Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-22792-9
ISBN E-Book 978-3-688-10804-6
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-10804-6
Für meine Mutter
Isabelle
1904–1986
MEINE MUTTER IST alt geworden, obwohl sie immer behauptet hat, sie werde jung sterben. Während meiner ganzen Kindheit erklärte sie mir immer wieder warnend – drohend? –, daß sie wegen ihres schwachen Herzens dieses Jammertal frühzeitig verlassen werde; mein robuster, bäurischer Vater hingegen werde ewig leben, die Erinnerung an die von ihr mit soviel Mühe zubereiteten Mahlzeiten in Schweinefleisch und Bohnen aus der Dose ertränken und es sich dabei nicht minder schmecken lassen. Als ich mit fünfzehn eines Nachmittags heimlich in den Schubladen ihrer Kommode stöberte – wohl in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis darauf zu finden, was ich ihr bedeutete –, stieß ich auf einen versiegelten Umschlag mit der Aufschrift «nach meinem Tode zu öffnen». Ich riß ihn zornig auf, förderte ein Blatt Schreibpapier daraus zutage und erfuhr, daß ihr Limoges-Service für acht Personen (das nicht mehr ganz vollständig war), ihre fünf kristallenen Wassergläser (eines war kaputtgegangen) sowie ihr Tafelsilber, ebenfalls für acht Personen, zu gleichen Teilen an meine Schwester und mich übergehen sollten. Noch immer wütend, zündete ich das Blatt an, und als es in Flammen aufging, warf ich es in meiner Panik ins Klo. Weil das Papier weiterbrannte, warf ich hastig den Klodeckel zu, ohne zu bedenken, daß er aus Plastik und folglich leicht entflammbar war. Als die Klobrille zu brennen anfing, rief ich die Feuerwehr. Die Nachbarinnen ließen sich wochenlang kopfschüttelnd und vorwurfsvoll darüber aus, zu was es führen kann, wenn junge Mädchen in Mutters Abwesenheit Zigaretten stibitzen. Meine Mutter dagegen wurde nicht böse, sie bot mir sogar an, mich zu ihr in den Garten zu setzen und mit ihr zu rauchen. Ein Testament hat sie nicht wieder verfaßt. Ich habe es überprüft.
Ihr schwaches Herz hat sich nicht merklich lebensverkürzend ausgewirkt. Sie ist alt geworden – und dabei lediglich geschrumpft. Oder vielleicht ist mein Körper im Lauf der Jahre aufgegangen, so daß wir beide nebeneinander im Spiegel der Umkleidekabine des Brautmodengeschäfts, wo wir Kleider für die Hochzeit meiner Tochter anprobierten, wie Exemplare zweier verschiedener Spezies von Lebewesen wirkten. Ich kann mich an Zeiten erinnern, in denen wir uns ähnlich sahen und Leute uns sofort als Mutter und Tochter identifizierten. Inzwischen ist sie, trotz ihrer wulstigen Körpermitte, winzig und zerbrechlich. Ihre Knochen und selbst ihr Schädel sind zarter als der eines Kindes, das Fleisch an ihren Armen ist zusammengeschnurrt, und die Haut ihres kleinen Gesichts ist so faltig, daß die Augen fast nicht mehr zu sehen sind. Ich dagegen bin groß, breitschultrig und dick (ohne daß ich recht weiß, wann es dazu gekommen ist), und mein Gesicht glänzt wie ein praller Mond. Man könnte uns nicht einmal mehr für zwei Ausführungen ein und desselben Erzeugnisses halten, die eine für den leichten Hausgebrauch, die andere für den vollen industriellen Einsatz bestimmt – wir wirken wie Angehörige zweier verschiedener Gattungen von Geschöpfen, ein feistes Rhinozeros und eine faltige Antilope. Wer weiß, daß wir Mutter und Tochter sind, muß annehmen, ich hätte ihr kraft eines mysteriösen Voodoo-Zaubers alle Säfte aus dem Leib gesogen und mich davon ernährt. Wie bei bestimmten Mücken. Diese Mückenmütter legen keine Eier, sondern produzieren in ihrem Körperinneren Junge, ohne Zutun von Kirche oder Staat und ohne jede auch nur beiläufige männliche Mithilfe. Das Mückenbaby wächst im Leib der Mutter heran, nicht in einem Uterus, sondern im Körpergewebe, bis es sie schließlich ganz ausfüllt, und dabei frißt es sie von innen her auf. Wenn die Jungmücke geburtsreif ist, bricht sie aus ihrem Muttergefängnis aus. Von dieser bleibt nur eine Chitinhülle zurück. Diese Mücken kennen keinen Streit zwischen Mutter und Tochter. Die Mütter opfern sich zwar für ihre Jungen gänzlich auf, aber diese brauchen es sich nicht ein einziges Mal vorhalten zu lassen. Außerdem beginnen die auf diese Weise hervorgebrachten Jungen schon zwei Tage später, sich nach demselben Verfahren fortzupflanzen. Ihnen bleibt kaum Zeit, sich über ihr Leben zu beklagen.
Früher hatten die Frauen dafür auch keine Zeit, und meine Mutter hat wenig für Geschlechtsgenossinnen übrig, die sich über ihr Leben beschweren, wohl weil sie sich selbst ein bißchen wie so eine Mückenmutter empfindet. Und doch wandte sie, als sie dort in der Umkleidekabine unglücklich aus dem Spiegel schaute, weil die Kleider, die sie anprobierte, so schlecht paßten und sie doch für Ardens Hochzeit schön sein wollte, ärgerlich den Kopf ab. Ich sah von oben auf diesen kleinen Kopf und spürte den Wunsch, ihn zu streicheln, sie wie ein Kind zu trösten, indem ich sie berührte, lieb zu ihr war. Aber meine Mutter ist kein Mensch, der getröstet werden will. Sie hält den Nacken steif und den Kopf hoch. Sie schaute wieder in den Spiegel, ohne zu sehen, daß ihr zerfurchtes Gesicht frei von Altersflecken und ihr feines, weiches Haar noch immer blond war, schnitt der Person im Spiegel eine Grimasse und fragte mich, ob sie wirklich so aussähe.
In der Glanzzeit ihres Lebens – ihrer zweiten, aber der einzigen, die ich mitbekam –, nämlich der Zeit, als meine Schwester und ich erwachsen und verheiratet waren und sie über ein gewisses Maß an Geld und Muße verfügte, ließ sie sich das Haar zu einer weichen Kurzhaarfrisur, einem sogenannten Krauskopf, schneiden. In einem teuren Geschäft kaufte sie sich wunderschöne Kleider. Ich erinnere mich noch genau an diese Stücke: Sie besaß ein rotes Wollstoffkostüm mit einem Leopardenfellkragen auf der kurzen Jacke, außerdem ein schwarzes Wollkostüm mit hohem, nerzbesetztem Aufstellkragen, ein marineblaues Kleid aus Wollstoff, dessen Rock so angeschnitten war, daß er beim Gehen um ihre Beine schwang, und eine kurze weiche Strickjacke, zweireihig, mit Goldknöpfen. Sie fuhr einen alten Cadillac und verkündete den Verkäuferinnen in den feinen Geschäften laut und stolz ihre Adresse. In diese Geschäfte führte sie ihre eleganten Kleider aus, um den Mund ein steifes Lächeln und die Augenbrauen permanent emporgezogen. Diese Läden waren der einzige Ort, an dem sie das Gefühl haben konnte, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Ab und zu gingen mein Vater und sie zum Essen aus, aber sie pflegte in jenen Jahren dem Mißfallen, das jede Art von Restaurantküche bei ihr weckte, so laut Ausdruck zu verleihen, daß es meinem Vater peinlich war und er sich gegen solche Unternehmungen sträubte. Einmal in der Woche spielten sie mit meiner Tante und meinem Onkel Bridge, aber für solche Anlässe war ein formelles Kostüm ein bißchen zu warm. Sie schien in jener Zeit relativ zufrieden.
Dann jedoch, mit dem Alter, veränderte sich ihr Körper. Sie wurde kleiner, die Haut an ihren Armen und Beinen schrumpelte, und um die Körpermitte ging ihre Figur immer weiter auseinander. Ihre Taillenweite lag schließlich vier Konfektionsgrößen über dem, was sie sonst brauchte. Es war unmöglich, schicke Sachen in diesen exotischen Maßen zu finden, und so verlegte sie sich auf Hosenanzüge aus Stretchstoff mit elastischem Bund und Wickelröcke. Als mein Vater und sie einmal im Winter in Palm Beach waren, wollten sie ein Geschäft an der Worth Avenue betreten, aber der Besitzer trat ihnen in den Weg und fragte sie barsch, was sie suchten. «Eine Golfjacke», improvisierte meine Mutter ärgerlich. Er verwies sie mit einer unwirschen Kopfbewegung nach links. «Versuchen Sie es dort unten. Wir führen keine.» Sie hat diesen Vorfall nie verwunden. «Er hat uns nicht mal reingelassen, Anastasia! Woher wollte er wissen, daß wir nichts kaufen würden? Woran mag das gelegen haben? Daß wir alt sind? Daß meine Sachen billig aussehen?» Sie erzählte diese Geschichte wieder und wieder und endete jedesmal mit den gleichen Fragen. Offenbar wußte sie nicht mehr, daß sie mir diese schon öfters gestellt hatte. Ich vermochte ihr nie eine befriedigende Antwort zu geben.
Die Sache quälte sie so sehr, daß sie noch zehn Jahre später davon redete, und ich ahnte allmählich, daß dieses Erlebnis zu einem immer wiederkehrenden Alptraum geworden war. Als würde man im wirklichen Leben auf einem Klo sitzen und plötzlich merken, daß einem ein ganzer Saal voller Menschen zuschaut, oder als ginge einem tatsächlich auf einmal das Haar büschelweise aus oder was immer einen an Schreckensträumen plagt. Der Ladeninhaber hatte sie herablassend behandelt. Ich begriff, sie hatte ihr ganzes Leben so eingerichtet, daß sie niemals Verachtung ausgesetzt wäre. Innerhalb ihrer Familie würde es gewiß niemandem einfallen, ihr mit Geringschätzung zu begegnen. Ihr Mann verhält sich ihr gegenüber, als wäre sie seine Königin, und manchmal nennt er sie, wenn er von ihr spricht, «My Lady». Meine Schwester und ich hofieren sie auch wie das Mitglied eines Herrscherhauses, und unsere Kinder ebenso. Wir halten sie bei Laune, machen viel Aufhebens um sie, bedienen sie. Beim Sprechen achten wir darauf, daß wir ihr das Gesicht zuwenden und deutlich artikulieren, damit sie uns von den Lippen ablesen kann, was wir sagen. Wenn wir für sie kochen, meiden wir Öl, Zwiebeln, Knoblauch, die meisten Gewürze. Jemand hilft ihr immer ins oder aus dem Auto, die Treppen hinauf und hinunter und sogar über Türschwellen, weil sie schwach und arthritisch ist und an durch eine Erkrankung des Innenohrs bedingten Schwindelanfällen leidet. Als der Mann meiner Tochter sie kennenlernte, fand er, sie sei eine «Grande Dame». Ich war erstaunt. So hatte ich meine Mutter noch nie gesehen.
Nicht im mindesten. Wir behandelten sie nicht deshalb so achtungsvoll, weil wir sie fürchteten, so als hätte sie die Macht, uns Güter, Amt und Würden zu nehmen oder uns umgekehrt damit zu überhäufen, wenn wir ihre Gunst errangen. Wir taten es, weil … wir es immer getan hatten. Weil Daddy es so machte. Weil sie es offenbar brauchte. Es schien wenig genug, was wir ihr geben konnten, indem wir sie in den Mittelpunkt stellten und ihr unseren Respekt erwiesen. Denn irgendwo war uns klar, daß sie mehr zu leiden gehabt hatte als alle anderen, mehr als irgend jemand von uns, und daß wir in irgendeiner Weise an diesem Leid Schuld trugen. Als Kind konnte ich nie begreifen, wieso es meine Schuld sein sollte, daß Jesus hatte sterben müssen, und inwiefern er für mich gestorben war. Diese ganze Angelegenheit empörte mich eher: Ich hatte seinen Tod gewiß nicht gewollt, und ich konnte nicht einsehen, wieso ich irgend etwas davon haben sollte. Ich habe allerdings immer verstanden, daß meine Mutter in gewisser Weise für mich gestorben war, daß sie so eine Art Mückenmutter war, der es durch enorme Opfer gelungen war, uns – meine Schwester und mich – davor zu bewahren, unsererseits solche Mückenmütter zu werden. Denn wir sind anders: Uns blieben auch nach der Geburt unserer Kinder noch Vitalität, Lebensfreude und Kraft. Daher legten wir ihr unsere Vitalität und Kraft zu Füßen und bemühten uns, sie zu erfreuen. Das war allerdings gar nicht so leicht, und je älter sie wurde, desto schwieriger wurde es. Sie betrachtete unser Gewirbel, unsere Anstrengungen, dienstfertig und gefällig zu sein, wie eine gelangweilte, altersmüde Aristokratin, die genau weiß, daß ihre Dienerinnen gut dafür bezahlt werden, ihr gefällig zu sein. In ihrem Blick lag eine kühle Distanz und manchmal auch ein Anflug von Verachtung in ihrem Lächeln oder ein spöttischer Unterton in ihrer Stimme. Wenn unsere Besucher miterlebten, wie mein Vater ihr Tee und Schultertücher antrug, wie ich ihr Scotch und Anteilnahme offerierte, wie meine Schwester in leicht hysterischem Ton eine neue Anekdote aus ihrem Familienleben zum besten gab, um sie zum Lachen zu bringen, erkannten sie darin ein Grundmuster des in unserer Familie üblichen Verhaltens und bemühten sich nach Kräften, sich einzufügen. Ich pflegte meine Mutter zu beobachten, während sie die anderen beobachtete, und ich wußte, was sie dachte: Nichts, gar nichts von dem, was ihr da veranstaltet, kann mich für mein verlorenes Leben entschädigen. Ich hörte es, ich sah es, ich verstand. Denn ich allein kannte ihr Herz.
ICH REDE ÜBER meine Mutter in der Vergangenheit, als ob sie tot wäre, aber sie ist nicht tot. Ihr Gang ist wacklig wie der eines Kleinkinds, und ihr Atem hört sich an wie Taubengurren; sie ist fast blind und, selbst wenn sie ihr Hörgerät trägt, nahezu taub, und sie hat Angst davor, über die Straße zu gehen oder die Treppen hinaufzusteigen, weil ihr dauernd schwindlig wird, aber ihr Verstand ist wach, sie sieht großartig aus, und alle machen ihr dafür Komplimente. Ihr Lächeln ist wie eine Messerschneide, aber das sieht niemand: Sie ist eine alte Dame, und alle alten Damen sind reizend.
Wenn wir allein sind, mokiert sie sich darüber, dabei verzieht sie das Gesicht: «Oh, was für eine reizende alte Dame! Das denken die doch von mir!» Dann verstummt sie, um an ihrem Scotch zu nippen und die Flüssigkeit lange im Mund zu behalten, ehe sie sie hinunterschluckt. Als sie noch rauchte, pflegte sie sich gleich noch einen verbotenen Genuß zu gönnen. «Ich fühle mich nicht alt», protestierte sie dann. Sie straffte sich in ihrem Sessel, als wäre die Kraft in ihre Glieder zurückgekehrt, und verkündete: «Ich fühle mich wie achtzehn. Wie zwölf!» Neun, dachte ich dann. Du fühlst dich wie neun.
Meine Mutter fühlt sich wie neun Jahre alt; ich komme mir älter vor als sie. Sie hat nicht bemerkt, daß ich älter geworden bin. Sie scheint von mir zu erwarten, daß ich immer noch aussehe wie mit dreißig, schlank und ohne Falten und graue Haare. Sie mustert meine füllig gewordene Figur kritisch und fragt erstaunt, warum mein Haar so stumpf ist. Es ist ihr nicht bewußt, daß ich mittlerweile genauso viele Brillen besitze wie sie und daß mein Gehör auch nicht mehr das ist, was es einmal war. «Du hast immer ausgezeichnete Ohren gehabt, Anastasia», sagt sie, wenn ich dieses Thema anspreche. Bessere als sie, meint sie damit. Und anständige Beine. Das waren ihre beiden Wünsche für ihre erste Tochter, die Beschwörungen, die ihre negative Mitgift aufheben sollten – schlechte Ohren und dicke Beine. Ich weiß nicht, ob sie davon ausging, daß sie mir auch etwas Positives mitzugeben hatte. Wohl eher nicht. Sie sagte einmal, ihr einziges Talent sei das Tanzen. Sie war eine ausgesprochene Könnerin auf der Tanzfläche. Ich nie.
Manchmal glaube ich, ich werde vor ihr sterben. Ich will nicht, daß es so kommt. Es könnte ihr weh tun. Mir selbst würde es nicht soviel ausmachen. Ich habe schon jetzt länger gelebt, als ich hätte erwarten dürfen, wäre ich vor hundert oder zweihundert Jahren zur Welt gekommen. Ich bin fast fünfzig, ein Alter, das damals nicht viele Frauen erreichten. Und dabei lebe ich ungesund. Ich rauche zuviel, trinke zuviel und reise oft mit dem Flugzeug. Ich bleibe häufig bis spät in die Nacht auf und ringe mühsam um Schlaf, sobald draußen die ersten Morgengeräusche zu hören sind: das Zuschlagen von Autotüren, Motoren, die in der kalten Winterstille mehrere Anläufe nehmen müssen, um anzuspringen, das Rattern und Mahlen der Müllwagen, die gottverdammten Vögel. Ich liebe es, die Nacht durchzumachen, durch die Straßen fremder Städte zu ziehen, rechts und links bei neuen Freunden untergehakt, die mit mir lustig sind, singen, lachen und (zumindest in bestimmten Städten wie etwa Zürich) darüber witzeln, daß man uns gleich verhaften wird, während wir von einem über die Polizeistunde hinaus geöffneten Club zum nächsten ziehen. Schließlich landen wir alle (nachdem wir uns im wohlanständigen Zürich zuvor am Nachtportier vorbeigeschlichen haben) in meinem Hotelzimmer. Dort findet sich immer noch eine Flasche, und zu viert oder fünft hocken wir auf den Betten und rauchen, trinken, lachen, singen, bis die Dämmerung dem hellen Morgen gewichen ist. Dann schwören wir uns Liebe und Kameradschaft, meine neuen Freunde und ich, und am nächsten Tag weiß ich es noch, während sie sich an nichts erinnern. Aber wenn ich sie dann nach zwei oder drei Jahren wiedertreffe, wissen sie noch genau, wer ich bin, während mir ihre Namen entfallen sind und ich oft sogar ihre Gesichter nicht mehr unterbringen kann. Die Nacht, die wir zusammen verbracht haben, hat sich für mich unter die übrigen rauschenden Nächte meines Lebens eingereiht. Jede für sich steht mir klar und deutlich in meinem Erinnerungskatalog der ekstatischen Momente vor Augen, aber ich sehe keine Gesichter.
Weil ich ja immer wieder nach Hause zurück muß. Wer weiß, wozu diese Gesichter geworden wären, wenn ich geblieben wäre? Ich halte mich im großen und ganzen nicht an Gesichtern fest. Mir geht es um Stimmungen. Ich habe kein Interesse, die Gesichter, die konstante Größen in meinem Leben sind, durch andere oder durch Neuauflagen zu ersetzen. Meine Kinder mit all ihren nie enden wollenden Problemen. Meine Eltern mit ihren. Das einzig Bleibende ist diese Verbindung über das Blut, sind diese Menschen, die man nicht verändern, nicht austauschen, nicht ersetzen kann. Nicht daß ich sie verändern wollte oder daß ich an meinem Leben irgend etwas auszusetzen hätte. Ganz im Gegenteil. Mein Leben ist genauso, wie ich es mir wünsche, wie ich es mir immer gewünscht habe. Ich bin unabhängig und habe – endlich – genug Geld, um mir nicht mehr jeden Tag den Kopf zerbrechen zu müssen, wie ich über die Runden kommen soll. Ich habe einen Beruf, der mir Spaß macht, und bin darin sogar einigermaßen erfolgreich. Ich habe die Möglichkeit, in der ganzen Welt herumzureisen, was ich schon immer wollte, seit ich klein war. Ich habe alles, was man sich nur wünschen kann.
Letztes Mal, als ich wie immer nach Long Island hinausfuhr, um meine Eltern dort draußen am See zu besuchen, saßen sie zusammen auf der verglasten Veranda auf einer schmiedeeisernen Sitzbank. Sie schauten aufs Wasser und auf die Vögel hinaus und hatten je einen Arm zwischen sich auf den Rückenpolstern liegen. Da sah ich auf einmal, wie die Hand meiner Mutter sich sachte und unauffällig öffnete und um das Handgelenk meines Vaters legte. Sie suchte ihn. Sie berührte ihn. Mir stiegen die Tränen in die Augen, und ich dachte – wie einem eben manchmal die merkwürdigsten Gedanken durch den Kopf schießen –, ach, hättest du das doch nur schon vor Jahren getan! Dann wäre alles anders gewesen!
Später empfand ich ihre Geste dann als Zumutung, als wolle sie ihm Handschellen anlegen, ihn an sich ketten, diesen Mann, von dem sie so abhängig war. Und ich wunderte mich auch über meine Tränen: ich weine nie. Nie. Zumindest war es bis dahin so. Seit diesem Vorfall breche ich wegen allem und jedem in Tränen aus – wenn ich in den Fernsehnachrichten Bilder von halbverhungerten Kindern sehe, wenn ich in der Zeitung von vermißten Kindern und glücklich wiedervereinten Familien lese oder von jungen Vätern, die in Ausübung ihrer Pflicht ums Leben kamen: als Feuerwehrleute, Polizisten oder Soldaten. Ein Fernsehspiel, in dem es um eine alte Großmutter ging, die man in ein Pflegeheim eingesperrt hatte, verwandelte mich in ein schniefendes, zerfließendes Etwas, das stapelweise Papiertaschentücher aus dem schließlich in Reichweite deponierten Päckchen grabbeln mußte.
Bei meiner Arbeit lasse ich mich durch diese sonderbare Gemütsverfassung natürlich nicht behindern. Ich stehe oft schon früh am Morgen auf und ziehe mit meiner Kamera los, um Fotos zu machen, und nachts bin ich oft in der Dunkelkammer, bis es draußen schon wieder hell wird. Ich bereite mich sorgfältig auf meine Reisen vor und lese alle neueren einschlägigen Veröffentlichungen, damit ich möglichst schon eine Vorstellung habe, wie ich an mein Thema herangehen will. In der Regel suche ich mir Aspekte aus, für die sich bislang noch niemand interessiert hat. Ich verfolge nicht gern bereits von anderen entwickelte Ansätze weiter, setze ungern eine Fußnote unter ein bereits geschriebenes Kapitel. Das hat nichts mit Geltungssucht zu tun, auch wenn ich diese Schwäche haben mag. Der Grund dafür liegt eher darin, daß die schon vorhandenen Ansätze meines Erachtens zumeist akzeptierte sind, und wenn man etwas verändern will, muß man sich etwas suchen, was ungewöhnlich ist – sei es vom Inhalt oder von der Herangehensweise her. Diese Haltung hat mir in meinem Leben schon beträchtliche Schwierigkeiten eingetragen. Es ist immer leichter – egal, auf welchem Gebiet man arbeitet –, sich an das anzuhängen, was andere bereits gemacht haben, und seinen eigenen kleinen Mückenschiß hinzuzufügen. Ich pfeife auf das Vorhandene und frage nach dem, was noch nicht da war. Diese Einstellung kann dazu führen, daß man arm bleibt.
Ich hatte dabei allerdings noch nie das Gefühl, ich hätte eine Wahl. Ich konnte es noch nie dabei bewenden lassen, die Dinge so zu sehen, wie sie sich auf den ersten Blick präsentieren. Wirklich gesehen habe ich nie die gottverdammten Steine, sondern immer nur das, was darunter war. Und der Grund dafür ist meine Mutter, soviel weiß ich, auch wenn ich nicht genau sagen kann, warum und wieso. Wie viele Stunden habe ich sie gelöchert: «Erzähl mir, wie es war, als du klein warst, Mommy. Wie war deine Mommy? Wie war dein Daddy?» Ich habe nie aufgehört, sie danach zu fragen, auch nicht mit fünfzig. Als läge unter den Steinbrocken ihrer Geschichten etwas verborgen und vergraben, das ich entdecken würde, wenn ich nur hartnäckig genug danach forschte, und das alles verändern würde.
Das was verändern würde?
Wie gesagt, mein Leben gefällt mir. Es könnte gar nicht besser sein. Na ja, könnte es wohl doch, wenn wir in einer anderen Welt lebten. Es wäre sicherlich angenehm, jemanden zu haben, den ich lieben könnte und der mich auch liebte. Aber darüber bin ich hinweg, über die Liebe, diesen ganzen romantischen Kram. Bedürftigkeit und Machtkampf, das ist es doch und sonst nichts, und ich brauche nichts. Ehrlich nicht. Ich meine, ich habe keine Bedürfnisse, die ich nicht allein befriedigen könnte. Ich kenne keine einzige erfolgreiche Frau, in deren Leben Liebe vorkommt. Männer können das schaffen, aber Frauen nicht. Schon wegen der ungleichen zahlenmäßigen Verteilung und weil Männer sich durch unabhängige Frauen bedroht fühlen. Sie finden immer eine, die ihr Ego aufbaut. Ich, wir, die unabhängigen Frauen, wir finden keinen Mann, der nicht darauf angewiesen ist, daß wir permanent sein Selbstwertgefühl stärken. Genug. Ich habe genug davon.
Ich habe weiß Gott genügend Männer gekannt, genügend Liebhaber, Freunde und Bekannte gehabt, um zu wissen, wovon ich rede. Ich habe sogar einen Sohn, einen Lumpenhund von Sohn. Sie denken jetzt sicher, so dürfte ich nicht über mein eigenes Kind reden. Sagen Sie das meiner Mutter, sie ist schuld, weil sie mich dazu erzogen hat, ehrlich zu sein. Er ist ein Dünnbrettbohrer, da gibt es nichts. Ich habe ihn nicht dazu erzogen, aber ich kann es ihm auch nicht vorwerfen, daß er einer ist. Im Gegensatz zu mir sieht er die Oberfläche der Dinge, er sieht sie und begreift, wie die Machtverhältnisse liegen, weil man dafür nur genau hinzugucken braucht. Warum auch nicht, werden Sie sagen. Der Charakter verfestigt sich langsam, wie Gelatine. Seine Gelatine ist noch nicht ganz fest, sie kann immer noch in eine andere Form umgegossen werden, aber im Augenblick bin ich nicht stolz auf ihn, auch wenn er die Träume seiner Mutter realisiert und Medizin studiert. Ich komme mir vor wie meine eigene Mutter, wenn nette, freundliche Damen sich lächelnd erkundigen, was mein Sohn macht, und mich mit einem Lobesschwall überschütten: «Nein, wie wunderbar! Da sind Sie sicher mächtig stolz!» Dann möchte ich ihnen am liebsten die Lippen abbeißen, damit sie künftig aussehen wie das, was sie in meinen Augen sind: Haifische. Und um die Wahrheit zu sagen: Meine Töchter sind auch nicht besser. Es schien alles bestens, bis sie erwachsen wurden. Jetzt scheint alles falsch.
Die Folge davon ist – wenn ich nicht gerade wegen irgendwelcher mutterlosen Kinder, kinderlosen Mütter oder toten Väter in Tränen zerfließe –, daß ich im Haus herumfauche und alle mit dem nassen Lappen erschlagen könnte. Ich finde anscheinend überhaupt nur noch so etwas wie innere Ruhe, wenn ich auf Reisen bin, und heutzutage bekomme ich solche Aufträge nicht mehr regelmäßig. Nicht einmal mit Mitgefühl kann ich rechnen. Als ich das letzte Mal bei meiner Mutter war und wir so zusammensaßen und redeten, war mir ganz elend, und ich erzählte ihr von einer handfesten Auseinandersetzung zwischen Arden und mir. Arden war schon seit einiger Zeit unausstehlich geworden, sie lümmelte nur noch qualmend im Haus herum und funkelte mich wütend an, hackte so laut es ging auf dem Klavier herum, quer durch alle verfügbaren Noten, ohne sich je die Mühe zu machen, die falschen Stellen zu wiederholen, bis ein Stück richtig klappte, und war nicht bereit, einen Handschlag zu tun, noch nicht einmal in ihrem eigenen Zimmer. Bei uns sieht es zwar nie ordentlich aus, nicht mal dann, wenn frisch geputzt ist, aber wenn Arden da ist, kommt man sich vor wie auf einem Busbahnhof. Eines Abends öffnete sie dann zu allem Überfluß die Tür zu meiner Dunkelkammer, obgleich das rote Lämpchen anzeigte, daß ich drinnen arbeitete und kein Licht hereinfallen durfte – ein Signal, das sie seit frühester Kindheit kennt. Sie wollte die Wagenschlüssel, und ich hatte aus irgendeinem Grund meine Handtasche mit hineingenommen. Ich schrie trotzdem los. Sie hatte mir ein Dutzend unersetzliche Negative ruiniert. Ich tobte wie eine Wilde, brüllte, kreischte, raufte mir die Haare. Sie zuckte nur mit den Achseln. «Ich brauche die Autoschlüssel. Ich kann nicht stundenlang warten, bis du wieder rauskommst.» Sie war mürrisch und gereizt, und mir war, als ob alles Blut aus meinem Körper in meinen Kopf gestiegen wäre. Ich verpaßte ihr eine Ohrfeige.
Das war eine Ausnahmereaktion, weil ich nie etwas von körperlicher Züchtigung gehalten habe, aber sie nahm es als Kriegserklärung. Sie knallte mir eine zurück, ich ihr auch, wir gingen aufeinander los, mit Armverdrehen, Boxen, Schlagen. Mir blieb bald nur noch Kneifen und Zwacken, weil meine Tochter zwar kleiner und zierlicher ist als ich, aber Karate gelernt hat und besser Luft kriegt, sie hat fünfundzwanzig Jahre weniger geraucht als ich. Sie hatte mich in die Zange genommen: Ich konnte mich nicht mehr bewegen, sie schob mich rückwärts, auf die Armlehne eines Polstersessels.
«Ich könnte dich umbringen!» zischte sie.
«Nur zu!» schrie ich. «Dann bin ich wenigstens davon erlöst, mit dir unter einem Dach leben zu müssen!»
Sie ließ von mir ab, schnappte meine Tasche, nahm sich die Autoschlüssel und rauschte hinaus, wobei sie die Wohnungstür hinter sich zuknallte.
Diese Geschichte erzählte ich meinen Eltern, und als ich damit fertig war, fing meine Mutter an zu weinen. Ich war verblüfft.
«Warum weinst du denn?»
Mein Vater sah mich an, als wäre ich total begriffsstutzig. «Du tust ihr leid, Ana. Natürlich muß sie da weinen.»
Quatsch, dachte ich. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie meinetwegen eine Träne vergossen. Ich sah ihr in die Augen und fragte sie noch einmal streng: «Warum weinst du?»
Sie schluchzte jetzt laut. «Ach, wenn ich doch nur mit meiner Mutter so hätte reden können! So habe ich nie mit ihr gesprochen, ihr nie erzählt, wie mir zumute war, nie gewußt, was in ihr vorging, und jetzt ist es zu spät!»
Das erschütterte mich nun wirklich. All die Jahre, in denen ich ihren Geschichten gelauscht hatte, gab es immer diese beiden Figuren, meine Mutter und ihre Mutter, zwei pulsierende, bebende Gestalten in einer Landschaft aus Beton, die litten und litten, jede für sich und doch miteinander verbunden, wie zwei verwundete Tiere, die durch einen endlosen Wald aus leblosen, von ihrem Schmerz unberührten Baumstümpfen zogen. Wie jene Frau, die ich einmal in Hempstead auf der Straße sah, flankiert von einem Mann und einer Frau, die sie an den Armen gefaßt hielten. Sie war noch ziemlich jung – Anfang Dreißig und hübsch, ein bißchen rundlich –, aber da war etwas in ihrem Gesicht, was mein Herz mitleidig erbeben ließ … Niemandem sonst schien etwas an ihr aufzufallen. Die Leute gingen an ihr vorbei, neben ihr her, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Noch am gleichen Abend entdeckte ich ihr Foto in der Zeitung: Sie hatte als einzige das Feuer überlebt, bei dem ihr Mann und ihre vier Kinder umgekommen waren.
Das war mein Bild von den beiden, Mommy und Großmutter. Und nie hatte ich den leisesten Verdacht gehabt, daß da zwischen ihnen noch etwas anderes sein könnte als die gemeinsame Erfahrung des Leidens. Ich war natürlich blind gewesen, denn es mußte noch mehr geben. Ich habe mein Leben lang alle geschönten Bilder von mir gewiesen, schon in der Schule die zuckersüßen Kinderbücher, die man mir gab, wütend zugeknallt, im Kino Fratzen geschnitten, die verharmlosenden Erklärungen der Leute zornig in Frage gestellt. Ich war ein unangenehmes Kind und bin vielleicht auch eine unangenehme Erwachsene, weil ich von jeher alles ablehne, was glatt und einfach ist und dazu dient, eine Wirklichkeit zuzudecken, zurechtzuputzen und zu verniedlichen, von der ich weiß, daß sie hart und schrecklich ist. Ich habe schon als Kind die Freundinnen meiner Mutter beleidigt, indem ich empört verkündete: «Das glaube ich nicht!» oder eine spöttische Grimasse zog, wenn sie mir mit überschwenglicher Stimme einreden wollten, daß die Menschen gut sind und die Welt freundlich ist – oder umgekehrt.
Und doch hatte ich es all die Jahre einfach für bare Münze genommen, daß das Verhältnis meiner Mutter zu ihrer Mutter nur in allumfassender, niemals wankender Liebe und Verehrung bestanden hatte. Das war schließlich auch alles, was ich je darüber zu hören oder davon zu sehen bekommen hatte. Meine Mutter sagte, ihre Mutter sei eine Heilige, und genauso erlebte ich sie auch. Wenn Großmama uns besuchte, saß sie still und traurig in der äußersten Sofaecke. Sie streckte mir die ausgebreiteten Arme entgegen, und ich setzte mich neben sie. Sie nahm meine Hände in ihre – die so weich waren, daß man meinen konnte, die Falten hätten das Hautgewebe verändert –, lächelte mich liebevoll an und sagte: «Meine Anastasia, meine kleine Anastasia.» Meine Mutter und sie redeten in der Küche Polnisch miteinander, und meine Großmutter lachte und nickte mit dem Kopf. Nie lag auch nur der leiseste Anflug von Ärger in ihrer Stimme oder ihrer Miene. Ich kann sie mir gar nicht wütend vorstellen. Sie weinte einfach nur, wenn sie ihren Enkel, meinen Cousin, ins Bett zu bringen versuchte und er mit den Füßen nach ihr trat. Sie erhob niemals die Stimme. Einmal, als sie bei uns zu Besuch war, gingen meine Mutter und sie zu Fuß die ganzen dreieinhalb Kilometer zu dem deutschen Metzger, um Koteletts fürs Abendessen zu kaufen. Die Metzgersfrau sagte etwas auf Deutsch zu ihrem Mann. Als sie wieder draußen waren, kicherte meine Großmutter vergnügt: Sie freute sich, daß sie die Sprache der Metzgersleute verstanden hatte, ohne daß diese es wußten. Die Frau hatte gesagt: «Schau nur, was für ein gütiges Gesicht diese Frau hat!» Sie meinte meine Großmutter.
Wenn meine Mutter zu vorgerückter Stunde auf sie zu sprechen kam, verschwammen ihre Stimme und ihre Augen: «Meine Mutter war eine Heilige.» Dann kam mit noch belegterer Stimme: «Arme Momma.» Und anschließend begann sie mit irgendeinem der verschiedenen Kapitel: der Grausamkeit des Mannes, der Unterwürfigkeit der Frau, der Brutalität, der die Kinder ausgesetzt waren, und manchmal auch der Armut oder der Unwissenheit. All dies setzte meiner Mutter zu, aber wenn es um die Unwissenheit ging, kam eine Schärfe in ihre Stimme, eine Bitterkeit, die manchmal sogar beinahe gegen ihre Mutter auszuufern drohte. Sooft ich dann jedoch nachsetzte, meinte sie nur achselzuckend: «Was sollte sie denn machen? Sie hatte doch keinerlei Wissen.» Wenn sie von den anderen Aspekten sprach, redete sie wie ein Kind, mit einer hohen, dünnen Stimme und in einfachen Sätzen. Und zwischendurch kam immer wieder das gleiche Achselzucken, das gleiche Seufzen: «Ich war ja so ein dummes Kind. Ich wußte ja nichts.»
Das ist eine Seite meiner Mutter, von der außer mir niemand weiß. Ich kenne die Neunjährige, die sie einmal war und in gewisser Weise immer noch ist. Mein Vater hat für diese Art von Kummer kein Ohr; Probleme interessieren ihn nur dann, wenn sie mechanisch lösbar sind wie kaputte Uhren oder verklemmte Fenster. Solche Probleme liebt er, und er kann bei ihrer Lösung sehr findig sein. Meine Schwester rührt ebenfalls ungerne an alte Wunden. Sie reißt sich lieber am Riemen, packt etwas Neues an – das ist für sie das einzige Mittel, mit alten Niederlagen fertig zu werden. Ich bin darin eigentlich genau wie sie – oder war es jedenfalls oder dachte zumindest, daß ich es wäre. Aber was habe ich denn all diese Jahre hindurch gemacht, wenn ich mit Mutter bei schummriger Beleuchtung zusammensaß und der Uhrzeiger still und leise auf die Vier zurückte und die Luft immer rauchiger wurde? (Als er noch arbeitete, mußte mein Vater früh aufstehen und daher spätestens um eins zu Bett gehen, er war längst seufzend und brummelnd nach oben verschwunden. Etwa um zwei pflegte er dann geräuschvoll wieder aufzustehen und sich ein großes Handtuch aus dem Bad zu holen, um es in die Ritze zwischen seiner Schlafzimmertür und dem Fußboden zu stopfen, damit der Zigarettenmief nicht in seinen Schlaf dringen konnte – sein kleiner Protest gegen unser Tun.) Meine Mutter und ich einigten uns dann schließlich auf einen letzten Drink, und ich holte ihn uns. Manchmal (aber das liegt schon lange zurück) bestand sie allerdings darauf, selbst aufzustehen und die Drinks zu machen. Aber auch dann ging ich ihr immer in die Küche nach, um mein Glas selbst wieder in die von ihr so genannte Veranda zu bringen, wo wir zu sitzen pflegten. Was habe ich denn gemacht, wenn ich mir immer wieder die gleichen Geschichten anhörte, ihr immer wieder die gleichen Fragen stellte, besessen irgend etwas verfolgte, ohne genau zu wissen, was? Gelauscht, versucht, in sie hineinzuschlüpfen, sie zu werden, meine Großmutter zu werden, mich selbst abzulegen, als könnte ich ein für allemal in meiner Mutter aufgehen und ihr auf diese Weise die Kraft und die Hoffnung geben, die sie braucht. Ihr die Säfte zurückgeben, die ich aus ihr herausgesogen habe, nun meinerseits eine Mückenmutter zu werden, meine eigene Mutter bemuttern.
Sie hat davon niemals irgendeinem anderen Menschen als mir erzählt. Nicht einmal ihrer Schwester, von der sie sagt: «Sie weiß ja nichts darüber, sie war ja nicht dabei, sie hat ja nicht gesehen, was ich gesehen habe, sie erinnert sich an nichts. Sie denkt, Poppa war ein wunderbarer Mensch, und will gar nichts anderes hören.» Nein, diese Seite meiner Mutter kenne nur ich, aber es ist der eigentliche und innerste Teil ihrer Person, ihr Wesenskern. Deshalb kann ich andere Leute immer nur verwundert anschauen, wenn sie über sie sprechen. Ich weiß gar nicht, wovon sie reden.
UND DIE LEUTE haben manches über sie zu sagen. Sie ist schwierig. Sie ist taub oder fast taub und darüber verärgert: Sie reagiert gereizt, wenn Leute leise sprechen. Sie verzieht das Gesicht und wendet ungehalten den Kopf zur Seite. Leute, die nicht wissen, warum sie das tut, denken dann oft, das Gespräch langweile sie oder sie sei unhöflich. Es ist immer ein Risiko, ihr etwas zu schenken. Sie empfindet Geschenke – wie im übrigen auch andere Gesten, die darauf abzielen, ihr eine Freude zu machen, als Herausforderung, der sie sich allemal gewachsen zeigen wird: Sie macht dem Geber auf die eine oder andere Weise klar, daß es ihm nicht gelungen ist, sie zu erfreuen.
Am schlimmsten verhält sie sich in Restaurants, vor allem dann, wenn eine von uns, meine Schwester oder ich, sie ausgeführt hat. Das Lokal ist ihr grundsätzlich zu laut, wenn sie ihr Hörgerät eingeschaltet hat, kann sie keine Geräusche mehr ausfiltern, und das Gekratze der Gabeln auf den Tellern oder das Stühlerücken klingen über ihren Verstärker ebenso aufdringlich wie menschliche Stimmen. In der Regel ist es ihr auch zu kalt, und außerdem schmeckt ihr das Essen nie. Meine Schwester strapaziert alljährlich ihre Finanzen, um an Mutters Geburtstag mit ihr auszugehen, und ist dann – jedesmal wieder – ganz aus dem Häuschen über die Meeresfrüchte, die Champignonsuppe und die Kalbsmedaillons. «Schmeckt das nicht phantastisch?» spornt sie Mutter an. «Ist das nicht köstlich?» Mutters Lippen verziehen sich zu einem steifen Lächeln. «Sehr gut», lügt sie nur zu offensichtlich.
Später spuckt sie mir dann förmlich ihr Mißfallen ins Gesicht: Die Muscheln waren nichts als margarinegetränkte Brotbrösel, die Suppe nur Mehl und Wasser, das Kalbfleisch tiefgefroren. Später faucht meine Schwester ihre Kinder an – warum das Haus so ein Saustall ist, wieso sie niemals ihre Schuhe wegstellen, ihre Sodadosen wegwerfen, ihre Aschenbecher ausleeren können. Die Kinder sehen sich an und fragen sie, wie denn das Essen war. «Toll, wirklich ganz phantastisch!» Schließlich weist ihr Mann sie darauf hin, daß sie auf der Innenseite ihrer Backe herumkaut. «Deine Mutter ist dir auf die Nerven gegangen», wagt er einen Interpretationsversuch, indem er ihr liebevoll die Hand auf den Rücken legt. Joy schnappt wutentbrannt: «Nicht im geringsten! Das Essen war ganz phantastisch! Wenn es ihr nicht geschmeckt hat, ist das ihr Problem, das kratzt mich überhaupt nicht! Mir ist das völlig egal! Absolut schnurzpiepegal!»
Manchmal ist meine Mutter jammerig, manchmal schmollt sie. Wenn mein Vater nicht ständig an ihrer Seite ist, um ihr zu helfen, wird sie wütend. Aber wenn er die Hand behutsam unter ihren Ellbogen schiebt und sie über eine Türschwelle geleiten will, kann es sein, daß sie den Arm wegzieht und ihn anzischt: «Ich komme schon zurecht, Ed!», als versuche er, sie in die Rolle der Hilflosen zu drängen. Wenn er ihr vor den Mahlzeiten an ihren Platz geholfen hat und ihr einen Kuß gibt, dreht sie ihm die Wange hin. Oft sitzt sie allein, beschäftigungslos und schweigend auf ihrer Veranda, einem breiten, verglasten Raum mit Blick auf den See. Aber sie weint nicht mehr, und sie schließt sich auch nicht mehr unter Berufung auf Kopfschmerzen tagelang in ihrem Zimmer ein, wie sie es oft tat, als ich ein Teenager war.
Viele Jahre lang gewährte sie mir das Gefühl, ein wenig Macht zu besitzen, was mich unauflöslich an sie band. Wenn ich sie besuchte, lebte sie auf. Sie redete, lachte und vergaß manchmal sogar ihr Leid. Die gleiche Macht räumte sie auch meiner Schwester ein, aber die empfand die Aufgabe, Mutter aufzumuntern, zu amüsieren, zum Lachen zu bringen, als harte Arbeit, während es mir zu jener Zeit Vergnügen bereitete. Ich fühlte mich stark und froh, wenn wir zusammen lachten. Inzwischen lacht sie nicht mehr.
Sie beobachtet die Seifenoper der Natur, das immer gleiche Spiel von Tod und Fortbestehen. Es scheint sie zu erquicken, und hin und wieder hebt sie das Fernglas vor die Augen, um genauer sehen zu können. Aber sie hält es nicht lange oben, es ist zu schwer.
ihn
Wovor soll man ihn bewahren? Natürlich braucht er keine Mutter. Ihn umschwirren ja die ganze Zeit Frauen, die ihn bedienen. Vielleicht ist seine Mutter genau wie er, nur daß sie als Frau nicht den gleichen Service genießt. Ich frage, was denn so schrecklich an ihr ist, aber niemand will es mir sagen. Sie lachen nur noch lauter. Ich drücke meinen Unmut an mich wie ein Stofftier. Ich bin selbst Mutter: Was ist denn nur an diesen Müttern, von denen man andauernd hört, so «unmöglich»?
AffenliebeÜberfürsorglichkeitkaltkalt
Vor ein paar Jahren fuhr ich nach Polen, allein, ohne Reisegruppe und ohne dort Leute zu kennen. Es war eine niederschmetternde Erfahrung, nicht zuletzt, weil ich nicht in der Lage war, irgend etwas Geschriebenes zu entziffern, und auch höchstens fünfzehn Wörter verstehen konnte. Die Leute waren hilfsbereit, aber ich kam mir vor wie ein kleines Kind. Man nahm mich bei der Hand, führte mich herum und wollte mich nicht allein auf die Straße lassen – es schien ihnen zu gefährlich, wenn jemand nicht einmal die einfachsten Sachen lesen oder sagen kann. Dabei handelte es sich allerdings um eine fremde Sprache. Ich habe das gleiche Problem mit meiner eigenen.
Ein paar ziemlich garstige Mädchen aus meiner Klasse kamen hinter mir die Straße entlanggerannt, und ich machte mich erschreckt ganz klein. Ich dachte, sie hätten es auf mich abgesehen. Sie waren wesentlich größer und kräftiger als ich, sie hatten mir zwei Jahre voraus. Als sie näher kamen, versuchte ich, meine Angst zu verbergen, einerseits aus Stolz, andererseits aber auch, weil mir intuitiv klar war, daß Angst provozierend wirkt. Ich machte den Nacken steif, schob das Kinn vor und setzte eine hoheitsvolle Miene auf. Sie spielten aber nur, irgendein – wie mir schien – rauhes Spiel, und rannten lachend an mir vorbei. Aber dann drehte eine von ihnen sich um, zeigte mit dem Finger auf mich und rief, keuchend vor Lachen: «Guckt euch die Dabrowska an! Ist die eingebildet!» Und die anderen wandten sich auch um und johlten: «Eingebildete Kuh! Eingebildete Kuh!»
«Wie war es heute in der Schule?»
Sie lächelte. «Das ist ja schön, Anastasia.»
Dann schwiegen wir beide. Ich aß meine Kekse auf und fegte die Krümel mit der Hand zu einem kleinen Häufchen zusammen. Mutter stand auf, holte einen Spüllappen und wischte sie weg.
«Ja.» Sie drückte ihre Zigarette aus und seufzte wieder: «Ich bin so müde.» Ich sah sie mitfühlend an. Sie war immer müde. Ich wußte, daß sie es sehr schwer hatte.
eingebildet
Ich verharrte reglos. «Ach so.»
«Ach, ein paar von den Mädchen haben das heute gesagt – über Rhoda Moore. In der Pause.» Ich hatte den Namen des einzigen Mädchens in der Klasse genannt, das ich beneidete, eines großen, hübschen Mädchens mit langen blonden Haaren und großen blauen Augen. «Sie finden, sie ist eingebildet.»
«Ich weiß nicht», sagte ich stockend. «Sie ist unsere Klassenschönheit.»
Ich verließ die Küche, damit sie mein glühendes Gesicht nicht sah, die Pein, die es mir bereitete, der armen Rhoda Moore unrecht zu tun und meine Mutter zu belügen und, was das Schlimmste von allem war, mein wahres Ich verstecken zu müssen. Denn im gleichen Augenblick, als sie es aussprach, wußte ich, daß es zutraf. Ich war eingebildet, ich dachte wirklich, ich sei besser als die anderen. Ich lief nach oben in mein Zimmer und warf mich auf mein Bett. In meinem Kopf pochte es, als hätte ich Fieber. Ich fühlte mich mutterseelenallein und durch und durch schlecht. Ich wünschte, ich hätte verschwinden können, einfach auf der Stelle sterben, davonwehen wie ein welkes braunes Blatt.
warwar
Natürlich machte ich trotzdem weiter, wie man es eben tut. Zeitweise gelang es mir sogar, diese frühe Erkenntnis wieder zu vergessen. Was mir dagegen blieb, war die Skepsis gegenüber Worten. Deshalb konnte ich, wenn eine Frau meinte, meine Mutter sei so stark, oder wenn andere Leute sagten: «Ihre Mutter ist wirklich reizend», nur lächelnd nicken. Wenn man bei solchen Aussagen nachfragt, gucken einen die Leute an, als hätten sie plötzlich gemerkt, daß man etwas zurückgeblieben ist. Vor vielen Jahren pflegte ich mich noch zurückzuziehen und über solche Behauptungen nachzugrübeln. Ist sie stark? Was heißt das? Woran merkt man das? Ist sie reizend?
UND DOCH WAR sie genau wie ich, drückte sie sich draußen im Dunkeln herum, schüchtern und mit dem Gefühl des Ausgeschlossenseins, dem Gefühl, drinnen bei den Erwachsenen nicht erwünscht zu sein, dem Gefühl, nichts von der Welt zu wissen. Sie trug auch solche hohen Schuhe, sogar noch höhere als ich, nur daß sie damals modern waren. Sie hatte die gleichen langen Spaghettilocken, die sie mir später verpaßte. Sie hieß mich dazu auf dem Schemel Platz nehmen, während sie die Brennschere über der Gasflamme erhitzte, der gleichen Flamme, über der sie auch Hühner absengte, was ganz ähnlich roch wie das angekokelte Zeitungspapier, wenn sie die Lockenschere abrieb, ehe sie sich damit an mein schlaff herunterhängendes Haar machte. Sie teilte mit dem Kamm eine Strähne ab, wickelte sie mit dem übelriechenden Brenneisen auf und ließ sie dann wieder los, um sich weiter rings um meinen Kopf vorzuarbeiten, bis sie mich «fertig» hatte. Genau wie das Huhn, wenn sich alle seine Federchen unter der Berührung der Flamme zu kleinen Kringelchen gerollt hatten und es in die Pfanne wandern konnte.
«O nein, Anastasia.» Sie antwortete mir mit ihrer, wie ich sie nannte, «bösen» Stimme, einer Mischung aus Mattigkeit und Ärger. Aber dann setzte sie klagend hinzu: «Meine Mutter hat mir nie die Haare gemacht.»
«Ich kann mich nicht mehr erinnern, Anastasia!» Sie ist sichtlich gereizt, während sie das verkrumpelte Zeitungspapier zusammenrollt und in den Mülleimer stopft, die Brennschere zum Abkühlen auf den Gasherd legt und sich neuen Kaffee aus der stumpfen Aluminiumkanne eingießt. Sie läßt sich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen und zündet sich eine Zigarette an. Ich gehe, das Foto fest umklammernd, aus der Küche, laufe in das vordere Zimmer, das wir die «Veranda» nennen, und hocke mich auf den Boden. Hohe schwarze Schnürstiefel. Sie reichen fast bis zu ihrem Rocksaum. Und die scheuen Augen, das schüchterne Lächeln, der Ausdruck von Nicht-ganz-Dasein auf ihrem Gesicht. Das ist meine Mommy. Mit auf dem Bild ist ihr Bruder, Eddie, neun Jahre alt. Er ist ganz präsent, gelassen, dunkel, sein Gesicht rund und reif. Ich erkenne ihn, meinen geliebten Onkel Eddie. Er trägt einen weißen Anzug mit Knickerbockern und ein Hemd mit rundem Kragen. Ich habe so einen weißen Anzug wie den auf dem Foto zum erstenmal gesehen, als Louis Ferraro gestorben war. Er hatte eine Blinddarmentzündung gehabt, und unsere Lehrerin wollte, daß wir alle zu ihm nach Hause gingen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen, wie sie sagte. Er lag in einem Kasten, in einem weißen Anzug, inmitten von lauter Blumen. Er war so dick und sonnenbraun wie immer, aber er war tot. Seine Mutter, seine Großmutter und seine sämtlichen Tanten saßen in schwarzen Kleidern, die ihre massigen Körper ganz verhüllten, um den Sarg herum und weinten. Sie sahen kaum auf und reagierten nicht einmal richtig auf das, was die Lehrerin sagte. Das verstand ich nicht: er war doch schließlich nur ein Kind. Wenn ich tot gewesen wäre und in einem Kasten gelegen hätte und die Lehrerin wäre zu uns nach Hause gekommen, dann wäre meine Mutter ganz bestimmt nett und höflich zu ihr gewesen. Ich dachte, daß sie nur Theater spielten. So viel konnte ihnen jemand, der nur ein Kind war, gar nicht bedeuten.
«Mommy?» fragte ich tastend von der Tür aus. «Ist Eddies Anzug ein Kommunionsanzug?»
Ich hielt ihr das Foto entgegen. «Er ist weiß, genau wie der von Louis Ferraro.»
Ich stand wie angewurzelt da. «Kommunionskleider gibt es auch?» Die nächste Frage wog schwer, und ich zögerte. «Was bedeutet Kommunion?» Bisher hatte ich Glück gehabt, und ich wußte aus Erfahrung, daß ich das Glück immer überstrapazierte. So auch diesmal.
Ich verschwand.