ISBN: 978-3-95764-225-7
1. Auflage 2017, Altenau (Deutschland)
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Alle Rechte vorbehalten.
Friedrich Wilhelm (1620-1688), bekannt als der Große Kurfürst
Dorothea von Holstein-Sonderburg-Glücksburg, verwitwete Herzogin von Braunschweig-Zelle (1636-1689), seine zweite Frau, genannt die schwarze Dorothea
Kurprinz Friedrich (1657-1713), Friedrich Wilhelms dritter Sohn aus erster Ehe, genannt der schiefe Fritz
Johann Sigismund von Wedell, Kammerjunker beim Kurprinzen
Michel Köppke, sein Diener und Vertrauter
Wendelin Lonicer (1639-1714), Hausvogt am kurfürstlichen Hof
Christoph Hendreich (1630-1702), kurfürstlicher Bibliothekar
Caspar Jenisch, ein nicht immer erfolgreicher Berliner Kaufherr
Elisabeth geb. von Retzlow, verw. Ebel, seine Frau Henriette Ebel, ihre 18-jährige Tochter, als Erbin eine ausgesprochen gute Partie
Christian Fahrenholtz, Barbier und Chirurg aus Altlandsberg, der in Liebe zu Henriette entbrannte Ermittler
Sein Zimmerkamerad Etienne Sy, aus Paris zugewanderter Hugenotte
Matthes von Retzlow, Kammerjunker bei der Kurfürstin
Major Ludowig von Kalckhorst, im Hause Jenisch einquartierter Offizier
Valtin, sein Bursche und Diener
Niklas, Christians Bruder in Altlandsberg, dort Faktotum im Schwerinschen Schloss
Jakob, sein Sohn
Christians Oheim Jobst, Apotheker in Berneuken
Peter Herzog, ein alter Bekannter Christians
Ein schlimmer Monat, der Oktober. Schlimmer noch als all die vergangenen, in denen es die Sonne mit einem Todkranken besser meinte, den der reißende Schmerz in den Gelenken schier umbringen wollte. Seit Jahren ging das so. Zuletzt hatte er im Februar hilflos und in Erwartung des Todes daniedergelegen. Kaum ein halbes Jahr später konnte er in der Neumark wieder dem geliebten Jagdvergnügen nachgehen und fühlte sich leidlich wohl dabei. Heute jedoch schlug das Herz dumpf in der mächtigen Brust, die längst nicht mehr genug von der Herbstluft aufnehmen wollte. Von der Spree wehte es feucht herauf.
Schwer rang der alte Mann nach Atem und versuchte sich aufzurichten. Nein, das war kein Leben mehr für einen einst so kräftigen Mann wie ihn. Hilflos und elend lag er, Friedrich Wilhelm, den die Welt in Ehrfurcht und Anerkennung den Großen Kurfürsten nannte, in seiner Residenz und wartete darauf, dass ihn der HERR aus diesem irdischen Jammertal abrief. All die Kuren in Pyrmont und an der neu entdeckten Quelle im märkischen Freienwalde hatten ihm auf Dauer keinerlei Erleichterung verschafft. Und ebenso wenig der Königsteiner Sauerbrunnen, den er sich gleichsam eimerweise einverleibt hatte.
Ächzend drehte er den schweren Leib im Lehnstuhl zur Seite und griff nach der Teetasse. Wie gern wäre er für einen Augenblick aufgestanden und ans Fenster getreten, doch die von der Wassersucht stark angeschwollenen Beine wollten ihm nicht gehorchen und nach der Dienerschaft mochte er nicht läuten. An solchen Tagen sah er am liebsten niemanden um sich, nicht einmal seine Frau, die treue Dorothea, die ihm jeden Wunsch von den Augen ablas und ihm doch so viel Kummer bereitete.
Bereut hatte er es nie, sie nach dem allzu frühen Tod seiner ersten Frau geheiratet zu haben, ohne jeden Prunk und großes Beilager übrigens, im ländlichen Schloss Gröningen bei Magdeburg. Keine Wiederholung seiner prachtvollen Hochzeit in Holland mit der klugen Luise Henriette aus dem Hause Oranien, wo neun gräfliche Träger für die Schleppe der Braut notwendig gewesen waren. Da war er selber noch ein junger Mann gewesen, in der Blüte seiner Jahre und dem Pomp und der Pracht nicht abgeneigt, die zu einer Fürstenhochzeit nun einmal gehörten.
Seit mehr als zwanzig Jahren ruhte Henriette nun schon in der Gruft. Unvergessen, dessen konnte sie sicher sein, im Guten wie im Bösen. War ihm doch im Laufe ihrer zwanzigjährigen Ehe so manches Mal das Blut zu Kopfe gestiegen, wenn sie ihm allzu hartnäckig und wortgewandt zusetzte. Um sie und den ergebenen Oberpräsidenten von Schwerin hatten sich garstige Gerüchte gerankt, wie er wohl wusste. Das intrigante Volk am Hofe tat nichts lieber, als heimliche Verleumdungen zu streuen. Als hätten Schwerin nicht die eigenen drei Ehen mit sechzehn Kindern und zusätzlich die Erziehung der Prinzen genügend in Anspruch genommen!
Nicht um seine Luise zu vergessen hatte er sich schon bald nach ihrem Tod nach einer neuen Verbindung umgeschaut, und nicht der fleischlichen Gewohnheiten wegen, die ihn gelegentlich zwickten. Er brauchte eine fürsorgliche Frau und Mutter, die sich der drei unmündigen Prinzen und seiner annahm, wenn ihn die Krankheit heimsuchte, stand er doch mit neunundvierzig Jahren bereits an der Schwelle des Alters. Auch seine Erwählte, die kinderlose Witwe seines alten Freundes Christian, des Herzogs von Lüneburg, ging ins dreiunddreißigste. Eine robuste und gewitzte Frau, wie sich erwies, die seinetwegen ohne Umschweif zum reformierten Glauben übertrat, den sie allerdings nie so ernst nahm wie die selige Luise. Dorothea war der Jagd und einem guten Schluck nicht abhold und überraschend gebärfreudig dazu. In kurzer Folge schenkte sie ihm weitere sieben Kinder, von denen nur die kleine Dorothea in ihrem ersten Jahr gestorben war. Die vier Söhne hingegen wuchsen den Eltern zur Freude zu prächtigen jungen Kerlen heran, und die Hochzeit der Kronprinzessin Anna Amalia stand vor der Tür.
Sorgenvoll dachte Friedrich Wilhelm an Christian Ludwig, den Jüngsten, der gerade erst zehn Jahre alt war, während Philipp, der Älteste und der Stolz seiner Mutter – und insgeheim auch des Vaters, aber das verbarg er selbst vor seiner engsten Umgebung –, inzwischen der Volljährigkeit entgegensah. Kein Wunder, dass Dorothea mehr für ihre leiblichen Söhne beanspruchte, als nur den schlichten Markgrafentitel, der jedem Hohenzoller aus dem Hause Brandenburg zustand. Seit der Geburt ihres Ältesten Philipp, vor allem jedoch nach dem schmerzlichen Tod des Thronfolgers, des Kurprinzen Karl Emil, den er nie verwunden hatte, lag sie ihm in den Ohren mit ihren beständigen Klagen über die Ungleichbehandlung ihrer Nachkommen. Und hatte sie nicht Recht, wenn er den missratenen Friedrich betrachtete, der ihm und ihr mehr Kummer bereitete, als einem kranken Vater und einer nicht immer wohlmeinenden Stiefmutter zuträglich sein konnte. Vom Tag der Hochzeit an, hatten sich Luise Henriettes drei Söhne als widerspenstig und abweisend gegenüber der Stiefmutter erwiesen, und mit jeder Geburt eines weiteren Halbbruders hatten sie ihre Abneigung vermehrt.
Schließlich veränderte er um des lieben Friedens willen und zu Dorotheas dankbarer Freude das Testament mehrfach zugunsten der jüngeren Söhne und teilte das Land entgegen den Hausgesetzen. Und wenn der treue Danckelmann sich für seinen Liebling Friedrich nicht so ins Zeug gelegt hätte, wäre Philipp am Ende gar das Herzogtum Preußen zugefallen, an dem ihm, Friedrich Wilhelm, mehr lag als an allen anderen ererbten Ländereien.
Nun war er, der erste und einzige Hohenzoller, der sich den Beinamen der Große verdient hatte, mit sich im Reinen. Jeder der Söhne sollte seinen eigenen, gerechten Anteil am väterlichen Erbe genießen, mochte da widersprechen, wer wolle, und sei es der Kaiser in Wien, den er in seinem letzten Testament wieder als Vollstrecker eingesetzt hatte, sehr zum Ärger des Franzosenkönigs.
Wären nur all diese verderblichen Gerüchte nicht gewesen, die sich um seine Dorothea rankten und um den Tod seiner Söhne aus erster Ehe. Vor allem um den Kurprinzen Friedrich, der sich mit seiner Gemahlin unter fadenscheinigen Begründungen vom Hof fern hielt und schließlich gar in Hannover untergekrochen war. Gewiss, er hatte ein unüberlegt raues Wort gesprochen über die Treue der Schwiegertochter, aber stand es einem rechtschaffenen Sohn an, die Worte eines besorgten Vaters auf die Goldwaage zu legen und die Stiefmutter des versuchten Giftmordes zu zeihen? Sich dafür gleich ins Exil abzusetzen, dem Ernst August und den niederträchtigen Franzosen zur Freude – das war eine Kränkung, die sich auch ein nachsichtiger Kurfürst nicht gefallen lassen konnte. Er verbot jede Zahlung an den Deserteur. Der würde schon zu Kreuze kriechen, wenn die Gelder ausblieben!
Aber die Räte, das verlogene, nur auf sich selbst bedachte Pack, sahen in Friedrich schon den neuen Herrscher und suchten ihre Ämter und Privilegien zu retten. Gnade Gott den Anhängern Dorothees, setzte dieser krumm geratene Friedrich, den sie den schiefen Fritz nannten, erst einmal den Kurhut auf sein schwaches Haupt.
Der Kurfürst seufzte tief und schmerzvoll. Wem konnte er noch trauen? Diesem Sohn, mit dem nun endlich die Versöhnung anstand, gewiss nicht. Friedrich würde mit allen Mitteln versuchen, zu Geld und Macht zu kommen. So wenig seine äußere Figur auch hermachte, so sehr liebte er das Herrschen und das kurfürstliche Gepränge. Und so sehr hasste er seine Stiefmutter und deren Söhne.
Gewiss, von seinen drei Söhnen aus erster Ehe hatte er den buckligen Fritz am wenigsten seine Vaterliebe spüren lassen. Wie hätte er ahnen sollen, dass ausgerechnet er einmal sein Nachfolger sein würde. Auch ein liebender Vater war eben nicht unfehlbar. Hatte ihn nicht sein eigener Vater einst barsch nach Hause befohlen und in Spandau wie einen Wildfremden behandelt, als er achtzehnjährig, vorzeitig und gegen seinen Willen von seinen Studien aus Holland zurückkehren musste?
Derartige Widrigkeiten zwischen Vater und Sohn waren im Hause Hohenzollern nicht ungewöhnlich. Sein eigener erster Sohn war im Kindbett gestorben. Der zweite jedoch, Kurprinz Karl Emil, war dafür ein Bursche ganz nach den Vorstellungen des stolzen Vaters gewesen, rank und schlank und nicht aufs Maul gefallen und dem jüngeren Friedrich in jeder Richtung weit überlegen. Frater & ego volumus fieri docti Principes Sed Fridericus manebit Asinus hatte der Knabe einmal geschrieben: „Bruder und ich wollen gelehrte Prinzen werden, aber Fritz wird ein Esel bleiben.“
Fritz hatte stets bewundernd zu seinem Bruder aufgeschaut. Und er, der Kurfürst, hatte Karl Emil geliebt und sich niemals vorstellen können, dass ein anderer an dessen Stelle sein Nachfolger werden könnte. Weder der verwachsene Fritz noch der weichherzige Ludwig, dem er rechtzeitig die Tochter seines preußischen Statthalters, die reiche Prinzessin Radziwill zur Frau erwählt hatte. Auch dem war er stets gewogen geblieben. Mehr aber nicht. Bis es zu spät war …
Der schmerzliche Gedanke an den jüngst verstorbenen Ludwig ließ ihn für einen Augenblick die eigenen Beschwerden vergessen. Hatte er doch geglaubt, der Prinz spiele nur den Kranken, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und ihm ein letztes Gespräch vor dem nahen Tod versagt.
Wieder war von Gift die Rede gewesen. Der Verdacht fiel auf einen eifersüchtigen Polen, der die Tat angeblich begangen haben sollte, um dem polnischen König die Heirat mit der Prinzessin zu ermöglichen. Dann wurde ein Franzose beschuldigt. Und schließlich, wie nicht anders zu erwarten, Dorothea. Die schwarze Dorothea, wie sie im Volke hieß, weil die fadblonden Norddeutschen sich an keine glutäugige und resolute Kurfürstin gewöhnen wollten. Nun sei nur noch der schiefe Fritz im Wege, so sprach man auf den Gassen und dann sei endlich ihr Philipp an der Reihe.
Nichtswürdiges Gerede! Er selber wusste nur zu gut, dass man als Herrscher das Gift seiner Feinde durchaus fürchten musste, hatte ihm doch in der Blüte seiner jungen Jahre der verhasste Statthalter Graf Schwarzenberg eindeutig, wenn auch erfolglos, nach dem Leben getrachtet. Und war dann selbst eines schnellen Todes gestorben, über den noch immer die Mär umging, er selbst hätte den Grafen heimlich hinrichten lassen.
Aber Friedrich? Wer wollte dem ans ungewisse Leben? Schon mehrmals hatten die Ärzte dem ewig Kränklichen insgeheim nur Monate, zuletzt drei oder vier weitere Lebensjahre vorausgesagt. Schon im letzten Winter sah es aus, als wäre seine Zeit noch vor der des Vaters abgelaufen. Und dann war er feige desertiert mit seiner Sophie Charlotte. Sie und ihr hannoverscher Welfenhof steckten vermutlich hinter allem. Keine besonders beschwerliche Aufgabe für eine jugendfrische, dralle Schönheit, die ihre Attraktion bereits am Hofe Ludwigs XIV. erprobt hatte, einen treuherzigen Anbeter wie den buckligen Fritz zu allerlei Widersetzlichkeit gegen den eigenen Vater aufzustacheln.
Nein, das alles waren nur Intrigen und Gerüchte gegen seine Dorothea, die keinem etwas zu Leide tat und ihn treu umsorgte.
Das Ende war nahe, er spürte es, und er hatte keine Furcht davor, vor seinen Herrn zu treten, dem er stets in aller Demut ein treuer Diener gewesen war, mehr als siebenundsechzig Jahre lang, und davon fast ein halbes Jahrhundert als Herrscher über Brandenburg und Preußen. Seit dem sinnenfrohen Albrecht Achilles hatte kaum einer seiner Vorfahren ein solches Alter erreicht, vom vermehrungsfreudigen Johann Georg einmal abgesehen, dem die dreiundzwanzigste Vaterschaft noch im Grabe zuteil wurde, und vom Herzog Albrecht, dem das Haus Hohenzollern die Herrschaft im fernen Preußen verdankte. Der hatte es, der Franzosenkrankheit zum Trotz, auf fast achtundsiebzig Jahre gebracht, bevor ihn sein einziger blödsinniger Sohn, der wiederum sieben Töchter zeugte, für fünfzig weitere Jahre beerbte. Erst nach dessen Tod kamen endlich auch in Königsberg die Brandenburger zu ihrem Recht. Der spätere Kurfürst Johann Sigismund heiratete Anna, die älteste der Preußenprinzessinnen, sein Vater in seiner zweiten Ehe eine der jüngeren.
Und dennoch war es erst ihm, Friedrich Wilhelm, im Frieden von Oliva gelungen, Preußen endgültig aus der polnischen Lehnsherrschaft zu lösen. Ihm, dem Sieger von Fehrbellin, dem die Geschichte zu Lebzeiten den Beinamen der Große verliehen hatte und der dennoch krank und siech daniederlag.
Friedrich Wilhelm dachte nicht gerne über die Verwandtschaft nach, über den schwachsinnigen Urgroßvater in Königsberg und die harte Großmutter Anna, die ihm die wenigen Kindertage in der finsteren Cöllner Residenz vergällt hatte, oder über den geilen Achilles, der seiner Frau Briefe geschrieben hatte, die jedem Christenmenschen noch zweihundert Jahre später die Schamröte ins Gesicht treiben mussten. So uns Gott glückseliglich heimhilffet, wollen wir dich und die Jungfrawn pfeffern. Auch sag der Hofmeisterin, wir wölln sie auch pfeffern in das gross arschloch, hieß es da, und es hatte eines gehörigen kurfürstlichen Donnerwetters bedurft, dass derlei Zoten nicht vervielfältigt und aus dem geheimen Archiv an die Öffentlichkeit drangen oder gar in der Bibliothek auslagen. Er war seinen Lebtag ein gesitteter und unverderbter Fürst reformierten Glaubens gewesen, dem jegliche französische Mätressenwirtschaft fremd war und dem derlei unchristlicher Schweinkram fern lag. Da sah man wieder, wozu die Papisten in alten Zeiten fähig gewesen!
Er griff nach der Teetasse, doch der Schmerz in der Schulter ließ ihn mitten in der Bewegung innehalten. Er sammelte sich etwas und rief dann mit erstaunlich kräftiger Stimme: „Dorothee!“ Noch war er nicht tot. Also gleich noch einmal, weil es so gut klang: „Dorothee!“
Die Flügeltür öffnete sich, und mit schleifenden Schritten kam der Kammerdiener Kornmesser herein, die treue Seele. „Noch etwas Tee, Kurfürstliche Durchlaucht?“
Friedrich Wilhelm ächzte. „Ich habe nach meiner Frau gerufen“, stieß er übellaunig hervor. „Ist Er neuerdings taub?“
Bekümmert sah ihn Kornmesser aus seinen rot geränderten Augen an. „Ihro Kurfürstliche Durchlaucht ist beschäftigt. Erinnert Ihr Euch nicht? Sie ist zu ihrem Vorwerk ausgeritten.“
Er verstand, was das bedeutete. Dorothea konnte herzensgut sein. Die Nachricht aber, eine endgültige Einigung mit dem Kurprinzen stünde bevor, würde sie ihm schwer verzeihen. Dabei tat sie nach außen hin alles, um als die besorgte Mutter zu gelten, die nur Friedrichs Wohl im Auge habe.
„Natürlich weiß ich das“, knurrte der Kurfürst bissig. „Schieb mich ein wenig ans Fenster.“
Draußen begann es schon wieder zu dunkeln. Mühsam schob Kornmesser den schweren Stuhl auf der vierräderigen Plattform näher zum Fenster. Wind war aufgekommen und pflügte das graue Wasser der Spree. Unzufrieden blickte Friedrich Wilhelm hinüber auf das unbefestigte Berliner Ufer mit seinen ungepflegten Gärten und morschen Stegen. Es gab noch viel zu tun in dieser Stadt, deren Bewohner sich an keine Ordnung gewöhnen mochten. Wollte Gott, dass der schwächliche Friedrich die Kraft aufbrachte, ihnen die träge Widersetzlichkeit auszutreiben.
„Haben Kurfürstliche Durchlaucht sonst noch einen Wunsch?“, fragte Kornmesser.
„Ja“, sagte der Kurfürst gallig. „Der viele Tee…“
Mit Schrecken dachte er daran, welche Schmerzen ihn das Wasserlassen kosten würde.
Düster war der Oktobertag verdämmert. Gegen Abend hatte sich der Wind zu einem Sturm gesteigert, der feuchten Unrat durch die Gasse wirbelte und gegen das Haustor warf. In breiten Schwaden schlug der Regen an die Fenster. Unruhig wälzte sich der Mann auf seiner breiten Lagerstatt und lauschte besorgt auf das Knacken und Knarren, das die heftigen Böen dem morschen Dachstuhl entlockten. Das Gebälk des alten Fachwerkhauses erbebte in seinen Grundfesten. Johann Sigismund von Wedell, Erbherr zu Grappenthin und Grimme, Kammerjunker am Hof des Kurprinzen Friedrich zu Köpenick, war es nicht gewöhnt, sich gänzlich allein und unbehütet in seinem Haus in der Stadt aufzuhalten, unter dessen Fenstern jetzt trunkene Pfahlbürger, wenn nicht schlimmeres Gesindel, johlend und scheinbar unberührt von den Wetterunbilden vorbeizogen.
Ein sicherer Ort war diese Residenz gewiss nicht, in der sich niemand recht um die strengen kurfürstlichen Mandate und Edikte scheren wollte, in der täglich und nächtlich die schlimmsten Schandtaten verübt wurden und in der das derbe Militär den Ton angab. So sehr ihn der Anblick einer Kompanie schmucker kurfürstlicher Leibtrabanten erfreuen konnte, er, Sigismund von Wedell, war alles andere als ein soldatischer Mensch, ja, insgeheim wohl eher ein Hasenherz, wie schon sein Vater vor dreißig Jahren verächtlich festgestellt hatte. Damals, als die Schweden wieder einmal die Landschaft um Grappenthin und Grimme verheerten und die Wedellsche Familie nur knapp dem Tode entronnen war.
Für eine Laufbahn in der Armee, mit der Kurfürst Friedrich Wilhelm seinen Staat von Stund an zu schützen gedachte, war Sigismund denn auch nicht in Frage gekommen. Auf Zureden der Mutter, dem sich der gestrenge Vater nie zu verschließen vermochte, hatte man ihn zum Studium der Theologie und der Jurisprudenz an die Frankfurter Viadrina geschickt. Bis ins ferne Holland, wie er es sich wünschte, hatte die Mutter den Knaben nicht senden wollen, aus dem nie etwas Rechtes werden würde. Dessen war man sich in der Familie sicher.
Nun, er hatte seine Studien aus guten Gründen vorzeitig beenden müssen, war aber dennoch über mancherlei Umwege und nicht ohne die Hilfe des gütigen Herrn Oberpräsidenten von Schwerin zu Altlandsberg am kurfürstlichen Hofe gelandet. Zuerst im Gefolge des Kurprinzen, jenes rauen, jungen Kriegers Karl Emil, bald aber weiter gelobt zu dessen jüngerem Bruder Friedrich. Was sich als ein rechtes Glück erwies, verband ihn doch mit dem Pracht liebenden jungen Prinzen mit der traurigen Gestalt schnell eine gegenseitige Achtung und Vertrautheit, wie sie sich zu dem stolzen Kurprinzen niemals hätte einstellen können. Bedauerlicherweise starb Karl Emil kurz darauf im besten Jünglingsalter, noch bevor er ersten Ruhm auf dem Schlachtfeld erringen konnte, und zum ersten Mal war von Gift die Rede.
Wieder drehte sich Wedell auf seinem Lager. Gift! Seitdem war wohl kein Tag vergangen, an dem der so plötzlich zum Kurprinzen und künftigen Herrscher Brandenburg-Preußens aufgestiegene Friedrich dieses Wort nicht wenigstens einmal ausgesprochen hatte, voller Abscheu stets und wohl nicht ohne heimliche Furcht, und immer im Zusammenhang mit einer Person, deren Namen er nie in den Mund nahm, und die doch an allem Unglück im oranischen Zweig der zollernschen Familie schuld war. So sehr der neue Kurprinz seine geliebte Mutter Luise Henriette auch nach ihrem Tode noch verehrte, so sehr hasste er seine Stiefmutter Dorothea. Die schwarze Dorothea.
Wedell krümmte sich auf seinem Bett zusammen, als fühle er die schwarzen Augen der allmächtigen Kurfürstin durchbohrend auf sich gerichtet, während sich ihre grobe Nase seinem Gesicht zu nähern schien. Nicht Hände waren es, was sie da drohend gegen ihn erhob. Sie besaß Pfoten wie eine Wölfin …
Er schrak zusammen. Hatte da etwas geklirrt? Wedell richtete sich auf und horchte in die rauschende Dunkelheit. Ein neuer Windstoß fuhr durch das ächzende Dach. Irgendwo tropfte es laut und regelmäßig. Das war der Fluch, mit einem Haus beladen zu sein, das zu unterhalten ihn seine Stellung bei Hofe zwang. Ein kurfürstliches Freihaus zwar, ihm in persona verliehen aus dem alten Burglehen, frei von Abgaben, Einquartierung oder Servis, aber eben eine altersschwache Bude, die in den Kriegsjahren lange leer gestanden hatte, ein mit dem Giebel zur Gasse gewandter Fachwerkbau, dessen grober Verputz bröckelte und dessen Dachschindeln faulten.
Inzwischen ging das Jahr 1687 dem Ende zu, und von Jahr zu Jahr vertröstete ihn Friedrich: Wenn ich erst den Kurmantel trage … Was dann? Ein Flurstück für ein neues Haus auf dem Werder oder in der Neustadt, die den verhassten Namen der Kurfürstin trug?
Allein die Vorstellung, einen solchen Bau errichten zu müssen, überstieg Wedells Kräfte. Stöhnend sank er zurück. Ihm widerstrebte jeglicher irdischer Besitz, der mit so hohem Aufwand zu erkaufen war. Lange Zeit hatte er geglaubt, seine freien Gedanken wären sein höchstes Gut, seine Bildung und seine Sprachkenntnisse, seine Ideen, die Friedrich mitunter begeisterten. Wie diese eine, besonders unselige, die ihm seither jede Ruhe raubte. Wie hatte er ahnen können, was aus einer dahingeworfenen Bemerkung entstehen würde, welches Räderwerk er damit in Gang setzte. Und hätte doch gewarnt sein müssen, sich zurückzuhalten, wo doch die Gegenseite längst zum Angriff geblasen hatte und die ersten Bastionen im Sturm genommen waren. Oh, wie leicht er es denen gemacht hatte …
Er schlug die Hände vors Gesicht und gab sich seiner Verzweiflung hin. Mit einer einfachen Drohung hatte alles angefangen, dann waren die Forderungen nachdrücklicher geworden. Vor zwei Tagen hatte sich das Unglück nun vollendet, als der geheime Brief von Friedrichs Hand ihn erreichte und er keinen Ausweg mehr sah. Noch wusste niemand von der Botschaft, von dem braven Michel einmal abgesehen.
Wie sehr der ihm gerade jetzt fehlte! Und konnte ihm doch nichts raten, der gute Kerl, in dieser aussichtslosen Lage. Welchen Weg er auch immer wählte – es war der falsche. An wen er sich auch wandte – niemand würde auch nur eine Spur von Anteilnahme oder Verständnis für ihn haben. Höhnische Schadenfreude und abgrundtiefe Verdammung waren alles, was ihn erwartete.
Der kurfürstliche Hof zu Cölln war ein Wespennest mit einer Königin, ihrem giftig stechenden Damenflor und vielen, vielen Drohnen. Eine wahre Schlangengrube mit Hunderten von Hofschranzen und arglistigen Ränkeschmiedern, Duckmäusern und Halunken aller Art, fast sämtlich gegen den Kurprinzen und seinen Anhang eingenommen und gegen ihn wühlend.
Das konnte sich von einer Stunde auf die andere ändern. Die Tage des todkranken Großen Kurfürsten waren gezählt. Ein jeder am Hofe würde seine Fahne rechtzeitig in den rechten Wind hängen. Noch vor zwei Tagen hätte es auch für ihn geheißen, Standfestigkeit zu beweisen und seinen Platz zu behaupten. Die Ernennung zum Kammerherrn war das Mindeste was ihn erwartete, wenn nicht gar eine höhere Stellung bei Hofe. Leider war er kein Mann der praktischen Tat wie all die heimlichen Streber, Ratgeber und Wichtigtuer, deren Zahl stetig wuchs, je näher der Tag rückte, an dem Friedrich die Macht übernehmen würde. Es sei denn …
Wedell getraute sich nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Noch weilte der Kurprinz mit seiner jungen Frau in Marburg, doch die Gerüchte um seine Rückkehr und die Versöhnung mit dem Alten verstärkten sich. Jeden Tag hatte Wedell eine Nachricht erwartet. Friedrich würde ihn nicht im Ungewissen lassen, teilten sie doch inzwischen manches Geheimnis miteinander. Und in Köpenick galt es, das Schloss vorzubereiten.
Und dann das! Ein harmlos klingendes Revers und darin verschlüsselt die Anweisung, die Aktion zu beenden. Grund zur Freude eigentlich für ihn, wäre da nicht der wahre Adressat für die Botschaft gewesen. Immer wieder hatte Wedell die Buchstaben zusammengestellt, und immer wieder stand der gleiche Name auf dem Papier. Auch Michel war zu keinem anderen Ergebnis gekommen.
Er horchte auf und hielt den Atem an. Eine Treppenstufe knarrte und dann, nach unendlich langer Zeit, die lose Diele vor seinem Schlafgemach. Er kannte das Geräusch zu genau, um sich zu irren, wenn der treue Michel die Stiege heraufkam und einen Augenblick verharrte. Kein Zweifel, jemand war in das Haus eingedrungen und stand jetzt vor seiner Tür.
Eine Waffe? Lächerlich. Er vermochte mit dem Degen nicht besser umzugehen als mit einem Schürhaken, und Feuerwaffen flößten ihm Angst ein. Nebenan auf dem Tisch, in unendlicher Ferne, lag ein Federmesser. Er wagte kaum, den Kopf zu wenden. Als er es dennoch tat, bemerkte er einen Lichtschein unter der Tür, die im gleichen Augenblick aufgestoßen wurde. Das Licht einer Blendlaterne stach ihm in die Augen, hinter der ein riesiger Schatten die enge Stube ausfüllte.
„Da bist du ja, Wedell“, blaffte eine heisere Stimme. Die schwarze Gestalt trat einige Schritte näher, ohne dass es dem schreckensstarren Wedell gelungen wäre, etwas anderes, als diese Schwärze zu erfassen.
Herrisch forderte die heisere Stimme: „Steh auf!“
„Ich ha... Ich habe …“ Wedell setzte ein drittes Mal an, um zu erklären, dass er nur wenige Taler im Haus habe.
„Steh auf!“, wiederholte der Mann im Schatten, dessen Gesicht Wedell noch immer nicht erkennen konnte. Es sah aus, als verhülle eine Kapuze den Kopf.
Er richtete sich mühsam auf und begann sich mit zitternden Händen aus der warmen Daunendecke zu schälen.
„Aufstehen!“ Die ungeduldige Stimme klang seltsam verstellt.
Wedell war einer Ohnmacht nahe. Er fühlte sich nicht in der Lage, dem Befehl nachzukommen, so sehr zitterte er am ganzen Leibe. Eine unendliche Zeit verging, bis er seine lächerlich dünnen Beine auf dem kalten Boden aufsetzte.
Es bedurfte eines weiteren unwilligen Befehls, ehe er sich endlich schwankend wie ein Greis erhob.
Die dunkle Gestalt leuchtete den Raum ab, bis der Lichtschein auf der Kleiderlade ruhen blieb. Vergebens versuchte Wedell, etwas vom Gesicht des Eindringlings zu erfassen. Er sah nur ein schwarzes Tuch und darüber zwei Augen, die ihn wütend anfunkelten.
„Glotz nicht! Hast du Schreibzeug hier?“
Kraftlos nickte Wedell. „Nebenan“, flüsterte er. Unter seinen nackten Füßen spürte er den Sand auf den blanken Dielen.
„Geh!“ Eine behandschuhte Hand stieß ihn unsanft zur Tür. Er trat in eine widerliche Lache aus Kot und Schmutzwasser, die von den Stiefeln des Mannes stammte. Der musste sich durch die Gade, den stinkenden schmalen Gang neben dem Haus, gequält haben und von hinten in die Küche eingedrungen sein.
Er ließ Wedell keine Zeit zum Nachdenken. Wortlos stieß er ihn in das dunkle Kabinett. Nur für einen Augenblick flackerte in Wedell der Gedanke auf, die Treppe hinunter zur Haustür und auf die Straße zu stürzen, um Hilfe herbeizuholen. Es war sinnlos. Eher würde er sich den Hals brechen. Außerdem blieb der Kerl ihm so dicht auf den Fersen, dass er dessen Atem zu spüren vermeinte.
Auf zitternden Beinen und mit erstarrenden Zehen gelangte Wedell bis zu seinem Arbeitstisch. Da stand das Tintenfass, dort lagen wohl geordnet die Foliobögen.
„Schreib!“
Er sank auf seinen Stuhl. Vergeblich versuchte er sich einzureden, das Ganze sei ein böser Traum, aus dem er gleich erwachen würde. Ein roher Stoß rief ihn zurück in die Wirklichkeit.
„Was ... Was soll ich schreiben?“, keuchte er tonlos. Er hätte schreien müssen. Aber wer sollte ihn in dieser Sturmnacht hören?
„Schreib, was du bist!“
Empörung stieg in ihm auf. Was wagte dieser Mensch? So hatte seit seiner Pagenzeit niemand mit ihm geredet, ihn frech Du genannt und ihm Befehle erteilt. Nicht einmal Friedrich war zu einer solchen Flegelei fähig, und der Kurfürst selber nur in Augenblicken höchster Wut.
Aber statt sich aufzulehnen, griff er unterwürfig zur Feder, die er am Abend frisch angespitzt hatte, wie er es am Schluss seiner Arbeit immer tat.
„Ich – bin – ein …“, diktierte der Maskierte.
Mit zitternder Hand setzte Wedell an. Das I geriet ihm zu einem schrägen Strich quer über das Papier.
Hastig knüllte er den Bogen zusammen und begann von neuem.
„Schreib groß, damit es jeder lesen kann“, forderte die barsche Stimme. „Ich – bin – ein …“
Wedell, der in den krakeligen Buchstaben seine gestochene Handschrift kaum wieder erkannte, verharrte nach dem dritten Wort. Aus der Feder floss die Tinte zu einem unregelmäßigen Klecks.
„Na, was bist du?“, fragte die Stimme hämisch. Zum ersten Mal bemerkte Wedell einen wohl bekannten Ton darin. Und plötzlich war er entschlossen, das unwürdige Spiel zu beenden.
„Nein!“, sagte er aufspringend und warf die Feder auf die Tischplatte. „Das steht niemandem zu! Verlassen Sie mein Haus!“
Unter dem verhüllenden Tuch drang nur ein höhnischer Laut hervor. Wedell verspürte einen heftigen Schlag ins Gesicht, dann stach ihn etwas unter dem Kinn. Vorsichtig niederblickend sah er einen blanken Dolch auf sich gerichtet.
„Du weißt nur zu gut, was du bist!“, zischte die verstellte Stimme.
Ja, Johann Sigismund von Wedell wusste es. Auf den Stuhl zurücksinkend, wurde ihm klar, dass er jetzt die Strafe für alle seine Verfehlungen empfing. Keine gerechte Strafe, nein. Aber auch keine gänzlich unverdiente. Er hätte widerstehen müssen.
Ver… begann er mit sorgfältiger Schrift zu malen.
Der unheimliche Besucher, der ihm über die Schulter blickte, lachte. „Das wohl auch!“, sagte er mit fast normaler Stimme. Jetzt war sich Wedell seiner Sache sicher. „Der Brief …“, begehrte er auf, „ich wollte morgen in aller Frühe …“
Ein derber Schlag gegen den Kopf brachte ihn zum Schweigen. „Vergiss deinen Michel nicht!“, sagte der Mann mit hasserfüllter Stimme. „Schreib, was du wirklich bist!“
Wedells Herz krampfte sich zusammen.
Er schrieb, was man ihm diktierte.
Als er aufblickte, stand da ein bauchiges Fläschchen auf der Platte, grünlich schimmernd und angenehm anzuschauen.
„Trink das. Du weißt, wer es dir zugedacht hat.“
Wedell sank in sich zusammen. Grob riss ihn die behandschuhte Hand am Haar zurück und setzte die Phiole an seine Lippen.
Es war das Letzte, was der Kammerjunker wahrnahm.