Gerd Stiefel
Via Bologna
Ein Toter in Hohenzollern
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1. Auflage 2018
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Louis_Duchanoy..jpg und
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hohenzollern_Castle_photocromca._1895.jpg
Kartendesign: Simone Hölsch unter Verwendung von © Fiodorov Alexey/Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-5602-2
Für meine Jungs Maximilian und Fabian
Für meine Eltern
Für Jasmina
»Mit feierlicher Trauer und tiefem Mitgefühl betreten wir diesen Friedhof, denn wir haben die entseelte Hülle eines Mitchristen hierhergebracht, welcher unter den frevelnden Händen eines ruchlosen Totschlägers sein Leben endete.«
Bitz, 4. Februar, im Jahre des Herrn 1843
In der Nacht auf den 6. September 1893 wurde Friedrich Stiefel auf dem Nachhauseweg von Burladingen zu seinem Hof auf der Kuche grausamst ermordet. Ein großer Stein, aufgestellt vom Schwäbischen Albverein, am Parkplatz bei der Ziegelhütte, erinnert daran. Seine Frau Karoline Stiefel und zwölf Kinder blieben ohne Ernährer zurück. Der eigene Hof wurde zwangsversteigert und Karoline und ihre Kinder vom Hof gejagt. Sie entgingen nur knapp dem Bettelstab. Karoline fand mit den Kindern Aufnahme in Bietenhausen. Die Familie Stiefel bildete den Grundstock für das heute noch sehr erfolgreiche und menschenfreundliche Diasporahaus in Bietenhausen. Die Geschichte von Karoline und Friedrich Stiefel ist erzählt. Der Roman »Stiefels Stein« befasst sich damit.
Aber auch der Großvater von Friedrich Johannes Stiefel wurde 50 Jahre zuvor auf dem Nachhauseweg zu seinem Hof auf die Kuche brutal getötet. Bisherige Recherchen gingen davon aus, dass es einen Tatverdacht gab und nach dem vermeintlichen Mörder erfolglos gesucht wurde. Man vermutete ihn in Amerika und wollte ihn sogar 50 Jahre später dort gesehen haben. Ein verwitterter Stein erinnert noch heute an diese Tat. Tatsächlich gelang dem Täter die Flucht. Aber entgegen der bisherigen Erkenntnisse landete er nicht in Amerika. Davon handelt der nachfolgende Roman.
Ein kleiner Junge saß gemütlich auf dem Schoß seines Patenonkels Walter und fragte: »Du, sag mal, der Onkel Hugo erzählt gern von unseren Vorfahren auf der Kuche. Er erzählt mir jedes Mal, dass der Urgroßvater Friedrich und dessen Großvater Johannes ermordet worden sind. Der Onkel Adolf lacht ihn jedes Mal aus und sagt zu mir, der Onkel Hugo habe keine Ahnung. Es sei nur der Urgroßvater ermordet worden, und die Familie sei dann ins Armenhaus oder so ähnlich gekommen. Kennst du die Geschichte und weißt du, welche Geschichte denn nun stimmt? Hat der Onkel Hugo oder der Onkel Adolf recht?«
»Die Geschichte kenne ich auch nicht so genau. Es gibt diese zwei Versionen und die der Großmutter, die mit ihren zwölf Kindern wohl im Armenhaus in Bietenhausen gelandet ist. Eines der Kinder war dein Großvater Albert. Der lebt aber auch nicht mehr. Den können wir leider auch nicht mehr fragen.«
»Aber von der Kuche sind wir?«, wollte der neugierige Junge von seinem Patenonkel noch wissen.
»Ja, dort sind wir her. Dort hatten wir einen Hof. Dein Opa hat hier später in Onstmettingen eine Familie gegründet und ein Haus gekauft, in dem wir heute noch leben. Wie wir von der Kuche hierhergekommen sind, das kann ich dir auch nicht genau sagen.«
»Aber die Steine, von denen Onkel Hugo erzählt. Gibt es die denn?«, fragte der Junge weiter.
»Ich weiß es nicht. Ich war schon lange nicht mehr in Hermannsdorf. Vielleicht fahren wir mal zusammen dorthin und suchen den oder die Steine. Einverstanden?«, versuchte der Patenonkel die bohrenden Fragen zu vertagen.
»Aber das ist versprochen«, rückversicherte sich der neugierige Junge noch bei seinem Onkel.
Es vergingen Jahre, und der kleine Junge hatte die Geschichten schon fast vergessen. Ein Besuch in Hermannsdorf mit seinem Onkel erlebte der kleine Junge nicht. Als der kleine Junge aber erwachsen war kamen die Fragen zurück. Wo sind wir her? Wer sind meine Vorfahren? Was ist mit meinem Urgroßvater passiert? Ist überhaupt etwas mit ihm passiert? Stimmte das mit dem oder den Steinen oder hat mir mein Patenonkel einen »Bären« aufgebunden? »Hast du denn alles vergessen? Bist du denn gar nicht mehr neugierig?«, fragte das kleine Kind den erwachsenen Mann.
Der Mann und der kleine Junge in ihm machten sich auf den Weg. Sie fanden die Steine. Einen für Johannes Stiefel am Edelberg bei Hermannsdorf und einen für Friedrich Stiefel in der Nähe der Ziegelhütte bei Burladingen. Beides Mahnmale grausiger Taten im 19. Jahrhundert.
Wieder vergingen Jahre. Die Steine hatten die Neugier des Mannes geweckt und er fand dazu viele Geschichten. Zwischen den Steinen, aber auch vor und vor allem hinter den Steinen.
Die kleine hohenzollerische Gemeinde war 1804 durch ein Urbarium des Fürsten Hermann Friedrich Otto von Hohenzollern-Hechingen entstanden. Der Fürst brauchte Geld und neues Blut aus Württemberg. Sein bisheriges Jagdgebiet um seine Domäne – dem Hermannshof – eignete sich dafür, meinte zumindest sein Hofrat Ziegler und schlug dem Fürsten vor, dort großzügige Lehen auszugeben. 20 evangelische Siedler aus dem Unterland rund um Kirchheim/Teck hatten sich damals gegen 70 Bewerber durchgesetzt, und 1843 lebten sie schon in der zweiten und dritten Generation. Einige der Siedler hatten schon wieder aufgegeben und Hermannsdorf den Rücken gekehrt. Die Alb trotzte dem ungeheuren bäuerlichen Einsatz und ließ sich nicht immer ausreichend Getreide, Kartoffeln und andere Lebensgüter abringen. 1804 waren die 20 Siedler aus dem evangelischen Württemberg voll Mut und Tatendrang nach Hermannsdorf gezogen, hatten sich beim Fürsten eingekauft, Häuser gebaut und es selbst mit Weinanbau versucht und scheiterten – nicht alle, aber viele. Johannes Stiefel war geblieben. Der 62-Jährige war mit seinem Vater Kaspar Stiefel mit den ersten Siedlern nach Hermannsdorf gekommen und hatte sich auf der Kuche, einem Weiler mit damals sechs Höfen, niedergelassen. Er hatte in den letzten Jahrzehnten viel erlebt und manche Not schon hinter sich gebracht. Sein Weib Maria hatte ihm drei Söhne geschenkt, den Johannes, den Christian und den Jonathan. Nach den ersten schweren Jahren der Ansiedlung aus dem Unterland auf die Rauhe Alb, den ersten Niederlagen im Anbau, kam 1816/17 noch die große Hungersnot dazu. Was Johannes Stiefel und alle auf der Kuche nicht wussten, war, dass im weit entfernten und damals für die meisten Siedler unbekannten Indonesien der Vulkan Tambora ausgebrochen war, was in den zwei nächsten Jahren zu Missernten und großer Hungersnot überall und ganz besonders auf der Schwäbischen Alb führte. Die meisten Siedler gaben auf und ersuchten den Fürsten um ihre Entlassung. Auch Johannes’ Vater Kaspar Stiefel hatte überschuldet aufgegeben und die Kuche in Richtung Bessarabien verlassen und sich später dort in Teplitz niedergelassen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Zurück zu Johannes. Er hatte das alles hinter sich und seinen Hof soweit geordnet. Er war 62 Jahre alt. Er hatte Vieh, genug Vorrat angelegt, um über den Winter zu kommen. Seine drei Söhne waren erwachsen, und er konnte sich langsam darauf vorbereiten, den Hof in jüngere Hände zu legen. Wie es Brauch war, sollte der Älteste den Hof bekommen. Insofern war Johannes mit sich und seinem Leben zufrieden.
»Halt dei Gosch – du Seckel, und zahl no einen«, brüllte der Jakob in die Runde hinein. Der Egle hatte den Johannes Stiefel gemeint, weil der doch Geld im Sack hatte.
Im »Waldhorn« in Hermannsdorf hatte sich die übliche Runde getroffen, um den Dienstagabend nach getaner Arbeit ausklingen zu lassen und ein paar Schoppen Most oder Bier zu heben. Es war ein kalter Winterabend, die Männer hatten Zeit, und der eine oder andere war auch etwas übermütig. Der Jakob war einer von ihnen und hieß nur der »Lange Rote«, war er doch mit seinen 188 cm Körperlänge den anderen mindestens um eine Kopflänge überlegen. Jakob war jung, frech und voll Tatendrang. Er stammte ursprünglich aus Burgfelden bei Balingen, war aber von dort schon in jungen Jahren aufgebrochen und verdingte sich als Knecht beim Strobel, der den Fürstlichen Domänenhof gepachtet hatte.
»Halt doch du dei Gosch und schaff amol was rechts und sei net so frech zu mir – du Seicher«, entgegnete der Stiefel dem Jakob, der mit seinen 26 Jahren voll im Saft stand und verschmitzt in sich hineingrinste.
»Was hoscht denn heut verdient bei deim Viehhandel, Stiefel. Hot sichs glohnt, bis nach Hechingen zum laufa, mit dera alte Kuah? Aber do hend ihr zwei jo zsammepasst. Du bischt ja au scho alt gnug zum Sterba«, setzte der »Lange Rote« noch einen drauf, um den Stiefel zu ärgern. Klar wollte der Junge den Alten einfach nur provozieren, aber natürlich war er auch neugierig, was der Stiefel so im Geldbeutel hatte. Schließlich könnte er noch den einen oder anderen Schoppen vertragen, also zupfte er am Geduldsfaden des alten Mannes.
Doch der konterte: »Wenn i so dumm wär wie du, no würd e mei Gosch halta. Du bischt an Knecht und i an freier Bauer und deshalb han i Geld und du nix als a große Gosch.«
Der Jakob zuckte, wollte gerade aufstehen, um seinen Unmut gegenüber dem Stiefel zum Ausdruck zu bringen, wurde aber von seinem Bauern, dem Strobel, zurückgepfiffen, der ebenfalls mit weiteren Gästen in der Runde saß.
»Hinsitzen und Maul halta. Mir trinket no eins und dann isch alles wieder guat«, beruhigte der Strobel seinen Knecht, der sich aber schon nicht mehr im Zaum halten ließ, wütend aufstand, seinen Mantel schnappte und wutschnaubend die Wirtschaft verließ.
»Hoscht zahlt, oder loscht wieder anschreiba, du Taugenichts«, schrie der Stiefel dem »Langen Roten« hinterher.
Der hatte aber schon die warme Stube hinter sich und stand wutschnaubend in der Winterkälte und überlegte sich, wie er dem Stiefel das heimzahlen konnte. »Schau mer mol, was heut no passiert, den krieg i scho, den alte Sack!«, grämte sich der Jakob Egle und dachte nach, was er mit dem heutigen Abend noch anfangen konnte.
»Fertig« – die letzte Kuh war gemolken und Eva-Maria, Dienstmagd beim Strobel, wollte noch kurz frische Luft schnappen. Sie war seit heute Morgen um 5.00 Uhr auf den Beinen und schlenderte noch ein wenig in Richtung der Kuche. Es war kalt und schneite ein wenig. Der Winter hatte die Schwäbische Alb fest im Griff. Es lag mehr als ein Meter Schnee, doch auf den Wegen zwischen den Häusern konnte man gehen. Es war notdürftig geräumt, sodass Mensch, Vieh und Schlitten bewegt werden konnten. Viel war eh nicht mehr zu sehen. Es war nach 7.00 Uhr abends, und die Dunkelheit wurde nur durch den gelegentlichen Mondschein durch die löcherige Wolkendecke unterbrochen. Eva-Maria zog ihren braunen Kittel etwas enger an sich, um die Kälte, die langsam einsickern wollte, auszusperren, als unvermittelt ein Riese vor ihr stand.
»Na, Maria, wo gehst du denn noch so alleine hin?«, fragte der »Lange Rote« mit einem sarkastischen Unterton.
»Ich brauche noch ein wenig frische Luft, ich war den ganzen Tag im Stall. Aber warum bist du hier? Normal bist du doch um diese Zeit gerne im Wirtshaus und säufst dich voll«, konterte Eva-Maria, die den »Langen Roten« nicht so gern mochte, weil er so grobschlächtig war und ihr immer wieder an die Wäsche wollte.
»Heute nicht, heute bist du dran – oder?«
»Johann, sei so gut und schreib mir die Rechnung, ich mach mich auf den Weg.«
Der Stiefel bezahlte beim Waldhornwirt sein Essen und seine zwei Schoppen Most und stand schon draußen bei seinem Schlitten. Das Vesper hatte er sich heute verdient. Er war mit dem Schlitten und einer Kuh nach Hechingen auf den Viehmarkt gefahren, hatte die Kuh verkauft und war dafür den ganzen Tag unterwegs. Er schnalzte seinem braunen Ackergaul, der brav vor der Wirtschaft gewartet hatte, und fuhr mit dem Schlitten langsam und gemächlich in Richtung Kuche.
Plötzlich hörte Johannes Schreie und bremste den Schlitten kurz ein. »Brr – Brauner, mach langsam, ich höre doch etwas.«
Johannes lauschte in die Nacht und konnte tatsächlich Schreie hören.
»Hilfe, Hilfe, lass mich, bitte lass mich!«
Genau zuordnen konnte Johannes den Inhalt zwar nicht, aber er war sich sicher, dass eine Frauenstimme um Hilfe schrie, und er war sich sicher, dass die Stimme aus dem Wald kam, und vermutete sie irgendwo beim Edelberg, so knapp 300 Meter von seinem jetzigen Standort entfernt. Johannes gab dem Braunen die Zügel frei. »Hüh, Brauner, hüh, lauf schneller, Brauner, lauf.«
Der Edelberg und die Schreie kamen rasch näher.
»Jetzt stell dich doch nicht so an, Eva-Maria, ich will doch nur ein wenig Spaß. Du magst das doch auch, den alten Strobel hast du doch auch schon dran gelassen.« Der »Lange Rote« hatte die Eva-Maria mit seiner rechten Hand im Genick gepackt und sie nach vorne gebeugt. Den Rock hatte er ihr schon zuvor nach vorne über den gebeugten Rücken aufgeschlagen, sodass Eva-Maria ihm ihr nacktes Gesäß entgegenstreckte. Der »Lange Rote« nestelte an seiner Hose, als plötzlich und unvermittelt der Stiefel neben ihm stand.
»Lass die Eva-Maria in Ruhe, wenn sie nichts von dir will, sonst kriegst du es mit mir zu tun, du Taugenichts.«
Der »Lange Rote« erschrak für einen kurzen Moment und ließ das Mädchen los.
Eva-Maria nutzte ihre Chance und rannte sofort so schnell sie konnte in Richtung Hermannsdorf los und ließ die unheimliche Szenerie hinter sich.
Übrig blieben Jakob Egle, der Braune, der den Stiefel nach Hause bringen sollte, und Johannes Stiefel.
Johannes war klar, dass er einem Riesen gegenüber stand, der mehr als zweimal so jung war wie er, und dass mit dem Egle nicht zu spaßen war. Außerdem war ja klar, dass der Egle noch sauer war. Schließlich hatten beide im »Waldhorn« ganz schön gestritten, und der Egle war voller Wut davongelaufen.
»Was bist du nur für ein schlechter Mensch?«, war der Einstieg in eine vorsichtige Standpauke, die der Stiefel dem »Langen Roten« jetzt machen wollte. Schließlich hatte er den Egle erwischt, wie er gerade die Eva-Maria mit Gewalt nehmen wollte, und das konnte er ja nicht so durchgehen lassen. »Du kannst doch mit den Menschen nicht machen, was du willst. Hast du denn gar keinen Anstand im Leib?«
Viel weiter kam Johannes Stiefel nicht mehr. Der »Lange Rote« holte aus und schlug dem Stiefel mit der rechten Faust mitten ins Gesicht. Johannes taumelte und fiel in Richtung Schlitten, rappelte sich auf und wollte sich wehren. Er hatte mit dem Schlag nicht gerechnet. Kaum stand er, war der Jakob Egle schon wieder über ihm und versetzte ihm einen zweiten Schlag. Johannes fiel rücklings ins Geschirr zwischen seinem Ross und dem Schlitten. Er drehte sich um, tastete nach etwas, womit er sich wehren konnte, und bekam den Deichselnagel in seine Finger. Er zog daran, bekam ihn zu fassen und schlug gegen den Angreifer.
Der war aber deutlich jünger, schneller und weitaus geübter im Schlägern als der alte Stiefel. Kaum sah er den Deichselnagel auf sich zukommen, wehrte er den ungenau geführten Schlag ab, entriss dem Stiefel den Nagel und rammte den Nagel mit voller Wucht dem Stiefel ins Gesicht, das ihn zuerst ungläubig und dann leblos anstarrte. Die Wucht des Schlages hatte die Schädeldecke platzen lassen. Johannes Stiefel war sofort tot. Der Schnee unter dem Kopf des Opfers färbte sich rasch dunkelrot. Jakob Egle blickte sich um. Die Eva-Maria war nicht mehr zu sehen. Der Braune stand ruhig da. Egle band den Braunen am nächstbesten Baum an, schaute sich gründlich um und ging dann in Richtung Hermannsdorf davon. Den Deichselnagel, den Stiefel und alles, was sonst noch dort lag, ließ er unbeachtet zurück.
»Was machst du denn noch so spät draußen und wie siehst du denn aus?«, fragte der Strobel, der das »Waldhorn« auch verlassen hatte und gerade vor seiner Haustür stand, als die Eva-Maria, eine seiner Dienstmägde, angelaufen kam.
Eva-Maria stand zitternd und verschwitzt vor ihrem Herrn, der sie verwundert anschaute.
»Was ist denn los, Eva-Maria, hat es irgendetwas gegeben?«, setzte der Strobel fort.
Ihm war sofort klar, dass es mit den Knechten zu tun hatte. Strobel führte den größten Hof, die fürstliche Domäne, und war es gewohnt, dass es zwischen den Mägden und Knechten immer mal wieder Ärger gab. Schließlich begegneten sich hier Mann und Frau. Solange es die Arbeit nicht beeinflusste und niemand klagte, ließ der Strobel die Dinge meistens auf sich beruhen. Er selbst war ordentlich verheiratet und besuchte regelmäßig den sonntäglichen Gottesdienst in Bitz, hatte aber auch schon den einen oder anderen Ausrutscher hinter sich. Sein Weib war alt, und er war der Herr über viele, und was konnte es schon schaden, wenn das eine oder andere junge Ding ihm im Heu gelegentlich ein wenig Freude bereitete?
»Nichts, Herr, ich war ein wenig frische Luft schnappen und bin schnell nach Hause gelaufen, weil es mir kalt wurde«, log Eva-Maria den Strobel an, wohl wissend, dass es besser war, ihm nicht die Wahrheit zu sagen. Er würde sowieso nichts unternehmen. Der »Lange Rote« wollte sie von hinten nehmen, aber bevor es dazu kam, tauchte der Stiefel auf und sie konnte davonlaufen. Was sollte sie denn da noch sagen? Hätte der Strobel ihr geglaubt, hätte er ihr gesagt, dass doch nichts passiert sei, und damit hatte er ja auch recht. Dass sie sich in Zukunft vor dem »Langen Roten« aber noch mehr in Acht nehmen musste, war der Eva-Maria bewusst. »Nein, es war nichts. Außer, dass ich ein wenig draußen war.«
»Dann ist es ja gut«, setzte der Strobel die Unterhaltung fort, »gehe jetzt auf deine Kammer, sonst kommst du morgen zum Melken nicht rechtzeitig raus. Schlaf gut, Eva-Maria. Gute Nacht«, beendete der Strobel das Gespräch mit seiner Magd und trottete auch langsam in Richtung seines Schlafgemachs, wo seine Frau schon friedlich schlummerte.
»Scheiße, jetzt ist der Stiefel verreckt«, sprach der Egle zu sich selbst. »So ein Seckel, warum muss der auch überall seine Nase dazwischen halten. Selbst schuld, der alte Sack. Wäre er einfach mal nur nach Hause auf die Kuche gefahren und hätte sich zu seinem alten Weib gelegt, als mir mein Vergnügen mit der Eva-Maria kaputtzumachen.«
Jakob Egle hatte den Tatort verlassen und ging wutschnaubend auf dem Sträßle in Richtung Hermannsdorf zurück. Den Alten hatte er liegen lassen. Dem konnte er eh nicht mehr helfen. »Was wohl mit der Eva-Maria ist?«, fiel dem Mörder ein. Schließlich konnte sie ihn verraten. »Aber nein, den Mord hat sie ja nicht beobachtet«, sagte er beruhigend zu sich selbst, dabei fiel ihm gleich wieder ein, dass da draußen, wo er versucht hatte, die Eva-Maria zu nehmen, jetzt eine Leiche lag. Sollte er noch mal zurückkehren und den Stiefel entsorgen? Aber wohin? Es wurde wahrscheinlich frühestens morgen früh nach ihm gesucht, und bis dahin musste er eine Lösung finden. Schließlich konnte er dem Strobel sagen, dass der Stiefel ihn angegriffen hatte. Der Stiefel war ja schon im »Waldhorn« entsprechend giftig gewesen. Aber warum war er, nachdem er die Wirtschaft verlassen hatte, zum Edelberg gegangen? Ein ganzes Stück von Hermannsdorf weg. Wie sollte er erklären, was ihn dazu brachte, dorthin zu gehen. Also, er musste in jedem Fall mit Eva-Maria sprechen. Sie war der Schlüssel für sein Alibi, dachte der junge Egle so bei sich.
Im Fürstlichen Domänenhof war Ruhe eingekehrt. Die Menschen in Hermannsdorf hatten sich schlafen gelegt. Das Dörflein auf der Schwäbischen Alb schlummerte im Winterkleid vor sich hin und wartete auf einen neuen Tag.
Eva-Maria zog sich gerade aus und legte ihre Kleider auf den alten Holzstuhl neben ihrem Bett. Es war kalt in ihrer Kammer, die sie mit der Lisbeth, einer jungen Frau aus dem Unterland, teilen musste. Aber da war sie schon nicht so allein, und wenn es mal wieder so richtig kalt war, konnten sie zusammen unter die Bettdecke schlüpfen und sich gegenseitig wärmen. Die Lisbeth schlief schon oder zumindest tat sie so.
»Lisbeth, schläfst du schon?«, flüsterte Eva-Maria in Richtung von Lisbeth, von wo sie nur ein »Hmh« vernahm. »Lisbeth, darf ich zu dir kommen, mir ist danach, und ich will jetzt nicht allein im Bett schlafen?«
Lisbeth antwortete nicht, drehte sich aber in Richtung der Eva-Maria, die jetzt nackt vor ihr stand und gerade ihr weißes Nachthemd überstreifen wollte.
Ja, die Eva-Maria war schon ganz gut gebaut, dachte die Lisbeth so bei sich. Die Eva-Maria war eine Rote, denn sie hatte langes rotes Haar, das meistens zu einem Zopf gebunden war, der frech über ihre Schultern wippte, und sie hatte zwei mächtige Brüste, die allen Mannsbildern rund um Hermannsdorf den Kopf verdrehten. Sie war ein richtiges Weib, ganz im Gegensatz zu ihr selbst. Sie hatte bei allen Gaben vom lieben Gott bei ihrer Menschwerdung vergessen »hier« zu schreien, aber sie mochte die Eva-Maria doch und machte ihr Platz in ihrem Bett.
»Komm, schlüpf rein, du gibst eh keine Ruhe, bis du hast, was du willst, also komm und lass mich schlafen«, antwortete Lisbeth und hatte die Bettdecke schon zurückgeschlagen, drehte der Eva-Maria den Rücken zu und wollte wieder schlafen.
»Lisbeth, hör mir zu. Ich muss dir was erzählen. Der »Lange Rote«, der Jakob, wollte mir an die Wäsche und ist vom Stiefel gestellt worden. Ich bin einfach weggelaufen. Der Egle ist so ein richtig ekelhaftes Schwein. Kein Kuss, keine Zärtlichkeiten, der wollte mich einfach nur von hinten nehmen. Hat er es bei dir auch schon probiert?« Eva-Maria war noch sichtlich angeschlagen von dem, was sie in der beginnenden Nacht am Edelberg erlebt hatte, und wollte mit jemandem reden.
»Nein«, antworte Lisbeth, »aber mit der Tochter vom Waldhornwirt hat er auch schon was gehabt, und die Sofie und die Katharina haben sich beim Strobel auch schon über den Egle beschwert. Aber gebracht hat’s nichts. Du weißt ja, wie die Mannsbilder sind. Bei so was halten die zusammen und zum Schluss heißt es jedes Mal, ›jetzt stell dich nicht so an‹«, fasste Lisbeth ihre bisherigen Erfahrungen und Weisheiten, die sie da und dort aufgeschnappt hatte, zusammen.
Aber das war Eva-Maria egal, Hauptsache sie hatte jemanden zum Schwätzen, und die Lisbeth war dafür auf jeden Fall gut genug. So schlimm hätte sie den »Langen Roten« ja auch nicht empfunden, schließlich war er ein kräftiger Kerl, hätte er es anders wollen und vor allem nicht so. »Auf jeden Fall ist der Egle ein Schwein«, fasste Eva-Maria ihre Erfahrungen des Abends abschließend zusammen und schlief ein.
Lisbeth wunderte sich immer wieder, wie schnell die Eva-Maria einschlafen konnte, tat es ihr aber heute Nacht nach und entschwand in ihre Träume.
Der Egle war inzwischen beim Fürstlichen Domänenhof angekommen und überlegte, was er jetzt tun sollte. Er musste verschwinden, aber wohin und vor allem wohin heute Nacht. Sein ganzes Hab und Gut, das er leicht in einem Bündel zusammenschnüren konnte, und ein wenig Geld waren in seiner Kammer. Dort lagen aber außer ihm der Martin und der Georg, und wenn er jetzt abhauen würde, würden es doch alle mitbekommen. Außerdem war er müde. Er hatte im »Waldhorn« ein paar Schoppen getrunken, es war spät, und er wollte jetzt schlafen. Dass er den Stiefel getötet hatte, beschäftigte ihn schon nicht mehr so sehr, vielmehr der Umstand, ob man es ihm anlasten könnte. Aber auch das wollte er auf den nächsten Tag verschieben. Morgen würde er dann weiter sehen.
»Gib endlich Ruhe, ich will schlafen«, raunzte der Martin dem Jakob Egle entgegen, als er die gemeinsame Schlafkammer betrat.
Der Egle zog sich stillschweigend aus, legte sich hin und schlief ein.
Am nächsten Morgen ging alles seinen gewohnten Gang. Im Fürstlichen Domänenhof war man schon recht früh aufgestanden, hatte ein karges Frühstück zu sich genommen und arbeitete jetzt miteinander im Stall. Bauer, Knecht, Mägde und der Rest des Gesindes.
Auf der Kuche, auf dem Hof von Johannes Stiefel, hatten sich schon Sorgen breitgemacht, da der Vater in der Nacht nicht nach Hause gekommen war.
»Mutter, wir gehen nach der Stallarbeit nach Hermannsdorf und schauen mal nach dem Vater. Bestimmt hat er beim Bechthold im ›Waldhorn‹ übernachtet, weil er so spät nicht mehr hier raus laufen wollte«, war sich der Älteste, der Johannes, sicher. Schließlich kam es nicht das erste Mal vor, dass der Vater in der Wirtschaft versumpfte und irgendwo im Heu seinen Rausch ausschlief.
Die Maria sah das genauso. Sie hatte in der Nacht zwar unruhig geschlafen, hatte sich aber schon gedacht, dass ihr Mann nach dem langen Weg nach Hechingen und zurück noch unterwegs einkehren würde. Also wird er schon heimkommen. »Ja, Johannes, vielleicht ist er bis dorthin auch schon wieder da. Wir werden sehen«, antwortete Maria ihrem Sohn und wandte sich wieder ihrer Hausarbeit zu.
Der Strobel war auch schon auf und wollte heute Morgen die Gelegenheit nutzen, um dem Egle mal wieder die Meinung zu geigen. Schließlich hatte er gestern mit ein paar Bauern im »Waldhorn« gesessen, und der Egle war gegenüber dem alten Stiefel doch deutlich zu frech gewesen. Jugend hin, Jugend her. Außerdem war die Eva-Maria gestern Nacht aufgelöst nach Hause gekommen, und das hatte sicher auch mit diesem Unruhestifter zu tun. Wenn er nicht spurte, würde er ihn rausschmeißen, andererseits war er ein starker, zäher Bursche, der, richtig geführt, auch ordentlich zupacken konnte.
Der Strobel war im Stall angekommen und sah den Egle, wie er gerade den langen Boden im Stall ausmistete und den Mist in Richtung Ausgang beförderte. »He, Jakob, auf ein Wort, komm mal her!«, rief der Strobel dem Egle zu.
Der zuckte zusammen und drehte sich zum Strobel um, der zwischenzeitlich fast neben ihm stand. »Was gibt’s, Herr, was kann ich für Sie tun?«, antwortete der Egle pflichtbewusst, wohl wissend, dass seinem Bauern der gestrige Auftritt im »Waldhorn« nicht gefallen hatte.
»So ein freches Maulwerk gegenüber einem alten Bauern hier im Dorf will ich von dir nicht mehr erleben, Jakob, was hast du dir denn dabei gedacht?«, fragte der Strobel den Egle.
»Nichts, und das war falsch von mir, entschuldigen Sie bitte. Ich werde mich auch noch bei dem Stiefel entschuldigen, wenn ich ihn wiedersehe«, antwortete der Egle, den offensichtlich das schlechte Gewissen plagte oder der bereits kalkulierte, wie er seine Tat verdecken konnte.
In jedem Fall war für Strobel das Gespräch beendet. Schließlich hatte der Junge sein Verhalten bereut, und das mit den Mägden, na ja, das wollte er dann wieder aufgreifen, wenn er noch einmal etwas vom »Langen Roten« und seinen Eskapaden oder Aufdringlichkeiten hören sollte. Schließlich sticht jeden einmal der Hafer. Das wusste der Strobel aus eigener Erfahrung nur zu gut.
»Vater, Vater, was ist mit dir, wach auf«, schrie Johannes seinen toten Vater an.
Johannes hatte sich, wie angekündigt, von der Kuche auf den Weg gemacht und schon, nachdem er am Edelberg angekommen war und abwärts in Richtung Hermannsdorf lief, den Braunen und den Schlitten entdeckt. Allerdings stand der Schlitten auf dem Weg, und der Braune war etwas weiter weg am Baum angebunden, was beim ersten Blick auf die Szenerie dem Johannes nicht schlüssig erschien. Kurze Zeit später stand er vor dem Leichnam seines Vaters. Es war ein grauenvoller Anblick. Sein Körper lag gekrümmt am Boden, der Schnee, auf dem sein Vater lag, war voller Blut, die Augen waren weit aufgerissen und ließen nur ansatzweise erahnen, wie schrecklich der Vater ums Leben gekommen war.
Was war hier passiert und was wollte, wer auch immer, von seinem alten Vater? Die Stiefels hatten gerade so viel, dass sie überlebten.
Johannes durchsuchte die Kleider seines Vaters, denn er wusste, dass der Vater ein Stück Vieh auf dem Hechinger Markt verkaufen wollte. Den Geldbeutel aber fand Johannes ordentlich verschnürt an seinem Platz. Er schaute nach und stellte fest, dass fast 20 Gulden drin waren, der Beutel also gut gefüllt war. Also aufs Geld hatte es der, der seinen Vater umgebracht hatte, nicht abgesehen, was war nur geschehen?, fragte sich Johannes, band den Braunen los und überlegte, wie er nun den toten Vater mit dem Fuhrwerk nach Hause bringen sollte. Denn der Deichselnagel, der Ross und Fuhrwerk miteinander verbindet, lag beim Vater und war offensichtlich das Mordwerkzeug. Sollte er den jetzt von dort entfernen und den Leichnam nach Hause bringen oder was sollte er nur tun?
Der Haid saß am Morgen in seinem Haus oberhalb vom »Waldhorn« und genoss nach getaner Stallarbeit ein Stück Brot, einen Bissen Schwarzwurst und einen Humpen Most. Er war gut gelaunt. Gestern Abend war er mit den anderen auch im »Waldhorn« gesessen und wahrscheinlich würde er auch heute Abend vorbeischauen. Was sollte man denn auch hier tun in Hermannsdorf, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen.
Friedrich Haids Vater, der Stephan Haid, war im zweiten Schwung Siedler um 1827 nach Hermannsdorf gekommen und hatte sich dort als Bauer niedergelassen. Friedrich Haid war, wie vor ihm sein Vater, von den hiesigen Bauern vor ein paar Jahren zum Vogt gewählt worden, ein Amt, das mehr Bürde als Würde war. War doch der Vogt dem fürstlichen Amt von Hechingen unterstellt und verpflichtet, jedes Schriftstück und jede Ein- oder Ausgabe in der Kasse der Gemeinde nach dort zu deklarieren. Dafür war das Gehalt des Vogtes in Hermannsdorf sehr dürftig, findet man doch in einer Aktennotiz an die fürstliche Regierung vom 16. Dezember 1844 von Friedrich Haid folgende Ausführung:
»In Berücksichtigung, daß die Einwohnerzahl zu Hermannsdorf so gering ist, und die herrschende Mittellosigkeit einen angemessenen Vogtgehalt fast zur Unmöglichkeit macht, erscheint es allerdings angemessen, das Vogtamt Hermannsdorf mit jenem von Burladingen zu verbinden. Da aber Hermannsdorf von Burladingen ziemlich entlegen ist, so sollten doch vorerst Erfahrungen gesammelt werden, ob diese Vereinigung den gehegten Erwartungen entspricht, weshalb der Vogt in Burladingen einstweilen nur provisorisch als Ortsvorsteher von Hermannsdorf zu ernennen wäre.«
Dazu war es aber noch nicht gekommen, denn dieser Schriftverkehr war fast zwei Jahre später entstanden.
»Friedrich, komm heraus, es ist etwas passiert«, hörte Haid den jungen Stiefel rufen, der offensichtlich vor seinem Haus stand.
»Komm herein, ich sitze gerade in der Küche. Du kannst gerne einen Schluck Most mittrinken«, antwortete der Haid freundlich.
»Nein, komm heraus und ziehe dich an. Mein Vater liegt erschlagen am Edelberg. Wir müssen das melden.«
Haid zuckte, und sein amtliches Gehirn setzte unmittelbar zum Denken ein. »Was hast du da gerade gesagt?«, rief der Haid aus der Küche hinaus auf die Straße, »dein Vater wurde erschlagen? Hast du zu viel getrunken, willst du mir einen Bären aufbinden oder hast du einen Vogel? Stiefel, sag’s mir, du weißt, wenn du den Vogt von Hermannsdorf zum Narren hältst, dann kann ich das auch melden«, reihte der Vogt einen Satz an den anderen und stand zwischenzeitlich beim jungen Stiefel vor seinem eigenen Haus.
»Nein, Vogt, ich spinne nicht. Mein Vater liegt am Edelberg in seinem eigenen Blut am Weg. Der Deichselnagel vom Fuhrwerk befindet sich neben ihm. Er ist tot, und irgendjemand muss ihn erschlagen haben. Ich habe nicht geträumt, leider. Komm, ich zeig dir, wo er liegt.«
»Herr, kann ich nach der Stallarbeit nach Burladingen? Ich müsste dort etwas auf dem Amt erledigen?«
»Was musst du denn auf dem Amt erledigen, Jakob?«, fragte der Strobel seinen Knecht.
»Ach, nicht so wichtig, wenn es aber ungeschickt ist, dann bleibe ich natürlich hier«, antwortete Jakob Egle seinem Bauer.
So wollte er es machen. Jakob Egle war klar, dass die Leiche des alten Stiefel entweder schon entdeckt oder auf jeden Fall heute noch gefunden würde. Er hatte während der Stallarbeit nachgedacht und war für sich zum Ergebnis gekommen, dass er fliehen musste. Die Eva-Maria hatte zwar nichts gesehen, wenn sie aber erzählen würde, dass der Stiefel sie beide am Edelberg überrascht hätte, könnte jeder eins und eins zusammenzählen. Zwar könnte er abstreiten, dass er von der Eva-Maria was wollte, aber den Toten konnte er nicht so leicht erklären. Das würde zunächst auf ihn zurückfallen, und wie er da herauskommen könnte, war ihm bislang noch nicht eingefallen.
»Nein, du kannst gehen, du bleibst mir aber nicht im ›Hirschen‹ hängen, sondern du bist am Nachmittag zur Stallarbeit wieder da. Sonst ziehe ich dir das vom Lohn ab«, antwortete Strobel, dem eigentlich egal war, warum der »Lange Rote« nach Burladingen wollte, und deshalb auch nicht nachhakte.
Jakob Egle hatte schon sein Reisebündel geschnürt, seine paar Gulden eingesteckt und seine wärmsten Kleider angezogen. Er war auf dem Weg. Dabei fiel ihm ein, dass der Stiefel doch Geld bei sich gehabt haben musste, und er gestern Abend, ohne es dem Stiefel wegzunehmen, abgehauen war. Also musste er noch einmal zum Tatort zurück.
»Hast du den ›Langen Roten‹ gesehen?« Eva-Maria war mit ihrer Arbeit auch fertig und wollte dem Jakob Egle ins Gesicht sehen. Sie war neugierig, was gestern Abend noch zwischen dem Stiefel und dem »Langen Roten« war, und heute Morgen waren sie sich bei der Arbeit noch nicht begegnet.
»Ja, der war vorher noch da und hat mir im Stall beim Ausmisten geholfen. Er hat aber den Alten gefragt, ob er bis zum Nachmittag nach Burladingen darf. Er müsse was auf dem Amt erledigen«, erklärte der Knecht Martin der Eva-Maria, die skeptisch schaute, aber mit der Antwort zufrieden war.
Zwischenzeitlich waren der Friedrich Haid und der Johannes Stiefel am Tatort angekommen. Friedrich hatte zwar schon viele tote Tiere, aber noch keinen Erschlagenen gesehen und musste sich erst einmal übergeben.
»Das muss ich umgehend nach Hechingen melden. Da muss sofort einer los. Du bleibst hier und veränderst nichts und passt auf, dass alles so bleibt, wie es jetzt ist. Hast du verstanden?«
Der Vogt hatte kaum ausgesprochen und den Stiefel zur Tatortabsicherung verpflichtet, war er selbst schon wieder nach Hermannsdorf unterwegs. Er musste den Mord sofort melden und das fürstliche Amt unterrichten. Auch die Polizeimannschaft aus Hechingen sollte kommen. Anders geht es jetzt nicht, dachte er so bei sich, als er schleunigst und auf schnellstem Weg nach Hermannsdorf zurückkehrte.
Hechingens Oberamt war informiert. Der Polizeidiener aus Burladingen war auf dem Weg nach Hermannsdorf, und das Oberamt hatte nach Eingang der Meldung sofort entschieden, mindestens fünf Mann nach Hermannsdorf abzukommandieren, weil klar war, dass, wenn es sich tatsächlich um einen Mord handeln sollte, der Vogt von Hermannsdorf und der Polizeidiener von Burladingen schnell an ihre Grenzen kommen würden.
»Sie reiten nach Hermannsdorf, übernehmen dort vor Ort die Tatortarbeit und berichten umgehend an mich«, gab der kommandierende Offizier, Sergeant Weber, seinen zwei Trupps mit auf den Weg.
Diese wurden von einem Brigadier angeführt, und die vier Polizeisoldaten waren jeweils im Rang eines Korporals.
Der kommandierende Truppführer wollte den Tatort so schnell wie möglich besichtigen, erste Vereinnahmungen durchführen und sofort und umfassend nach Hechingen berichten. Wenn es ein Mord war, so wie gemeldet, dann befasste sich nicht nur der Gendarmerie-Inspektor, Oberleutnant Otto von Ronchi, mit dem Fall, sondern der Fall ging postwendend über die Geheime Konferenz nach oben. Also schnell und sorgfältig arbeiten, keine Fehler machen und nichts übersehen. Vielleicht beschäftigte sich sogar seine Hoheit Fürst Friedrich Wilhelm Constantin mit dem Fall, zumindest würde er davon Notiz nehmen. Dem Brigadier war klar, der Fall hatte Brisanz, und er konnte seine Karriere so oder so beeinflussen.
»Habt ihr schon davon gehört, hallo Leute, habt ihr schon davon gehört? Sie haben den Stiefel am Edelberg erschlagen. Die Gendarmerie aus Hechingen rückt an, und der Polizeidiener aus Burladingen steht schon draußen und führt Protokoll«, rief der Strobel in die Stube hinein, wo sich sein Gesinde zum Mittagessen versammelt hatte.
Es gab Suppe aus dem großen Topf, der für alle in der Mitte des Tisches stand, und ein jeder und eine jede hatte einen hölzernen Löffel vor sich, einen Kanten Brot und langte zu. Verdutzt schauten sie ihren Bauern an.
Besonders die Eva-Maria bekam ganz große Augen und stammelte vor sich hin, »aber der Stiefel hat doch nichts getan, der wollte doch nur helfen«.
Die Lisbeth, die neben ihr saß, sagte: »Sei still, sonst nehmen sie dich nachher mit, und was dann passiert, das weißt du nicht. Vielleicht sperren sie dich ein!«
»Mich, warum, ich habe doch nichts getan. Ich bin doch nur weggelaufen, als der Stiefel auftauchte.«
Der Strobel hatte einen Teil der Konversation seiner zwei Mägde mitbekommen und fragte nach: »Was habt ihr zwei denn? Was ist mit dem Stiefel? Habt ihr irgendetwas gehört?«
»Nichts«, antwortete Eva-Maria und löffelte weiter.
Der Rest hatte sich vom Tisch erhoben und strömte mit dem Bauern hinaus. Sie wollten alle zum Edelberg. Schließlich sah man so etwas nicht alle Tage, und so schlimm diese Nachricht auch war, so war es doch unmöglich, sich eine solche Sensation in Hermannsdorf entgehen zu lassen. Der Stiefel erschlagen. Das wollte doch jeder mit eigenen Augen gesehen haben.
Jakob Egle war schon ein schönes Stück weit gekommen. Nachdem er sich noch einmal am Ort des Geschehens von seiner grausamen Tat verabschiedet und den Geldbeutel vom Stiefel nicht gefunden hatte, hatte er sich zügig und schnell davongemacht. Er war über den Neuweiler in Richtung Tailfingen unterwegs und wollte nach Möglichkeit noch heute über Pfeffingen bis Burgfelden marschieren. Das war für einen Tagesmarsch ein ordentlicher Weg. Er wollte aber auf jeden Fall zuerst nach Hause. Vielleicht fiel ihm dann ein, wie es weiterging.
»Scheiße, Scheiße«, sagte er auf seinem Weg immer wieder vor sich hin. Er hatte einen Menschen erschlagen. Nicht, dass es ihm um den Stiefel besonders leidtat, aber auf Mord stand die Todesstrafe oder bei mildernden Umständen und Totschlag lebenslänglich, und beides wollte der Egle nicht.
Am späten Nachmittag trafen die Gendarmen am Edelberg ein. Sie hatten den kürzeren Weg über die Ziegelhütte genommen und waren direkt über die Kuche zum Tatort geritten. Die Pferde waren nass vom Schweiß, die Gendarmen hatten einen langen und strammen Ritt hinter sich. Draußen am Edelberg fanden sie eine Ansammlung von mindestens 50 Menschen vor, darunter auch viele Kinder, die neugierig den toten Stiefel anschauten. So mussten die Gendarmen erst einmal für Ordnung sorgen und die Menge auseinandertreiben.
»Schickt die Kinder nach Hause, so einen Anblick solltet ihr denen ersparen«, ordnete der Brigadier an, während die vier Korporale um die Leiche kreisförmig die Menschenmenge nach außen abdrängten.
»Wer hat hier etwas zu sagen und wer hat hier was gesehen?«, fragte der Brigadier in die Menge hinein, die schweigend abwartete, was jetzt passierte.
Respekt hatten die Leute sofort. Der Auftritt der fünf, mit Doppelflinte und leichtem Säbel bewaffnet in der landesfürstlichen Uniform, sorgte sofort für Autorität. Schließlich sah man in Hermannsdorf die Gendarmen nur selten. Sie gehörten zur fürstlichen Polizeimannschaft der hochfürstlichen Regierung zu Hechingen, und jeder, aber auch jeder, der ihnen bislang noch nicht begegnet war, wusste, dass ihren Anordnungen unter Höchststrafe Folge geleistet werden musste. Also waren die Leute zunächst einmal ruhig. Schließlich war man neugierig und wollte jetzt bloß nichts verpassen, aber man wollte auch in nichts hineingezogen werden.
»Als Erstes geht ihr alle mal weiter zurück. Das hier ist ein Tatort, und wir wollen den Fall richtig untersuchen. Dafür sind wir da, und jetzt will ich wissen, ob jemand die Leiche kennt?«, ordnete der Brigadier vom Pferd herab an.
Die Leute gehorchten und wichen langsam zurück, sodass nach und nach ein größerer Kreis um die Leiche entstand.
Jetzt kam die Stunde des Vogts von Hermannsdorf, Friedrich Haid, der dem Brigadier antwortete: »Ich bin der Vogt von Hermannsdorf, und bei der Leiche handelt es sich um den Johannes Stiefel. Er ist Bauer auf der Kuche und lebte dort mit seiner Frau und seinen drei Söhnen auf seinem Hof. Er war gestern mit ein paar von uns zum Einkehren im ›Waldhorn‹ drüben in Hermannsdorf und hatte so gegen 8.00 Uhr am Abend die Wirtschaft verlassen. Er hatte einen Schlitten und ein Ross dabei und hatte erzählt, dass er in Hechingen auf dem Viehmarkt gewesen war.«
Der Vogt war zufrieden mit seiner ersten Ansprache und schaute den Brigadier erwartungsvoll an, der ihm antwortete:
»Sie sind hier unser Amtsverwalter. Danke für diese erste Information. Besorgen Sie uns für heute Nacht ein anständiges Quartier und ordentliche Verpflegung, einen Unterstand für die Pferde und rechnen Sie die Unkosten mit dem Oberamt in Hechingen ab. So und nun nochmals die Frage an die Runde: Kann jemand was dazu sagen, wie der Mann hier ums Leben kam. Hat irgendjemand etwas gesehen? Wenn das nicht der Fall ist, dann gehen Sie alle bitte sofort wieder nach Hause. Es verlässt keiner Hermannsdorf, bis die Untersuchungen abgeschlossen sind. Wir werden nach und nach auf Sie zukommen und Sie befragen, sofern nötig.«
Das war der letzte Versuch, sofort an umfassende Informationen zu kommen. Keiner meldete sich, und nachdem die schaulustigen Hermannsdorfer so nach und nach zurückwichen, wies der Brigadier seine Korporale an, den Tatort mit Seilen weiträumig abzusperren. Danach erteilte er dem besten Zeichner unter den Korporalen den Auftrag, eine Skizze mit der Lage der Leiche, dem offensichtlichen Tatwerkzeug und den sonstigen Besonderheiten, die im Laufe der Inspizierung des Tatortes auffielen, zu machen.
»Vermesst mir alles genau. Ich will, dass ihr den Tatort so gut wie möglich aufarbeitet«, hörte man den Brigadier noch sagen.
Der Brigadier hatte bei seiner eher militärischen Ausbildung zwar kein Fach Kriminaltechnik gehört, aber es war ihm klar, dass es bei der Aufnahme des Tatortes auf jedes Detail ankam. Schließlich brauchte das Gericht in Hechingen ein umfassendes Bild des Falles, und dies konnte nur er mit der Hilfe seiner Polizeisoldaten liefern. Er war für den Richter und die Schöffen das Auge vor Ort, und das versuchte der Brigadier mit seinen Möglichkeiten, so gut es ging, zu erledigen. Und die Mittel der damaligen Zeit waren natürlich sehr dürftig.
Aber jeder Polizeisoldat, egal welchen Ranges, konnte lesen, schreiben und rechnen und musste zuvor im Militärdienst oder als Jäger gedient haben. Zur Aufnahme des Tatortes war also Kreativität erforderlich. Die Polizisten verfügten über Schreibzeug, ihre Dienst- und Journalbücher, einen Zollstock und Verwahrbehältnisse aus den Materialien der damaligen Zeit.
Johannes, der seinen erschlagenen Vater gefunden hatte, war nach dem Eintreffen der Gendarmen aus Hechingen wieder nach Hause zurückgekehrt. Zuvor hatte er sich bei einem der Polizisten gemeldet, seine Beziehung zu dem Toten deklariert und auch kurz erzählt, dass er den Erschlagenen gefunden hatte. Daraufhin war er entlassen worden, mit dem Hinweis, dass die Polizei wieder auf ihn zukommen werde und er auf keinen Fall den Hof verlassen solle.
Die Mutter saß in der Küche am Tisch, hatte ihren Kopf in die Arme gelegt und weinte. »Warum, warum bringt einer meinen Johannes um?«, stammelte die Maria in ihre Arme hinein.
Ihre drei Söhne standen um sie herum und streichelten der Mutter abwechselnd über Kopf und Arme, um sie zu trösten. Es war ein trauriger Anblick. Keiner wusste so recht, was er sagen sollte, und zum Begreifen und Sinnieren war es noch viel zu früh. Den Stiefels war der Schock in die Glieder gefahren und dort saß er noch fest. Maria hatte ihren Mann verloren und die Söhne den Vater. Alle vier waren am Sortieren ihrer Trauer, Wut und Verzweiflung, als hoher Besuch eintrat.
»Guten Tag, Familie Stiefel. Mein Name ist Brigadier Fritz und ich stehe im Dienst des Fürsten von Hohenzollern-Hechingen, seiner Hoheit Friedrich Wilhelm Constantin von Gottes Gnaden, dessen ausdrückliches Beileid ich untertänigst überbringen will und auch von mir persönlich mein Beileid zum Tod Ihres Mannes und Vaters«, fasste der leitende Gendarm vor Ort seine erste Botschaft förmlich und höflich zusammen. Es war für ihn das erste Mal, dass er eine Todesnachricht in dieser Form überbringen musste. Er hatte aber bei seiner militärischen Ausbildung gelernt, korrekt und souverän aufzutreten, und irgendwie machte ihm, trotz des schrecklichen Hintergrundes, dieser Fall auch Spaß.
»Meine Männer und ich stellen Ihnen jetzt ein paar Fragen zum Fall, und ich würde gerne mit Ihnen, Frau Stiefel, beginnen.«
Zwischenzeitlich waren noch zwei Korporale in die bescheidene Küche eingetreten. Es wurde eng im Raum, und so verließen die Jüngeren, Christian und Jonathan, die Küche nach draußen. Sie waren die Uniformen und die förmliche Ansprache nicht gewohnt und insofern war die frische Luft draußen vor dem Hof genau das Richtige.
»Meinst du, die finden heraus, wer unseren Vater umgebracht hat?«, fragte der Jonathan seinen älteren Bruder Christian.
»Ich weiß es nicht, aber ich wünsche es mir. Das Schwein soll hängen«, antwortete Christian zornig.
»So, meine Herren, was können Sie mir denn zu dem Fall sagen, was ist passiert, und können Sie sich vorstellen, wer Ihrem Vater so etwas angetan hat?«, fragte ein zwischenzeitlich nach draußen getretener Korporal die Brüder.
Sie erzählten ihm, was sie wussten, aber da nicht sie den Vater gefunden hatten und den 31. Januar, den Tattag, auf dem Oberen Hof verbracht hatten, war ihre Einvernahme rasch beendet.
Der Korporal machte sich von dem Erzählten Notizen in sein Dienstbuch und ging nach der Einvernahme der beiden wieder zurück in die Küche. Zuvor wandte er sich noch dem Christian und dem Jonathan zu und sagte: »Halten Sie sich trotzdem zu unserer Verfügung. Es kann sein, dass wir noch Fragen an Sie haben«, und ergänzte zögerlich, »wir werden den Mörder Ihres Vaters finden und dingfest machen. Er soll seiner gerechten Strafe nicht entgehen.«
Der Brigadier Fritz beschäftigte sich zwischenzeitlich mit der Aussage von Frau Stiefel, die inhaltlich auch sehr dürftig war. Schließlich erfuhr Fritz, dass der Stiefel am Dienstag, dem 31. Januar, morgens um 4.00 Uhr nach Hechingen aufgebrochen war, um ein Stück Vieh zu verkaufen. Die Familie brauchte das Geld, um die Aussaat für das Frühjahr kaufen zu können. Keine große Sache, nichts Außergewöhnliches, keine Feinde, und trotzdem war ihr Mann nicht nach Hause gekommen.
»Ja, haben Sie sich denn gar keine Sorgen gemacht, als Ihr Mann am Abend oder in der Nacht nicht nach Hause kam?«, fasste Brigadier Fritz diensteifrig nach.
»Doch, Herr Brigadier, ich machte mir als Erstes Sorgen, dass der Johannes zu viel Geld in der Wirtschaft liegen lässt. Dass er nach einem solchen Handel manchmal erst am nächsten Morgen nach Hause kam, war nicht ungewöhnlich«, sagte Maria von einem schlechten Gewissen gepackt, weil sie das Gefühl hatte, jetzt schlecht über ihren Mann zu sprechen, was sie ja gar nicht wollte, aber die Wahrheit war es halt schon.
»Ja, wo glauben Sie, hätte dann Ihr Mann geschlafen?«, hakte Fritz nach.