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Markus Ramseier

In einer

unmöblierten Nacht

Roman

Ne bylo by schastja,
da neschastje pomoglo.

Es gäbe kein Glück,
hätte das Unglück nicht geholfen.

russisches Sprichwort

1

Yana mochte die Bronzefigur nicht, aber sie liebte ihren Besitzer. Victor saß auf seinem alten Schaukelpferd. Wie Pfeiler ragten seine Knie in die Höhe. Die Ameisenkönigin hatte er so auf die Kommode gestellt, dass die kühlen, vergoldeten Augen im schräg einfallenden Licht der Februarsonne in seinem Kinderzimmer Blitze warfen. Erhaben thronte die schmale Figur über allem, sparsam bemalt, umrahmt von Blattwerk. Ihr kantiger Kopf wurde getragen von einem bleistiftdünnen Hals. Die Königin war halb Mensch, halb Ameise, eine Riesin mit einem tiefen Dekolleté und einem Umhang, der von einem Gürtel notdürftig geschlossen wurde. Auf ihren erhobenen Händen balancierte sie zwei Ameisenmännlein. Das Männlein in ihrer Rechten trug auf seinem Haupt eine weltliche, die Figur in der Linken eine päpstliche Krone. Das alles spielte in einem auf dem Eichensockel angedeuteten Wald, wo sich zu Füßen der Königin eine Heerschar von Arbeiterinnen auf dem Laubboden abmühte.

Man müsste diese Szene malen, dachte Yana: der CEO mit der gebügelten Hose und den gespreizten Beinen auf dem Schaukelpferd vor der Skulptur mit den goldenen Augen – ein Stillleben. Auch wenn das Werk sie irritierte – sie genoss die Stille und Weite der Villa. Vics einstiges Kinderzimmer im Turm des Gebäudes war größer als ihre Wohnung in Moskau, ganz zu schweigen vom winzigen, dunklen Raum in Schabo, den sie mit ihrer Zwillingsschwester Ewa geteilt hatte. Mehr als ein Kajütenbett, ein Tischchen für die Hausaufgaben, ein schmaler, wackeliger Schrank und der kleine, blaue Zauberteppich am Boden hatten darin nicht Platz gefunden. Der Teppich war ihr Raumschiff gewesen, das sie aus der Enge in die Umlaufbahnen der Phantasie katapultiert hatte. Einmal waren sie zu einem roten Stern aufgebrochen. Dort hatten sie ihre Traumprinzen geheiratet. Die Landung auf der Erde nach solchen Expeditionen war hart.

Und jetzt? Ihr kamen bereits wieder Zweifel, wenn sie an ihren Prinzen dachte. Pack deinen Koffer, hatte Vic ihr vor dem Galaabend im Puschkin-Museum gesagt. Verabschiede dich von überflüssigen Dingen. Du gehörst zu mir. Sie hatte noch kaum etwas über ihn gewusst, außer dass er sich für alles interessierte, was von Belang war, und Belangloses mit einem einzigen Satz erledigen konnte. Und sie war seinem Charme im Nu erlegen. Nur für ihn hatte sie ihr Haar zu einem Kranz geflochten und die silbrigen Traubenanhänger ins Ohr gesteckt, ihren einzigen Schmuck. Wenn sie kerzengerade dastand, war ihre Haltung jener der Königin nicht unähnlich. Doch sie gehörte nicht zur Gilde, die in den Festsaal geströmt war. Sie trug keine Markenuhr. Die gesamte nationale A-Elite hatte sich an diesem Freitag versammelt. Die Oligarchengattin Balbukina hatte Victor so heftig geküsst, als sei er ein alter Bekannter. Ihr giftgrünes Bleistiftkleid war der Blickfang des Abends gewesen. Auch Yana hatte Grün getragen, dezentes, klassisches Lindgrün. Viel mehr hatte sie nicht in ihrem Kleiderschrank. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie ihr Tageshoroskop gelesen. Sie denken über sich selber nach. Und das bringt Ihnen neue Erkenntnisse, nämlich, dass Sie nicht nur das schönste und schlauste Wesen auf Gottes Erden sind, sondern im ganzen Universum. Wenn es nur einen Bruchteil so einfach wäre! Wie viele hier würden die Nase rümpfen? Ukrainerin erschleicht Schweizer Pass. In welchem Puff hast du sie aufgegabelt, Vic? Brauchst du täglich dreimal Sex und frisches Holz vor der Hütte? Wie willst du mit der reden: Kuh macht muh, nicht kikeriki, Swiss Kuh? Sie kannte diese Sprüche von angetrunkenen Touristen. Zu allem Elend war Victor ein Prominenter. „Liebesglück im Osten“ würden sie in den Zeitungen titeln. „Dolmetscherin mit berückend blauen Augen bezaubert Schweizer Unternehmer.“ Sie gab sich einen Ruck. Konnte Victor und ihr das Geschwätz nicht egal sein? Legal war ohnehin alles. Vics Junggesellenwohnung verfügte über mehr als die vorgeschriebenen zwei separaten Räume, Nasszelle und Küche.

Feiner Kuchengeruch stieg vom Erdgeschoß nach oben. Seit der Ankunft am Flughafen hatte sie nichts mehr gegessen. Der erste Gedanke in der neuen Heimat war: Ich sterbe vor Hunger. Im Duty-free-Shop war sie an allen Parfums vorbei zum nächsten Stand mit Süßigkeiten gerast und hatte eine Toblerone erstanden, um sich für das Treffen mit Victors Mutter zu stärken. Mehr als einmal hatte sie sich den Empfang in den schlimmsten Farben ausgemalt. In dieses überwältigend schöne Tal, dieses überwältigend große, noble Haus, in diese überwältigend wohlhabende, im Leben eingerichtete Familie brachte ihr einziger Sohn eine überwältigend einfache, mit den Sitten des Landes und der Gesellschaft nicht vertraute, mittellose Übersetzerin, die keinen Dunst von Kunst hatte. Zum Schreien war das. Würde die Mama sich nicht in wenigen Minuten breitbeinig vor Vic stellen und ihn gründlich durchschütteln? Würde er, der gesellschaftliche Vorzeigesohn, sich dann wehren und für seine Liebe einstehen?

Victor blieb reglos in seine Plastik versunken. Eine halbe Million hatte er in die Beweise investiert. Der Wert der Königin stieg mit jeder Expertise, die das Werk als echt auswies. Nicht eine um 1950 in Berlin versteigerte Kopie war in seinem Besitz, wie Neider vermutet hatten, sondern eine von Meister Rutzki neu geschaffene Figur. In Moskau, wo Kunst aus ganz Europa in den Sälen stand und an den Wänden hing, hatte man ihm die Absolution erteilt. Yana hatte den Segen vom Russischen ins Deutsche übersetzt.

„Ist es nicht hundertmal netter, mit Meisterwerken im eigenen Haus zu leben als mit Aktienzertifikaten?“, rief er in die Stille. „Ich danke Gott, dass ich zu diesem Werk gekommen bin. Es überstrahlt alles, was ich bis jetzt erreicht habe.“

Und das ist nicht wenig, ergänzte Yana in Gedanken. Seit die Königin ihm gehörte, galoppierte sein ohnehin bewegtes Leben mit ihm davon. Anfang des Jahres hatte er einen Kurs in Körpersprache besucht, hatte er ihr auf dem Flug erzählt: So behalten Sie die Oberhand. Es ging um klare Zeichen. Gelang der Auftritt, war der Rest ein Kinderspiel. Stärke gepaart mit Leidenschaft. Keine Magengeschwüre, keine feuchten Hände. Manche zitterten, wenn er einen Raum betrat. Einige hielten ihn wohl für verrückt. Vic konnte das Leben feiern.

Abrupt erhob er sich vom Schaukelpferd und trat ans offene Fenster. „Mit dir an meiner Seite wird alles noch einfacher!“

Er war groß und kräftig gebaut, fast einen Kopf größer als sie. Ein Windstoß brachte ihn nicht aus der Fassung. Seine buschigen Augenbrauen standen für Ehrgeiz und Willen. Am lebendigsten aber waren seine strahlend schwarzblauen Augen und seine dunkle Stimme. Vic verbrachte doppelt so viel Zeit mit der Morgentoilette als sie. Das Leben um ihn herum verlangte Tag für Tag perfekte Auftritte. Allein die Rasur kostete ihn eine Viertelstunde. Jede seiner Bewegungen wirkte überlegt und überlegen. Vielleicht, weil er sich an allem so unverstellt freuen konnte, selbst an ihr, der kleinen Dolmetscherin, die sich mit allem schwer tat, sich vor jedem neuen Wort fürchtete, das auf sie zukam, als gelte es, die Silben beim Übersetzen auf einer Höhe zu überspringen, die sie noch nie geschafft hatte. Das gefüllte Champagnerglas hieß im Schweizerdeutschen Cüpli, eine schwer übersetzbare Verkleinerungsform – sogar für eine Dolmetscherin, die Russisch, Ukrainisch und Deutsch als Muttersprache hatte. Auch Namen konnte man nicht übersetzen. In Moskau hatte ihr Victor einige beigebracht: Rivella, Toblerone, Ovomaltine, Ricola, Kägi-Fret, Zweifel Chips, Kultprodukte aus der Schweiz, Aromat, die unschlagbare Gewürzmischung von Knorr, ohne die der Prinz nie ins Ausland reiste. Auch Victor war eine unschlagbare Mischung. Den meisten Menschen fiel es schwer, von ihm nicht begeistert zu sein. Er hatte kein vollkommenes Gesicht, aber eines, in dem sich keine Katastrophen und keinerlei Zweifel eingenistet hatten.

„Ja, viel einfacher“, wiederholte er.

„Wie weiß ich denn, dass du der Richtige bist?“, fragte sie ihn neckisch.

„Ich bin der Richtige, Punkt.“

„Und wann ist einer der Richtige?“

„Wenn er sie hundertprozentig ergänzt.“

„Und wenn sie fast nichts hat und fast alles zu ergänzen ist?“

„Ach, tu nicht so bescheiden. Du bist wunderbar, Yana. Und ich gebe dir alles, was ich habe.“

„Ich bin anstrengend.“

„Du bist entzückend!“

„Du verwechselst mich mit einer andern.“

„Es gibt keine andere, da kannst du lang suchen!“

Seine Begegnungen mit dem anderen Geschlecht seien bis vor ein paar Wochen unspektakulär verlaufen, hatte er ihr gestanden. Er habe niemandem falsche Hoffnungen machen wollen. Wenn sich eine an ihn hängte, hatte er sie abgeschüttelt, nicht grob, aber entschieden.

Sie gab sich geschlagen. Um Luft zu bekommen, öffnete sie den obersten Knopf ihres Jeanshemds. „Fass es nur nicht als Freipass auf“, sagte sie ihm im Spaß.

Längst hatte sie begriffen, dass es kein Zurück gab. Er hatte einen Zeitzünder betätigt, der ihre bis anhin tief im Innern schlummernde Leidenschaft mit Schweizer Präzision ins Freie gesprengt hatte. Sie genoss seine Anflüge von Extravaganz. Vic war ein reicher Mann. Daran war nichts Böses. Das Edle, Große, Ganze war ihm wichtig. Sie versuchte, sich alles zu merken, was er sagte, wie er es sagte, sie entwickelte ein Extragedächtnis für seine Gesten, seine Mimik, seine Haltung, die Kraft, mit der er die Dinge anpackte. Alles kam ihr wichtig vor, richtig, wenn sie es mit ihrem eigenen Gebaren verglich, ihrer mickrigen Lebenserfahrung. Immerhin konnte sie sich in jeder Situation konzentrieren. Die Arbeit gab ihr Schutz. Sie musste übersetzen – und die andern mussten ihr zuhören. Von den Satzzeichen mochte sie das laute Ausrufezeichen am wenigsten. Victor liebte es, was sie bisweilen irritierte. In der Dolmetscherschule hatten sie sogar das Schweigen geübt. Sie hatte eine alte Lehrerin gehabt, vor der sie große Ehrfurcht hatte. Man trug eine Verantwortung für jedes Wort und für jede Pause.

Mit den Fingerkuppen fuhr sie über sein Handgelenk. Ja, sie ergänzten einander. Victor war schneller und lauter als sie, aber er nahm sie ernst, er überfiel sie nicht mit Küssen und war nicht öffentlich zärtlich. Dass er ihr mehrmals gelbe Rosen gekauft hatte, konnte sie ihm verzeihen. Gelb galt in ihrer Heimat als Zeichen des Abschieds und der Trauer. Mit der ausgestreckten Rechten wies er zum Fenster hinaus ins Tal, hinauf zur Fluh. „In einem Jahr weihe ich den neuen Firmensitz ein, in vier, fünf Jahren verkaufe ich die Firma an die Holländer oder an die Franzosen. Dann gibt es nur noch die Kunst für mich – und dich. Aber jetzt gibt es eine kleine Hausführung. Mutter wartet. Ich muss dich warnen. Das kann ganz schön dauern.“

Victors Mutter trug eine kragenlose beige Hemdbluse und eine braune Hose. Feine Hautfältchen legten sich wie ein zweiter Kragen über den Rand der Bluse. „Du hast eine sportliche Frisur, meine Liebe!“ Mit mütterlicher Selbstverständlichkeit duzte sie Yana und strich ihr übers blonde Haar, das ihr Gesicht als wuscheliger Bob einrahmte. „Und die kleinen Volants passen perfekt zu deinem Jeanshemd, auch die Sneakers.“ Ihre Augen bewegten sich ununterbrochen. „Yana hat eine Elfensilhouette und einen richtig schönen Schmollmund“, wandte sie sich an Vic. Und bereits wieder an sie gerichtet: „Du bist so schmal und zart, dass man fast fürchtet, dir beim Händeschütteln wehzutun.“ Um ihre Nasenflügel war ständig ein kleines Beben. Sie verwuchs mit der Ansammlung von Schränken, Stühlen, Sofas, Truhen zu einem stil- und glanzvollen Ganzen. Yana kam nicht aus dem Staunen heraus. So hatten Großbürger Ende des 19. Jahrhunderts also in der Schweiz gelebt. So lebten reiche Leute noch heute. Ein Glasfenster mit einer Jagdszene war über der Eingangstür eingelassen, ein Plattenboden führte von der Empfangshalle zu den angrenzenden Räumen, Küche und Speisekammer. So viele Blickfänge – Kamine, voluminöse Schränke, bemalte Wände, Vorhänge in Leinenvelours mit Spitzenordüren, Landschaftsbilder im Treppenaufgang, überall Bilder. Eine kleine silberne Ente stand auf einem Beistelltisch, gefüllt mit Erdnüssen. Die Brauntöne von Wänden, Türen, Böden und Treppen vereinigten sich im Erdgeschoß zu einem üppigen Ganzen, während im Obergeschoß in Bibliothek, Bad und Schlafzimmern Gelbtöne dominierten. Mutter Muff redete auf dem Rundgang ununterbrochen. Ihr ging die Arbeit nie aus. Vor Kurzem hatte sie gemusterte neue Vorhangstoffe mit Dessins aus der Zeit um 1900 bestellt. Die Holzböden waren frisch geschliffen und gebohnert.

„Bist du katholisch?“, fragte sie unvermittelt.

Yana erschrak. „Nein – gar nichts. Bei uns war Religion lange verboten.“

„Victor ist katholisch.“

„Ich weiß.“ Am liebsten hätte sie losgeheult.

Die Wendeltreppe hinunter ging es auf die Terrasse. Hier, wo das Städtische fließend ins Dörfliche überging und das Dörfliche nach dem letzten Verkehrsschild „Sackgasse“ neben dem still vor sich hinplätschernden Bach im Idyll endete, erhob sich am Hang die „Augenweide“. „Der Bauherr hat es bis in höchste Ämter geschafft“, sagte Victor. „Vater hat das Haus in einem üblen Zustand gekauft und gründlich renoviert.“ Das Schieferwalmdach war mit Dachaufsätzen und Zinkblechzinnen verziert und der Kranz von Kaminaufbauten versprach auch an Frosttagen Wärme. Große Fenster. Holzläden. Nachts mussten diese Fenster leuchten wie ein überdimensionierter Adventskalender. Mutter Muff seufzte kaum hörbar. Talseitig hatte sich der mit Natursteinquadern verkleidete Bau in den vergangenen Jahrzehnten leicht abgesenkt. Die Vorderfassade der Villa hatte Risse.

Yana atmete das Tal in sich hinein. Sie war daheim im Geraschel der Blätter und im Gurgeln des nahen Baches. Und Victor ließ die Wärme seiner Hand in ihre strömen. In diesem kleinen Reich war er groß und lebenstüchtig geworden. „Wie oft habe ich mit dir das Gras zwischen den Ritzen der Granitplatten entfernt?“ Er schubste Mutter in die Seite. „Jeden Freitagabend hast du den Stubenteppich auf der Stange neben dem Schuppen geklopft, obwohl du dir ein ganzes Heer von Putzfrauen hättest leisten können. Wenn Besuch kam, zogst du die Fransen mit dem Kamm gerade. Und ich habe mit den Fransen gespielt, während die Gäste auf dem Sofa saßen und du deinen Spezial-Gugelhopf präsentiert hast. Nie sind Kinder gekommen. Nie ist nach Vaters Tod noch etwas passiert, bis auch der Wellensittich eines Tages gestorben ist.“ Vics Stimme tönte keineswegs vorwurfsvoll. Mutter hatte das Haus bewahrt. Das hatte sich bewährt. Der Wohlstand hatte sie nicht träge gemacht. Die Buchhaltungen von über vierzig Jahren standen Rücken an Rücken in den Gestellen. Ordnung. Ruhe. Harmonie. Das war die Augenweide.

„Nichts hat sich seit Vaters Tod verändert“, fuhr Victor in ruhigem Tonfall weiter, „bis auf diese Sichtbetonhäuser.“ Der südliche Teil des prächtigen Landschaftsgartens war sieben Einfamilienhäusern gewichen, die sich im Halbkreis, der Beugung des Talbachs folgend, um die Villa reihten. „Alle Häuser haben die gleichen braungrauen Rattanliegen von Möbel Pfister auf den Sitzplätzen.“ Kommt uns nicht zu nahe, schienen die aneinandergereihten Würfel zu mahnen.

Der Gugelhopf auf dem Salontisch war so kolossal, dass er über den Rand der Kuchenplatte ragte. Zartblaue, zur Farbe des Tischtuchs passende Blumenmotive rankten sich um Porzellanteller und –tassen. „Früher lebten die Menschen hier im Tal von ihren Schafen, von der Wolle und der Milch.“ Mit der Serviettenspitze tupfte Mutter einen Kaffeetropfen von Yanas Untertasse. „Die Schafe zogen dem Bach entlang, und im Winter, wenn der Schnee kniehoch lag, wohnte der Hirte zuhinterst im Kessel unter der Fluh mit den Tieren im selben Haus. Für die Schafe gab es einen großen Raum, für den Hirten einen kleinen. Alle waren zusammengepfercht. Draußen im Schnee wären sie erfroren.“ Sie schnitt die eine Häfte des Kuchens auf. „Greift zu! Erinnerst du dich, Vic? Als Kind hast du immer die Rosinen herausgepickt. Selbst als junger Mann hast du das noch getan.“ Kerzengerade saß sie auf ihrem Stuhl. Das hohle Kreuz ließ sie größer erscheinen als sie war. Yana mochte die herbe Wärme im Redeschwall der Frau, auch wenn diese alle paar Sätze mit dem Schlimmsten rechnete. Zwischen zwei Bissen zeigte sie Yana ein Foto ihres verstorbenen Gatten. Darauf war Vics Vater ein imposanter, hoffnungsfroher Mann mit Bart. Still und sanft sein Blick. Und doch hatte er eine Fabrik aufgebaut und schon zu Vics Primarschulzeit mit eiserner Hartnäckigkeit um den Jungen als Nachfolger geworben. Damals war die Augenweide das einzige Haus weit und breit, ein verträumtes Gebäude am Ende des Talwegs, einen Kilometer von der Kirche entfernt. Mutter Muff hatte den Weg meist zu Fuß gemacht, auch nachdem sich ihr Alexander einen Chauffeur leistete und in der nachträglich eingebauten Tiefgarage drei Wagen standen, einer für die Calgex, einer für privat und einer für die Sonntagsfahrten.

„Was du erzählst, ist schön und gut“, sagte Victor, „aber nun hat man sieben Häuser vor die Augenweide gestellt. Du selbst hast das Land weggegeben …“

„… damit du dir deinen Traum erfüllen kannst. Paps hat alles hart erarbeitet. Er blieb immer auf dem Boden.“ Mutter und Sohn redeten sich in ein Feuer. Der Mama war der Kunstmarkt unheimlich. Ein Warhol hatte in der Vorwoche für fünfunddreißig Millionen Franken den Besitzer gewechselt. So weit ging Victor nicht. Doch früher blieb das Geld im Unternehmen. Sie hatte die Buchhaltung noch allein erledigt, als die Calgex bereits hundert Mitarbeitende zählte, jede Spesenabrechnung akribisch kontrolliert. Jahr für Jahr war alles bis auf den letzten Rappen aufgegangen.

„Die besten Köpfe kümmern sich nicht um Entkalkung“, warf Vic scherzend ein.

Sie nahm ihn schärfer ins Visier. „Du hast ja gar keinen Platz mehr für all deine Skulpturen und Bilder, die Räume und Wände sind voll, der Tresor quillt über.“

„Im Zollfreilager in Genf gibt es Raum in Hülle und Fülle.“

„Und wenn es brennt?“

„Kommt die Stickstofflöschanlage zum Zug. Vor allem muss das Ganze weder verzollt noch versteuert werden.“

Energisch schob Vics Mutter den Unterkiefer vor. „Wann heiratet ihr eigentlich?“, fragte sie, „ich habe mir immer Enkelkinder gewünscht, damit wir Muffs nicht aussterben.“ Yana erstarrte. In Moskau hatte sie vergessen, Geburtstage zu feiern und sich im Spiegel zu betrachten. Noch konnte sie kaum fassen, dass es Glück gab. Umso mehr fürchtete sie sich vor Stürzen ins Bodenlose. Unter dem Tisch drückte Vic sein Knie an ihres. Sofort wurde ihr wohler. Ihre Zwillingsschwester hätte ihre Begegnung eine schicksalhafte Liebe genannt. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Liebe war klein, aber sie bestand. Yana war jetzt siebenundzwanzig und bis vor Kurzem fast noch ein Kind, ein Kind, das Selbstgespräche mit sich führte und sich Nacht für Nacht verlassen vorkam. Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Tränen kannte sie doch nur noch vom Zwiebelschälen. „Geht’s dir gut?“, fragte Mutter Muff. „Du bist ja kreideweiß!“

„Doch, mir geht’s gut“, lächelte sie und erhöhte den Druck auf Vics Knie, „richtig gut!“ Vor lauter Begeisterung verschluckte sie sich.

Mutter lachte so herzlich, dass die Teller auf dem Tisch zitterten. „Erzählt endlich vom Fest, ich bin ja überhaupt nicht im Bild.“

Vic schien nur auf das Stichwort gewartet zu haben. „Punkt 19 Uhr ertönte im Saal ein Gong“, legte er los. „Wir saßen in der ersten Reihe, neben dem Direktor und dem Bürgermeister. Und alle die Professoren im Publikum. Just in diesem Moment klingelte mein Handy. Das warst du, Mama, du mit deinen tausend Fragen. Ich sitze mit lauter Russen in einem Saal und kenne weder die russische noch die ukrainische Sprache und du fragst mich, ob Yana studiert hat. Klar hat sie studiert, an der Linguistischen Fakultät in Kiew, mit Auszeichnung!“ Yana nickte leicht. „Erfahrung hat sie auch, auf Baustellen und Anlagen, mit Heirats- und Scheidungsurkunden, Gerichtsurteilen, Packungsbeilagen.“

„Die Russen sprechen kein Deutsch und kaum Englisch außer cheese, chocolate, Rolex“, sagte Yana, um auch einmal etwas zu sagen. Obschon sie Wörter aus vier Sprachen in sich hatte, redete sie unter Leuten kaum. Und obwohl sie von Vic täglich neue Schweizer Wörter lernte, Schiri, Beiz, Älplermagronen, Trumpf-Buur, Cervelatpromi, wagte sie nicht, vor Mutter mit der Mundart zu punkten. Sie hatte ständig Angst, zu versagen, auszugleiten, im falschen Moment zu husten. Die Angst war seit dem Tag ihre ständige Begleiterin, als Großmutter aufschrie, weil sie als Fünfjährige einen vermeintlichen Stock im Garten mit dem Fuß wegschieben wollte. Sie wusste nicht, dass der Stock eine Schlange war und dass man sich vor Schlangen fürchten musste. Nach dem Schock hatte Großmutter ihr erzählt, ihre Mutter habe in der Nacht vor der Geburt der Zwillinge geträumt, sie würde zwei riesige Schlangen zur Welt bringen.

„Ich trug deine gelbe Krawatte, Mutter“, fuhr Vic weiter, „meine Glückskrawatte. Ich war Victor Alexandrowitsch. Ob Fürst oder einfacher Bürger, alle redeten sich mit dem Vornamen und dem Vornamen des Vaters an. Und allen im Saal war klar: Der Muff ist im Besitz eines Millionenfangs, an dessen Echtheit niemand mehr zweifelt. Keine geniale Fälschung, sondern ein Original des Meisters.“ ‚Ni pucha, ni pera‘ – Hals- und Beinbruch, hatte Yana ihm zugeraunt, bevor er ans Rednerpult trat, und auch wenn es der falsche Augenblick ist: Ich lechze nicht nach gesellschaftlicher Anerkennung, ich will mich nicht nach oben schlafen. – Eines verspreche ich dir, Yana, hatte er zurückgewispert, ich werde immer ehrlich zu dir sein. Hatten nicht alle das Recht auf eine zweite Chance? Ihr erster Mann hatte so frei und so genüsslich gelogen wie der russische Präsident. Nun wünschte sie sich ein Parfum mit einem Duft, der sie immer schützte.

Vics gerötetes Gesicht strahlte feuchte Wärme ab. „Wiedererkennbarkeit ist das oberste Gebot, Mama. Gestalte dein Werk stets so, dass deine Kunst von der größtmöglichen Zahl Menschen spontan wiedererkannt wird und dein Marktwert stetig wächst. Ich habe die Figur in einem kleinen Antiquariat gekauft. Der Kauf war ein Bauchentscheid, die bemalte Plastik nicht signiert, doch habe ich sogleich gewusst, dass das kein Dachbodenfund war.“ Schon am Tag seiner Ankunft Moskau hatte er den Spezialisten seine Skulptur präsentiert. Verwirrt hatte die Chefkuratorin des Puschkin-Museums ihren Pony geschüttelt und sich am folgenden Morgen an die Expertise gemacht.

„Zeigst du mir die Figur endlich?“, fragte Mutter. „Und vergesst nicht zu essen“, mahnte sie.

Die aus dem leicht vorgestreckten Kopf hervorquellenden Augen der Königin kamen Yana noch frostiger vor als im Turmzimmer, wie vergoldete Hagelkörner. „Es ist richtig, dass du die Figur gekauft hast“, sagte Mutter, „auch wenn ich von diesem Rutzki noch nie gehört habe. Die Königin hat eine stolze, schöne Haltung, doch das Gesicht ist verbissen.“ Insgeheim stimmte Yana ihr zu.

„Inzwischen ist jeder Zentimeter hundertfach durchleuchtet“, sagte Vic, „die Gussmischung, die Art des Patinierens, Ziselierens und Bemalens vor- und rückwärts erforscht, das Alter des Sockels aus Eichenholz bestimmt, frühstmögliches Fälldatum 1940. Man rechne! Rutzki lebte von 1897 bis 1962. Er hat Fälschern die Arbeit insofern erleichtert, als er das gleiche Werk bisweilen gleichzeitig bei verschiedenen Gießern ausführen ließ. Außerdem fehlt ein verbindliches Werkverzeichnis.“ Er legte eine kleine Kunstpause ein und spülte einen Bissen Gugelhopf mit einem Schluck Kaffee hinunter. „Doch nach zwei bangen Wochen hat meine wunderbare Dolmetscherin mich mit dem Resultat erlöst: ein Rutzki, ohne Wenn und Aber.“ Mutter nickte Yana anerkennend zu. „Ich werde eine schweizerisch-russische Stiftung gründen, die junge Künstler unterstützt“, wurde Vic euphorisch. „Wir werden die Meister unter ihnen finden und dafür sorgen, dass sie auf der ganzen Welt bekannt werden.“ Dieselben Worte hatte er in seiner Festrede gebraucht. „Calgex wird in den Osten expandieren. Und gleichzeitig mache ich östliche Kunst im Westen salonfähig. Der Charity-Anlass mit den Russen ist gut investiertes Geld, und du bist Gold wert, Yana!“

Der Wintergarten war überhitzt. Yana schwitzte noch mehr als beim Small Talk am von ihr organisierten Gala-Apéro im Puschkin-Museum. Das Bündnerfleisch, der Greyerzer und der Emmentaler Käse waren rechtzeitig eingetroffen. Und für jede Person im Saal hatte ein Schweizer Militärmesser bereitgelegen. Der Schweizer Botschafter höchspersönlich hatte Victor Yanas Visum überreicht. Die Visasektion hatte den Antrag in Rekordzeit erledigt. Gratulierung, Herr Muff, hatte die Oligarchengattin Balbukina sich auf Deutsch versucht. Man erzählt mir, Sie sind ein großer Haberlieb. Bitte nehmen Sie auf Interesse mit mir, wenn ich bin St. Moritz. Handverlesene russische Journalisten hatten auf Interviews gewartet. Zu guter Letzt wurden die Gläser mit Wodka aufgefüllt. Vic verbrüderte sich mit dem Bürgermeister, dem Museumsdirektor, dem Kulturminister.

„Kannst du schon ein bisschen Russisch?“, fragte Mutter Vic.

„Und ob! Ich habe mich in Zungenbrechern geübt und um Mitternacht aus voller Brust die Hymne der Russischen Föderation mitgesungen. Slawsja, strana! My gordimsja toboi!“

Draußen begann der Himmel sich dunkel einzufärben. Schwer hing er auf einmal über dem Tal. Kopfschüttelnd schenkte Mutter Kaffee nach. „Ich wurde heute aus einem Traum gerissen, der mir noch immer nachgeht“, sagte sie. Ein wolfartiges Wesen habe ihr genau in dem Moment den Hals durchbissen, als ihr eigener Schrei sie geweckt habe. Zu ihrem Erstaunen sei sie nicht tot gewesen, sondern habe eine ungeheure, wohlige Kraft gespürt. Seit etlichen Jahren lebe sie hier allein. Doch für einmal sei es ihr vorgekommen, als teile sie das Bett. Verdattert sei sie auf der Bettkante gesessen und habe auf das Glasregal mit den Porzellanfiguren gestarrt.

„Du hast zu viel Zeit zum Nachdenken“, sagte Victor, „geh ins Seniorenturnen. Mach eine Reise mit deinen Kolleginnen vom Bibelkreis.“ Nicht seufzen, Frau Muff, die Augen nicht schließen, dachte Yana. Sie selbst hatte auch jede Menge schräge Träume.

„Du musst dich gut um deine Liebste kümmern“, mahnte Mutter. Sie legte Yana ein weiteres Stück Gugelhopf auf den Teller. Die Rosinen tropften vor Süße. Ich darf das Wunder nicht versäumen, rumorte es in Yana. Ich kann in diesem Land eine Familie haben. Es liegt an mir. Aufgehen wie ein Gugelhopf, mit einem süßen Rosinchen mitten im Bauch. Sie war umgeben von lieben Menschen, von Düften, von Natur und von Kunst. Mehr konnte ein Mensch nicht wollen.

„Darf ich das Rezept haben?“, fragte sie.

„Natürlich, aber aufgepasst, jeder Backofen heizt anders.“ Mutters Augen schweiften zu den frisch geputzten Fenstern. „Im Herbst setze ich die Vorfenster ein und entferne sie im Frühling wieder. Ein altes Haus ist ständig in Bewegung.“

„Und am Sonntag isst du vor dem Kirchgang jahraus, jahrein zwei Stücke von deinem weltmeisterlichen Gugelhopf“, sagte Vic. „Dass die Firma weiter gedeiht und der Sohn sich in der Kunstszene einen Namen verschafft hat, erfüllt dich mit Angst statt mit Freude.“

Sie überhörte den Vorwurf. „Als wir hierher zogen, war die Luft wie Weihrauch, der Klang klar“, schwärmte sie, „wie mit einer Laubsäge abgeschnitten, der Garten betupft mit Schmetterlingen. Es gab kaum Traktoren, kaum Nacktschnecken, keine Drogentoten und die Schülerhefte der Kinder waren fein säuberlich eingebunden.“

„Diese Erinnerungen kann dir keiner nehmen“, meinte Victor.

„Heute ist mir mein Garten das Allerwichtigste. Auch ein Grüpplein Margeriten macht eine Gemeinschaft. Ich komme mir bisweilen vor wie der letzte Mensch, aber ich bin umringt von Sternen, Glocken und Trompeten.“

„Du hast ein gutes Herz, Mama.“ Victor stand auf. „Wir müssen, das Geschäft ruft.“

„Du hast keine Ahnung, wie ich Paps vermisse“, sagte sie.

Sachte löste sich Victor aus ihrer Umklammerung. Yana trug das Geschirr in die Küche. Vics Mutter benützte die Spülmaschine aus Prinzip nicht. Also half Yana ihr noch beim Abwasch, während sich Victor mit der Figur im Keller zu schaffen machte. Solange hier noch niemand von ihr wisse, sei die Königin im väterlichen Stahlschrank genau so sicher wie auf der Bank oder im Zollfreilager. Die Plastik ist die Brücke in eine neue Dimension, sinnierte Yana. Das ist Vics tiefstes Gefühl. Sie enthält eine Prophezeiung. Gern hätte sie mit ihm über das Werk gesprochen. Was wollte der Künstler damit sagen? Manchmal wirkte die Skulptur auf sie kühn, kühl und arrogant, dann wieder einsam, filigran und zerbrechlich, der Blick verloren. Zweifellos sah Vic ein Vielfaches von dem, was sie in ihrer Begrenztheit sah. Der Geruch des Waschmittels ließ sie am Spülbecken nach Luft schnappen. Vics Mutter zeigte ihr, wie man es schaffte, dass die Teller sich beim Abtropfen nicht berührten.

„Ihr müsst unbedingt an Ostern vorbeikommen“, sagte sie. „Dann gibt es einen Osterhasen. – Schau nicht so wie ein verängstigtes Küken, du bist eine starke Frau, ich seh es dir an.“ Yana biss sich in den Daumen und hatte das dumme und gleichzeitig schöne Gefühl, dass ihr etwas passierte, dem sie ausgeliefert war. Eindringlich fixierte Mutter sie. „Die kriegst du schon jetzt“, sie löste die Goldkette mit dem filigranen Kreuz von ihrem Hals, „ein altes Erbstück der Muffs. Trag du sie und sag von jetzt an Mutter zu mir, bitte.“ Yanas Hände waren glitschig. Das Hemd klebte an der Haut. Als Kind hatte sie nie elterliche Nähe erfahren.

2

War es der längste Tag in ihrem Leben? Auf der Fahrt von der Augenweide zur Calgex versuchte Yana im Rückspiegel ihr Haar zu ordnen. Mit einer müden Geste ließ sie ihre Hände auf die Knie fallen. Vic streichelte sie im Fahren. „Die Königin ist das Herzstück meiner Kunst“, schwärmte er. Um sie herum baue er eine Sammlung von Skulpturen und Bildern auf, die ein Publikum aus aller Welt anziehe. Unter ihrer Kopfhaut pulsierte es warm. Warum nicht einfach heim in seine Wohnung, fragte sie sich, unter eine kuschelige Decke? Sie legte den Kopf in den Nacken und schwelgte in Erinnerungen. Hand in Hand waren sie schon am zweiten Tag die Varvarka-Straße hinunter gestürzt und hatten sich im Zaryadye-Park rücklings und mit Schwung in einen frischen Schneehaufen plumpsen lassen, den ein Schneeräumgerät gerade aufgetürmt hatte, ein brusthohes, weißes Bett. Für eine kurze Seligkeit war die ganze Last ihres bisherigen Lebens von ihr abgefallen. Im Fallen hatte er einen seiner Schuhe verloren, aus weichem, hellem Leder, aufwändig vernäht, glänzend fein und makellos glatt. Sie hatte sich gebückt, sein Fußgelenk mit beiden Händen umfasst und nach der Wade gegriffen. Heiß hatte sie sich angefühlt. Sorgfältig hatte sie den Schuh geschnürt. Im Aufstehen zauberte er aus der Brusttasche eines seiner Geschenkmesser hervor: Victorinox, sagte er und schlug es mit der Hand klatschend auf den Oberschenkel, ein Messer dieser Qualität kannst du lange suchen, mein Name, dein Messer. Erstmals in ihrem Leben hatte sie es ausgehalten, dass jemand sie so lange anschaute. Ein Schauer von Glück hatte sich von ihrem Nacken ausgebreitet, hinunter in den Bauch und in die Arme. Mit jedem neuen Tag fühlte sie sich seitdem weiblicher und mehr als ganzer Mensch. Daran änderte auch der kleine Rückschlag beim Besuch von Vics Mutter nicht.

Arm in Arm schlenderten sie am Empfang der Calgex vorbei zum Aufzug. Das Chefbüro im obersten Stockwerk war riesig, rundum kunstbehangen und fein säuberlich aufgeräumt. Vic war ein Detailbesessener, ein Perfektionist, der forderte und förderte. Im Sitzungszimmer lagen für jeden Teilnehmer Schreibblock und Kugelschreiber bereit. „Vater hat immer davon geträumt, mit Calgex die Welt zu erobern“, sagte er. „Alles hat vor vierzig Jahren in einer Garage begonnen. Mutter hat mir mal gebeichtet, ich sei auch dort entstanden.“ Er schnalzte mit der Zunge. „Vater wollte die Entkalkung revolutionieren.“ Er und Mutter seien ein Dreamteam gewesen. Kaum verheiratet, hätten sie den Grundstein für das Unternehmen gelegt. Und weitere fünf Jahre später hatten sie die Augenweide gekauft. Mutter habe dort die Buchhaltung geführt, während Vater Maschinen und Werkzeuge in immer größere Gebäude verlegte. Hier, am neuen Standort, sei der Einstieg in die industrielle Entkalkung erfolgt – mit Vertretungen in halb Europa. Der Umsatz habe sich verzehnfacht. „Mein Vater ist der von allen geliebte Patron geblieben. Oft hat er sich gegen den Rat seiner engsten Vertrauten durchgesetzt. Heute ist die Konkurrenz erdrückend. Aber mit einer Türöffnerin wie dir, Yana, kann nichts schief gehen. Die Lösung liegt im Osten, nicht in China, wo zurzeit alle buckeln.“ Seine Augen blitzten. „Wir zwei sind die Lösung!“

Der Rundgang durch die verschiedenen Abteilungen dauerte. Yanas Magen rumorte. Zu viel Gugelhopf. Wie ein Ziegelstein fühlte sich das an unter der prallen Haut. Der Wasserwirbel sei eine unermessliche Kraft, orakelte der Chefingenieur vor einer Maschine. In einem Tropfen Quellwasser seien mehr Kräfte vorhanden als ein mittleres Kraftwerk erzeuge. Mit jedem Schritt verstärkte sich das Gerumpel in Yanas Magen. Heute werde das Wasser schon am Ursprung abgefangen und kaputt gemacht, fuhr der Mann unbeirrt weiter. Nicht bei Calgex! Die Natur kapieren und kopieren, lautete die Devise. Calgex baue auf Implosion statt auf Explosion. Jeder Organismus nehme Kräfte nach innen auf, in einer Pflanze explodiere auch nichts. Die Technik setze nach wie vor auf Überdruck. Doch das Wasser werde in den runden Rohren schal und leblos. „Das Resultat: Herz-Rhythmus-Störungen, Gicht, Krebs, Arterienverkalkung. Bei uns hingegen bringt man das Wasser zum Wirbeln.“

Schlaf, verlangte Yanas Kopf, einfach nur Ruhe. Im Fahrstuhl war der Atem des Ingenieurs das einzige Geräusch. Unten im Lagerkeller stützte sie sich an einen Pfosten. Nicht alles an der Schweiz war Spitze. Der riesige Raum aus nacktem Beton, in dem die Luft stand, kam ihr vor wie das Vorzimmer zur Hölle. Der Chef der Logistik holte einen Filter aus Regal L7. Allerdings bevorzugte er die Filter in Regal L8. Filtrieren war die Kerndisziplin der Entkalkung.

Vic blieb strahlend. Die ganze Welt um ihn herum schien zu strahlen. Warum auch den Kopf hängen lassen? Er kannte keine Stimmungsschwankungen und keine Dämonen, die ihn plagten.

Zurück im Büro breitete er den Plan seines Neubaus aus. „Ich habe die Brache vor drei Jahren zwischen Fluss und Autobahn entdeckt. Damals war das ein Wüstenland, Yana, unvorstellbar, ein Trümmerfeld aus Schutt, Kies und Sand, voller Geflimmer, wie die Landschaft um dein Heimatdorf, stelle ich mir vor.“ An diesem verlorenen Ort, wohin keine Mutter sich mit ihrem Nachwuchs verirrte, in diesem Gefilde, durch das sich alte Schienen und Leitungen wanden, hin zum Güterhafen am Fluss, in diesem Niemandsland, wo ein paar Versprengte, Bemitleidenswerte in alten Bruchbuden hausten, Brieftauben züchteten und in verkommenen Gärten Hühner hielten, sei es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen, beim Anblick eines Kunstledersofas in der Kiesgrube, in die er auf der Heimfahrt von einem Calgex-Kunden aus lauter Not gefahren war, um kurz auszutreten: Diese Hölle verwandle ich in ein Paradies. Sieben Kuben schwebten ihm vor. In Kubus 1 wäre außer dem Geschäftssitz im Erdgeschoß die Sammlung Muff untergebracht, ein Juwel für die Stadt und für Kunstfreunde aus aller Welt. „Als Patin für dieses einzigartige Projekt habe ich die Königin ausgewählt. Der Architekt hat die Pläne bereits angepasst. In einem Jahr wird gefeiert, alles aus einem Guss, ein Tempel der Kunst – genau über dem jetzigen Tümpel. Wir bauen in die Tiefe statt in die Höhe und nutzen die Erdwärme.“ Vor Yanas Augen entstanden über- und unterirdische Arbeits- und Wohnoasen, Master Suiten, Bars und Gourmet-Restaurants, Konferenz- und Fitnessräume, Spa, und zu guter Letzt fand sie sich zuunterst in Kubus 1 in einem 700 Quadratmeter großen begehbaren Tresor wieder. Ein Bau wie gemalt, der über der Erde Züge eines gläsernen Ameisenhaufens annahm, voller glitzernder Tannennadeln. „Du übersetzt alles ins Russische, Yana. Die VIPs aus China und Indien sind ebenso willkommen.“

„Ich möchte, dass deine Kuben süß und krautig wachsen“, sagte sie. „Gehen wir jetzt zu dir, bitte? Ich brauche dringend frische Luft.“

3

Während sie im Stau standen, verdrückte Vic das mitgebrachte Sandwich. Yana beließ es bei einem Schluck Wasser. Im Schritttempo ging es endlich weiter. Als sie ankamen, war es stockfinster. Vom Lavendelsträußchen, das die Raumpflegerin auf den Nachttisch gestellt hatte, war ein schwacher Willkommensduft übrig geblieben. Die erste Nacht im neuen Land. Sie waren beide bis auf die Knochen müde. Kein Sex, aber viel Körperkontakt, viele kleine Zärtlichkeiten, in der Löffelstellung Bauch an Rücken auf dem breiten Riesenbett unter der weiten Decke einschlafen, himmlisch, eine Decke für sie beide, nur ein kleiner Spalt zwischen den beiden Matratzen, mehr wünschte sie sich für den Moment nicht. Sie rutschte auf seine Seite, drehte sich am Schluss, als er sich im Halbschlaf unweigerlich trennte, auf ihre noch nicht angewärmte. Ihre erotischen Bedürfnisse und ihre Sexualität würden sich Schritt für Schritt entfalten. So sauber und ordentlich wie in Küche und Wohnzimmer musste weiß Gott nicht immer alles ausschauen. Sie träumte von Liebe auf dem Küchentisch, von ganz verrückten Sachen und fand keinen Schlaf.

Der Wind rüttelte an den Läden, rastlos schepperte eine Flasche auf dem Balkonboden. Ist alles zu rasch gegangen, fragte sie sich, werde ich es schaffen hier? Als sie Victor vor einem Monat bei klirrender Januarkälte in Moskau kennengelernt hatte, wäre sie nicht im Traum auf den Gedanken gekommen, ihm in die Schweiz zu folgen. Victor hatte ein gebügeltes weißes Hemd mit goldenen Streifen getragen. Das mittellange braune Haar hatte er mit Gel so sorgfältig nach hinten gekämmt, dass es fast so aussah, als sei es mit der Kopfhaut verwachsen. Sie also sind meine Dolmetscherin?, hatte er gestrahlt. Dann kommt es gut! Umgehend hatte er ihr das Du angeboten und ein Bündel Papiere aus seiner Ledermappe hervorgeholt, auf der sie ein eingraviertes Monogramm mit Familienwappen entdeckte. Die Mappe musste mehr gekostet haben als ihre gesamten Möbel. Während der Besprechung aßen sie pikante Cracker und tranken Wodka. Im Nu vergingen zwei Stunden. Alkohol war sie nicht gewohnt. Sie war froh, dass sie Victor unterhaken durfte. Unvermitelt stand sie in ihren Billigkeidern auf einem dicken, sündhaft teuren Perserteppich, umrahmt von Spiegeln. Im Hotelzimmer bestellte er Champagner und Kaviar. Sie nahm einen Schluck, ergriff ihren Mantel und lief von Panik ergriffen aus dem Zimmer. Auf dem Weg zur nächsten Bushaltestelle hörte sie den Wind in den Leitungen rauschen. Eigentlich ist das ganz normal, redete sie sich gut zu. Wir verstehen uns. Wir reden vertraut miteinander. Er hat mich geküsst und heftig umarmt. Wir werden gut zusammenarbeiten, mehr nicht. Am andern Morgen stand er pünktlich vor dem Museum. Er wollte ihr unbedingt einen kleinen Kühlschrank kaufen, weil ihr uraltes Gerät ausgestiegen war. Dankend lehnte sie ab. Dann halt nicht, bald ziehst du ja ohnehin zu mir, witzelte er und zog sie in ein Restaurant. Beim Anblick der Speisekarte überfiel sie ein unglaublicher Hunger. Widerstand zwecklos, dachte sie, aufgeben, einfach annehmen, dass es da einer gut meint mit mir. Es war ein seltsames Gefühl, Häppchen zu essen, die sie einen Monatslohn gekostet hätten. Ob er bemerkt hatte, dass sie dieselben Turnschuhe trug wie am Vortag? Sie wagte kaum, die Stoffserviette zu berühren. Er aß, als ob er auf dem Teller etwas einsammle, um es im Mund in etwas Großes zu verwandeln. Hervorragend, sagte er und rollte das R auf der Zunge. Der Rotwein zum Hauptgang entlockte ihr spontane Lacher, denen im ganzen Körper kleine warme Wellen folgten. Zusammenreißen! Wie hätte er wissen sollen, dass das alles für sie Schwerstarbeit bedeutete? Ja nichts falsch machen, Mund schön schließen beim Kauen, Gabel und Messer im rechten Abstand halten, jeden Bissen zelebrieren. Sie aß mit gesenktem Kopf und nickte mit der Zeit nur noch mechanisch, um die Konzentration nicht zu verlieren. Auf dem Gang ins Museum war ihr abwechselnd nach Lachen und Weinen zumute. Leise fragte er sie: Liebst du mich? Mhhh, gab sie ebenso leise zurück. Nur nicht torkeln, sich ja nicht blamieren. Die Kuratorin überreichte ihnen den versprochenen Zwischenbericht. Vieles spreche für Rutzki. Es gebe kaum mehr Zweifel. Noch zwei, drei Tage Geduld, Herr Muff! Als das Taxi spätnachts vor ihrem Wohnblock stoppte, drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange – und husch war sie aus dem Wagen. Im Bett berührte sie ihre Brüste unter dem Nachthemd. Sofort wurden die Spitzen hart. Über den glatten Bauch wanderten die Hände zur Scham. Unvorstellbar, dass Victor sie dort je berühren würde. Noch hatte sie keine Ahnung von seinem Innenleben. Ihre Erfahrung mit dem männlichen Körper beschränkte sich auf Juri, auf das mechanische, fast manische Befriedigen des Elementaren. Während der Zeit am Gymnasium war ihr alles an ihr grässlich vorgekommen, Stirn, Kinn, die zu weichen Lippen. Sie hatte sich selbst gehasst, bis Juri gekommen war und ihre Sicherungen durchbrannten. Juri war keinen Schritt mehr von ihrer Seite gewichen. Ihr war elend und bang – und sie heirateten. Erstmals hatte sie den Alleingang gewagt. Ihre Zwillingsschwester war klüger gewesen. War das die Moral von der Geschichte? Allein schaffst du es nicht? Nein! Seit der Scheidung war sie Juri für immer los. Ihr Ex-Mann war ein Versager gewesen, ein Alkoholiker. Als sie vor einem Jahr in Odessa vors Gerichtsgebäude getreten war, hatte sie ihr Haar zu einem Zopf geflochten, um stark zu sein. Er hatte seine Wirkung vor dem Richter nicht verfehlt. Danke Großmutter! Jeden Morgen hatte ihre Babuschka sie als kleines Kind vor dem Frühstück gekämmt und ihr den Zopf so gestrafft, dass ihre Nasenflügel sich weiteten, während die Augen sich zu Schlitzen verengten. Jahrelang waren ihr Zöpfe deswegen verhasst. Am Tag der Scheidung hatten sie ihr das Gefühl gegeben, einmal ein Zuhause gehabt zu haben und ganz lebendig zu sein.

Irgendwann musste sich doch eingedöst sein. Am nassen Fenster klebten ein paar verwehte welke Blätter, als sie frühmorgens aufwachte. Victor schlief tief auf seiner Seite des Bettes. Die Decke hatte er unters Kinn gezogen. Sie streichelte sein Haar, an dem das Gel vom Vortag noch klebte, und zog seine Hand sachte auf ihren Bauch. Er tat keinen Wank. Sie interpretierte es als Abwehr. Sofort verkrampfte sie sich. Sie selbst hatte keinen körperlichen Bezug zu sich. Als kleines Kind hatte ihr alles gefehlt, was über die notwendige materielle Versorgung hinausging. Kurz vor ihrem vierten Geburtstag waren die Eltern nach Odessa gezogen, um sich dort mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser zu halten, und hatten sie und ihre Schwester Großmutter überlassen, die aus ihnen Akademikerinnen machen sollte. Ein, zwei Jahre beschränkte sich der Kontakt zu Mutter und Vater auf Feiertagsbesuche und Notfälle. Für Zärtlichkeiten war kein Platz. Irgendwann verloren Ewa und sie den Bezug zu ihnen völlig.

Vics Handy klingelte. Sofort war der Mann an ihrer Seite hellwach. „Ich habe dich soeben in der Zeitung gesehen“, hörte sie seine Mutter sagen, „neben deiner Statue, darüber die Schweizer Fahne und die russische.“ Was auch immer passierte und wohin es sie mit Victor verschlug, an dieses tägliche Ritual würde sie sich gewöhnen müssen. Eine ganze Weile redete Mutter auf Victor ein, ohne dass er ein Wort sagte. Nein, meinte er schließlich energisch, die Kirchenpflege liege nicht auch noch drin. Yana schmiegte sich an ihn. Wer die Wärme liebte, musste den Rauch dulden.

„Ich werde als Lehrerin arbeiten, um dir nicht zur Last zu fallen“, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Er zündete die Nachttischlampe an. „Vergiss es, Yana, wir zwei kümmern uns um die Kunst – und um Calgex. Wir schenken dem Osten gesundes, entkalktes Wasser und dem Westen die kraftvollen Werke des Ostens!“ Sein Gesicht leuchtete. Sie liebte ihn für dieses Strahlen. Aber sie verstand nichts von Kunst und noch weniger von Kalk und am allerwenigsten von den Menschen. Ihren Schülern würde es gleich ergehen. Genau darum würden sie zusammenpassen. Großmutter hatte gesagt, sie sei außen still und innen ein Orkan. Daran musste Vic sich gewöhnen. Sie spürte ihre Brust auf seiner, warm, weich, Haut an Haut. Er lag unter ihr, biss auf seinen Lippen herum, kicherte, als sie mit ihrer Zunge unter seine Achsel fuhr. „Wir müssen aufstehen, Schatz, wir sind zum Brunch angemeldet!“ Er rappelte sich auf und verzog den Mund zu einem munteren Lächeln. „Es gibt einen Welcome-Brunch in der Kantine.“ Ein Schweißtropfen löste sich aus ihrem Haaransatz und kullerte mit einem winzigen Geräusch auf ihre Augenbraue. Am liebsten wäre sie vom Erdboden verschwunden. Warum hatte er sie im Museum als Geschenk bezeichnet und gesagt, er glaube an Wunder? Sie war definitiv die falsche Frau.

Im Badezimmer schaute er ihr im Spiegel aus dem Augenwinkel zu, wie das Wasser über ihre Brustwarzen tropfte. Schützend kreuzte sie die Arme über den Brüsten. Tief durchatmen. Sie mussten sich behutsam aneinander gewöhnen. Nur nichts überstürzen, ja nichts kaputt machen. Er drückte sie lange an sich. „Das war schön“, sagte sie. Ein feierliches Gefühl überkam sie. Die Wolken hatten sich verzogen.