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Torsten Harmsen

Neulich in Berlin

Kurioses aus dem
Hauptstadt-Kaff

 

 

 

 

 

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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© berlin edition im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2018

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

post@bebraverlag.de

Lektorat: Robert Zagolla, Berlin

Umschlag: Manja Hellpap, Berlin (Illustrationen: Nina Pagalies)

 

ISBN (print) 978-3-8148-0231-2

ISBN (E-Book) 978-3-8393-4132-2

 

 

www.bebraverlag.de

Neulich …

… an der Ampel

Statt eines Vorworts

Es ist tiefe Nacht, und ich stehe an der Ampel. Sie zeigt Rot an. Weil nur in weiter Ferne das Licht eines Autos zu sehen ist, gehe ich rüber. Plötzlich schimpft ein Mann: »Typisch. Ham alle keene Ruhe!«

Det is Berlin!, denke ich. Berliner müssen immer das Verhalten anderer kommentieren, und sei es mitten in der Nacht. Sie gehen muffelnd durch den Tag, geben schräge Antworten, sind oft witzig, aber eigentlich nicht richtig humorvoll. Denke ich.

Doch Moment mal, da fällt mir ein: Ich bin ja auch ein Berliner. Und ich glaube, eigentlich ganz nett zu sein. Geb’ mir jedenfalls Mühe. Aber wer ist denn dann ein typischer Berliner? Gibt es so etwas überhaupt? Ich will das unbedingt wissen – auch für meine kleinen Geschichten in der Berliner Zeitung, die ich wöchentlich schreibe.

Das große Rätsel vom typischen Berliner haben schon viele zu lösen versucht. »Der Berliner ist meist aus Posen oder Breslau und hat keine Zeit«, schrieb Kurt Tucholsky vor hundert Jahren. Heute kommt »der Berliner« aus Leipzig, Stuttgart, Köln und Bremen, aus Wien, London, Paris und New York – und hat noch immer keine Zeit. Spätestens seine Kinder sehen sich als echte, eingeborene Berliner. Was aber ist dabei wirklich typisch?

Wenn ich darüber nachdenke, fallen mir vor allem zwei Berlinerinnen ein. Und zwar meine Großtanten, die leider schon lange tot sind. Sie wohnten in Köpenick in einer Wohnung, die man gebückt betreten musste, weil die Tür so niedrig war. Sie sprachen noch jenen alten Berliner Dialekt, den man heute kaum noch kennt. »Na, Fejjjner, kommste ohm’ bei Mutti’n?«, hieß es, wenn der Kater durch die Tür huschte. Das nachgehängte N war typisch, genauso wie eine gewisse Weichheit in den Worten und das Ignorieren der Fälle: »Jib die Mutti mal den Jroschen! Wat, det is Vati’n seina?«

Das, was meine Großtanten so einmalig machte, war kein krittelndes Gemecker, sondern eine Mischung aus Naivität, Herzlichkeit, Hilfsbereitschaft und Pragmatismus. Sie konnten sich so ursprünglich und fast kindlich freuen, wie ich es später nie mehr erlebt habe.

Als ich ihnen als Junge mal ein selbstgemaltes Bildchen schenkte, riefen sie, in die Hände klatschend: »Nee, ist det scheen! So richtich scheen jemalen! Da haste uns aba ’ne jrooße Freujjjde jemacht!« Bis heute staune ich über diese Fähigkeit, sich derart zu freuen – egal worüber. Ob es nun »wat Selbstjemalnet« oder »’n kleena Blum’topp« war.

»Glaubst du«, sage ich am nächsten Tag zu meiner Kollegin in der Redaktion, »je mehr ich über das Berlinische nachdenke, desto mehr verschwimmt es. Ganz seltsam. Die letzten, die ich noch als echte Berliner Originale kennengelernt habe, sind längst tot: meine beiden Großtanten.«

Meine kluge Kollegin erwidert: »Und die beiden Großtanten hatten vielleicht selber Großtanten, von denen sie behaupteten, sie seien die einzigen echten Berliner, die sie kannten.« Sie nippt an ihrem Kantinenkaffee.

»Ja«, entgegne ich, »und deren Großtanten hatten dann wieder Großtanten … Das kann man ewig fortsetzen, und am Ende kommt raus, dass es gar kein typisches Berlin gibt, weil sich ständig alles ändert.«

»Kann sein«, sagt meine Kollegin und zuckt mit den Schultern. Ihr ist das sicher alles egal, denn sie kommt aus Dresden. Ich aber muss für mich Antworten finden.

Was ist das Typische am Berliner?

Ist es vielleicht die Sprache?

Zu Hause blättere ich in einem Buch, das eifrige Forscher verfasst haben. Es geht darin um das Berlinische. Ich erfahre, dass Schüler um 1880 in heutigen Berliner Kerngebieten wie Marienfelde, Tempelhof und Steglitz noch Niederdeutsch, also Platt, gesprochen haben. Ich lese, wie unterschiedlich die Leute damals redeten, oft nur wenige Kilometer voneinander entfernt. In der damals noch recht kleinen Stadt Berlin hieß es etwa: »Steck man Kohlen in’n Ofen rin, det de Milch balle kocht.« – In Biesdorf: »Duhe Koahlen in den Kachelah’n, det die Melk balle an to kochen fangt.« – In Müggelheim: »Du Kule in den Uwe, dass die Milch bal an zu koche fang.«

Jetzt weiß ich, dass es überhaupt nichts Beständiges gibt in dieser Gegend, die sich Berlin nennt. »Wie kann ich ein überzeugendes Bild von einer Stadt zeichnen, die man gar nicht richtig fassen kann, weil sie sich ständig ändert und weil sie jeder anders sieht?«, frage ich meine Frau.

»Hör mal«, sagt sie. »Wir beide kommen aus völlig unterschiedlichen Welten, du aus Köpenick, ich aus Friedrichshain. Wir haben uns trotzdem zusammengerauft. Ein Glücksfall, klar. Aber du kannst es eben nicht allen recht machen.« Und sie rät mir, auf meinen inneren Berliner zu hören. »Denk an deine Großtanten«, sagt sie. »Ist nicht auch schon dein Opa hier geboren? Hast du nicht eine über 80-jährige Tante, die in Lichtenberg wohnt und Ur-Berlinerin ist? Bist du nicht von lauter Berlinern umgeben? Schreib doch einfach darüber, wie du lebst, wie du Berlin siehst und fühlst«, sagt meine Frau. »Wie ich dich kenne, hast du ja ohnehin zu allem deine Meinung!«

Stimmt, denke ich.

Und so versuche ich es nun jede Woche wieder neu. Die Texte dieses Bandes stammen aus mehreren Jahren und standen zum Großteil als Kolumne in der Berliner Zeitung. Ich wünsche den Lesern viel Spaß. Und Nachsicht. Denn die Sicht auf Berlin – das ist nun mal eine sehr subjektive Sicht. Und wird es wohl immer bleiben.

 

Torsten Harmsen

Berlin, im Januar 2018

Neulich …

… vor dem Zigarettenladen

Manchmal stelle ich mir vor, mein Opa käme für einen Tag zurück. Er wurde 1904 in Cöpenick geboren – mit C, wie man es damals noch schrieb – und wäre jetzt also uralt. Ich sehe uns beide durch die heutigen Straßen gehen. Mein Opa wäre sicher sehr neugierig darauf, wie sich die Welt entwickelt hat, die er 1980 verlassen musste.

Gleich um die Ecke hat zum Beispiel ein E-Zigarettenladen aufgemacht: »Die Grüne Lunge«. Mein Opa, einst leidenschaftlicher Raucher, würde fragen: »Wat is’n det?« – Ich würde sagen: »Ein Geschäft, wo man Zigaretten kaufen kann, die keine sind.« – »Wie?« – »Na, du rauchst keinen Tabak mehr, sondern verdampfst ’ne Flüssigkeit« – »Keen Tabak? Quatsch! Komm, lass ma’ mal kneisten!« Also gucken.

Mein Opa würde durch die Scheibe in den Laden blicken. »Wat, Bäume und Jrünzeuch an de Wände? Wat sind’n det for Fisimatenten? Wenn ick Blümeken sehen will, jeh ick in Jarten.« Er würde das E-Zigaretten-dampfende Paar auf dem Plakat erblicken. »Sieht aus, als ob se an Kugelschreiber nuckeln. Det hat doch mit Roochen nüscht zu tun.«

Mein Opa war der typische Vertreter einer Generation von Rauchern. Ständig klebte ihm die Kippe an der Lippe. Als Kind erlebte ich Berlin als qualmende Stadt. Tausende Schornsteine rauchten auf den Dächern. Unermüdlich tätige Fabrikschlote galten noch in den 60er-Jahren als Symbole des Fortschritts. Und auch die Menschen rauchten. Gequalmt wurde überall: in Gaststätten, auf Sitzungen und Familienfeiern. Der Rauch drang tief ins Berlinische ein. Man zog am »Jlimmstengel«, am »Sarchnarel«, an der »Fluppe«, am »Stumpen«. Die Tätigkeit selbst hieß »quarzen«, »eene durchzieh’n«, »eene inhalier’n«, »de Luft vabessan«, »den Krebs fütta’n«, wie ein Bekannter sagte. Leider hat sein Körper das allzu wörtlich genommen.

Bis heute fallen Sprüche wie: »Et roocht glei’ im Karton!« oder »Wenn de nich uffpasst, wirste uffjeroocht!«

Nein, ich heule jener qualmreichen Zeit nicht hinterher. Zugleich finde ich das Grüne-Lunge-Flair der heutigen Als-ob-Raucher etwas albern. So gesund ist die E-Zigarette nun auch wieder nicht.

Mein Opa hat übrigens immer darauf geachtet, dass man nicht zu früh dem Tabak verfiel. Als ich als 16-Jähriger mal an seiner Zigarre ziehen wollte, sagte er: »Wat willste? Roochen? Du kannst mal der Katze am Schwanz roochen!«

Ich habe dann gar nicht erst damit angefangen.

Neulich …

… am Alex

Auf einem Bahnsteig der großen U-Bahn-Unterwelt am Alex stehen zwei Halbwüchsige. »Kennste den Ansager?«, fragt der eine. »Nee, was für’n Ansager?« – »Na den Typen, der hier immer die Verkehrsansagen macht.« Und er beginnt sofort, ihn zu imitieren. Beide hauen sich weg vor Lachen.

Auch ich habe diesen »Ansager« schon gesehen. Es ist ein Mann mit Bart, der auf dem U-Bahnsteig hinter einem Pfeiler steht und imaginäre Umsteigemöglichkeiten ansagt: »Die Buslinien 71 und die Linie 83 werden hier eingesetzt … Die Linien 583 und 571 fahren über Lichtenberg nach Wuhletal.« Wenn herumstehende Jugendliche ihn verspotten, lächelt er weiter freundlich und gutmütig.

Wie hätte man den Mann wohl vor hundert Jahren genannt? Fahrplan-Ede? Bahnsteig-Emil? Wäre er in die Reihe der »Berliner Originale« aufgenommen worden, wie einst Mutter Lustig, der Eiserne Gustav, Onkel Pelle oder die Harfenjule?

Berlin hat lange den Stolz auf seine sogenannten Originale kultiviert. Aber in Wirklichkeit hatten die meisten Gestalten überhaupt nichts mit der gepflegten Postkartenidylle für Touristen zu tun. Sie waren bettelarm und abgerissen. Die Harfenjule zum Beispiel zog halbblind, mit schwarzem, abgewetzten Strohhut und ihrem Instrument durch die Stadt, um ihre Lieder zu singen. Sie würde im heutigen Berlin kaum noch auffallen.

Am Alex zum Beispiel läuft oft ein Mann mit Zopf hin und her und hält laute Revolutionsreden in einer Mischung von Che Guevara und Rudi Dutschke. Man schaut kurz hin und lächelt. Wie hätte er wohl früher geheißen? Revoluzzer-Orje?

Oder die klapperdürre Gestalt auf Krücken, die man jahrelang in der U-Bahn sah? Sie hat eigene Gedichte verteilt. Wo ist sie eigentlich hin? Oder wer erinnert sich noch an die »Nachtigall von Ramersdorf«, einen skurrilen Schauspieler und Sänger, der eigentlich aus München kam, aber in Berlin zum tragikomischen Original wurde? Einmal schnitt er sich auf dem Flur der Berliner Zeitung die Haare – mit der Redaktionsschere.

Jeder hat die Chance, solch eine Gestalt zu werden, liebe hippe Jung-Berliner. Niemand ist gefeit davor. Das Gute an der Stadt ist, dass sie dann trotzdem noch Platz für einen hat. So hieß es ja schon vor über hundert Jahren in einem Song, frei nach Franz von Suppé:

»Du bist varückt, meen Kind.

Du musst nach Berlin.

Wo die Varückten sind,

da jehörste hin.«

Neulich …

… in Motzen

Für große Entfernungen und lange Dauer hat das Berlinische viele Redewendungen, zum Beispiel: »Det is ja jottwedee!« – »Da loofste dir ja de Hacken ab!« – »Habta jestern wieda bis in de Puppen jemacht?« – »Det dauert ja ewich un drei Taare!« Meine über 80-jährige Tante aus Lichtenberg klagt immer, wenn für irgendeine Erledigung eine längere Fahrt ansteht: »Mensch, da musste ja bis nach Motzen!«

Zufällig war meine Frau gerade in Motzen, zu einer Schulung. Als sie zurückkam, sagte sie: »Jetzt weiß ich, warum Berliner ausgerechnet von Motzen reden.« Dort befand sich nämlich einst eine der letzten Brandenburger Postkutschen-Stationen auf dem Weg nach Sachsen – fünf preußische Meilen von Berlin entfernt, wie eine Postsäule von 1820 zeigt. Das sind immerhin fast 38 Kilometer. Für den Berliner lag der Ort also tatsächlich am Arsch der Welt. Mit der beliebten Angewohnheit des Berliners – dem Motzen – hatte er wohl nichts zu tun.

Motzen ist aber ein super Beispiel dafür, wie Berlin einst aus dem Kahn heraus erbaut worden war. Hier entstanden im 19. Jahrhundert große Ziegeleien. Die Ziegel wurden per Kahn ins bauwütige Berlin verschifft. Die Kähne waren breit und flach und hatten an den Enden hochgebogene Planken, sogenannte Kaffen. Der Berliner sagte »Kaffekahn«. Alles Mögliche kam damals aus dem Umland. Kähne brachten auch Obst in die Stadt. Sie finden sich auch im heutigen Berlinischen wieder, und zwar als Bezeichnung für übergroße Schuhe: »Eh, für deine Riesenquanten brauchste ja richtje Äppelkähne!«

Der Kahn ist für den wasserverbundenen Berliner ein Begriff für ganz verschiedene Dinge. »Mach keene Dummheiten, Kleena, sonst kommste in’ Kahn!« – das ist eine Warnung vor dem Gefängnis. »Ab in’ Kahn, aba dalli! Du saugst uns ja schon de janze Luft wech!« – das ist eine Aufforderung an das gähnende Kind, ins Bett zu gehen.

Mein Opa hatte sich in Köpenick übrigens selbst ein Boot für Fahrten auf Spree und Dahme gebaut. Und er schickte mich als Kind auch immer »ab in’ Kahn«, also ins Bett. Dabei stand er in der Tür, legte die Hand an die imaginäre Mütze und sagte: »Nacht, Käpt’n!«

Neulich …

… beim nächtlichen Krimi

Wär ich doch einfach ins Bett gegangen!, denke ich nach einem seltsamen Erlebnis, das ich jüngst hatte. Aber nein, ich musste ja nachschauen, warum mitten in der Nacht vor unserem Haus plötzlich Reifen quietschten. Ich ging auf den Balkon und sah ein Auto, das mit Vollgas durch die Straße preschte, bremste, wieder fuhr und – krätsch – in ein anderes, parkendes Auto krachte.

Der Fahrer stieg aus, schwankte wie ein Halm im Wind, lallte wütend was Gemeines, stieg wieder in sein Auto und bretterte in Richtung Innenstadt davon. Ein besoffener Irrer rast durch Berlin, dachte ich voller Panik. Gefahr im Verzuge! In Bademantel und Latschen eilte ich hinaus, um Schlimmeres zu verhüten. Wie, das wusste ich auch nicht. Zwei Nachbarn hatten das Ereignis ebenfalls beobachtet. Einer kam mit der Taschenlampe auf die Straße geeilt, ein anderer machte Handy-Fotos.

Einem herbeigerufenen Polizisten versuchten wir das Bild des entfleuchten Wagens und seines Fahrers zu vermitteln. »Der Typ war mittelgroß.« – »Nein, eher groß.« – »So um die zwanzig.« – »Vielleicht auch dreißig.« – »Glatze!« – »Nee, eher so Stoppelhaare.« Da ich von Automarken keine Ahnung habe, überließ ich das diesbezügliche Schätzen anderen. Schließlich nahm der Polizist unsere Personalien auf – als Zeugen.

»Du erlebst Sachen«, sagte meine Frau kopfschüttelnd, als ich nachts um eins von meinem Abenteuer in die Wohnung zurückkam. Sie hatte eine amerikanische Krimi-Serie geguckt und gar nicht gemerkt, dass ich weg war. »Du musst auch überall deine Nase reinstecken.« Einen Tag später konnte man in der Zeitung lesen, dass sich der wilde Wagen kurz nach seinem Auftritt in unserer Nebenstraße stadteinwärts an einer Laterne zerlegt hatte. Der Fahrer überlebte. Er kam vor Gericht. Und ich wurde als Zeuge vorgeladen.

Da saß ich nun, an einem heißen Tag mitten in der Stadt, schwitzte und wartete auf meinen Auftritt. Es dauerte ewig, bis ich dran kam. Und ich dachte: Ach, hätte ich mich doch auch aufs Sofa gelegt und amerikanische Krimis geguckt!

Neulich …

… im Fußballstadion

Ich war mal wieder beim Fußball, beim 1. FC Union, weil das Stadion an der Alten Försterei ein paar hundert Meter hinter unserem Haus liegt und die Nachbarn mich gefragt hatten, ob ich mitkommen wolle. Die Nachbarn sind eigentlich keine eingefleischten Union-Fans. Sie ist Ärztin, er Führungskraft in einem Büro. Beide kommen aus dem Westen, doch hin und wieder schlendern sie zu einem Spiel jenes Clubs, dessen Hymnen von Achim Mentzel, Nina Hagen und den Puhdys stammen. Hier, in der Köpenicker Wuhlheide, scheint der Osten voller Saft und Kraft. Hier singt und träumt man laut vom Aufstieg und zeigt: Wir sind noch da.

Eisern Union! – dieser Ruf hatte zu DDR-Zeiten den Klang des Aufmüpfigen, trotzig gerichtet gegen den zweiten Fußballverein im Osten Berlins, den Stasi-Club BFC Dynamo. Union-Fans waren wild, zugedröhnt, sie legten sich gern mit der Polizei an. Doch heute?

In vorösterlicher Stimmung zog ich mit den Nachbarn ins Stadion. Ich staunte, wie sich der Club gemausert hatte. Zwischen den mit Schals und Fahnen Bewaffneten stiegen ganze Familien auf die Ränge. Siebenjährige liefen umher, Studenten, junge Pärchen, Rentner. Auf den Rängen war es laut, aber nicht aggressiv. Die Begegnung auf dem Rasen – man spielte gegen einen Verein aus Fürth – gestaltete sich nicht besonders aufregend. Der Ball flog oft unmotiviert hin und her. Am Ende stand es null zu null.

Zum wahrhaft beeindruckenden Erlebnis wurde erst eine Begegnung in der Halbzeit. Für diese hatte der Stadionsprecher echte Berliner Theaterleute angekündigt. Man fragte sich, wie sie ihre hehre Bühnenkunst auf dem riesigen Rasen vor 11 000 Fans zelebrieren wollten. Was würden sie vortragen? Einen Sketch, eine Szene?

Die Künstler – drei Mannen von den Bühnen am Kurfürstendamm – kamen. Sie liefen auf den Rasen wie geblendete Gladiatoren, bewaffnet mit Mikrofonen. Und dann sangen sie drauflos: »Eine kleine Nymphomanin, eine kleine Erektion …« Ihr wunderbares Lied endete mit dem Schlachtruf: »Ficken, saufen, Eisern Union!« Zweimal noch wiederholten sie ihren Refrain, laut und begeistert. Wahrscheinlich werteten sie das Toben auf den Rängen als uneingeschränkte Zustimmung.

Doch es war vor allem höhnisches Gelächter. Die Anbiederung der Künstler an das gemeine Volk ging nach hinten los. Ein Kind fragte seinen Vater: »Was is’n ’ne Erexjoon?« Der schwieg. Die Nachbarn zuckten mit den Schultern und verstanden auch nicht, was das alles sollte. Zwei junge Männer, wohl Studenten, unterhielten sich: »Woher komm’ die alten Säcke?« – »Von irjend’eem Theater am Kudamm« – »O je, denen muss es ja richtig dreckig gehen.«

Neulich …

… beim Flirten

Mitten in der Nacht in der S-Bahn. Zufällig treffen sich ein Mann und eine Frau mittleren Alters. Sie haben sich offenbar lange nicht gesehen. »Mensch, ej«, ruft sie, »du siehst ja richtich juut aus. Haste letzte Nacht nich jeschlafen?« – »Selba!«, ruft er, »du hast dir übrijens jar nich vaändert.« – »Naja«, kokettiert sie eitel, »schwarz macht eben schlank!« – »Aba nich vonne Seite!« pariert er. Beide hauen sich weg vor Lachen über dieses schlagfertige Wiedersehen.

Das ist echtes Berliner Flirtverhalten. Rau aber ehrlich. So was kann man nicht lernen, das wird vererbt.

»Du hast ’ne Haut wie’n 17-jähriger Pfirsich!« – das ist das netteste Kompliment, das eine Berlinerin zu hören bekommt. Sie weiß das und fährt schon ganz früh ihre Krallen aus. »Ej, wat kiekst’n so? Mund zu, komm’ Fliegen rin!«, so schrie mich einmal ein bezopftes Mädchen an, das ich als Zwölfjähriger etwas zu lange angestarrt hatte. Sie war aus der Parallelklasse. Als ich was Freches zurückbrüllte, rief sie: »Ick hol glei’ meene Atze. Die vakloppt da!«

Atze – so nannte man in Berlin den Bruder, egal, welchen Namen er wirklich trug. Die Schwester wiederum wurde Schwelle genannt. »Meene Schwelle hat’n neuen Macka«, hieß es zum Beispiel, wenn die Schwester mit einem neuen Freund umherzog. Ja, die Romantik hat einen schweren Stand in Berlin.

»Scheiße am Stock is ooch’n Bukett!«, sagte ein älterer Bekannter einmal, als es um die Frage ging, ob man einer Frau ab und zu einen schönen Blumenstrauß – ein Bukett, wie es früher hieß – mitbringen sollte. Da zucken die Damen aus Stuttgart, München oder Hamburg sofort zusammen. Aber die Berlinerin grinst sich eins. Sie weiß ja: Ihr Mann bringt am Ende doch echte Blumen mit nach Hause. Und dann fragt sie ganz trocken: »Wo hast’n die jeklaut? Warste uff’m Friedhof?«

Die Berlinerin bleibt dem werten Gatten nämlich nichts schuldig. Schon der Dichter Kurt Tucholsky schrieb 1922 über ihren rauen Charme:

»Mädchen, kein Casanova

hätte dir je imponiert.

Glaubst du vielleicht, was ein doofer

Schwärmer von dir phantasiert?

Sänge mit wogenden Nüstern

Romeo, liebesbesiegt,

würdest du leise flüstern:

›Woll mit die Pauke jepiekt?‹

Willst du romantische Feste,

gehst du beis Kino hin …

Du bist doch Mutterns Beste, / du, die Berlinerin!«

Ich hatte großes Glück. Ich habe eine davon abgekriegt.

Neulich …

… bei der Mottenjagd

Wir haben übrigens zwei Töchter. Das hatte ich noch nicht erwähnt. Die ältere verbringt gerade ein Jahr im Ausland, die jüngere besucht noch das Gymnasium. Gerade aber läuft sie durch die Wohnung, zeigt in die Ecken und schreit: »Iiiiiii« und »Eeeeklig!«

Wir haben nämlich wieder die Motten. Ich hatte es schon befürchtet, als meine Frau neulich mitten in der Nacht vom Sofa aufsprang und in die Hände klatschte. Eine Motte war vor dem Fernseher umhergeflattert.

Schon zwei Jahre zuvor hatten sich Motten bei uns heimisch gefühlt. Sie verpuppten sich gern in den Wandnischen der Küche. Kleine Würmchen spazierten die Decke entlang. Wir fragten uns, woher die Dinger kommen. Und hatten schon meine beiden Töchter im Verdacht.

Die beiden wollten nämlich eines Tages einen Versuch aus dem Internet nachstellen. Der Versuch hieß: Wie verändert sich ein Cheeseburger, wenn man ihm ein ungestörtes Weiterleben ermöglicht. Das war wohl die Rache der Mädels dafür, dass sie keine Haustiere halten durften.

Der Cheeseburger hieß »Bobby«. Die Mädels hatten ihm ein Gesicht aufgemalt, und er stand schon ein paar Wochen unterm Bett im Mittelzimmer. Es gingen aber keine Motten aus ihm hervor, wie wir befürchteten, sondern er war steinhart geworden. Nur die Gurke hatte ein bisschen Schimmel angesetzt. Also kamen die Motten von woanders her. »Da müssen wir wohl die Kammerjäger holen«, sagte ich.

Als meine Frau und ich eines Sonntags unterwegs waren, nahmen die Mädels die ganze Küche auseinander. Alle Vorräte wurden untersucht und Schubladen ausgekippt. Und siehe da: In allen Winkeln und Löchern hatten sich Motten verpuppt. Sie fanden sich in einer Müslipackung oder im Tee und wurden gnadenlos ausgebürgert. Ihr Name war übrigens Plodia interpunctella, auch Dörrobst- oder Vorratsmotte genannt. Sie gehören zur Familie der Zünsler.

Die jetzt überall herumflatternden Viecher sehen aber anders aus. Sie gehören offenbar zum Stamm Tineola bisselliella, auch Kleidermotte genannt. Trockenfrüchte vertragen sie nicht. Dafür können sie einen wollenen Wandbehang – die letzte Knüpfarbeit meines Opas selig – in kleine Krümel zernagen. Oder den alten Pelzmantel meiner Tante durchlöchern.

»Wir besitzen doch gar nichts mehr aus Wolle!«, ruft meine Frau verzweifelt. Meine jüngere Tochter schreit: »Guck mal, da ist noch eine!« Ein einziges Weibchen legt übrigens fünfzig Eier. Ich glaube, am nächsten Sonntag ist mal wieder eine Kammerjägeraktion fällig.

Neulich …

… im Handystress

»Kennt Gott das Internet?« steht auf einem Plakat, an dem ich täglich vorbeikomme. Klar, denke ich. Wenn es Gott gibt, dann steckt er im winzigsten Teilchen und in der kleinsten Schwingung – und flitzt mit den Gigabytes um die Welt. Und weil er kein Datenpolizist ist, greift er natürlich nicht ein, wenn dieses Internet für den gröbsten Blödsinn missbraucht wird.

Eine andere, für mich viel wichtigere Frage ist: Hört Gott Handygespräche? Es gibt nämlich einen Unterschied zwischen diesen und dem Internet: Man kann sich ihnen nicht entziehen. Niemals. Nirgends. Neulich saß ich auf dem Bahnsteig, und es lief ganz aufgeregt eine junge Frau in Jeans und weißen Stiefeln umher, die ganz laut in ihr Handy sprach. So laut, als müsse sie jemandem eine Bahnstation weiter allein kraft ihrer Stimme etwas ganz Wichtiges mitteilen. Und so hörten wir Wartenden, was wohl die meisten von uns keinesfalls erfahren wollten:

»Ich sage dir jetzt«, rief die Weißgestiefelte, »entweder ich oder deine Frau! … Liebling, ich habe dir jahrelang Zeit gegeben. Ich will jetzt endlich eine normale Familie haben, normale Freunde … Mein Herz tut mir immer weh! … Ich kann nicht mehr. Ich kann das nicht mehr ertragen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass meine Kinder das jahrelang ertragen …«

So ging das ewig fort. Ein quälender Endlos-Monolog wie aus einem Eric-Rohmer-Film, der sich in der S-Bahn noch viel lauter und verzweifelter fortsetzte. Alle starrten peinlich berührt auf ihre Schuhspitzen oder aus dem Fenster. Niemand wagte aufzublicken, um nicht das gequälte Gesicht des Gegenübers anzusehen. Alle waren Zeugen einer höchst intimen Angelegenheit, zu deren telefonischer Klärung man früher die engsten Freunde aus dem Raum geschickt hätte.

Was soll man tun in einer solchen Situation? Man könnte der armen Frau auf die Schulter tippen und sagen: »Bitte klären Sie Ihre privaten Dinge woanders!« Niemand traute sich das. Dabei wäre genau das notwendig. Im Interesse der psychischen Hygiene.

Auch dem Geschäftsmann, der in der Bahn per Telefon im heimtückischen Fieslingston einen Untergebenen abkanzelt, sollte man das Gerät entwinden. Und allen endlos über peinliche Beziehungsbanalitäten plappernden Girls. Und dem Typen, der seinen Angelausflug vor allen in epischer Länge ausbreitet. Und der Dame, die laut über die Wurmkrankheit ihres Hundes referiert. Und der Hausfrau, die ein Bündel Spargel käuflich erworben hat und nun an jeder Station zu Hause anruft, um zu sagen, dass sie sich dem Kochtopf wieder um eine Station genähert habe. Und ihr Mann solle doch schon mal das Wasser erwärmen.

Lieber Gott, wenn du alle diese Gespräche hörst, tu endlich was! Spring über deinen Schatten, beende deine vornehme Zurückhaltung! Schicke einen Bannstrahl durch die Sphären bis hinunter in die S-Bahn! Grolle bitte donnernd: »Nun ist Schluss! Ihr verpestet meinen Äther! Ihr werdet dematerialisiert!« Und schreite schnell zur Tat! Zumindest die Handys sollten sich auf der Stelle in kosmischen Staub auflösen.

Darum bitte ich dich, auch wenn Berlin jüngst den Religionsunterricht als Wahlpflichtfach abgelehnt hat. Ich vertraue dir trotzdem.

Neulich …

… auf dem Gehweg

He, ist ja cool, dachte ich, als ich nachts vom Bahnhof nach Hause ging. Mitten auf dem Gehweg stand ein Tisch. Ein Traum aus echtem Holz mit massivem Kugelfuß und großer runder Platte, an der bestimmt sechs Ritter aus Artus’ Tafelrunde Platz gefunden hätten. Dazu ein Zettel: »Zu verschenken.«

Ich verliebte mich auf der Stelle in den Tisch, wusste aber, dass wir leider keinen Platz dafür hatten. Und ging weiter nach Hause. Dort machte ich, noch im Flur, den Fehler, von meiner Begegnung zu erzählen. »Ich würde ihn nehmen«, rief meine jüngere Tochter und schlüpfte in ihre Jacke. Auch ich zog schnell die Schuhe wieder an. Wir sprangen hinaus auf die Straße. Hoffentlich war uns niemand zuvorgekommen. Wir rannten das letzte Stück.

Gott sei Dank, der Tisch stand noch da. Wir hoben ihn an. Ich vorne, meine Tochter hinten. Er war sperrig und sauschwer. Ein echter Rittertisch eben. Ich fragte mich, warum ihn jemand loswerden wollte. »Vielleicht ist da drunter jemand gestorben«, sagte ich schnaufend. »Egal«, antwortete meine Tochter. »Liebe ist Liebe!«

Wir wuchteten das Monstrum mit Ach und Krach hochkant in ihr Zimmer. Dort stand es dann erst mal, mitten im Raum. Alle paar Minuten steckte ich den Kopf durch die Tür: »Na, bereuste es schon?« – »Nöö.«

In den zentraler liegenden Bezirken dieser Stadt ist der öffentliche Gebrauchtmöbeltausch mittlerweile etwas ganz Normales. Dort stehen ständig speckige Sessel und angeranzte 70er-Jahre-Truhen auf den Gehwegen herum. Vielleicht beginnt das nun endlich auch bei uns, am Rande der Wildnis. Dann könnten wir den Tisch eines Tages auch wieder vor unsere Tür stellen, wenn die Verliebtheit nachgelassen hat.

Am Tage nach unserem nächtlichen Abenteuer räumten wir das Zimmer der Tochter um, verrückten Sofa und Schränke, bohrten Löcher, um den Spiegel umzuhängen. »So ein Blödsinn«, stöhnte ich, »nur weil ich die Klappe nicht halten konnte!« – »Tja, dumm gelaufen«, sagte meine Tochter. Nun steht der Tisch am Fenster. Er macht sich wirklich super. »Fehlt nur noch, dass ein paar Ritter drumherum sitzen«, sagte ich. »Glaub mir, Papa, das willst du nicht wirklich.«

Neulich …

… auf der Rolltreppe

Mit mir ist es seltsam. Ich bin zwar in dieser Stadt geboren, berlinere aber recht selten. Genau wie meine Eltern oder meine Frau. Normalerweise sagen wir »ich« statt »ick«, »laufen« statt »loofen«, »Beine« statt »Beene«. Vielleicht hat das damit zu tun, dass meine Eltern Lehrer waren. Anderen meiner Verwandten dagegen steckt der Metrolekt so tief in den Knochen, dass sie gar nicht anders können, als zu berlinern. Dazu gehörten mein Opa und meine Großtanten. Dazu gehört meine über 80-jährige Tante aus Lichtenberg.

Allerdings höre ich dennoch immer wieder, dass ich von einem Moment auf den anderen ein sogenannter typischer Berliner sein kann: ungeduldig, brubbelig, auf freche Art schlagfertig. Das liegt offenbar an dem Typen, der in mir steckt. Es ist mein innerer Berliner, der ständig alles beobachtet und kommentiert. Auf meinem Weg von der Arbeit nach Hause hört sich das zum Beispiel so an: