Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
Copyright für diese Ausgabe © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Titel der Originalausgabe: «Becky Bernstein Goes Berlin»
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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-23434-7
ISBN E-Book 978-3-688-10799-5
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-10799-5
Anm. der Autorin:
Entschuldigen Sie, liebe Leserinnen, daß ich Sie an dieser Stelle bitte, die Geschichte zu verlassen und hier unten das mikroskopisch Kleingedruckte zu entziffern. Ich fühle mich verpflichtet, Sie darauf hinzuweisen, daß Heinrich Heine die weisen Worte, die Becky ihm zuschreibt, nie gesagt hat. Verzeihen Sie diese arglistige Täuschung, und lassen Sie mich die Sache erklären.
Ende 1989 zitierte ein Ex-Lover von mir, jemand, der dem Hannes dieser Geschichte nicht unähnlich ist, diesen Satz, als wir in einer Ausstellung waren, die wiederum der oben beschriebenen ähnelte. Anton – so hieß mein Geliebter – behauptete, er sei von Heine. Antons Zitiertalent – wie seine Gefühlswelt – hatten ihre Tücken. Wie dem auch sei, Anton Schulze hatte für jede Gelegenheit ein Bonmot, und ich schrieb auch immer eifrig mit, aber er wußte nur selten die Quellen. (Noch Monate, nachdem wir uns getrennt hatten, entdeckte ich überall in der Wohnung heimatlose Sprüche auf winzig kleinen, verknitterten Schmierpapierfetzchen: in Schubladen, hinter den Polstern, in meiner Brieftasche, in den Tiefen meiner Handtasche. Es war sehr lästig und verursachte mir jedesmal ziemliches Herzeleid.)
Anyway, die angeblichen Heine-Worte hatten es mir derart angetan, daß ich mir immer wieder vornahm, sie in meiner Arbeit zu verwenden. Ich wollte die Quelle selbst erforschen, doch Heine war ein ziemlich produktiver Schreiber, und ich muß zugeben, daß ich die Suche nicht bis zum bitteren Ende durchgezogen habe. Natürlich blätterte ich in Heines Gesammelten Gedichten, überflog die Briefe, untersuchte mit Röntgenblick die Essays, reiste mit dem Dichter nach Paris und wieder zurück, nahm mir Berühmte-Zitate-Lexika vor, aber auch nicht ansatzweise entdeckte ich den Satz »Heimat ist dort, wo man sich nicht erklären muß«.
Mittlerweile hatte ich mir das Zitat zu eigen gemacht, es war Teil meines Denkens, Teil meiner Weltanschauung geworden, es mußte Teil dieses Buches werden. Ich beschloß, es in dieses Kapitel zu integrieren. Als Freimut Mecklinghaus, ein Freund von mir und Kenner der deutschen Literatur, das Manuskript las, ging er an die Decke. »Nein, nein«, schrieb er mit Rotstift an den Rand, »bestimmt nicht von Heine. Satzkonstruktion zu modern!« Er schlug mir zwecks Verifizierung vor, die Heinrich-Heine-Gesellschaft in Düsseldorf anzurufen. Gesagt, getan.
Ach leider, das Zitat war nicht von Heine. Und Anton Schulze ist ein Vollidiot! Das wollte ich Ihnen nicht vorenthalten.
For my two and only,
Eberhard and Noah
Sonntag, 27. September 1992
Felix war ein richtiges Arschloch. Gelinde gesagt. Wie gern würde ich noch deutlicher werden. Ich würde liebend gern in allen Einzelheiten erzählen, was ich wirklich von ihm halte. Aber das tue ich nicht, ich möchte es mir ja nicht gleich mit Ihnen verderben. Ich müßte mich nämlich eines reichlich deftigen Vokabulars bedienen, um seinen Charakter zu illustrieren. Also belasse ich es kurz und prägnant bei »Arschloch«.
Natürlich hätte ich es besser wissen müssen. Was unterschied ihn schließlich von all den anderen nichtswürdigen, unsensiblen Typen, die durch mein Leben gedriftet waren, durch diese Ödnis namens Singledasein? Nichts. Bis auf das »X« am Ende seines Namens – was es besonders lästig machte, im Genitiv von ihm zu sprechen –, den hinreißend roten Haarschopf, die Sommersprossen und die langen Angora-Unterhosen, die er wegen seiner schwachen Blase trug. Wie konnte ich bloß so blöd sein, meine Energien auf ein genitivloses, sommersprossiges Bürschchen zu verschwenden, das zwölf Jahre jünger war als ich. Stimmt schon: Er war ein süßer Fratz. Besonders ohne die langen Unterhosen. Aber seien wir mal ehrlich, taugt ein Pipifax Langstrumpf mit schwacher Blase zum Geliebten?
Na ja, ich habe natürlich nie ernsthaft geglaubt, das ist er! Ich bin ja nicht bescheuert. Ich bin New Yorkerin. Aber die ganze Zeit dachte ich, ich hätte die Zügel in der Hand. Ich dachte, ich, Rebecca Lee Bernstein, führe Regie und erfinde die Plots. Und was passierte an dem Abend, bevor wir nach Venedig wollten?
Also: Ich war noch nie in Italien gewesen. Ich hatte noch nie in einer Gondel geschmachtet, noch nie den Mond über einer Lagune aufgehen sehen oder einen Nachmittag mit den Tauben auf der Piazza San Marco gegurrt. Außerdem mochte ein Hauch mediterraner Atmosphäre Wunder wirken. Denn ich steckte in einer tiefen Schaffenskrise, die mir schon seit längerem Bauchweh bereitete.
Ich hing im alten Trott fest. Das hatte zwar noch niemand so richtig gemerkt, aber ich zog meine Fernseh-Talk-Show Bei Becky inzwischen ziemlich gleichgültig, ja zynisch durch. (Bei der Quasselshow-Schwemme heutzutage muß man doch zynisch werden. Noch dazu bei einer monatlichen Sendung in einem Berliner Lokalsender.) Meine Interviews wurden vorhersagbar. Ich brauchte eine Pause vom Talken, vom Fernsehjournalismus und eine Pause davon, mir jeden Tag die Fingernägel maniküren zu lassen. Maniküren sind so lästig. Man kann nicht mal ein Buch dabei lesen. Aber sie sind notwendig. Meine Hände sollen ja halbwegs salonfähig aussehen, wenn die Kamera auf mich draufhält und ich den Bestseller eines Gastes herzeige, Sylvester Stallone die Hand schüttele oder Siegfrieds Löwenbaby kraule.
Wenn ich nun, zwei Jahre später, zurückdenke, waren die einzigen Wonnen dieses Spätsommers der erwähnte Felix, ein aufstrebender Anlageberater, der mir ein paar Wertpapiere verkaufte, die sich als weit beständiger herausstellten als er, und Bingo Berlin, eine Geschichte über zwei Amerikanerinnen auf Schicksalsfahrt in »New Germany«. Es war mein dritter bescheidener Anlauf, mich literarisch zu betätigen, aber der erste, der zu klappen schien. Ich verkaufte die Erzählung der Kulturredaktion eines deutschen Rundfunksenders und schickte sie im ersten Ruhmesrausch an die Freundin einer Freundin beim New Yorker. Ich war so zufrieden mit der Arbeit, daß ich sogar mit dem Gedanken spielte, das Fernsehen sausen zu lassen und das Leben einer darbenden Schriftstellerin auf mich zu nehmen. Das fand ich schon im College sehr romantisch. Aber unseligerweise hatte ich keine weiteren zündenden Ideen mehr und war im Grunde meines Herzens viel zu ängstlich, um meinen Brotberuf aufzugeben. Selbst wenn das Brot manchmal schimmelig schmeckte.
Wie gesagt, die Dinge hingen ein wenig in der Schwebe. Deshalb war ich ganz wild auf Venedig. Aber was passierte dann? Dieser Bubi, dieser Pipifax, dieses Arschloch Felix mit der schwachen Blase und dem aufgeblasenen Ego, ruft mich an und sagt, es tut ihm leid, aber er braucht seinen Freiraum, Zeit zum Nachdenken, und übrigens ist seine Exfreundin Hildburg wieder da.
Seine Exfreundin Hildburg? Seit wann hat er eine Exfreundin? Und dann noch mit dem Namen Hildburg? Von der hatte er mir nie erzählt. Das weiß ich genau. Wie könnte ich einen Namen wie Hildburg vergessen?
Ich war also gerade emsig dabei, Gorgonzola auf die Brötchen für unsere Reise zu streichen, da labert er mich voll, wie schrecklich leid es ihm tue, aber er müsse das Ganze verschieben, so was passiere eben, und warum ich denn gar nichts sage?
»Ich kann nichts sagen. Ich habe den Mund voll. Ich entsorge gerade das Gorgonzolabrötchen, das ich für dich geschmiert habe«, sagte ich nicht ohne Biß.
»Warum bist du denn gleich beleidigt? Ich wußte ja nicht, daß du es so persönlich nehmen würdest. Außerdem solltest du nicht immer drauflosfuttern, wenn du dich über was aufregst. Du solltest auf dein Gewicht achten.«
Ich erstickte fast an dem Brötchen. Was sagte er da? Ich sollte auf mein Gewicht achten? Seit wann stand mein Gewicht zur Debatte? War das sein letzter guter Rat, bevor er in Hildburgs anorexische Arme zurücksank?
»Du bist nicht etwa dick«, fügte er rasch hinzu. »Und es stört mich auch nicht. Du bist sehr attraktiv. Wirklich. Aber es würde dir nichts schaden, um die Hüften ein paar Pfund abzunehmen. Du stehst in der Öffentlichkeit. Da erwarten die Leute ein gewisses Aussehen.«
Es würde mir nichts schaden, um die Hüften ein paar Pfund abzunehmen? Redet so ein taktvolles menschliches Wesen? Die Rückkehr einer alten Freundin war bis zu einem gewissen Grade verständlich, aber beiseite geworfen zu werden wie ein abgenagter Hühnerknochen war unverzeihlich.
»Sag doch was«, sagte er. »Oder hast du schon eingehängt?«
»Nein, hab ich nicht. Aber gleich werde ich den Hörer auf die Gabel legen. Das ist nicht dasselbe wie Einhängen, doch es dient dem gleichen Zweck und ist nicht so unhöflich, du VERDAMMTES ARSCHLOCH!« Woraufhin ich den Hörer auf die Gabel legte und dem Gorgonzolabrötchen vollends den Garaus machte.
Moment mal. Das wird übrigens keine Geschichte über Felix. Um Himmels willen, nein! Es war der pure Zufall, daß er ausgerechnet an dem Abend, an dem sich mein Leben änderte, so gemein zu mir war. Ich verwerte ihn nur als Expositionsmaterial. Meine Art, es dem Arschloch heimzuzahlen.
Ich erzähle aber auch nicht die x-te triste Geschichte über eine pummelige Frau mit grauen Strähnen, plumpen Hüften, kurzsichtigen Augen und einer Wohnung, die von Staub und Erinnerungen überquillt. Über ein spätes Mädchen, das seine Abende damit totschlägt, an Himbeergeist zu nippen und sich zu fragen, ob das nur eine vorübergehende Midlife-crisis ist oder, Gott bewahre, vielleicht doch ihr Leben.
Zugegeben: Nachdem ich den Hörer auf die Gabel gelegt und das dick bestrichene Gorgonzolabrötchen verspeist hatte, sah ich in den Spiegel und erblickte eine pummelige Frau mit grauen Strähnen, plumpen Hüften, kurzsichtigen Augen und einer Wohnung, die von Staub und Erinnerungen überquoll. Meine Augen waren rot vom Weinen, mein Mund mit Krumen und Käseschimmel verkrustet. Mein Lover, ein Schnösel, ein Mickerling, ein Fifi, hatte doch glatt die Frechheit, die Unverfrorenheit besessen, mich am Vorabend unserer gemeinsamen Ferien zu verlassen. Ja doch, natürlich fragte ich mich, ob dies, Gott bewahre, mein Leben war.
Zum Himbeergeist habe ich allerdings nicht gegriffen. Statt dessen putzte ich mir mit dem Zipfel meiner Bluse die Nase, atmete tief durch, hob die Faust gegen den Spiegel und schwor mir, klar Schiff zu machen. »So was passiert mir nie wieder!« schrie ich und gelobte an Ort und Stelle, daß ich nicht verreisen, sondern die freie Zeit nutzen würde, mein Leben auf die Reihe zu bringen, mich all des Ballasts, all der überflüssigen Kilo Gerümpel inklusive Cellulite zu entledigen, die ich seit Jahren mitschleppte. Mußte ich mich von einem Fiesling wie Felix darüber belehren lassen, wie schädlich Gorgonzola ist? Seit Monaten schon wollte ich eine Diät machen. Das war allerdings eine Kleinigkeit gegenüber meinem Jahrhundertplan, Inventur zu machen, mit der Dampfwalze durch meine Wohnung zu rollen, die Massen einzuebnen, den Rest um- und umzukrempeln. Denn unsichtbar für das bloße Auge, herrschte überall um mich herum ein fürchterliches Durcheinander. Geschickt verborgen hinter einer Fassade von Ordnung, lauerte es in den tiefsten Tiefen wohlverschlossener Kammern, dunkler Schubladen, vollgestopfter Kleiderschränke, schwer zu erreichender Regale und Truhen. Ich aber wußte, daß es existierte. Und war nun überzeugt, ich bräuchte dieses Chaos nur wie das überschüssige Fett von meinen Knochen abzustoßen, und eine neue Epoche werde anbrechen. Erlösung, ein Neubeginn! Ach, wie verzehrte ich mich nach dem perfekten Körper im perfekten Raum. Die Zeit war reif. Now or never!
»Das passiert mir nie wieder!« Ein letztes Mal wütete ich den Spiegel an wie eine wahnsinnige Scarlett O’Hara. »Gott ist mein Zeuge! Nie wieder!«
Dann – endlich! – stürzte ich mich auf den Himbeergeist.
Seitdem sind zwei Jahre ins Land gegangen, aber ich erinnere mich genau, daß ich in jener Nacht überraschend gut schlief. Ich hielt mich an mein Versprechen und setzte mich und meine Wohnung früh am nächsten Morgen auf eine strenge Diät. Das ist also unsere Geschichte. Und die von niemandem sonst. Schon gar nicht die von Felix. Dem Arschloch. Ganz gelinde gesagt.
Montag, 28. September 1992
Diätwoche: 1
Tag: 1
Gewichtsverlust: o
»Sex!« sagte Barry. »Und damit basta. Sex. Darauf kannst du dich verlassen. Das einzige, was Männer wollen, ist Sex. Sex. Sex.«
Jedesmal, wenn er das Wort verkündete, wurde seine Stimme lauter, tiefer, inbrünstiger. Und mit jedem neuen Ausruf schienen seine Hände einen Hintern zu kneten, der immer breiter wurde.
Barry war Schauspieler, ursprünglich aus Detroit, nun aus Berlin-Kreuzberg. Er arbeitete als einziger Amerikaner in einem ungeheuer populären russisch-deutschen Theaterensemble, das künstlerisch wertvoll über die Bühne stampfte und trampelte, große Gesten und jede Menge Krach machte und sehr wenig sagte. Das Theatralische war nun auch Barrys persönlicher Stil geworden.
»Hat er doch gekriegt«, protestierte ich. »Sex in allen Lebenslagen.«
»Von der Seite? Von hinten –?«
»Jaaa!« schrie ich. »Von vorn. Von hinten. Von oben. Von der Seite.«
»Auch kopfüber?«
»Er oder ich?«
Barry gluckste und biß in das Gorgonzolabrötchen, das ich ihm serviert hatte. »Du mußt einfach einsehen«, sagte er achselzuckend, »daß Hildegard ihm mehr gegeben hat.«
»Hildburg.«
»Und nie wirst du erfahren, warum. Und es ist auch egal.«
Ich runzelte die Stirn.
»Macht es dir was aus?« fragte er.
»Ein bißchen schon.«
»Was hast du für einen IQ?«
»148. Aber was hat der damit zu tun?«
»Nichts weiter, als daß du für jemanden mit einem IQ von 148 ziemlich blöd bist!« Barry lief ins Badezimmer, wo seine Wäsche auf ihn wartete. »Wie lange hat’s gedauert? Ein paar Wochen? Vergiß es und such dir einen anderen. Laß Felix seiner Hildkraut.«
»Burg. Hildburg. Aber du hast recht. Heike hat auch schon gesagt, ich soll den Idioten in den Wind schießen. Weiß der Henker, was der für einen IQ hat.«
»Sachte, sachte. Er kann ja nichts dafür. Laß den Typen in Ruhe.«
»In Ruhe? Ich soll ihn in Ruhe lassen?« kreischte ich. Wie ich es hasse, wenn Männer ihren Geschlechtsgenossen alles durchgehen lassen. »Wenn ich diesen Kretin sehe, breche ich ihm sämtliche Knochen!«
»He, du kannst aber ganz schön gemein sein.«
»Na und?«
»Schieß den Idioten in den Wind. Heike hat dir einen guten Rat gegeben. Wie geht’s ihr eigentlich?«
»Sie ist nicht auf dem freien Markt, falls du das wissen willst.«
»Tolle Titten.«
Ich verdrehte die Augen. Mit diesem Typen konnte man einfach kein ernsthaftes Gespräch führen.
»Fällt dir zu meiner ältesten Freundin nichts Besseres ein als ›tolle Titten‹?« fragte ich.
»Toller Hintern.«
Barry Sonnenberg war unverbesserlich. Aber süß.
»Sagen Sie einem Mann nie, er sei süß«, riet mir der süße kleine Megastar Rieh Matell einmal in einem Interview. »Männer wiegen sich gern in dem Glauben, daß sie männlich sind.«
»Gut, Rieh«, hatte ich gesagt, »gehen wir mal essen, und dann sage ich Ihnen, ob Sie auch männlich sind.«
Rich und ich waren nie essen, aber der Spruch kam gut an und sicherte mir meinen Job beim Sender und das Wohlwollen meiner feministischen KollegInnen.
Auch Barry und ich haben nie was miteinander gehabt. Dem Herrn sei Dank! Was war er für ein scharfer kleiner Herzensbrecher. Einmal in der Woche kam er und wusch seine Wäsche, und kaum zu fassen, wie viele schmutzige Laken er in dieser Zeitspanne ansammelte. Aber wir waren gute Freunde, zwei Amerikaner unter den Menschenfressern, und als Gegenleistung für das Waschpulver, den enormen Stromverbrauch und diverse Flaschen Bier erklärte er mir die Welt aus der Sicht eines süßen, männlichen, barbarischen Sexprotz.
Barry kam mit Ray-Ban-Sonnenbrillenimitat und frisch gewaschener und gefalteter Bettwäsche im Rucksack in die Küche.
»Weißt du«, begann er, »Hildlinde muß Sommersprosse wirklich fest im Griff haben. Ich kann mir sonst nicht vorstellen, wieso jemand dich verläßt.«
»Ach, danke schön, Barry. Du bist so lieb.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie jemand freiwillig eine Frau verläßt, die eine Waschmaschine mit 15 Programmen besitzt, und noch dazu einen Trockner mit Sensitivtrockensystem und Spezialknitterschutz.«
Das Gorgonzolabrötchen! Ich schnappte es und zielte auf seinen Kopf. »In fünf Sekunden bist du draußen! Sonst passiert was!«
»Bin schon weg, bin schon weg«, sagte er, küßte mich auf die Wange und ging zur Tür.
»Halt, warte einen Moment!« sagte ich. »Nimm das Brötchen mit.«
»Nein, iß du es auf.«
»Unmöglich. Ich mache Diät.«
Barry hob die Brauen.
Zum erstenmal seit meinem Entschluß vom Vorabend hatte ich die Worte ausgesprochen. Sie klangen fremd und, ehrlich gesagt, wenig überzeugend. Ich hatte nicht einmal mit Heike über die Diät geredet, obwohl wir mindestens eine Stunde telefoniert hatten. Heike, an deren sehnigem, sportlichem Körper kein Gramm Fett sitzt, war keine Frau, die Mitgefühl für die Hungerkuren anderer Frauen aufbringen würde. »Wenn du abnehmen willst«, hatte sie einmal zu mir gesagt, »tu dir so viel auf den Teller wie immer und schmeiß dann die Hälfte weg. Das ist idiotensicher.«
Wie gesagt, in Sachen Hungerkuren war sie keine große Hilfe.
»Du machst Diät?« fragte Barry. »Laß es. Du ißt viel zu gern. Das hältst du nie durch. Und hast du es letztes Jahr nicht schon mal probiert?«
Ich zog ein Gesicht. »Letztes Jahr ist nicht dieses Jahr.«
»Und vorletztes, war da nicht auch so was?«
Ich nickte verdrießlich.
»Hör auf, ehe du enttäuscht bist. Glaub mir! Das klappt nicht.«
»Doch.«
»Wie lange willst du dich dieser Tortur unterziehen?«
»Bis ich auf Größe 36 bin oder zehn Kilo runter habe. Je nachdem, was zuerst kommt.«
»Zehn Kilo?!« Er grinste breit. »Drei. Höchstens. Mehr schaffst du nicht. Kein Gramm mehr.«
»Du irrst dich.«
Barry schob sich den Rucksack zurecht. »Aber übertreib’s nicht. Männer mögen ein bißchen Fleisch.« Und dann griff er mir an den Hintern und flüsterte wollüstig: »Sex, Sex, Sex.«
Ich boxte ihm in die Rippen.
»Aber eins muß ich dir sagen«, hauchte er, während seine Hände meinen Po kneteten, »es würde dir nichts schaden, wenn du um die Hüften ein paar Pfund abnehmen würdest.«
Während mein 400-Kalorien-Menü, bestehend aus gedünsteten Tomaten, Basilikum und Kartoffeln, auf dem Herd köchelte, schlug ich die Zeitung auf.
Für eine Journalistin bin ich eine ziemlich faule Zeitungsleserin. Mir reichen meist schon die Überschriften. Wenn jemand nachbohrt, gebe ich sofort zu, daß ich politisch völlig unbeleckt bin. Aber ich habe Glück, Bei Becky sind sehr selten Politiker eingeladen. Und wenn sich meine Produzentin Karla Menzel in einem plötzlichen Anflug von Waghalsigkeit doch dazu entschließt, dann verstehen sie und unsere Assistenten es sehr gut, mich zu briefen.
Ich überflog die erste Seite der Zeitung, fand aber nichts, was mich reizte. Steffi Graf gewinnt noch ein Vermögen in Zürich, Ministerpräsident Stolpe dementiert, Stasispitzel gewesen zu sein, schwere Kämpfe in Bosnien. Mir fielen die Augen zu. Ihr könnt mich mal, ich habe Urlaub. Ich faltete die Zeitung zusammen, warf sie beiseite und begann, die Entschlackungskur für meine Wohnung zu planen.
Ein Badezimmer, eine Küche, ein Schlaf-, ein Arbeits- und ein Wohnzimmer mußten in den nächsten sechs Wochen bis auf das unbedingt Lebensnotwendige entrümpelt werden. Eine wahrhafte Mammutaufgabe. Für den Anfang sollte ich mir etwas Einfaches vornehmen, etwas, was mich anspornte, weiterzumachen. Das schlimmste Chaos sollte ich dann irgendwann in der Mitte anpacken, wenn ich bis dahin noch genug Kraftreserven hatte. Wenn ich damit gleich begann, würde ich womöglich den Mut verlieren, doch wenn ich es bis zum Schluß aufsparte, säße es mir immer im Nacken und verdürbe mir den Spaß. Die Aktenordner, die wären ideal für Woche drei. Denn die unattraktivste Aufgabe war, meine über hundert Ordner durchzuforsten mit den Artikeln und Manuskripten aus etwa zwanzigjähriger Arbeit im ersten, zweiten, dritten, ja zehnten Entwurfsstadium: Sie waren in vier Schubkästen unter meinem Bettpodest verbunkert. Meine Plattensammlung zu entschlacken war ein Horror, aber dabei mußte ich nicht lange nachdenken. Springsteen auf dem Cover bedeutete »Aufheben«, Heino »Abfall!«. Langweilig, aber ein Klacks. Ja, die Platten waren was für Woche sechs.
Verbissen tigerte ich durch meine Wilmersdorfer Wohnung und inspizierte jedes Zimmer wie eine pingelige Ferienlagerbetreuerin am Tag vor dem Elternwochenende. Systematisch öffnete und schloß ich Schubladen, schaute hinter Türen, notierte mir die Hauptproblemzonen und plante ihre baldige Beseitigung.
Die Wohnung lag im vierten Stock (ohne Aufzug!), war warm und sonnig und mein ureigenes Junggesellinnendomizil. Ein himmelweiter Unterschied zu der dunklen, modrigen Neuköllner Behausung, aus der ich sieben Jahre zuvor ausgezogen war. Hier schmeichelte scheinbare Ordnung dem kritischen Blick. Im Grunde war ich ein ordentlicher Mensch, wenn das auch nach Meinung gewisser Leute zu freundlich ausgedrückt war. Sie fanden nämlich, »mäkelig«, »pingelig«, »pedantisch«, »besessen«, »zwanghaft« käme der Wahrheit um einiges näher.
So war ich nicht immer. Früher war ich nur besessen und zwanghaft. Um mäkelig, pingelig und pedantisch zu werden, mußte ich erst in meiner eigenen Wohnung leben. Und nun war ich endlich das Paradebeispiel einer vollerblühten Neurotikerin. Ich gehöre zu der Spezies Mensch, die zu Hause immer finden, was sie suchen. Mit traumwandlerischer Sicherheit. Wenn wir überraschend von einem Stromausfall heimgesucht würden, wüßte ich nicht nur, wo die Taschenlampen lägen, sondern es wären sogar funktionierende Batterien darin. Unter dem Spülbecken herrscht Ordnung, meine Röcke und Blusen hängen nach der Farbe geordnet, die Romane auf meinem Bücherregal stehen in alphabetischer Reihenfolge. Meine Akten sind auf dem neuesten Stand, und meine Dias liegen, mit Titel und Datum beschriftet, in grauen Kästen an einem kühlen, dunklen Ort.
Aber die Sache hatte einen Haken, meine Ordnungsliebe einen tragischen Makel. Ich war nicht halb so ordentlich, wie es schien. Ich war nur raffiniert: Ich verbarg meinen Plunder. Ich schob die Dinge aus den Augen, aus dem Sinn, stapelte das Chaos, schaffte es aus dem Tageslicht in die dunklen Tiefen eines Flurschranks oder in eine Mappe mit der Aufschrift »Verschiedenes«. Schon lange quoll meine Wohnung über von Gegenständen, die nach einem kurzen Leben nun an einer vergessenen Stelle unter meinem Bett, hinter einem Bücherregal, im Besenschrank, in einer Einkaufstasche auf dem Speisekammerboden vermoderten. Und das verfolgte mich. Immer wieder hatte ich Alpträume. Mal wurde ich von Würmern attackiert, die sich durch die Kleider bohrten, die ich für das Rote Kreuz weggepackt und dann vergessen hatte, mal wurde ich von Bowlingbällen, Rollerskates und dem Staubsauger erschlagen, die mir beim Öffnen aus dem Flurschrank entgegenpolterten.
Ich setzte mich auf mein altes, durchgelegenes französisches Bett. Sobald ich den ganzen Plunder los war, würde ich mich neu einrichten, dieses Bettungetüm gegen eine gesunde Latexmatratze mit dezentem Rahmen austauschen, die alten Kiefernregale aus meinem Arbeitszimmer entsorgen und moderne, minimalistische schwarze Bücherregale vom Boden bis zur Decke aufstellen und den schmuddeligen, einstmals weißen Teppichboden sowie das Blümchensofa mit den Omakissen rauswerfen. Zu meinem neuen schlanken Aussehen wollte ich neue schlanke Linien in meiner Wohnung.
Ich sah auf die Uhr. Ich hatte noch drei Stunden, bis der Professor und Martin zum Skat kamen. Als Appetitanreger brauchte ich eine einfache, konstruktive, motivierende Aufgabe. Ich schaute mich in der Küche um. Mein Blick fiel auf die Speisekammertür. Dahinter lag die Antwort.
Aber zuerst wollte ich essen.
Ich war schockiert. Nie im Leben hatte ich einmal in diesen Rock gepaßt. Da hätte sich ja nicht mal eine Barbiepuppe hineinwinden können. Wo war die Taille?
Ich warf den braunen Minirock auf den Küchentisch, rannte zu meiner Schlafzimmerkommode, holte ein Zentimetermaß heraus und galoppierte zurück in die Küche.
Der Rockbund maß ganze 65 Zentimeter.
Ich schlang mir das Maßband um die Taille. Und erbleichte. Wie bitte? 75 Zentimeter? Nein. Unmöglich. Ich flitzte wieder in mein Schlafzimmer und betrachtete mich lange und gründlich im Spiegel. Ja, es war möglich. Und außerdem kriegte ich graue Haare. Auch darum mußte ich mich bald kümmern. Ich ging zurück in die Küche.
Vor ein paar Jahren hatte ich die geräumige Speisekammer hinter der Küche in eine Kleiderkammer verwandelt. Als mein Schlafzimmerschrank aus allen Nähten platzte und eher wie ein Flohmarktstand aussah, wanderte das Gros meiner Kleider, Röcke und Blusen in die Speisekammer. Ich ließ mir noch einen Schrank hineinstellen, Stangen und Regale und voilà! Das war die Lösung, wenngleich ich oft den heimlichen Verdacht hatte, daß die unmittelbare Nähe zur Küche meine Kleider mit einem feinen Knoblauchduft imprägnierte.
Ich schnüffelte an dem zwanzig Jahre alten Minirock. Er roch nach dem Zedernholzklötzchen, das als Mottenschutz in seinen Falten geruht hatte. Ich hielt ihn ans Licht, nahm ihn gründlich unter die Lupe und suchte nach Spuren des Verfalls. Nein, er war tipptopp in Ordnung. Um so frustrierender! Würde ich ihn je wieder tragen können?
Die nächsten Wochen lagen plötzlich wie ein Berg vor mir. Vielleicht hatte Barry recht. Vielleicht sollte ich mich nicht so quälen. Vielleicht sollte ich aufgeben, bevor der große Frust einsetzte. Aber bei dem Gedanken schreckte ich auch zurück. Nein, dem werd ich’s zeigen. Und Felix. Allen zeige ich, daß ich es schaffe.
»Okay, sechs Wochen. Ich gebe mir sechs Wochen, und dann passe ich wieder in das Ding hier«, sagte ich und schleuderte den braunen Rock auf den »Aufheben«-Haufen. Er sollte mein Anreiz sein.
Und was war das? Hinter einer Rolle Teppichbodenrest von meinem Wohnzimmer glitzerte etwas in der Ecke. Ich bückte mich und zog daran. Und heraus kam mein rotgoldenes Maharishi-Love-and-Peace-Brokatkleid.
Es war ein heißer Sommerabend. Im Museum of Modern Art in New York war es noch heißer.
»Schau doch mal, der da«, flüsterte ich Marsha zu und zeigte auf einen jungen Mann mit Vollbart, langen Haaren, Sonnenbrille und Holzperlen. »Neben dem ›Drowning Girl‹.«
Marsha warf einen flüchtigen Blick auf die Ausstellungsbesucher. Neben dem Lichtenstein blieb er hängen. Aber da sie sich die Brille nicht aufsetzte, wußte ich, daß sie nicht bei der Sache war.
»Wo?« murmelte sie und rülpste.
Ich wurde ungeduldig. »Der Typ mit dem lila Batikhemd und der mexikanischen Weste! Da drüben. Ist das nicht Bobby Katz? Der Exfreund von Terrys Schwester? Der an der Columbia Medizin studiert?«
Marsha fühlte sich verpflichtet, noch einmal hinzusehen.
»Was meinst du?« ratterte ich los, riß mir die Nickelbrille von der Nase und warf sie in die Tasche. »Mein Typ oder deiner? Ich glaube, deiner. Ich hab’s nicht so mit Bärten. Wie findest du ihn?«
»Becky, ich glaube, mir ist ein bißchen übel. Was ist eigentlich ein Salisbury-Steak? Was ist da drin? Kann Tiefkühlessen schlecht werden?«
»Woher soll ich wissen, was ein Salisbury-Steak ist? Ich hab dir ja das glasierte Kasseler mit den Käse-Makkaroni angeboten, oder etwa nicht?«
Marsha sah mich vorwurfsvoll an.
»Also gut«, kapitulierte ich, »willst du in den Skulpturengarten, ein bißchen frische Luft schnappen?«
Sie nickte.
»Schade«, sagte ich mit bedauernder Geste in Richtung des zottigen Bobby Katz. »Den hätten wir bestimmt abschleppen können.«
Marsha rülpste. O Gott, sie war so was von hypochondrisch, so neurotisch – eine typische Psychologiestudentin. Natürlich hätte sie sofort gekontert, daß ich so was von egozentrisch, so was von narzißtisch sei – eben eine typische Schauspielstudentin. Doch beide hätten wir einhellig verkündet, daß wir die besten Freundinnen seien. Und zwar seit 1963, als wir zusammen in der achten Klasse waren und uns einen Spind im Sportumkleideraum teilten. Später zogen wir auch beide nach Forest Hills und gingen jeden Tag nach der Schule zu Kaiser’s Diner, wo es das beste vanilla egg cream im ganzen Staat New York gab und Marsha mir ihre heimlichsten Wünsche gestand: Kontaktlinsen, zwanzig Pfund abnehmen, heiraten, als Farmersfrau auf dem Land leben und fünf Kinder kriegen. Meine heimlichsten Wünsche waren Kontaktlinsen, zwanzig Pfund abnehmen, nicht zu heiraten, in einer Maisonettewohnung am Central Park zu wohnen und fünf Liebhaber zu kriegen. Wir waren ein ideales Paar, und zwar seit sieben Jahren, weshalb ich sie auch eingeladen hatte, mich an jenem Abend zu der Ausstellungsvorbesichtigung zu begleiten.
Als ich an dem Nachmittag vom Einkaufen downtown nach Hause gekommen war, hatte ich nämlich meinen nagelneuen Studentenmitgliedsausweis des Museum of Modern Art im Briefkasten gefunden. Das war meine Eintrittskarte in die Welt der Erwachsenen, der Kunst und des Abenteuers. Ich liebte Museen, seit ich mich auf einem Kindergartenausflug in den Brontosaurus im Naturkundemuseum verliebt hatte. Aber seit einem Jahr zog es mich vor allem ins Museum of Modern Art. Seine heiligen Hallen schienen mit einer Energie geladen, die ich besonders unwiderstehlich fand.
Ich stellte also zwei TV-Dinner in den Ofen, rief Marsha an, streifte meinen braunen Minirock ab, packte mein neues Kleid aus, schlüpfte hinein und stolzierte zum großen Spiegel im Schlafzimmer meiner Eltern.
Ich würde nicht sagen, es war das schönste Kleid, das ich je gesehen hatte – Audrey Hepburns edwardianisches schwarzweißes Ensemble, das sie in My Fair Lady zu den Rennen in Ascot trug, war schon irre –, aber meine Neuerwerbung war mit Sicherheit das schönste Kleid, das ich je gesehen hatte und mir beinahe leisten konnte.
Seit dem frühen Morgen hatte ich bei Macy’s am Herald Square im Labor-Day-Schlußverkauf die Kleiderständer durchgewühlt. Dann war es auf einmal da: ein wunderschönes, fließendes Patchwork-Midikleid mit Blümchenmuster in verschiedenen Rosa- und Rottönen. An Ärmeln, Kragen und unter der Empiretaille war es mit rot-goldenem Brokat verziert. Der Preis von 69.99 Dollar entsprach zwar zwei Dritteln meines Wochenlohns in dem Stoff- und Kurzwarenladen in Cambridge, wo ich den Sommer über gearbeitet hatte, aber es war immer noch ein Schnäppchen. Ich mußte mich nur zusammennehmen und durfte bis Weihnachten sonst nichts mehr kaufen. Ich brauchte aber auch sonst nichts mehr, denn nun besaß auch ich mein ureigenes Flower-Power-Kleid. Wieso es bei Macy’s landete, wird mir ein ewiges Rätsel bleiben. Dieses Kaufhaus war nicht gerade für seine fetzige Subkultur-Jugend-mode-Abteilung bekannt. Doch deshalb war ich auch gar nicht dort hingegangen. Wenn ich ein echtes, flippiges, total abgefahrenes Hippie-Gewand, Made in India, hätte haben wollen, wäre ich im Village in einen der Läden gegangen, die nach Räucherstäbchen, Tee und Kokoskerzen rochen. Dort fuhr ich aber nicht hin. Ich wollte nichts Trödeliges. Denn eines hatte ich in dem Etepetete-Laden in Cambridge gelernt: Qualitätsstoffe zu erkennen. Und mein neues Kleid war erstklassige Qualität. Ja, es war ein Kleid, das sogar die arme tote Janis Joplin mit Stolz getragen hätte, obwohl es von Macy’s am Herald Square war.
Ich mochte Macy’s. In dem Laden kannte ich mich aus wie ein Cop in seinem Revier. Ich wußte, wo die saubersten Toiletten, die kürzesten Kassenschlangen, die beste Tasse Kaffee, die günstigsten Sonderangebote, die schnellste Rolltreppe waren. Dort hatte ich ja so ungefähr jede Mittagspause während der drei Sommer verbracht, in denen ich für meine Tante Mabel bei Daisy Dee Inc. gearbeitet hatte. Daisy Dee Inc. war ein Kindermodenhersteller und Tante Mabel die Büroleiterin. Jahrelang bildete sie mich zu ihrer Sommersklavin aus, was mich nicht weiter störte.
Als ich achtzehn war, bürdete sie mir die ganze dröge Büroarbeit auf: Tippen, Telexe schicken, Schecks abheften und lange Zahlenkolonnen addieren. Es war einfach, und ich hatte reichlich Zeit, mich meinen Phantasien über Mickey Baines hinzugeben, einen der Designer, die im hinteren Zuschneideraum saßen.
In dem Sommer, als ich neunzehn war, arbeitete ich als Telefonfräulein, mußte also lernen, eine Schalttafel zu bedienen, eine medusenhauptähnliche Installation mit Dutzenden sich schlängelnder Kabel. Hier waren äußerste Konzentration und meine liebenswürdigste Stimme gefordert. Wenn mich Spencer Heatherstone, der neue und sehr attraktive Juniorchef anklingelte, damit ich ihm eine Verbindung zu der Filiale in South Carolina herstellte, konnte er durch das Rauschen der Leitung garantiert mein Herz schlagen hören.
Als ich zwanzig war, kam ich nach vorne in den Showroom. Ich mußte den Verkäufern assistieren, wenn sie Kunden bedienten. »Becky, meine Liebe«, rief die Verkaufsleiterin Janet Rosenthal, »bitte, bringen Sie uns doch den ›Rosenknospen‹-Baumwollspielanzug in Gelb-Rosa, Größe 6X, mit dazugehörigem Sonnenhut und Tulpenbeutel. Tout de suite.«
Außerdem war ich dafür verantwortlich, daß der Raum immer sauber und ordentlich aufgeräumt war. Ich sortierte die alten und neuen Modelle, hängte die roten neben die orange- und rosafarbenen und die blauen zu den violetten und grünen. Alles hatte seinen Platz: die Hotpants neben den Bermuda-Shorts, die Capris vor den langen Hosen; zuerst die aus Samt, dann die aus Wolle, Leinen, Baumwolle, Viskose. Das fiel mir nicht leicht. Mein Kleiderschrank zu Hause war damals noch ein ziemliches Schlachtfeld, und ich mußte all meine Selbstdisziplin aufbieten, um den Showroom picobello in Ordnung zu halten.
»Eines Tages wirst du mir noch mal dankbar sein, daß ich dich zur Ordnungsliebe erzogen habe. Wart’s nur ab«, sagte Tante Mabel. »Und achte auf deine Füße«, fügte sie hinzu und zeigte auf meine Schuhe. (Ich lief immer noch ein wenig über den großen Onkel, eine Angewohnheit aus meiner Kindheit, und Tante Mabel konnte es nicht lassen, mich ständig an dieses alte Leiden zu erinnern.)
Wenn nicht viel zu tun war, setzte ich mich in die hinterste Ecke des Showrooms, las Vom Winde verweht oder Jane Austen, überlegte, ob ich nicht doch lieber Schriftstellerin als Schauspielerin werden sollte, und träumte von Vito Spinetti, dem Spitzenverkäufer von Daisy Dee. Einmal in der Woche arbeitete ich mit ihm und seinen Kunden. Er brachte mich jedesmal zum Erröten. »Becky, meine Liebe«, rief Vito Spinetti, »bitte bringen Sie uns doch die Push-up-Korsage ›Mitternachtstraum‹ in schwarzem Gummilack, Körbchengröße D, und das schwarze Gummilack-Bikinihöschen mit der dazugehörigen Lederpeitsche. Avanti!«
Aber das Beste in den Sommern bei Daisy Dee waren die Mittagspausen. Punkt zwölf Uhr dreißig warf ich meine Sklavenketten ab, steckte meine Karte in die Stechuhr und verließ das Etablissement, so schnell ich konnte. Ich hechtete zum Aufzug, verschlang dabei mein Thunfisch-Roggen- oder Eiersalat-Weißbrot und raste über die Straße in die anonymen, kühlen, duftenden Hallen des »Größten Kaufhauses der Welt«. Eine Stunde lang tat ich so, als sei ich eine römische Prinzessin auf Kurzurlaub in New York, ein Model aus der Zeitschrift Seventeen oder eine Debütantin am Tag vor dem Einführungsball.
Diesen Sommer hatte ich mich allerdings gegen Daisy Dee entschieden. Ich war einundzwanzig und stand vor meinem letzten Jahr im College. Es war Zeit, in die große, weite, wilde Welt zu ziehen. Mickey Baines, Spencer Heatherstone und Vito Spinetti waren längst vergessen, und ich hatte mich mit der Tatsache abgefunden, daß ich nie als Audrey Hepburn mit Gregory Peck ein Herz und eine Krone sein oder als Eliza Doolittle mit Professor Higgins zum Pferderennen nach Ascot gehen würde. Ich war nun erwachsen und in der Wahl meiner Männer viel vernünftiger geworden. Ein Harvard-Jurastudent aus einer millionenschweren Bostoner Familie würde mir völlig ausreichen.
Marsha und ich packten unsere Taschen und eine Schachtel Oreos-Kekse, verabschiedeten uns von allen und nahmen einen Greyhoundbus nach Cambridge, Massachusetts, wo in dem Sommer mein Bruder Davey rumhing.
Eines frühen Morgens Ende Juni kamen wir in Boston an, wurden nach Cambridge in das Apartment von Blue, einem Freund von Davey, geleitet und waren eine Stunde später auf Arbeitssuche. Wir waren jung, nicht auf den Kopf gefallen, absolut anspruchslos und billig. Im Nu hatten wir einen Job.
Marsha tippte Preisschilder für eine Supermarktkette, und ich verkaufte teure französische Knöpfe und Stoffe in einem edlen Laden namens Bouton. Die Abende verbrachten wir damit, die Wiederholungen der Forsyte Saga, einen BBC-Import, auf dem PBS-Kanal anzuschauen, und die Wochenenden, Harvard University und Umgebung nach angehenden Jurastudenten abzusuchen – oder wenigstens dem Sprößling eines wohlhabenden Bostoner Clans.
Hin und wieder gönnten wir uns ein bißchen Gras, das Blue im ganzen Haus herumliegen hatte. Blue hatte überhaupt einen Haufen Dinge im Haus herumliegen: Quaaludes, Uppers und Downers, kleine runde Kapseln, große viereckige Tabletten, Pulver und Pillen und Pilze, Speed und den guten alten Shit. Also wirklich kein Sommerlager für zwei wohlbehütete Mädchen aus Queens, sondern im wahrsten Sinne des Wortes ein Drugstore. Wir hatten die große, weite, wilde Welt betreten.
Eines Abends Mitte August, Marsha und ich waren high von Shit und der TV-Heirat Fleur Forsytes, da geriet unsere große, weite, wilde Welt ein wenig aus den Fugen. Das Telefon klingelte.
»Hier ist Big Bo«, sagte eine dunkle, tiefe Stimme. »Gib mir Blue, schnell.«
»Tut mir leid, er ist nicht da. Soll ich ihm etwas ausrichten?« säuselte ich mit meiner Daisy-Dee-Telefonfräuleinstimme.
»Hör zu, Mädchen, erzähl Blue, Big Bo ist am Flughafen in Toledo. Und ich bin nicht allein. Kapiert, Mädchen?«
»Möchten Sie wohl eine Nummer hinterlassen, unter der er Sie erreichen kann, Sir?«
Er legte auf.
Marsha und ich brauchten, glaube ich, drei Minuten, um von unserer Wolke herabzusteigen, die Taschen zu packen und uns aus dem Staub zu machen. In der Nacht schliefen wir auf Daveys Wohnzimmerfußboden, und als Davey am nächsten Morgen losging, um mit Blue Tacheles zu reden (»Jetzt heißt er Grün und Blau«, erzählte er uns abends am Telefon), entfleuchten Marsha und ich nach New York. Sei’s drum – wir hatten keinen Harvard-Knaben gefunden, warum sollten wir bleiben? Und überhaupt: Ich vermißte New York. Ich vermißte Macy’s.
»Die Hippiekreation hast du bei Macy’s gefunden?« fragte Marsha ungläubig, zeigte auf mein rot-goldenes Kleid und schüttelte ihr platinblond gefärbtes Haar. »Da sieht man mal wieder, wie etabliert die Flower-Power-Bewegung mittlerweile ist. Eh du dich versiehst, ist Marihuana legal.«
Da saßen wir im Skulpturengarten des Museum of Modern Art, wo ein Jazzkonzert lief. Ich lagerte oben auf der kühlen Marmortreppe, lehnte mit dem Rücken an Pablo Picassos Ziege und tat so, als verstünde ich die komplexe Free-Jazz-Komposition, die gerade gespielt wurde. Marsha ruhte neben mir und rülpste. Ich hatte einen Museumswärter rumgekriegt, uns hineinzulassen, ohne daß wir bezahlen mußten. Leute rumzukriegen war eine Überlebenstechnik, die ich von meinem Vater, der Vertreter war, gelernt hatte, und zwar ziemlich gut.
»Und ob sie Marihuana legalisieren!« höhnte ich. »Deshalb hatten die Cops ja auch einen Durchsuchungsbefehl für Blues Wohnung.«
»O Gott«, sagte Marsha und erblaßte. »Ich habe meinen Steppenwolf immer noch nicht gefunden. Da steht mein Name drin! Wenn ich das Buch in Blues Wohnung liegengelassen habe, dann ist alles zu spät.«
»Der Wärter am Eingang ist richtig niedlich. Ich faß es nicht, daß er uns umsonst reingelassen hat. Wir haben fünf Dollar gespart. Alle beide.«
»Meine Eltern bringen mich um, wenn sie das von Cambridge erfahren.« Marsha rülpste. »Weißt du, ich glaube, es ist die Sauce, nicht das Steak. Ich habe den Geschmack von der Salisbury-Sauce im Mund.«
»Meinst du, er ist wirklich Kartenabreißer? Oder ist das nur ein Sommerjob, den – ach du meine Fresse!«
Träumte ich? Wer stand da kaum fünf Meter von mir entfernt?
»Marsha, guck doch!« blabberte ich heraus. »Ich glaub’s nicht! Das kann doch nicht wahr sein. Ist das –?«
»Was? Was? Was ist denn los?«
»Psssst, nicht so laut.«
»Was ist denn um Himmels willen los?« flüsterte sie.
»Marsha, schau mal wer dort an Rodins Balzac lehnt. Siehst du? Dustin Hoffman! Mein Gott, das ist Dustin Hoffman, und er schaut mich an.«
Während ich sprach, merkte ich, daß der Schauspieler Dustin Hoffman mich nicht nur anschaute, sondern, ob man’s glaubt oder nicht, sogar anlächelte. Mein Herz verwandelte sich in Blei und plumpste in meinen Magen.
»Hast du gesehen? Hast du gesehen?« flüsterte ich Marsha in höchster Aufregung zu. »Es ist Dustin Hoffman. Und er hat mich angelächelt. Hast du das gesehen?«
»Ich bin ja nicht blind«, erwiderte Marsha verächtlich. Aber sie tat nur so, als sei sie desinteressiert. Ich sah genau, daß sie die Augen zusammenkniff, um besser sehen zu können. »Aber was –« Die TV-Dinner-Sauce meldete sich. »Au, das Zeug esse ich nie wieder!«
»Pssst!«
»Aber was macht er denn hier?« flüsterte sie. »Ich dachte, er wohnt in Hollywood.«
»Von wegen. Ich habe erst gestern im Enquirer gelesen, daß er ein ›luxury duplex‹, eine todschicke Luxusmaisonettewohnung, in New York hat, hier in Manhattan am Central Park, und –«
»Seit wann liest eine Phi-Beta-Kappa-Anwärterin ein Schrottblatt wie den National Enquirer?«
Das Konzert war zu Ende, und die Zuschauer applaudierten.
»Ich stand Schlange im Supermarkt, und da lag er auf dem Regal«, antwortete ich laut durch den Krach. »Und seit wann verdirbt sich eine intelligente Psychologiestudentin an einem lächerlichen Tiefkühlsteak –«
Ich verstummte mitten im Satz. Mir schwanden die Sinne. Niemand anderes als Dustin Hoffman, der Star höchstpersönlich, kam auf mich zu.
»O Gott, Marsha, schau! Er kommt. Er kommt hierher.«
Dustin brauchte ein paar Sekunden, bis er bei uns war, ein paar flüchtige Momente im Lauf der Zeit, aber in meinem Gedächtnis wurden sie gefriergetrocknet. Wenn ich meine Lebensgeschichte je verfilme, wird diese Szene in Zeitlupe gezeigt.
Totenstille außer Beckys Herzklopfen. Die Kamera folgt Dustins Füßen in Ledersandalen, sie bewegen sich Schritt für Schritt auf Marsha und Becky zu. Schwenk nach oben, Zentimeter für Zentimeter liebkost die Kamera seine Beine, die ihrem zukünftigen Schicksal entgegengehen. Durch den Stoff seiner beigefarbenen Samtcordjeans sehen, ja, fühlen wir fast die strammen Beinmuskeln des Schauspielers. Die Kamera holt Dustins Hemdzipfel heran, die ihm lässig aus der Hose rutschen. Aus der Brusttasche hängt die Sonnenbrille und baumelt gefährlich hin und her. Und dann sehen wir das Grinsen. Wir sind Zeugen des wunderbarsten Grinsens, das jemals in dem Skulpturengarten eines Museums gegrinst worden ist.
»Hello«, sagte Dustin zu mir.
Ich stand unter Schock. Keine Ahnung, was ich gesagt habe. Ich nehme an, nichts.
»Hello«, wiederholte Dustin.
»Hello«, sagte ich mit brechender Stimme und erhob mich.
»Good evening«, sagte Marsha, weit weg auf einem fernen Planeten.
»I em wery sorry«, sagte Dustin und lächelte verlegen. »I em wery sorry, but I do not spiek English wery vell.«
»You don’t speak English very well?« erwiderte ich wie eine Schwachsinnige.
»Oh, I em sorry«, sagte Dustin und reichte mir die Hand. »Jürgen Markowski.«
»What?« sagte ich, schüttelte die Hand und ahnte allmählich, daß ich hier vielleicht auf dem falschen Dampfer war.
»Jürgen«, sagte er. »My name. Jürgen Markowski. I hef seen you before in se exhibition.«
»Oh«, sagte ich, langte in die Tasche und angelte nach meiner Brille. »Oh, that’s your name. What was that again?«
»I hef seen you before in se exhibition.«
»No, I mean the name.«
»Jürgen«, sagte er, »Jürgen Markowski.«
»Yourgin Mar-cuff-sky?«
Er nickte und grinste.
»I’m Becky. Rebecca Lee Bernstein«, antwortete ich, setzte mir die Brille auf und schaute erst einmal richtig hin.
Schreck laß nach. Was für ein Reinfall! Hier stand definitiv nicht mein Lieblingsschauspieler. Hier stand definitiv jemand, den ich noch nie auf einer Kinoleinwand gesehen hatte. Hier stand definitiv jemand, der in den dunklen Schatten eines heißen Augustabends nur zufällig meinem Lieblingsschauspieler sehr ähnlich sah.
Aber – und dafür war ich sehr dankbar – hier stand definitiv jemand, der an mir interessiert war, an mir, mir, mir!
Ich machte Jürgen mit Marsha bekannt. Auch sie hatte nun die Brille auf.
»Nice to meet you«, sagte er.
Einen Augenblick lang suchte ich verzweifelt nach etwas halbwegs Intelligentem, das ich sagen konnte.
»Und das ist Picassos Ziege«, sagte ich und deutete auf die Plastik.
»Nice to meet you, too«, sagte Jürgen und tätschelte ihr den Kopf.
Hey, er hatte Humor. Dafür war ich auch sehr dankbar.
»Kommst du oft hierher ins Museum?« erkundigte sich Marsha bei unserem neuen Freund.
»No, sis is my first time.«
Er war das erstemal im besten Museum von New York?
»I do not lif here«, fuhr er fort. »I lif in Berlin.«
»In Berlin?« sagte ich. »Berlin in Germany?«
Jürgen nickte.
»Berlin in Europe?«