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Eva Douma

Sicheres Grundeinkommen für alle

Wunschtraum oder realistische Perspektive?

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Die Autorin

Eva Douma studierte Geschichts-, Sozial- und Verwaltungswissenschaften an der Universität Bielefeld und der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer und promovierte zu einem rechtshistorischen Thema. Nach ihrer Tätigkeit als Referentin beim Paritätischen Wohlfahrtsverband in Hessen machte sie sich in Frankfurt am Main selbstständig. Als Autorin, Beraterin und Coach steht die Entwicklung zukunftsfähiger Konzepte für Menschen und Organisationen im Fokus ihrer Arbeit. Im Cividale Verlag erschien von ihr bisher Juhu, wir werden alt und bauen ab! Arbeiten und Leben in Zeiten des Klimawandels.

1. Auflage

© Cividale Verlag Berlin, 2018

Kontakt: info@cividale.de

Website: www.cividale.de

eISBN 978-3-945219-23-2

Umschlaggestaltung: Nina und Christoph von Herrath
Lektorat: Susanne Zeyse

Das Werk einschließlich aller Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Inhalt

Einführung

1. Wo stehen wir aktuell?

a. Neue soziale Schieflagen entstehen

b. Globalisierung und Industrie 4.0 entwickeln sich

c. Die soziale Schere geht auf – Armut und extremer Reichtum wachsen

d. Struktur und Grenzen unseres aktuellen sozialen Sicherungssystems

e. Fazit

2. Ein Grundeinkommen – viele Modelle

a. „Die Linke“: „Emanzipatorisches Grundeinkommen“

b. Götz Werner: „1.000 Euro für jeden“

c. FDP: „Liberales Bürgergeld“ – für Bedürftige

d. Michael Opielka: Grundeinkommensversicherung – für Alte, Arbeitslose, Auszubildende und Erwerbsunfähige

e. „Bündnis Kindergrundsicherung“ – für Minderjährige

f. Dieter Althaus: „Solidarisches Bürgergeld“ – für Geringverdiener, Kinder und Rentner

g. Fazit

3. Modellversuche in aller Welt

a. Armutsbekämpfung durch Entwicklungshilfeprojekte

b. Armutsbekämpfung durch staatliche Projekte

c. Private Initiativen für ein allgemeines Grundeinkommen

d. Politische Initiativen für ein allgemeines Grundeinkommen

e. Fazit

4. Das Für und Wider eines bedingungslosen Grundeinkommens

a. Geht uns die Erwerbsarbeit aus?

b. Auswirkungen eines bedingungslosen Grundeinkommens auf Volkswirtschaft und Arbeitsmarkt

c. Die Rolle der Arbeit

d. Bedingungslosigkeit versus Leistungsgerechtigkeit

e. Umverteilungskritik

5. Menschenbild und Arbeitsverständnis

6. Finanzierungsmöglichkeiten

a. Kindergrundeinkommen

b. Rentengrundeinkommen

c. Bedürftigengrundeinkommen

d. Ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle

e. Fazit

7. Die Umsetzung: Mit kleinen Schritten zu einer umfassenden gesellschaftlichen Veränderung

a. Politik der kleinen Schritte

b. Folgen für das bestehende Sozialsystem – Auswirkungen auf die Sozialversicherungen

c. Gesellschaftspolitische Folgen

Fazit: Das bedingungslose Grundeinkommen – eine spannende Idee mit Zukunft

Endnoten

Zitierte Literatur und Quellen

Einführung

War die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle vor 20 Jahren nur als ferne Utopie einer kleinen und eher linken Minderheit denkbar, so wird die Idee derzeit von sehr unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Gruppen diskutiert. Spätestens seit sich in der als konservativ geltenden Schweiz bei einer Volksabstimmung im Juni 2016 immerhin auf Anhieb 22 Prozent der Bürger/innen für die Einführung einer Basisfinanzierung aussprachen, hat die Diskussion auch in Deutschland deutlich an Fahrt aufgenommen. Ernsthafte Realisierungschancen innerhalb der nächsten 20 Jahre scheinen derzeit nicht ausgeschlossen zu sein. Zu verlockend klingt die Verheißung vom mühelosen Geld; zu düster wirken die Arbeitsmarktentwicklungen in Europa und die Perspektiven unseres deutschen Sozialsystems.

Befürworter und Gegner des bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) kommen aus der gesamten Bandbreite des politischen Spektrums. Mehr und mehr hochrangige Wirtschaftsvertreter sprechen sich mittlerweile ebenso für die Idee aus wie Vertreter des konservativen Lagers. So entwickelte beispielsweise der ehemalige thüringische CDU-Ministerpräsident Dieter Althaus vor einigen Jahren ein eigenes Grundeinkommensmodell. Vorbehalte gegenüber einer solchen bedingungslosen Transferleistung werden hingegen auch von Vertretern traditionell eher linksorientierter Organisationen wie Gewerkschaften und Sozialdemokratie formuliert.

Die diskutierten Modelle sind so unterschiedlich wie ihre Vertreter/innen. Sie reichen von existenzsichernden und der Emanzipation verpflichteten Konzepten, die den bestehenden Sozialstaat ergänzen sollen und mit einer Umverteilung von Einkommen und Vermögen verbunden werden, bis hin zu einer Umstellung der Sozialhilfe auf eine Pauschale für Bedürftige, die vor allem Verwaltungskosten sparen soll und nebenbei den vorhandenen Sozialstaat abbaut.

So verschieden die Modelle sind, so haben sie doch eines gemeinsam: die Zweifel an der Tragfähigkeit des bestehenden Sozialsystems. Alters- und Erwerbsarmut wird – unabhängig vom politischen Standpunkt – von den Verfechtern eines bedingungslosen Grundeinkommens als eine gesellschaftliche Perspektive und schon heute existierende soziale Wirklichkeit wahrgenommen, die nicht nur die direkt Betroffenen, sondern den sozialen Zusammenhalt der Gesamtgesellschaft gefährdet.

Ein grundlegendes Bedürfnis nach sozialer und vor allem auch ökonomischer Sicherheit wird von allen Befürwortern formuliert – unabhängig von den jeweils favorisierten Modellen und politischen Einstellungen. Mit manchen BGE-Varianten wird auch die Hoffnung verbunden, der Verteilungsgerechtigkeit wieder etwas näher zu kommen – nicht immer aus rein philanthropischen Motiven, sondern durchaus auch aus ökonomischen.

Skeptiker hingegen befürchten, dass eine pauschale monetäre Wohltat gerade jenen nicht nützen könnte, die derzeit von umfangreichen einzelnen Sozialleistungen erreicht werden – wie Menschen mit Behinderungen oder Langzeitarbeitslose. Andere wenden ein, dass eine Transferleistung, für die keinerlei Voraussetzungen zu erfüllen und keine Gegenleistungen zu erbringen sind, dazu führen könnte, dass sich alle entspannt zurücklehnen und die Arbeit einstellen. Sie sehen in einem bedingungslosen Grundeinkommen eine Einladung zum süßen Nichtstun. Und wenn alle nichts tun, dann funktioniere am Ende gar nichts mehr.

In diesem Buch werden unterschiedliche Modelle vorgestellt, die derzeit in Deutschland diskutiert werden, Chancen und Einwände erörtert und die wesentlichen Auswirkungen auf die Menschen und die Gesellschaft dargestellt. Denn eins ist sicher: Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde viel mehr verändern als nur den Kontostand Einzelner.

1. Wo stehen wir aktuell?

Wer ein bedingungsloses Grundeinkommen thematisiert, macht das nicht im luftleeren Raum, sondern verknüpft dies mehr oder weniger explizit auch mit einer Auseinandersetzung um grundsätzliche gesellschaftspolitische Fragen und Realitäten.

a. Neue soziale Schieflagen entstehen

Insbesondere nach dem zweiten Weltkrieg galt es in Westdeutschland als selbstverständlich, dass ein Arbeitsplatz „soziale Sicherheit, ein regelmäßiges, langfristig steigendes, ausreichendes Einkommen und ein Mindestmaß an Zufriedenheit vermittelt“1. Doch seit den 1990er Jahren gibt es das lebenslang tragende sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnis, an das unsere Kranken-, Renten-, Unfall-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung anknüpft, für immer weniger Menschen. So stieg zwar die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von 27,7 Millionen im Jahr 2001 auf 30,7 Millionen im Jahr 2015, die Zahl der Vollzeitbeschäftigten sank hingegen im selben Zeitraum von 23 Millionen auf 22,5 Millionen. Zeitgleich hat sich die Zahl der Teilzeitbeschäftigten von 4,5 Millionen auf 8,1 Millionen fast verdoppelt.2

Obwohl die Zahl der insgesamt Erwerbstätigen um 11 Prozent von 38,7 Millionen im Jahr 1991 auf 43 Millionen im Jahr 2015 gestiegen ist3, fiel die Zahl der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden im gleichen Zeitraum um 2 Prozent4. Das heißt, die Arbeit wird allen Wirtschaftsaufschwüngen zum Trotz weniger und sie verteilt sich auf mehr Köpfe. Und weil sich die Zahl der Beschäftigten vergrößerte, sank im Verhältnis dazu die Quote der Arbeitslosen. In absoluten Zahlen ist das deutsche Jobwunder der letzten Jahre weniger beeindruckend. Die Arbeitslosenzahl lag im Jahr 1991 bei 2,6 Millionen, stieg bis zum Jahr 2005 auf 4,8 Millionen an und reduzierte sich in den folgenden 10 Jahren langsam auf 2,79 Millionen im Jahr 2015.5

Schaut man, in welchen Wirtschaftsbereichen die Erwerbstätigen aktiv sind, stellt man fest, dass es zwischen 1991 und 2015 erhebliche Verschiebungen gegeben hat. So ist die Erwerbsarbeit im produzierenden Gewerbe von 1991 bis 2015 stark gesunken.6 In diesem traditionell gut zahlenden Sektor reduzierten sich die geleisteten Arbeitsstunden zwischen 1991 und 2015 um 26,4 Prozent. Die Zahl der Arbeitnehmenden sank sogar um 36,1 Prozent.7

Parallel dazu stieg die Zahl der Arbeitsplätze für abhängig Beschäftigte im Dienstleistungsbereich um 33,4 Prozent.8 Besonders viele Arbeitsplätze wurden im Gastgewerbe (plus 111,5 Prozent) und im Grundstücks- und Wohnungswesen (plus 97,6 Prozent) geschaffen.9 Beide Branchen zeichnen sich durch niedrige Löhne und eine eher kleinteilige Unternehmensstruktur aus. Hinzu kommt, dass im Gastgewerbe die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden nicht im selben Maße anstieg. Alle Erwerbstätigen, einschließlich der Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen, leisteten im Vergleich zu 1991 nur 27,6 Prozent mehr Arbeitsstunden. Die Arbeitnehmer/innen, deren Zahl sich mehr als verdoppelt hat, arbeiteten aber nur knapp 40 Prozent mehr. Im Ergebnis verteilt sich die Arbeit auf immer mehr Köpfe.

Und weil sich weniger Arbeit auf mehr Menschen verteilt, verwundert es auch nicht, dass die prekären Beschäftigungen mehr wurden. Im Jahr 1991 waren 79 Prozent der Erwerbstätigen als Normalarbeitnehmer/innen tätig. Atypisch beschäftigt waren 13 Prozent. 8 Prozent waren als Selbstständige tätig. Im Jahr 2015 hatten nur noch 69 Prozent ein Normalarbeitsverhältnis. Der Anteil der Selbstständigen war um zwei Punkte auf 10 Prozent gestiegen. Aber jede/r Fünfte zählt heute zu den atypisch Beschäftigten,10 die in Teilzeit mit 20 oder weniger Wochenstunden tätig sind, geringfügig oder befristet arbeiten oder nur einen Zeitvertrag haben.11

Die Struktur unseres Sicherungssystems ist vor allem in den Sozialversicherungen durch das Äquivalenzprinzip bestimmt. Die sozialen Leistungen sind gekoppelt an das Arbeitseinkommen: Was an Rente oder Arbeitslosengeld gezahlt wird, richtet sich nach den zuvor geleisteten Beiträgen.12 Ausgangspunkt jeder Rentenkalkulation ist der sogenannte „Standard-Eckrentner“. Er ist 45 Jahre ununterbrochen sozialversicherungspflichtig beschäftigt, verdient im statistischen Mittel und gehört faktisch zu einer aussterbenden Spezies. Schon heute muss ein durchschnittlich verdienender Arbeitnehmer 35 Jahre arbeiten, um am Ende eine Rente in Höhe der Grundsicherung zu erhalten. Wer nur 75 Prozent des Durchschnittseinkommens verdient, benötigt dafür 47 Jahre.

Je prekärer und volatiler sich die aktive Phase der Erwerbstätigkeit gestaltet, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit der Altersarmut. Bereits zwischen 2003 und 2008 stieg die Zahl der Empfänger von Grundsicherung im Alter und von Erwerbsminderungsrenten um 75 Prozent auf 770.000 Menschen.13

Insbesondere für Frauen tickt hier eine Zeitbombe, denn sie arbeiten besonders oft in (Dienstleistungs)Branchen, die sich durch ein niedriges Lohnniveau auszeichnen. Im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen erhalten sie branchenübergreifend gut ein Fünftel weniger Lohn für die gleiche Arbeit und sie arbeiten besonders häufig in atypischen

Beschäftigungsverhältnissen: Im Jahr 1991 arbeiteten 23 Prozent der Frauen atypisch. Im Jahr 2015 war es fast jede dritte Frau (31 Prozent). Von den Männern verfügten im Jahr 2015 immerhin noch 75 Prozent über ein Normalarbeitsverhältnis.14

b. Globalisierung und Industrie 4.0 entwickeln sich

Durch die erste Welle der Globalisierung (1970 bis 1990) traten die sogenannten Billiglohnländer auf den produzierenden Markt, menschliche Arbeit zur Herstellung von Massenkonsumgütern wurde reichlich verfügbar und die Preise sanken. In der Folge verloren die westeuropäischen Belegschaften – nicht nur im produzierenden Gewerbe – innerhalb weniger Jahre ihre über Jahrzehnte erkämpften Rechte und Einkommensgarantien. In Deutschland stieg die wöchentliche Arbeitszeit wieder an und seit Mitte der 1990er Jahre blieben die Reallohnsteigerungen bescheiden.15

Die zweite Welle der Globalisierung (1990 bis 2010) zeichnete sich dadurch aus, dass neben Gütern auch Dienstleistungen international handelbar wurden. In immer mehr Berufen lassen sich immer mehr Tätigkeiten mit einem kleinen Computer und einer Internetverbindung an vielen Plätzen der Welt produzieren und weltweit verkaufen.16 Die neuen Mitspieler der Globalisierung bieten in steigendem Ausmaß genauso hochwertige und vielfältige Güter und Dienstleistungen wie die Länder des Westens.17 Folge ist, dass neben der (Konsumgüter-)Produktion nun auch Unternehmensdienstleistungen wie etwa die Programmierung oder Telekommunikation aus Europa abwandern. Im Gegenzug entstehen zwar an anderer Stelle in der Welt neue hochwertige Arbeitsplätze. Die bisherigen qualifizierten Arbeitskräfte verlieren durch das Outsourcing jedoch ihre Arbeitsstelle.18

Unter dem permanenten Druck, der günstig produzierenden ausländischen Konkurrenz standhalten zu müssen, entwickelte sich eine Vielzahl deutscher Unternehmen in den letzten Jahren vom Produkthersteller zum Systemanbieter. Verkauft werden nicht mehr nur Maschinen oder singuläre Dienstleistungen, sondern ganzheitliche innovative Problemlösungen mit einem industriellen Kern als Basis und einer Hülle unterschiedlichster vor- und nachgelagerter Dienstleistungen – wie Wartung und Modernisierung, Organisationsplanung und Betriebsführung bis hin zur Finanzierung und Versicherung. Um diese vielfältigen Leistungen erbringen zu können, sind spezifisches Fachwissen und besondere Fähigkeiten, die weitgehend konkurrenzlos sind, notwendig. Spezielles Know-how kommt hochflexibel zum Einsatz und muss stetig aktualisiert werden. Vernetztes Arbeiten, Denken und Handeln sind die bestimmenden Merkmale. Entsprechend hoch sind die Anforderungen an die Arbeitnehmenden.19 Nicht jede/r kann und will solche Leistungen immer wieder aufs Neue erbringen. Die Zahl der für diese Aufgaben benötigten Arbeitskräfte ist zudem begrenzt.

Die seit 2010 laufende dritte Globalisierungswelle „macht die internationale Arbeitsteilung endgültig zu einem weltumspannenden, globalen Phänomen, das alle Erdteile gleichermaßen einbezieht“20. Investoren, auch aus den aufstrebenden Volkswirtschaften, bestimmen durch ihre Eigenkapitalbeteiligung den Kurs und die Richtung der europäischen Unternehmen entscheidend mit. Wirtschaftliche Aktivitäten lassen sich in diesem globalen System immer weniger mit den territorial begrenzten Rechtsmitteln der Nationalstaaten regulieren. Die im Jahr 2016 vehement geführten Diskussionen um die Handels- und Investitionsschutzabkommen TTIP und CETA machten auch einer breiteren Öffentlichkeit bewusst, welche Risiken und Einschränkungen die zunehmende internationale Verflechtung für staatliches Handeln mit sich bringen und wie sie die Souveränität der Nationalstaaten unterminieren kann.21

In nicht zu ferner Zukunft ist zudem zu erwarten, dass der Menschheitstraum von der arbeitsfreien Fabrik näher rückt. Keine schmutzigen, öden Tätigkeiten mehr; alles erledigt der Roboter, der sich derzeit anschickt, Dienstleistungen wie die Pflege und die Unterhaltung von Menschen zu übernehmen oder per Algorithmus den nächsten Spielfilm zu kreieren und das Auto zu steuern. Einziger Nachteil dieser schönen neuen Welt: Wo keine menschliche Arbeitskraft gebraucht wird, gibt es für Arbeitnehmende auch nichts zu verdienen.

Produktionsstätten wandern um den Erdball, Arbeitsplätze kommen und gehen, Anforderungen verändern sich und steigen. „Insgesamt werden die Lohnstrukturen vielfältiger und die Tarifverträge noch flexibler. Öffnungsklauseln für konjunkturelle Schwankungen und besondere Krisensituationen dürften die Regel werden“22, so zumindest die Prognose des Direktors des Bonner Instituts für Zukunftsforschung Klaus F. Zimmermann. Seit den 1990er Jahren spaltet sich der Arbeitsmarkt. Sichere und gut ausgestattete Jobs stehen nur noch einem Teil der Beschäftigten zur Verfügung, während anderen immer schlechtere Bedingungen geboten werden.23 Selbst Unternehmen, die ihren Beschäftigten gerne langfristige Perspektiven bieten möchten, können dies angesichts auftretender Veränderungen immer seltener realisieren.

Tätigkeiten, die vor wenigen Jahren noch von dauerhaft sozialversicherungspflichtigen Angestellten ausgeübt wurden, werden immer häufiger ausgelagert. Neue Formen des Alleinunternehmers oder des „Arbeitnehmerselbstständigen“ formen den Typus eines neuen „Normalarbeitsverhältnisses“24. So sind von den derzeit Selbstständigen unter den Erwerbstätigen die meisten als Soloselbstständige aktiv. Der neue „Arbeitnehmerselbstständige“ ist prinzipiell überall verfügbar. Heimarbeitsplätze, Projektarbeit durch Kooperationen und virtuelle Netzwerke gewinnen immer mehr an Bedeutung. Auf „intensive Phasen mit Tag-, Nacht- und Wochenendarbeit“ und manchmal durchaus guten Verdiensten folgen „Zeiten des Leerlaufs, in denen Erspartes aufgebraucht, die Unterstützung der Familie oder Hilfe vom Staat in Anspruch genommen“ werden muss.25

Was derzeit oft noch als individuelles (Un)Vermögen zur Teilhabe an der Arbeitswelt gesehen wird, ist ein strukturelles Problem. So werden wir uns darauf einzustellen haben, dass neben dem „Normalarbeitsverhältnis“ mit geregelter Arbeitszeit und regelmäßigem Einkommen immer neue „Normalitäten“ entstehen werden, die auch eine „wachsende Wohlfahrtskluft zwischen den Qualifizierten mit hervorragenden Arbeitsmarktperspektiven und einer […] keineswegs von selbst verschwindenden Gruppe unzureichend auf die Anforderungen der modernen Arbeitswelt vorbereiteter Bürger“ umfassen.26 Berufsbiografien werden vielfältiger und offener27, aber damit auch abstiegsgefährdeter.

c. Die soziale Schere geht auf – Armut und extremer Reichtum wachsen

Noch in den 1980er und 1990er Jahren zählte Deutschland zu den eher egalitären Gesellschaften. Heute liegt das Land im internationalen Vergleich nur noch im Mittelfeld.28 Insbesondere in den Jahren zwischen 1999 und 2005 stieg die Einkommensungleichheit an.29 Die Realeinkommen der unteren 30 Prozent sanken zwischen 1998 und 2008 sogar. Gleichzeitig stiegen die Bezüge der Spitzenverdiener – also der oberen 10 Prozent – um etwa ein Drittel.30 Seitdem geht die soziale Schere zwar nicht mehr weiter auf, aber die Einkommensungleichheit wurde auch nicht mehr abgebaut.31

Die Besserverdienenden verdienen nicht nur wesentlich mehr als noch vor wenigen Jahrzehnten, zusätzlich wurden sie steuerlich stark entlastet. So sank der Spitzensteuersatz in mehreren Stufen von 56 Prozent im Jahr 1990 auf aktuell 42 Prozent. Die Mehrwertsteuer lag 1992 noch bei 14 Prozent und wurde seitdem zweimal auf mittlerweile 19 Prozent erhöht. Sie trifft vor allem die Ärmeren, die ihr Einkommen weitgehend für Konsum ausgeben (müssen). Dass Bezieher besonders hoher Gehälter nach wie vor den größten Teil der Einkommenssteuer zahlen, obwohl ihr Steuersatz drastisch gefallen ist, liegt daran, dass ihre Bezüge zugleich extrem stark gestiegen sind. So ist das Verhältnis der Pro-Kopf-Gehälter zwischen Vorständen und Mitarbeitern von 1987 bis zum Jahr 2007 im Durchschnitt vom 14- auf das 49-fache gewachsen. Einzelne Führungskräfte verdienen mittlerweile mehr als 100-mal so viel wie ein durchschnittlicher Mitarbeiter ihres Unternehmens.32 Und während die Gehälter aller Arbeitnehmenden im Mittel zwischen 2000 und 2007 nominal um 11 Prozent anstiegen und unter Berücksichtigung der Inflation real sogar sanken, wuchsen die Unternehmens- und Vermögenseinkommen um 43 Prozent.33

Wo gut verdient wird, konzentriert sich auch das Vermögen.34 Die obersten 10 Prozent der Bevölkerung verfügen – je nach Berechnungsmodell – über 60 bis 74 Prozent des gesamten Bestands an mobilen und immobilen Gütern. Dem reichsten Prozent der Bevölkerung gehören 31 bis 34 Prozent aller Privatvermögen.35 Auf der anderen Seite besitzt jeder zweite Bundesbürger so gut wie nichts oder hat sogar Schulden. Die Mitte teilt sich den Rest.36

Die Einkommens- und Vermögensarmut bleibt im Alltag nicht ohne Folgen. In jedem fünften Haushalt fehlte im Jahr 2014 das Geld, um nur eine Woche in die Ferien zu fahren. Alleinlebende und Alleinerziehende befinden sich besonders häufig in prekären Verhältnissen. Sie haben kein Geld, um unerwartete Ausgaben zu bestreiten – dies betrifft 46,5 Prozent der Alleinlebenden und 65,9 Prozent der Alleinerziehenden.37 Jede Waschmaschinenreparatur oder Nebenkostenabrechnung kann so schnell zu einem Problem werden. Es wird am Essen gespart und in 12,5 Prozent der Fälle sitzen Alleinerziehende mit ihren Kindern in nicht ausreichend geheizten Wohnungen.38

Insgesamt ist das Armutsrisiko zwischen 1995 und 2014 um rund ein Drittel gestiegen. Während im Jahr 1995 noch 11,6 Prozent aller Bundesbürger ein Armutsrisiko trugen, waren es im Jahr 2014 immerhin schon 15,8 Prozent der Bevölkerung. Besonders von Armut betroffen waren im Jahr 2014 Arbeitslose (58,2 Prozent), Alleinerziehende (38,4 Prozent), kinderreiche Familien (24,4 Prozent) und Migranten (23,1 Prozent).39

Das Armutsrisiko bemisst sich anhand des „Medianäquivalenzeinkommens“. Dieses mittlere Einkommen auch Medianeinkommen genannt, errechnet sich aus der Gesamtheit der Einkommen. Es liegt genau in der Mitte aller Einkommen, d. h. die eine Hälfte der Bevölkerung liegt über, die andere unterhalb dieses Medianeinkommens.40 Wer über weniger als 60 Prozent dieses Einkommens verfügt, gilt als arm.41 Im Jahr 2014 lag dieser Schwellenwert in Deutschland bei 1.056 Euro im Monat. Das Medianäquivalenzeinkommen ist eine relative Zahl und sagt nichts über die objektive Bedürftigkeit aus. Diese kann sowohl unter- als auch oberhalb dieser Einkommensschwelle liegen.

Neben den Klassikern Arbeitslosigkeit, Krankheit und Verlust des Partners42 können heute auch der Konkurs des Arbeitgebers, ein Sportunfall oder Wohnungseinbruch, Alkoholsucht, Hochwasser, Burn-out, ein Seitensprung, ein insolventer Immobilienfond oder Mobbing im Internet Auslöser für den sozialen Abstieg sein.43 Selbst Bildung – in der alten Bundesrepublik ein Garant für Karriere und abgesichertes Leben – schützt nicht mehr vor der Misere. Hochgebildete mit Universitätsabschluss finden sich zunehmend auch in den unteren Einkommensklassen. Die volatile Arbeitswelt eröffnet zwar immer neue Tätigkeitsfelder für Gutqualifizierte, doch nicht alle anspruchsvollen Tätigkeiten führen auch zu einem guten Auskommen. Ehemals gut dotierte Berufe, wie beispielsweise der des Journalisten, werden prekär.44 „Status und Sicherheit hängen heute nicht mehr allein vom Beruf, sondern auch vom Beschäftigungsverhältnis, von der jeweiligen Branche, Region oder einfach dem Zeitpunkt des Markteintritts ab“, stellt der Sozialwissenschaftler Steffen Mau in seinem Buch „Lebenschancen. Wohin driftet die Mittelschicht?“ fest.45

d. Struktur und Grenzen unseres aktuellen sozialen Sicherungssystems

Der Gedanke, soziale Lebensrisiken kollektiv abzusichern, ist nicht neu. Schon im Mittelalter verfügten Zünfte und Innungen über eine Witwen- und Waisenversorgung. Kirchen und Ortsgemeinden kümmerten sich etwa durch Armenhäuser und Almosen um diejenigen, die nicht selbst für sich sorgen konnten und deren Familien die Last nicht tragen konnten. Die (Groß)Familie war über Jahrtausende das wichtigste soziale Sicherungssystem und ist es auch heute noch für viele Menschen auf der Welt. Doch all diesen Systemen ist gemein, dass sie in der Regel Bedürftigkeit voraussetzen und dass sie lokal und sozial begrenzt sind. Nur wer zur Wohngemeinde, zur Familie, zur beruflichen Zunft dazugehört, hat einen Versorgungsanspruch. Das war so lange kein Problem, wie die Menschen wenig mobil und die Sozialbeziehungen stabil waren.

Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts stellte die Lohnarbeit, bei der ungebundene Arbeitskräfte ihre Arbeitskraft gegen Entgelt auf einem Arbeitsmarkt anbieten, in Deutschland die große Ausnahme dar. Um 1800 waren lediglich 0,5 Prozent der Beschäftigten in „freier“ Lohnarbeit tätig. 72 Prozent arbeiteten in der Landwirtschaft – als grundherrlich gebundene Hintersassen, gutsherrliches Gesinde oder – eher selten – als selbstständige Vollbauern. Im gewerblichen Bereich waren um 1800 lediglich ca. 14 Prozent der Erwerbstätigen beschäftigt. Gut hundert Jahre später hatten sich der Arbeitsmarkt und die Beschäftigungsstruktur aufgrund der Industrialisierung grundlegend geändert. Jede/r zweite war nun als Arbeiter/in erwerbstätig. 7,5 Prozent der Beschäftigten waren Angestellte und Beamte und knapp 6 Prozent arbeiteten als Dienstboten in privaten Haushalten. Nur noch 37 Prozent verdienten ihr Geld in der Landwirtschaft, davon knapp 16 Prozent als mithelfende Familienangehörige.46

Mit der Industrialisierung und der damit verbundenen Landflucht wurden soziale Bindungen fragiler und soziale Probleme konzentrierten sich vor allem in den rasch expandierenden Städten. Steigende Lebensmittelpreise bei geringen Einkommen, die Verlängerung der Arbeitszeiten von 10 bis 12 Stunden am Tag im Jahr 1800 auf bis zu 16 Stunden zwischen den Jahren 1830 und 1860, eine zunehmend unstete Beschäftigung und eine schwache Position der Lohnarbeiter auf dem Arbeitsmarkt mit entsprechend ausbeuterischen Praktiken führten zum Aufkommen der „sozialen Frage“47. Hinzu kamen aufgrund der industriellen Produktionsweise neue Lebensrisiken wie Invalidität und Arbeitslosigkeit. Mit den wachsenden sozialen Problemen und der durch die Industrialisierung stark wachsenden Mobilität waren die traditionellen, lokalen Versorgungssysteme jedoch überfordert.48

Soziale Unruhen und vor allem die Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei führten dazu, dass in den 1880er Jahren die kaiserliche Regierung unter Reichskanzler von Bismarck sukzessive verbindliche Regelungen zum Schutz vor den Risiken des Berufslebens einführte. Die anwachsende Arbeiterschaft sollte durch dieses innovative sozialpolitische Programm befriedet und die Bürger zumindest teilweise vor den existenziellen Risiken geschützt werden.

Eine Versicherung gegen Unfall, Krankheit, Alter und Invalidität wurde nunmehr als zentralstaatliche Aufgabe verstanden, die weitgehend durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer finanziert werden musste.49

Zunächst galten die Regelungen nur für eine kleine Minderheit der Erwerbstätigen. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts und vor allem nach dem zweiten Weltkrieg wuchs der Adressatenkreis für wohlfahrtsstaatliche Leistungen und so entwickelten sich die Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung zeitweise fast zu Volksversicherungen. Daneben wurden immer mehr – nicht nur existenzielle – Lebensrisiken und Problemlagen durch staatliche Sicherungssysteme erfasst. Ausbildungsförderung, Familienförderung, Erziehungshilfen und Pflegeversicherung seien exemplarisch genannt.50

So wie die agrarisch geprägte Welt im 19. Jahrhundert durch die Industrialisierung aus der Balance geriet, so verändert sich unsere Welt heute durch eine steigende Lebenserwartung, die Individualisierung von Lebensentwürfen und die fortschreitende Globalisierung. Durch technische Entwicklungen wie die Digitalisierung und das Internet entstehen neue Berufe, andere Arbeitsplätze gehen verloren. So revolutionär die Gründung der Sozialversicherungen auch war, in seiner Grundstruktur wurde das System in den vergangenen Jahren wenig verändert. Es knüpft immer noch vor allem an eine langfristige und auskömmlich bezahlte Lohnarbeit an, die aber im 21. Jahrhundert wieder im Schwinden begriffen ist.

e. Fazit