sie sich vor ein paar Monaten sonderbar zu verkrüppelten Männern hingezogen fühlte, in deren Gesichter sie forschte, weil sie meinte, daß verkrüppelte Männer so leiden müßten, wie Frauen litten, daß sie menschlicher sein müßten als die anderen. Oder wie sie sich gelegentlich in eine Unterhaltung mit einem Mann im Flugzeug oder im Bus einließ, was sie jahrelang nicht getan hatte. Oder wie sie geradezu kokett mit José, dem Kellner aus Barcelona, redete, der ihr die fettigen Spiegeleier servierte. Er grinste sie jetzt an, während er ihr Kaffee eingoß, und sie wußte, daß in ihrem Lächeln mehr lag als nur Freundlichkeit, ein leichtes Funkeln. Er war ein schöner goldhäutiger Junge, er mußte im Londoner Grau völlig ausgehungert sein.
«Reisen Sie heute ab?» Er lächelte, und sie nickte. «Kommen Sie bald wieder?»
«Ja, in einem Monat oder so», versprach sie, versprach ihm etwas, ohne genau zu wissen was.
Er lächelte befriedigt. Er wußte, daß ihm etwas versprochen worden war.
Als sie wieder hinaufging, war ihr ein bißchen schwindlig, sie sah alles, als wäre es weit weg. Waren die Eier heute besonders fett gewesen, kam es vom Magen? Ein altbekanntes Gefühl, schreckliche Angst, das Gefühl, als würde sie gleich umfallen, irgend etwas stieg vom Magen her in ihr auf, machte sie schwindlig im Kopf. Als könnte sie plötzlich die Kontrolle verlieren – über was? – und haltlos in Tränen ausbrechen.
Unsinn. Das war nur der miese Schlaf in dem verdammten Bett, das miese Frühstück. Sie fühlte sich, als würde sie sich jeden Moment auflösen.
Sorgfälig und sachlich, damit nichts durcheinandergeriet, legte sie ihre Aufzeichnungen in ihre Aktenmappe und packte die Sachen, die sie zum Übernachten brauchte, in eine kleine Segeltuchtasche. Sie sah aus dem Fenster. Die ganze Welt war in Auflösung begriffen, wurde grau und zerfloß und verschwamm.
Sie zog ihren Regenmantel an, nahm ihre Taschen und ging die Treppe hinunter und hinaus in den morgendlichen Londoner Nieselregen, um den Zug nach Oxford zu nehmen.
Der Traum kam ihr immer wieder in den Sinn, löschte alles aus, was um sie herum war. Ja, deshalb wollte man es ja, der Traum war wirklich, wirklicher als die grauen Londoner Straßen, die schwankende Untergrundbahn, die graubraunen Menschen, die sich an den Griffen festhielten, oder die, die auf ihren Sitzen hin und her schwankten, sich von der Bewegung des Zugs bewegen ließen. Sie tat das nie. Sie hielt sich aufrecht und ruhig, wirkte den dominierenden Kräften entgegen. Immer.
Okay, der Traum war wahr, aber worin bestand seine Wahrheit? Am lebhaftesten war ihr wohl der Mann gegenwärtig, der dort gestanden hatte, und die köstliche Erleichterung, als sie den Kopf nach hinten sinken ließ, sich zurücklehnte und als ihr Kopf seinen Körper berührte und dort sicher und vertrauensvoll ruhte, und das Gefühl, wie er dort gestanden hatte, fest und bereitwillig, für sie, daß er nicht auf irgendeine, sondern auf sie gewartet hatte. Das war natürlich absurd. Wer wartet heutzutage noch auf einen ganz bestimmten Menschen? Wer hatte es je getan, außer in Büchern? Und sich zurücklehnen an einen Fremden – das war ein Aufgeben der Kontrolle, wie sie es sich im wirklichen Leben nicht einmal vorstellen konnte. Nie, nicht einmal früher.
Früher. Ehe meine Gefühle vertrockneten, und meine Vagina auch. Längst zuckten keine Schauer mehr an ihren Lenden empor, trübte kein hämmerndes Herz mehr ihren Blick. Nach all den stürmischen Jahren, all dem Vögeln, all dem leidenschaftlichen Glauben an Liebe, an verschiedene Grade von Liebe, verschiedene Sorten von Liebe, feinen Unterscheidungen zwischen Liebesgefühlen. Allein das Wort flößte ihr jetzt schon Abscheu ein. Genug. Nie wieder einen Mann in meinem Leben, in meinem Bett. «Ich vögle nicht mehr, aber ich weine auch nicht mehr», log sie guten Freunden vor. Es war nicht ganz gelogen: noch traten ihr Tränen in die Augen, aber sie fielen nicht mehr herunter, sie trockneten auf der Stelle. Ein versiegter Brunnen – ja, genau das war sie.
Nicht daß sie jemals beschlossen hätte, nicht mehr zu vögeln, daß sie am Neujahrstag vor fünf Jahren einen Entschluß gefaßt hätte und sich seither daran gehalten hätte. Es hatte sich so ergeben. Die Geschichte mit Marsh, aus der sie so zerschunden hervorgegangen war, daß sie noch Monate danach nicht tief Atem holen konnte, ohne ein Brennen in ihrer Speiseröhre zu spüren, ja, das war es vermutlich. Und den Kindern hatte es gefallen. Keine Fremden mehr im Haus, nach denen sie sich richten, über die sie sich ärgern, mit denen sie eine ganze lange emotionale Kurve durchmachen mußten, was sie, natürlich als die Verantwortliche, zu überwachen hatte. Keine Energien mehr aufgesogen von Geschichten, die so oder so in schierer Langeweile oder irgendwelchen turbulenten Szenen enden mußten. Leidenschaft: alles pure Erfindung, du konstruierst dir das Objekt, du konstruierst dir das Gefühl. Du hältst dich bei beidem an Filme und Bücher, die dir zeigen, wie du dich zu verhalten, was du zu fühlen hast. Und das ganze nennst du Leben. Du sagst: «Na, wenigstens lebe ich.» Damit du den Schmerz besser schluckst.
Alles war soviel sauberer und klarer geworden, seit sie damit aufgehört hatte. Alles war leichter. Man brauchte nicht mehr jedesmal auf sich aufzupassen, wenn man mit einem Mann sprach, und sich zu überlegen, welche Signale man aussandte, welche er aussandte. Hier wurden keine Signale gesendet oder empfangen. Sauber und klar. Dieses Telegrafenamt bleibt bis auf weiteres geschlossen. Und selbst als die Kinder weggegangen waren und das Haus still und sauber war, war es immer noch gut, wie wenn du auf dem flachen Land lebst, ohne emotionale Sümpfe oder Minen, ohne stachliges Dornengestrüpp und Unterholz in den Wäldern, ohne Tierfallen, ohne Berge, die sich, einer wie der andere, als Fata Morgana entpuppten, wenn du dir alle Mühe gegeben hattest, sie zu erklimmen. Klettern, Herzklopfen, die Luft wird dünn, die Füße gleiten aus. Setz den Fuß irgendwohin, wo du eine Erhebung im Gelände erwartest, und du trittst mit einem Ruck durch auf ebenen Boden. Schau hinter dich, nichts als Morast und tiefe Löcher.
So konnte sie, als sie das Stipendium der Nationalstiftung für Geisteswissenschaften bekam, einfach ihre Wohnung vermieten, ihre Tasche packen und sich aufmachen und für ein Jahr, ein ganzes Jahr, nach England gehen. Niemand, den sie beschwichtigen, mit dem sie sich auseinandersetzen, um den sie weinen, dem gegenüber oder um dessentwillen sie sich schuldig fühlen mußte. Ja, das war das Mörderische – Schuldgefühle.
Berenices Geschichte von dem Tag, als John F. Kennedy ermordet worden war: Sie hatte vorgehabt, mit zwei katholischen Freundinnen zu Abend zu essen. Unter Tränen hatten sie am Telefon beschlossen, sich trotzdem zu treffen – lieber an einem solchen Abend zusammensein als allein. Aber während des ganzen Essens hatten sie nur getrauert.
«Ein Segen nur», sagte Anne, «daß jedenfalls Jackie bei ihm war. Es ging ihr nämlich nicht gut, sie hat ihn in letzter Zeit nicht mehr auf seinen Reisen begleitet. Gott sei Dank, daß sie dabei war! Stellt euch vor, wie ihr jetzt zumute sein würde, wenn sie nicht bei ihm gewesen wäre!»
Berenice zog ihre jüdischen Augenbrauen in die Höhe. «Wenn ich sie wäre, würde ich sicher denken, daß es geschehen ist, weil ich dabei war.»
«Oh», sagte Gail wissend, «das jüdische Schuldgefühl.»
Ob jüdisch oder katholisch, es war das Schuldgefühl der Frauen – so und so. Es gab keinen Ausweg. Keinen anderen Weg als ihren: wenn du dich auf nichts einläßt, fühlst du dich nicht schuldig. Und wenn doch, fühlst du dich immer schuldig, einerlei was du tust. Die Frauen sollten all das sein, was die Männer brauchten, sollten sie nie im Stich lassen, sollten alles für sie sein. Das war unmöglich. Warum mußten die Männer nicht auch das alles sein?
Doch das waren jetzt alles akademische Fragen – sie sollte es eigentlich nicht nötig haben, Erklärungen für etwas zu suchen, was in jedem Fall eine vollendete Tatsache war, und ihr Leben. Und ein schönes Leben dazu, ihre Zeit gehörte ihr, ihre Gefühle gehörten ihr, und ihr Raum gehörte ihr ebenfalls. Fünf ganze Räume, nicht groß, aber genug für eine Person. Keine Streitereien mehr über offene oder geschlossene Fenster, wer wem die Bettdecke wegzog, kein Fernsehgetöse, Käsetoast statt Braten. Diskussionen natürlich, wunderbare und lautstarke Diskussionen mit einem Kreis von Freunden, die sofort in Fahrt gerieten, wenn die Rede auf Con Edison kam oder auf Kernkraftwerke oder Joseph Califano oder die Palästinenserfrage oder die Ausplünderung des Bodens oder Phyllis Schlafly oder, oder, oder. Exzentriker waren sie, ihre Freunde, nahm sie an, aber unterhaltsam. Köpfe, die nie geduckt worden waren, nie vor der vorherrschenden Strömung kapituliert hatten.
Andererseits, vielleicht waren sie die vorherrschende Strömung. Wer konnte das sagen?
Aber du kannst nur dann bis morgens um fünf dasitzen und über Sex oder Religion oder Liebe reden, wenn ein Freund kommt und weiß, daß ihr beide nicht mit der Höflichkeit miteinander umgehen müßt, zu der eine Zweierbeziehung zwingt. Ihr Alleinsein war eine Öffnung, eine Bresche in einer Mauer. Leute kamen und sagten Sachen, die sie zu niemand anders sagten. Sie tobten, sie jammerten, sie rissen sich die Eingeweide aus dem Leib wegen einer verlorenen Liebe, einer verratenen Freundschaft, irgendeines Fehlschlags. Sie klagten und tobten am meisten wegen ihrer Eltern, es war erstaunlich, Fünfzigjährige, die weinten, weil Vater nie, aber Mutter wohl, und dann versuchte ich es, aber es klappte nicht, und ich wollte es ihnen zeigen, aber dann starben sie, und jetzt ist es für immer zu spät. Und sie wird nie verzeihen, er wird nie erfahren, ich kann nie mehr sagen. Eltern. Kinder.
Ihre Augen verdüsterten sich, und sie zog sich von ihrem Sitz hoch. Paddington.
Sie war zu früh am Zug und suchte sich ein leeres Raucherabteil. Normalerweise gestattete sie sich vier dünne Zigarillos am Tag, aber wenn sie diese Reise machte, genehmigte sie sich eines zusätzlich. Sie genoß es, sich in einem leeren Abteil gemütlich zurückzulehnen, zu rauchen, ohne sich darum kümmern zu müssen, ob es jemand anders störte, und hinauszuschauen auf die Strecke zwischen London und Oxford. Es gab hier nicht, wie sie sich ganz zuerst vorgestellt hatte, einen langsamen systematischen Übergang von der Großstadt zum Land. Wie bei allem in England hatte sie das Gefühl, daß die Dinge einfach passierten. Es war ein dermaßen sozial geordnetes Land, daß man die Dinge einfach beliebig geschehen ließ.
Wenn man aus London hinausfuhr, waren da zunächst Lagerhäuser und Fabriken, rußige Reihenhäuser, aber jedes mit einem Garten, und in jedem Garten wuchsen Rosen. Dann, unvermittelt, Kanäle und der Fluß, Bäume, Pferde, Kühe, die unter riesigen Stromleitungsmasten weideten. Manchmal ein kleiner Lastkahn auf einem der Kanäle, dann beugte sie sich jedesmal vor und sehnte sich zu ihm hin wie eine Pflanze zur Sonne, wünschte sich, auf dem Deck zu sitzen, während der Kahn über das ruhige Wasser glitt, und nach Tieren auf den Feldern zu spähen oder die wildwachsenden Blumen beim richtigen Namen zu nennen. Sie wünschte sich, dort unförmig in einem dicken, löchrigen Pullover zu sitzen und zu dem stämmigen Kahnführer zu sagen: «Möchtest du ein Täßchen Tee, Schatz?» Um dann zu sehen, wie er sich umdrehte und sagte: «Gern, altes Haus.» Und das Sexuelle zwischen ihnen wäre immer noch lebendig, trotz der Jahre, trotz der Polster auf ihren Körpern und ihrer grauen Haare, die strähnig in der leichten Brise wehten.
Ein Traum: er trinkt, sie nörgelt herum. Sie bleibt zu Hause, angeblich wegen ihres Rheumas, in Wirklichkeit jedoch, weil sie das Schweigen zwischen ihnen bedrückt und weil sie auf dem elenden Kahn nichts weiter zu tun hat, als ihm seine idiotischen Täßchen Tee zu machen. Er hört die Fußballreportagen im Transistorradio, und wenn er an Land geht, beäugt er das Mädchen hinter der Theke oder die Kellnerin und trinkt sein Bier. Zu Hause verbringt er seine Abende im Pub und redet mit den anderen Männern über Spielergebnisse, Spieler.
Warum hören sich traurige Geschichten immer glaubwürdiger an als Geschichten vom Glück?
Weil sie es sind, Dummkopf.
Ja. Nach dem Kahnführer kamen Felder und Gehöfte, dann – unvermittelt, unerklärlich – Wohnhochhäuser. Dann Lagerhäuser. Lagerhäuser? Kornspeicher, vielleicht. Dann wieder Gehöfte, wunderschöne alte Gebäude mit ummauerten Höfen, die von Hühnern wimmelten, alten, mit Rosen bewachsenen Backsteinmauern, wie die Höfe in der Normandie und der Bretagne. Dann Reading, voller Ruß und Schornsteine, Leute, die hastig ein- und ausstiegen. Dann grünes Ackerland, durch das sich der Fluß schlängelte. Und dann! Natürlich konnte es nicht echt sein und war es auch nicht, aber da erhob es sich im Sonnenlicht, ganz und gar mittelalterlich, Maßwerk, Kirchtürme, Wehrtürme: Oxford. Es sah älter aus, als die Gebäude wirklich waren: es sah aus wie im Märchen, und es glänzte in der Sonne. Als sie das erste Mal hergekommen war, hatte sie die Stadt zögernd betreten, als könnte sie sich als ein Disneyland entpuppen, sobald sie ihre Brille aufsetzte.
Sie zündete ihr Zigarillo nicht an. Sie wollte damit warten, bis der Zug abfuhr. Aufgeschobene Befriedigung tut dir gut, sagte sie sich. All die kleinen Spielchen, die du lernst, wenn du älter wirst, Dinge, die dazu da sind, das Leben angenehmer zu machen, die kleinen Freuden in die Länge zu ziehen, so wie ein kleiner Streifen geblümtes Gewebe gedehnt wird, um eine offene Wunde zu bedecken. Rauchen ist schlecht für dich, auf diese Weise rauchst du weniger und freust dich mehr darauf. Irgendwie obszön: das Leben kaffeelöffelweise abgemessen. Aber was soll man machen?
Ihre Studenten: wie sie im Schneidersitz bei ihr auf dem Wohnzimmerfußboden saßen, Wein tranken, Gras rauchten, sich ihre Jazzplatten anhörten, als wäre die Musik eine fremdländische Sitte aus längst vergangener Zeit. Wie sie sich zurücklehnten und sich den straffen Bauch kratzten oder eine Strähne langen, glatten Haars zwischen den Fingern drehten und fragten, immer fragten: «Dolores, sag es mir. Sag es uns.» Die Frage war jedesmal anders formuliert, aber es war immer die gleiche Frage. Sag mir, sag mir, wie kann ich ohne Schmerz leben?
Ich weiß es nicht.
Doch! Du weißt es! Ich weiß, daß du es weißt! Sieh dich an! Du hast es geschafft! Eine tolle Wohnung, zwei Bücher veröffentlicht, einen Lehrstuhl in Emmings, zwei Kinder, im Sommer Europa, und all diese Jazzplatten! Wie kann ich es schaffen, so zu leben wie du?
Du kannst mit mir tauschen, wenn du willst, hätte sie am liebsten gesagt. Du mußt nur mit Falten dafür bezahlen, Falten, wie ich sie habe. Diese Furche da an meinem Mund – die war besonders teuer. «Das einzige Rezept, das ich kenne, für ein Leben ohne Schmerz ist ein früher Tod – täglich Ski laufen oder Shit rauchen», sagte sie dann lächelnd.
Unmöglich, ihnen viel von der Wahrheit zu erzählen. Das wollte sie nicht. Warum ihnen das Leben vergällen, ehe sie noch richtig angefangen hatten? Erschöpft schickte sie sie dann nach Hause, erfüllt, wenn auch nicht genug (nie erfüllt genug), und ging seufzend allein ins Bett und lag da und fühlte ihn, den Schmerz, der immer in ihrer Nähe war, ein so vertrauter und gewohnter Gast, daß sie ihn über lange Strecken gar nicht zu beachten brauchte. Er schlurfte in Pantoffeln durch ihr Haus und machte sich seinen Tee selbst.
Dolores, der wandelnde Roboter: ein Druck auf den Knopf, und schon weint die Kreatur. Augen und Kehle füllten sich ihr schon mit Tränen, wenn sie im Fernsehen Bilder von Opfern einer Hungersnot sah, wenn sie in der Zeitung Interviews mit Eltern entführter und ermordeter Kinder las, wenn ihr am Brattle Square ein Flugblatt in die Hand gedrückt wurde, das die Folterung politischer Gefangener auf den Philippinen beschrieb. Weiß Gott, es herrschte nie Mangel an Dingen, über die man weinen konnte. Und sie, sie war wie einer der Pawlowschen Hunde, denen bei jedem Gongschlag der Speichel im Maul zusammenlief. Schwer zu sagen, was schlimmer war – daß die Schrecken der Welt bei ihr keine stärkere Reaktion hervorriefen als eine Träne oder daß jeder dieser Schrecken die gleiche Träne hervorrief. Irgendwie ging ihr die Fähigkeit ab, Unterschiede zu machen. Natürlich weinte sie in Wirklichkeit um ihrer selbst willen, wie schon Homer erkannt hatte. Daran war etwas entsetzlich Weibliches. Aber Männer machten das auch, oder? Sie hatte vor kurzem einen Bericht gelesen, nach dem ein hoher Prozentsatz der Männer sich die Rührstücke im Fernsehen ansah. Aber weinten sie auch? Danach hatte der Meinungsforscher nicht gefragt.
Sogar für Erfolge hatte sie Tränen. Neulich nachts hatte Sydney sie aus dem fernen New Hampshire angerufen, hatte das Gespräch selbst bezahlt. (Natürlich, du kannst keine R-Gespräche über den Atlantik anmelden.) Sie hatte geweint, hatte Mommy gesagt, wie sie es als kleines Mädchen getan hatte. Völlig am Boden zerstört durch ihre letzte Affäre: kann ich nach England kommen und ein bißchen bei dir bleiben? Sydneys letzte Geliebte hatte sich so und so verhalten, was sie denn nun davon halten sollte. Und was sollte sie von sich selbst halten, warum schlug jedesmal alles über ihr zusammen, wenn ihr jemand weh tat, wenn etwas schiefging? Bestimmt besaß sie nicht genug Charakter. Warum tat das Leben so weh? War da irgend etwas nicht in Ordnung mit ihr? So mußte es sein. Es war doch sicher nicht so gedacht, daß einem das Leben so weh tat. Sie mußte schwach sein oder selbstsüchtig oder verrückt.
Ich nahm ihren Schmerz und formte ihn, ich verwandelte ihn in eine Hindernisrennstrecke, eine klare Bahn, an deren Ende der Sieg wartete. Ich hörte zu und knetete langsam, während sie sprach, ihre Worte in meinen Händen, gab ihnen Form und, da Form begrenzt und endlich ist, ein Ende. Ich machte das Leid linear, indem ich ihm einen Sinn gab, wie ein König in einer Sage, der Aufgaben erteilt: wenn du all dies vollbracht hast, wirst du Ritter der Tischrunde vom heiligen Gral der elysischen Felder Walhallas sein. Du mußt das jetzt durchstehen, damit du daraus lernst und daran wächst.
Sydney ging es mit jedem Satz besser. Ich hörte, wie ihre Stimme wieder heller wurde, wie Lachen und Zuversicht tröpfchenweise zurückkehrten, wie Mut sich festigte. Ich verwandelte eine krankhafte Quälerei – qualvoll und krankhaft, weil sie kein Ende absah – in einen vernünftigen, linearen Prozeß mit einem erkennbaren Ziel: wenn du älter wirst, wirst du erwachsen. Lies: Unverwundbar. Oder abgestumpft. Leiden an x plus Wissen y ist gleich Stärke, Ausgeglichenheit und Weisheit: Z. Oh, mein Kind fühlte sich besser, stärker: sie fühlte sich voller Mut.
Ich kam mir vor wie die Mutter der Lügen.
Dolores starrte auf den Bahnsteig hinaus. Was sollte ich denn tun? Ihr sagen, tut mir leid, mein Kind, so ist das Leben, du gewöhnst dich am besten gleich daran? Einundzwanzig und gerade erst im Aufbruch. Nach einer solchen Vergangenheit. Sie braucht alle Lügen, die sie kriegen kann.
Ein Schatten verdunkelte das Fenster in der Abteiltür. Dolores wandte den Kopf ab in Richtung des Außenfensters: sie hoffte, die Gestalt würde weitergehen. Aber die Tür wurde geöffnet. Sie hörte es und wandte den Kopf ein wenig und sah aus den Augenwinkeln einen Mann mit einem Koffer. Sie wandte sich wieder ab. Scheiße. Vielleicht konnte sie ihn durch ihre Kälte abstoßen. Das passierte manchmal. Die Leute können spüren, was in dir vorgeht – Ströme, Schallwellen, Kräftefelder? Wir nehmen so viel mehr auf, als wir mit dem, was wir hochtrabend als Intellekt rühmen, verarbeiten können – Kleinigkeiten, Dinge, die wir wissen, ohne zu wissen, daß wir sie wissen. Sie hatte Leute angezogen, wenn sie sie brauchte, und Leute abgestoßen, wenn sie sie nicht brauchte: mittels welcher unsichtbaren Drähte, welches nicht wahrnehmbaren Magnetismus? Sie versuchte es jetzt bewußt, indem sie kalte Wellen aussandte.
Aber der Mann kam trotzdem herein. Schwer von Begriff oder aggressiv, befand sie. Mit dem Rücken zu ihr, hob er seinen Koffer auf die Gepäckablage und zog seinen Regenmantel aus, dann setzte er sich hin. Sie sah ihn mit zornig funkelnden Augen an, aber er würdigte sie kaum eines Blickes. Er schlug seine Zeitung auf.
Dolores sah aus dem Fenster. Sie fühlte sich zittrig, als müßte sie gleich anfangen zu weinen. Ihre ganze schöne Reise ruiniert durch jemanden, der zu begriffsstutzig war, um zu merken, daß er hier unerwünscht war. Nicht etwa, daß der Zug überfüllt gewesen wäre. Jetzt würde es ihr die ganze Fahrt verderben, daß da ein Paar Augen waren, die sie meiden mußte, Bewegungen und Atemgeräusche, die sie verdrängen mußte, daß flüchtige Begegnungen ihrer Blicke bei ihr flüchtige und unangenehme Reaktionen im Gesicht hervorrufen würden – ein Lächeln, einen lüsternen Blick?
Der Zug fuhr an. Sie griff in ihre Handtasche und zog ihr Zigarilloetui heraus. Sie würde sich eines anzünden, ohne auch nur zu fragen, ob es ihn störte. Er verdiente es nicht anders, der Mistkerl. Und falls er ihr ins Gesicht sah, würde sie ihn, verdammt noch mal, wütend anfunkeln.
Und als sie einen kurzen Blick zu ihm hinüberwarf, während sie Anstalten machte, sich ihr Zigarillo anzuzünden, stellte sie fest, daß der Scheißkerl sie tatsächlich ansah, sie direkt ansah. Sie blickte kühl zurück und rauchte ihr Zigarillo an. Trotzdem, das Zigarillo war ihr schon halb verdorben. Da sie sich nur so wenige gestattete und auf jedes so lange wartete, empfand sie beim Anzünden immer ein tiefes sinnliches Vergnügen, wenn sie sich dem willkommenen Aroma hingab, dem heißen Rauch in Mund und Nase, dem Gefühl, die schöne, glatte Oberfläche mit ihren Lippen zu berühren. Aber jetzt, solange er sie beobachtete, konnte sie sich diesem Gefühl nicht überlassen. Die Hingabe an die Lust würde ihr anzusehen sein, und irgendwie schien es ihr ungehörig, daß jemand anders das sah. Es war zu persönlich, ja, zu intim. Er lehnte sich zurück und hob seine Zeitung, verbarg seine Augen. Sie schloß die Augen und lehnte sich zurück und überließ sich endlich der Lust an ihrem Zigarillo. Offenbar besaß er immerhin einen gewissen Anstand.
Rauchend blickte sie aus dem Fenster. Aber sie nahm die vorbeigleitende Landschaft kaum wahr. So geht es dir immer, wenn jemand einfach in deine Sphäre eindringt: du bist dir der anderen viel zu bewußt, um richtig fühlen, richtig sehen, einfach nur sein zu können. Du kannst nicht einfach nur sein, du mußt etwas Bestimmtes sein: salopp, korrekt, zum Flirten aufgelegt, freundlich, wohlanständig. Ist der Rock auch nicht hochgerutscht? Paß auf, daß du nicht in der Nase bohrst oder dich in der Leistengegend kratzt oder die Beine breit machst. Sicher, das alles machte sie normalerweise auch dann nicht, wenn sie allein in einem Zugabteil saß, aber das Bewußtsein, daß sie es nicht konnte, schränkte sie ein, machte sie befangen. Also gut, Rückzug nach innen. Worüber hatte ich gerade nachgedacht? Über mein Leben, das Alleinsein, ja. (Warum blättert er nicht um?) Ja, es war ein schönes Leben, es war weiterhin schön und lebendig, obwohl sich eine gewisse Gleichförmigkeit eingestellt hatte. Aber ging das nicht allen so, einerlei ob sie mit jemandem zusammen oder allein lebten? (Warum sitzt er so ruhig da?) Trotzdem, es gab Dinge, die nie ihren Reiz verloren. Ein schöner Herbsttag in Cambridge, die bunten Blätter, ihr Geruch in der Nase, staubig und herb und süß, das Licht auf den mit Ziegelsteinen gepflasterten Bürgersteigen; oder Vormittage, wenn sie nicht unterrichten mußte und in Ruhe frühstücken konnte und sich ein zwei Tage altes Ei kochte und sich eine Scheibe frisches Sesamroggenbrot mit frischer Butter bestrich und den frisch gemahlenen Santos-Kaffee roch, während er langsam durch den Filter tröpfelte, und ihn dann mit gerade einem kleinen Schuß Sahne trank … (Auch ohne hinzusehen, spürte sie, daß er auffällig still dasaß. Sie hatte das Gefühl, daß er sie ansah. Zum Teufel mit ihm!)
Ja, und Freunde und Essenseinladungen und Feste und herrliche Diskussionen und spät nach Hause kommen und einfach ins Bett fallen, mit einem aufgepappten Lächeln auf ihrem idiotischen Gesicht. Und besondere Augenblicke, wie jener erste Morgen in Madrid, als sie nicht schlafen konnten, trotz der sieben durchwachten Stunden im Flugzeug, und losgestürmt waren in die Stadt wie Pferde, die man aus der Koppel gelassen hat, sie und Sydney und Tony, und zur Plaza Mayor gelaufen waren und dort innehielten, und wie Tony stehengeblieben war und die Plaza angeschaut hatte (er war zum erstenmal im Ausland), und wie sie sein Gesicht angeschaut hatte und wie ihr das Herz stehengeblieben war, weil er sah, wirklich sah, und weil sie sehen konnte, daß er sah. Was sah er? O doch, sie wußte es, das, was dort zu sehen war – eine andere Welt, ein anderes Jahrhundert, und jene Zeit, das 18. Jahrhundert, war immer noch irgendwie da, hing in der Luft, wie Schallwellen angeblich ewig in der Atmosphäre herumgeistern. Die Frauen mit ihren hohen weißen Perücken und ihren Reifröcken aus Satin, die Männer in ihren Satinmänteln und weißen Seidenstrümpfen, die Kutschen und Lakaien, das Rumpeln der hölzernen Räder, die Dienstmägde und Bettler, das Blut, das Kokettieren, die Torheit. Der schöne, strenge Platz, schlicht, geschwungen, glänzend, hatte auch Pferdemist und Stroh beherbergt, Gassenjungen, die über die uringefüllten Rinnsteine hüpften, eine verirrte Kuh und ihre Innereien. Und was war die Realität, was war das Leben, wenn nicht beides? Sie hatte Tonys Gesicht beobachtet. Es strahlte. Alles darin war offen – die Augen, der Mund, selbst die Poren.
Offen: so wie Sydney ihr ein Gedicht von Yeats vorgelesen hatte, auf das sie gerade gestoßen war, mit einer Stimme, als hätte sie eine neue Dimension entdeckt. «Wie können wir den Tänzer am Tanz erkennen» hatte Sydney geschlossen und verwundert zu Dolores aufgesehen. «Wie können wir das, Mommy?»
Offen. Und auch sie selber, trotz aller Routine als ordentliche Professorin, trotz der vielen Jahre Englisch für Erstsemester, trotz der jahrelangen Bemühungen, eine gute Methode zu entwickeln, um Spenser zu vermitteln, trotz der Ausschußsitzungen Jahr um Jahr, der immer gleichen Fragen, der immer gleichen Reden – trotz alldem war auch sie offen geblieben.
In manchen Dingen.
(Er sah sie tatsächlich an.)
Das also war ihr immer zugänglich, das Vergnügen und die Freuden, die sie sich selber gönnte. Es stimmte, sie hatte einige Türen zugemacht. Wer kann mir das schon vorwerfen? Wie viele Narben kann ein Herz davontragen und doch immer noch weiterschlagen. Denn völlig offen bleiben, das bedeutet, für alle Seiten der Dinge offen zu bleiben, für den Schmerz ebenso wie für das Vergnügen. Und es gab Schmerzen, von denen sie nicht noch mehr verkraften konnte. Was sie schon an Schmerzen davongetragen hatte, trug sie immer mit sich herum, es stieg auf wie Rauchschwaden und hörte nicht auf, wie in der Nacht damals, ehe sie nach England gefahren war, als sie ein Wochenende mit John und Carol, ihren ältesten Freunden, am Cape verbracht hatte, Menschen, mit denen, zu denen sie ehrlich sein konnte. Sie waren bis spät in die Nacht hinein aufgeblieben, alle drei, und hatten über die Vergangenheit gesprochen, über das Leid, das sie alle unmittelbar unter der Oberfläche in sich trugen, bis es durch den Alkohol und die vorgerückte Stunde hochkam und ohne den leisesten Anstoß aus Dolores herausgeströmt war, wie ein Boiler, dessen Verschluß einfach mit der Zeit abgenutzt ist – es war aus ihr herausgeströmt und hatte das Zimmer überschwemmt, zum Schweigen gebracht.
Der Mann starrte sie an.
Sie war sich dessen ganz sicher. Sie hatte den Kopf nicht zu ihm hin gedreht, sie saß immer noch mit dem Gesicht zum Fenster, aber sie spürte etwas – eine Spannung. Sie ließ ihre Augen zu ihm hinübergleiten. Und ertappte ihn! Er starrte sie an. Er senkte sofort den Blick, und sie wandte sich sofort wieder dem Fenster zu, aber für einen winzigen Moment hatten sich ihre Blicke gestreift. Seine Augen waren dunkel, fast schwarz, mit einem stecknadelkopfgroßen Lichtpunkt darin.
Oder stellte sie sich nur vor, daß sie so waren? Weil es eindringlich blickende, intelligente Augen waren, leidenschaftliche Augen, genau wie die Augen des Mannes in ihrem Traum?
Eine Wolke zog sich um ihr Herz zusammen. Verdauungsbeschwerden. Die verdammten fetten Eier. Ich sollte mir wirklich eine andere Übernachtungsgelegenheit in London suchen. Andererseits ist das Hotel so billig und liegt so günstig, ein angenehmer Spaziergang über den Russell Square, und schon bin ich im Britischen Museum.
Sie starrte auf die verschwommene Landschaft hinaus und paffte an ihrem Zigarillo. Nichts. Er war ausgegangen. Wie lächerlich mußte sie auf den Menschen, der ihr da gegenübersaß, wirken, falls er sie ansah, was er natürlich tat. Sie zog die Augenbrauen hoch, bemüht, dem blöden Zigarillo gegenüber Verachtung zur Schau zu tragen, und angelte in ihrer Handtasche nach einem Streichholz. Währenddessen ließ sie ihre Blicke kurz über seine unteren Körperpartien schweifen. Lange, schmale Füße, gute Schuhe, braune Tweedhosen. Absolut nicht die Kleidung eines Flüchtlings. Vergiß den verdammten Traum. Als sie ihr Zigarillo wieder anrauchte (igitt – schal und stark!), ließ sie den Blick weiter an ihm hinaufgleiten. Eine graue Tweedjacke, braun meliert, hübsch. Ein grauer Rollkragenpullover. Und ein längliches Gesicht – das sie ansah!
(Keine Panik. Er weiß nichts von deinem Traum. Lächle und sag: Gräßliches Wetter, nicht? Ist es aber gar nicht. Oder?) Sie sah aus dem Fenster, um sich zu überzeugen. Die Sonne war herausgekommen, und die Kanäle zeigten sich in einem tiefen Blaugrau. Wie das Meer bei Gloucester im Juli.
Sie fühlte einen wachsenden Druck im Nacken. Sie konnte sich nicht beherrschen, sie mußte wieder zu ihm hinsehen. Er sah sie direkt an, und einen mutigen Moment lang ließ sie es zu, daß ihre Augen sich trafen. Sie gab sich große Mühe, mit ihren Gesichtsmuskeln so etwas wie ein Lächeln zustande zu bringen. Dann glitten oder vielmehr schnellten ihre Augen, die immer noch ihrem eigenen Willen gehorchten, ohne ihre Weisungen zu beachten, zum Fenster zurück.
Er hatte nicht zurückgelächelt.
Was für ein Gesicht er hatte! Lang, schmal, mit tiefen Linien, die sich über die Wangen herunterzogen. Es war ein Gesicht, das Gefühle erlebt hatte. Wie oft findest du das schon bei einem Mann? Er hatte eine Art zerknitterter Vornehmheit an sich. Das galt für seinen Körper, seine Kleidung, seine Haltung – eine Art, wie man sie bei Tänzern oder Schauspielern findet, bei Menschen, die sich ihres Körpers bewußt sind, die ihren Körper benutzen. Traum: vermutlich spielte er mit religiösem Eifer Tennis, um schlank zu bleiben.
Sie fragte sich, wo er wohl hinsah, was er wohl sah, wenn er sie ansah. Eine Frau von fünfundvierzig, der man ihr Alter ansah, die aber nicht aussah wie eine Frau mittleren Alters. Ziemlich groß, schlank, sehr schlank, vielleicht zu dünn, die Schultern immer nach vorn gezogen, als versuchte sie so, ihre Brüste zu schützen – oder ihr Herz. Ein Gesicht, das sich immer – fast immer – in der Gewalt hatte. Warum sah er sie weiter an?
Sie hielt die Augen fest auf das Fenster gerichtet, so fest, daß sie nichts sah. Dann hielt der Zug plötzlich. Sie waren in Reading. Und plötzlich überfiel sie panische Angst. Was, wenn er aussteigt? Wenn jemand anders ins Abteil kommt? Großer Gott. Ein richtiges Drama habe ich schon daraus gemacht. Scheiße. Ich will es, ich will, daß diese Spannung, diese Intimität ohne Worte oder Gesten anhält. Oh, Dolores, meine dolores, idolores, was bist du für eine verdammte Närrin!
Während des Halts in Reading ging es immer ziemlich hektisch zu. Menschen hasteten auf dem Bahnsteig vorüber, stiegen ein, stiegen aus, holten Leute ab. Schatten glitten an den Fenstern in der Abteiltür vorüber, manche schnell, manche langsam, manche schleppten ein Gepäckstück, das gegen die Tür stieß. Leute blieben stehen, drehten sich um, gingen weiter. Sie trug eine Maske völliger Gleichgültigkeit zur Schau, rauchte und starrte aus dem Fenster.
Der Mann raschelte mit seiner Zeitung. Zum erstenmal, seit sie London verlassen hatten, blätterte er eine Seite um. Das Hin und Her ließ nach. Eine Tür wurde zugeschlagen. Der Zug fuhr wieder an, langsam zuerst, dann mit normalem Tempo. Ein schwerer, rosagesichtiger Mann zog, noch keuchend, die Tür ihres Abteils auf. Er trug einen Vertreterkoffer, der schwer zu sein schien, und wirkte leicht verzweifelt. Er warf einen kurzen Blick auf ihre Gesichter, die sich ihm, beide gleichzeitig, zuwandten, deutete eine Verbeugung an, zog sich zurück, knallte die Tür zu und schleppte sich weiter den Gang hinunter.
Ist die Luft hier drinnen so geladen?
Steif blickte Dolores wieder zum Fenster hinaus, aber ihre Augen wanderten ganz von allein zu dem Mann zurück. Sie mußte sich noch einmal überzeugen, sehen, ob er eine Erfindung aus ihrem Traum war, die sie hatte Fleisch werden lassen. Ihr Blick fiel auf eine Hand. Hübsche Hand. Lange, schmale Finger, kräftige Knochen. Finger, die in diesem Moment eine Zeitung hielten, aber Finger, die du gern …
Zurück zum Fenster.
Zurück zu ihm. Hübsche Jacke, gut eingetragener, weich gewordener Tweed.
Zurück zum Fenster.
Zurück zu ihm. Pullover. Hübscher, weicher Pullover, eng am verletzlichen Fleisch anliegend. Wie dieses Fleisch wohl aussieht, was meinst du? Totenblaß? Behaart? Glatt und golden? Picklig?
O Gott, was tue ich?
Zurück zum Fenster.
Zurück zu ihm. Und diesmal erwischte sie seine Augen, ertappte sie, wie sie sie ertappten, mit widerstrebendem Blick. War sie diejenige, die dieses Spiel leitete? Gerade, tiefe Falten zwischen den Brauen. Beunruhigung. Verwirrung. Nachdenklichkeit. Hübsch. Graue Stellen im dunklen Haar. Wie bei ihr. Hübsch. War ihres auch hübsch? Seines war kurz, ihres war lang. Außerdem galten für Männer andere Maßstäbe.
Ihre Augen schweiften umher, auf der Suche nach etwas, das sie ansehen konnte. Sie paffte. Ihr Zigarillo war schon wieder ausgegangen. Verdammt! Es war wirklich peinlich. Sie drückte es aus, schlug alle ihre Grundsätze in den Wind und zog ein neues heraus und zündete es an.
Sie mußte sich wie eine Idiotin ausnehmen. Und er beobachtete sie, beobachtete sie ganz eindeutig.
Es war unerträglich. Sie wußte nicht, was sie mit sich anfangen sollte, wo sie ihre Hände lassen sollte, wie sie die Beine halten sollte, wie sie eine gelassene Miene bewahren sollte. Sie fühlte sich angegriffen, überfallen, angebetet, lächerlich.
Oh, es war klar, was sie zu tun hatte. Sie mußte ihm direkt ins Gesicht sehen und ein förmliches, steifes Lächeln aufsetzen und sagen: Gräßliches Wetter, nicht? Und sich geziert wieder dem Fenster zuwenden.
Das würde reichen.
Die Landschaft raste in Wellenlinien vor ihren Augen vorüber.
In wenigen Minuten, sagte sie sich, wirst du in Oxford sein. Du wirst aufstehen, dich umdrehen und deine Taschen von der Gepäckablage herunternehmen. Dann wirst du dich seitwärts wenden und durch die Tür hinausgehen und nach links abbiegen und ruhig und gelassen den Gang hinuntergehen und im Gang stehenbleiben, bis der Zug endgültig zum Stillstand gekommen ist, und dann wirst du die Waggontür öffnen, zwei Stufen – eine Stufe? – hinuntersteigen und festen Zement unter deinen festen Ledersohlen spüren, und du wirst zur Treppe gehen und sie hinuntersteigen (vielleicht funktioniert auch die Rolltreppe, aber es ist besser für dich, wenn du die Treppe nimmst) in die kühle, erfrischende Septemberluft von Oxford, und du wirst zu Fuß nach Hause gehen und tief atmen, und dieses Phantasiegebilde, diese Leidenschaft, die du dir da erfunden hast, wird verfliegen.
Aber ich will nicht, daß sie verfliegt.
Nein?
Ja, er wird sitzen bleiben und mir sehnsüchtig nachsehen, wenn ich gehe, und ich werde mir den ganzen Weg nach Hause attraktiv vorkommen. Und er fährt weiter, nach …
Es war kein Intercity-Zug, wurde ihr plötzlich klar. Also fuhr er auch nach Oxford.
Gut. Er wird also auch aussteigen und seinen Koffer hinuntertragen, aber er würde die Rolltreppe benutzen, sie hinunterlaufen wie eine normale Treppe, weil ihm bewußt sein würde, daß sie ihn beobachtete, und er ihr damit eine Botschaft sandte. Die Botschaft: Ich laufe nach Hause zu meiner Frau und meinen sechs Kindern, du brauchst dir gar nicht so attraktiv vorzukommen, meine Frau ist sehr viel verführerischer als du. Verführerischer. Genau.
Nachdem sie das alles in Gedanken durchlebt hatte, verlor sie ihre Befangenheit. Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Uhr und dann auf ihn, sah ihm direkt ins Gesicht, ein bißchen ängstlich, und gab ihm ohne Worte zu verstehen, so, das war’s, und um ehrlich zu sein, es hat mir ganz gut gefallen. Obwohl ich nicht wollte, daß du in meine Sphäre eindringst, habe ich es doch ziemlich genossen. Adieu. Es tut mir leid, daß es ein Adieu für immer ist.
Aber er erwiderte ihren Blick und teilte ihr etwas anderes mit. In seinen dunklen Augen waren glänzende Lichtpunkte, wie von Fieber. Aber immer noch waren seine Augen verwirrt und widerstrebend. Und sie stellten keinerlei Forderung. Sie waren einfach nur da. Da war nichts von den üblichen Macho-Spielchen: seine Augen zeigten nichts Besitzergreifendes, Wissendes oder Überlegenes. Seine Augen blickten nur, sahen sie an: ihr Anspruch lag in ihrem bloßen Blicken.
Zumindest meinte sie das.
Mein Gott, kein Wunder, daß ich allein sein muß. Wenn ich schon aus dem Nichts heraus solche Dramen konstruiere, was tue ich dann erst, wenn wirklich etwas geschieht?
Dolores Durer, was tust du?
Es hatte schon früher solche Augenblicke gegeben, erinnerte sie sich. Dutzende. Irgendwann, vor langer Zeit, war es Hunderte von Malen vorgekommen, daß schöne Männer ihr auf Flughäfen, in Restaurants gegenübergesessen hatten oder im Central Park an ihr vorbeispaziert waren. Ja, schöne Männer, und die Erinnerung an die Schönheit bleibt, selbst wenn die Erinnerung an die Gesichter verblaßt. Schön, weil du nicht mit ihnen sprichst, nie entdecken mußt, wer sie sind. Nicht zusehen mußt, wie der hübsche Mund sich öffnet und sagt: He, Harry, washältstndavon, wenn wir heute nacht durch die Stadt ziehen, ich kenn da ’n paar Lokale, wo echt was los ist, washältstndavon, wenn wir ’n paar echte heiße Bräute aufreißen und ihnen mal echt was bieten. Letztes Mal, wie ich in Nashville war, hab ich zwei Riesen auf ’n Kopf gehauen. Und nicht zusehen mußt, wie das Gesicht herumschwingt, wie der Mund wieder aufgeht, diesmal schon weniger hübsch: «He, Süße, kann ich dir ’n Drink spendieren?»
Der Mann hier hatte nichts gesagt.
Aber vielleicht würde er es noch tun. Erinnere dich an alle, die es getan haben: Möbelvertreter, die einen kleinen Fick wollten, verklemmte Schauspieler, die Eindruck schinden wollten, leitende Angestellte aus der Fertiggerichtebranche, die dir von ihrem Philosophiestudium erzählen wollten, einmal sogar ein dänischer Armeegeneral, schlank und weltgewandt und darauf bedacht, keine persönlichen Fragen zu stellen, der sich den Hering schmecken und seine Augen von dir Besitz ergreifen ließ, sie aber zurückzog (führen Sie so Ihre Schlachten?), wenn du dich umdrehtest, und dir höflich lächelnd Feuer gab.
Aber dieser Mann war keiner von denen.
Ich hätte förmlich lächeln und «Gräßliches Wetter» sagen sollen.
Der Zug verlangsamte jetzt sein Tempo. Es war vorbei. Er würde aufstehen, sie würde aufstehen, und sie würden getrennte Wege gehen. Diese Gewißheit befreite sie, und sie sah ihm voll ins Gesicht. Sein Gesicht war von dunkler Intensität, starrte sie an. Sie ließ ihren Blick dem seinen begegnen und versprach ihm etwas, so wie sie zuvor auch José etwas versprochen hatte. Nein, zum Teufel, nicht versprochen, nur geantwortet. Ja, ich finde dich auch nett. Das ist alles.
Aber als sich ihre Blicke trafen, verfingen sie sich, wie wenn zwei Kinder mit Zahnspangen einander küssen. Verfingen sich ineinander und wollten sich nicht wieder loslassen. Und während ihre Blicke sich trafen, wurde ihr Inneres locker und flüssig. Jetzt, beim Abschied, konnten ihre Gefühle ihr nichts mehr anhaben. Sie sah ihn an, und er sah sie an, und die Botschaft war unannehmbar. Und da sie spürte, daß ihr Mund eine volle, feuchte Mitteilung war, versuchte sie langsam, sich abzuwenden.
Und wandte sich ab.