Jan-Christoph Nüse
Operation Bird Dog
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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1. Auflage 2018
Lektorat: Sven Lang
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – dpa
ISBN 978-3-8392-5712-8
»Es war die Zeit, in der die neuen Reichen sich noch unsicher fühlten, in der die Schwarzmarktgewinner nach Anlagen suchten und die Sparer den Krieg bezahlten.«
Aus: Wolfgang Koeppen
»Tauben im Gras«
Dr. Victor Wrede, Chefvolkswirt der Bank deutscher Länder
Eva Wrede, seine Frau
Carl Wrede, ihr gemeinsamer Sohn
Gerd Jennings, Journalist
Silvie Burmeister, Bankkauffrau
Lucius D. Clay, Militärgouverneur der US-Besatzungszone
Jack Bennett, Finanzberater des US-Militärgouverneurs
Edward A. Tenenbaum, Stab des US-Militärgouverneurs
Katharina Grünberg, ehemalige Staatsanwältin, Dolmetscherin
Dr. Karl Kosterlitz, ermittelnder Oberstaatsanwalt
Elisabeth Berger, Sekretärin von Karl Kosterlitz
Werner Stetten, ehemaliger General der Waffen-SS
Hans Treitschke, Buchhalter, Stettens rechte Hand
Emil Puhl, Strafgefangener, ehemaliger Vizepräsident Deutsche Reichsbank
Mich haben immer Kriminalromane fasziniert, die auf einer wahren Geschichte beruhen. Deshalb sind in »Operation Bird Dog« viele der überprüfbaren Fakten wahr und einige der Figuren reale Personen der Zeitgeschichte. Das gilt für beide Zeitebenen, 1948 und 1958.
Menschen, die unter den Folgen traumatischer Ereignisse litten, konnten weder 1948 noch zehn Jahre später auf Anerkennung oder Hilfe hoffen. Das galt unabhängig davon, ob es sich um Ereignisse als Folge des Zweiten Weltkriegs oder um Traumata im privaten Bereich handelte.
Frankfurter Rundschau, Ausgabe Silvester 1948
Doppelselbstmord in Bad Homburg
aj – BAD HOMBURG 29. Dezember
Dr. Victor Wrede, Mitglied des Direktoriums der Bank deutscher Länder, verübte gemeinsam mit seiner Frau wahrscheinlich schon am Abend des 24. Dezember Selbstmord in seiner Bad Homburger Wohnung.
Neben seinen toten Eltern lag der vierzehnjährige Sohn Carl – völlig erschöpft, aber lebend. Er wurde sofort in ein Homburger Krankenhaus eingeliefert.
*
März 1958
In den Nächten wüten wilde Tiere in meinem Kopf. Abgründe von Angst wechseln sich ab mit unfassbarer Wut und endloser Leere. Ich schreie, wache auf – und lebe weiter. Manchmal verstehe ich weder wie noch warum.
Habe ich wirklich neben Mama gelegen?
Ich weiß, dass es fast dunkel war und dass mir kalt war. Die Kälte hat mich geweckt. So wie ein Tier im Winterschlaf von seinem eigenen Körper geweckt wird, bevor es erfriert. Ich lag auf dem Teppich im Wohnzimmer, vor dem großen, braunen Sofa. Zusammengerollt wie ein Baby, mit so einem süßen, aber ganz ekeligen Geschmack im Mund. Ich wollte sofort aufstehen, aber es ging nicht. Es war, als würde ich keine Luft mehr bekommen, und ich musste ständig husten. Meine Beine und Arme taten so weh, als würde jemand mit dünnen Nadeln in meine Muskeln stechen. Jede Bewegung brannte wie Feuer. Nur langsam konnte ich mich aufrichten, zuerst auf die Knie. Dann sah ich sie vor mir, beide zusammengesunken auf dem Sofa. Sie hatten zusammen in der Mitte des Sofas gesessen. Aber ihre Oberkörper waren zur Seitenlehne hin weggekippt, jeder in eine andere Richtung. Wie Figuren, mit verdrehten Gliedern. Ich wusste sofort, dass sie tot waren. Aber gleichzeitig wirkte alles so unwirklich. Erst kniete ich vor dem Sofa, auf dem meine Eltern regungslos lagen. Ich versuchte, sie wiederaufzurichten, erst Mama, dann Papa.
Irgendwann musste ich wohl aufgegeben haben. Jennings fand mich auf dem Teppich vor dem Sofa. Ohne ihn wäre ich wohl erfroren.
Unser Wohnzimmer ist mir heute noch so in Erinnerung, wie ich es gesehen habe, als ich in eine Decke eingewickelt hinausgetragen wurde: auf der einen Seite das Sofa mit meinen beiden toten Eltern. Auf der anderen Seite der Weihnachtsbaum vor Papas großem, dunklen Schreibtisch, mit dem kleinen Tischchen voller Geschenke davor – alle noch verpackt. Ich habe mich seit damals so oft gefragt, warum meine Eltern überhaupt noch Geschenke besorgt hatten. Und warum hatte Papa einen Weihnachtsbaum gekauft – und dann noch einen so großen, auf den unsere Spitze gar nicht draufpasste? Vielleicht hatte er ihn nur gekauft, damit ich bis zum Schluss nichts ahnte. Nur die Unruhe der Eltern, die habe ich gespürt. In den letzten Tagen vor Weihnachten musste ich oft in mein Zimmer gehen. Sie müssten Vorbereitungen treffen, sagte Mama. Ich habe natürlich an Weihnachten gedacht. Sie hat nicht traurig gewirkt. Das wäre mir aufgefallen. Nur ernst.
Später bin ich oft wütend geworden – auf meine Eltern, die mich im Stich gelassen haben. Und auf die anderen im Internat, wenn sie von Mitgefühl sprachen. Die haben nicht den Hauch einer Ahnung, was in mir vorgeht. Manchmal ist mein Inneres nichts anderes als eine brodelnde Masse, die mich ängstigt. Aber Medikamente zur Beruhigung werfe ich weg.
Im Laufe der Jahre nach ihrem Tod wurden mir meine Eltern immer mehr fremd. Aber die eine Frage stelle ich mir immer wieder: Warum ist das alles geschehen? Manchmal erscheint es mir im Rückblick wie eine Art Dschungel, dieses Deutschland der ersten Jahre nach 1945. In den Ruinen galten ganz andere Regeln. Tote waren auch 1948 noch immer alltäglich, und für Zweifel war keine Zeit. Deshalb fragte wohl auch niemand nach, als Oberstaatsanwalt Dr. Kosterlitz seinen Abschlussbericht zum Tod meiner Eltern so zusammenfasste:
»In der Leichensache zum Nachteil von Wrede, Victor und Eva Wrede, ergaben sich keinerlei Anzeichen für Fremdverschulden.«
27. Februar 1948. Frankfurt am Main. Amerikanische Besatzungszone.
Der Fahrer des Cadillacs fluchte, stemmte seinen Fuß auf die Bremse und presste ein vernehmbares »sorry« Richtung Trennscheibe. General Lucius D. Clay griff wortlos nach den beiden braunen Mappen auf dem Boden seines Dienstwagens und sah dann nach draußen. Auf den ersten Blick das übliche Bild: mit dem Rücken zu ihm seine Militärpolizei. Breitschultrige Männer in schweren Wintermänteln, eng nebeneinanderstehend, den gezogenen weißen Schlagstock in der erhobenen Hand. Ihnen gegenüber standen frierende, hagere Gestalten in dünnen, kurzen Jacken und geflickten Wollmänteln der Wehrmacht, in den Händen Holzschilder an dünnen Stöcken mit Aufschriften wie: »Wir wollen Kohle«, »Arbeitsschuhe statt Kommissstiefel« oder »Wir wollen Brot«. Nur hatte es diesmal eine kleine Gruppe von Demonstranten geschafft, die Absperrung direkt vor der Zufahrt zum Hauptquartier zu durchbrechen. General Clay stieß die Tür auf und stieg aus. Die drei Männer in seinem Begleitfahrzeug überstanden die Schrecksekunde, griffen zu ihren Maschinenpistolen und rannten nach vorn. Clay stoppte sie mit einer kurzen Handbewegung. Er hatte gesehen, wie ein älterer Mann abgeführt wurde. Der Mann war offenbar auf dem vereisten Pflaster gestürzt und blutete aus einer Wunde am Mund. Zwei Polizisten schleppten ihn zur Seite. Clay ging nach vorn, hob die blaue Schirmmütze des Alten auf und warf sie der verblüfften Torwache zu. Dann drehte er sich um und stieg wieder ein, nicht ohne einen letzten zufriedenen Blick auf seine vier Sterne auf dem unübersehbaren Schild am Kühlergrill des Cadillacs zu werfen.
In seinem Büro im ersten Stock ging Clay sofort zu der großen Fensterfront. Als er den inneren der beiden Fensterflügel öffnete, schlug ihm eisige Kälte ins Gesicht. Auch tagsüber war das Thermometer in diesem Februar bisher nie über den Gefrierpunkt geklettert. Clay sah nach unten auf den großen Platz direkt vor seinem Hauptquartier. Hier bot sich ihm ein ganz anderes Bild als draußen vor dem Haupttor. Gut gekleidete amerikanische Soldaten stiegen aus Jeeps und schwarzen Limousinen, begleitet von deutschen Zivilangestellten. Diese Deutschen wirkten zufrieden, zumindest von hier oben. Clay vergaß nie, dass ihre Zufriedenheit vor allem eine Folge des kostenlosen Mittagessens war, das sie erhielten und das nicht auf die knappen Rationen ihrer Lebensmittelkarte angerechnet wurde.
Die Details kannte Clay genau. Noch zwei Tage bis zum Ende der 111. Zuteilungsperiode, 2. bis 29. Februar 1948. Pro erwachsenem Normalverbraucher 7,5 Kilogramm Brot, 400 Gramm Fleisch, 125 Gramm Kaffeeersatz, ein Liter entrahmte Milch, 62,5 Gramm Käse. Und eine Vor-Einschreibung für Eier. Die Eier würden später ausgegeben werden. Nach Eintreffen der Ware. Wann auch immer das war.
General Lucius D. Clay war nicht dafür bekannt, sich Illusionen hinzugeben. Aber auch er hatte nicht damit gerechnet, dass der Alltag vieler Deutscher fast drei Jahre nach Kriegsende noch immer geprägt sein würde von Mangel und Not. Im letzten Winter hatte der ansonsten so mächtige Militärgouverneur Clay ohnmächtig zusehen müssen, wie in seiner Besatzungszone Tausende Menschen an Hunger und Kälte gestorben waren: in feuchten Kellern und zugigen Notunterkünften.
Nicht wenige Deutsche machten dafür die Besatzungsmächte verantwortlich. Immer wieder versammelten sich hungernde Menschen vor dem vier Meter hohen Sicherheitszaun rund um das amerikanische Hauptquartier. Die Demonstrierenden forderten höhere Rationen an Brot, Speck oder Kohle. Die Military Police zog dann ihre Schlagstöcke und konnte die Demonstranten jedes Mal nur unter großem Einsatz zurückdrängen. Die Vorfälle bewiesen Clay, dass er den Sicherheitszaun vorläufig nicht abbauen lassen konnte. Als Amerikaner in Deutschland würden sie auch weiterhin wie auf einer Insel leben: in gut geheizten Büros und in Wohnungen mit gut gefüllten Speisekammern – umgeben von einem Meer von Ruinen.
Es klopfte an seiner Bürotür. Clay drehte sich herum. Sein Finanzberater Jack Bennett eilte ihm bereits entgegen und streckte die Hand zur Begrüßung aus.
»General, Lucius – wir müssen jetzt schnell entscheiden …«
Clay fasste Bennetts Hand und zog seinen Finanzberater mühelos zu sich heran. Bennett war der Prototyp eines Washingtoner Leichtgewichts: schmal, blass, unsportlich und fast immer einschläfernd langsam in seinen Bewegungen. Seine Augen verrieten allerdings, wie verdammt hellwach der Kerl war.
Doch diesmal hatte er die Türschwelle im Eiltempo hinter sich gelassen. Clay, der als 4-Sterne-General gern selbst das Tempo vorgab, trat auf die Bremse.
»Keep cool, Jack. Der Tag hat grade erst angefangen. Nimm dir erst einmal einen Kaffee aus der Thermoskanne.«
Bennett nickte, befreite seine Hand aus dem Zangengriff, fühlte kurz, fand die wichtigsten Knochen an ihrem Platz und startete die übliche Frotzelei.
»Du solltest dir ein paar Sandwiches kommen lassen, Lucius. Wenn du so weitermachst, siehst du bald nicht mehr aus wie ein Leichtathlet in Uniform, sondern wie ein Halbverhungerter, der im Stadion nicht mal die erste Runde schaffen würde.«
Clay schmunzelte. »Ach, Jack, lass dir ’ne neue Brille zusammenschrauben. Dann siehst du die Dinge so, wie sie sind.«
Während sich Bennett dem Kaffee zuwandte, ging Clay zurück zu seinem Schreibtisch. Im Vorübergehen sah er kurz in den Spiegel neben seinem Schrank. War sein Gesicht wirklich schmaler geworden? Er ging um seinen Schreibtisch herum und zog die Schublade auf. Ein leicht muffiger Geruch schlug ihm entgegen. Clay öffnete eine schwarze Ledermappe und griff zu dem kleinen Foto, das obenauf lag. Er hielt es erst in seiner rechten Hand, danach hinter seinem Rücken verborgen und postierte sich dann direkt neben seinem Besucher. Bennett hatte sich inzwischen in den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch fallen lassen. Der Becher mit dem frischen Kaffee stand vor ihm.
Clay sah seinen Finanzberater mit unbewegter Miene an. Von oben, abschätzend wie beim Poker. Es war nicht zu fassen. Diese unbekümmerte Miene konnte unmöglich einfach nur Fassade sein. Und doch war es so. Niemand wusste, was der Ex-Banker Jack Bennett wirklich dachte. Und ob er überhaupt gerade dachte. Für seine Kameraden war es immer wieder ein Vergnügen, ihn bei wichtigen Verhandlungen zu erleben. Bennett schlüpfte dann in seine Lieblingsrolle: das Krokodil in der Sonne. Den Kopf auf eine Hand gestützt, träge, mit halb geschlossenen Augen, blieb die zuweilen langsam kreisende Brille das einzige Lebenszeichen. Wer ihn allerdings unterschätzte, fühlte Bennetts Biss, bevor er die Zähne überhaupt entdeckt hatte.
Clay ließ die Hand mit dem Foto nach vorn schnellen. Das Bild zeigte einen sehr jungen, amerikanischen Offizier, der in einem Konzentrationslager der Nazis von ausgemergelten Gefangenen begrüßt wird. Im Hintergrund waren unzählige Leichen zu sehen.
»Jack, hast du dir dieses Bild jemals genau angesehen? Welcher Vollidiot hat damals dafür gesorgt, dass unsere Vorhut in Buchenwald aus halben Kindern bestand?« Clay beugte sich nach vorn. »Mich interessiert nicht, ob Tenenbaum das alles überhaupt schon verarbeitet hat. Das weißt du genau …«
Jack Bennett griff langsam nach seinem Kaffeebecher, schlürfte genüsslich, sah Richtung Fenster und schwieg. Er versuchte erst gar nicht, nach dem Bild zu greifen, das ihm sein Chef noch immer entgegenhielt. Er wusste: Clay war noch nicht fertig.
»Verdammt, Jack. Wir haben die Sache schon so lange vor uns hergeschoben. Mal wollten wir noch nicht starten, weil hier zu viel in Trümmern lag. Dann wollte Washington kein grünes Licht geben, weil die verdammten Russen durchdrehten. Den idealen Zeitpunkt gibt es sowieso nicht. Und wenn, dann war er vorgestern! Aber davon abgesehen ist dieser Junge einfach auch zu jung. Ich habe gestandene Offiziere erlebt, die sich vor der Landung in der Normandie in die Hose gemacht haben. Und wir haben seitdem kaum etwas gemacht, was ich für wichtiger halte als Bird Dog.«
Jack Bennett wartete mit seiner Antwort. Von unten, vom Eingang des Hauptquartiers, war ein unverständlicher Befehl zu hören. Dann schlugen Autotüren zu und der Motor eines Lastwagens heulte auf. Bennett wandte sich wieder seinem Chef zu. Er kannte das Foto. Keineswegs schockiert oder eingeschüchtert, sondern ruhig wie immer betrachtete er das Gesicht seines Vorgesetzten, die ausgeprägte Nase, das schmale, fast aristokratisch wirkende Profil. Nicht nur deswegen lautete Clays Nickname »The Kaiser«.
Schon oft hatte Bennett erkennen können, ob es möglich war, seinen General noch umzustimmen. Clay war zwar groß und sportlich. Aber er verkörperte nicht den typischen, allzeit vorwärtsstürmenden Army-Officer. Im Gegenteil. Er war nur selten an der Front eingesetzt. Trotzdem hatte er es bereits während des Zweiten Weltkriegs zum stellvertretenden Stabschef des Oberkommandierenden aller US-Streitkräfte in Europa gebracht – ohne Frage eine Folge seiner Fähigkeiten als genialer Organisator. Denn wie jeder Kommandeur wusste auch Dwight D. Eisenhower, dass er ohne seine Logistiker keine Chance hatte. Denn eine Armee konnte nur dann siegen, wenn das richtige Material zum richtigen Zeitpunkt in ausreichender Menge am richtigen Ort zur Verfügung stand. Nach dem Sieg über Nazideutschland hatte Präsident Truman seinen erfolgreichen General Eisenhower ins Weiße Haus geholt. Und niemand in Washington wunderte sich, dass es Lucius D. Clay war, der an Eisenhowers früherem Schreibtisch in Frankfurt Platz nahm, als Militärgouverneur der US-Besatzungszone. Clay bezog auch Eisenhowers Dienstwohnung in der früheren Fabrikantenvilla Reimers am Hardtwald in Bad Homburg. Auf den vertrauten Anblick der grasenden Milchkuh im Garten musste er allerdings verzichten. Emily war mit ihrem golfenden General auf das heimische Grün in Washington D. C. zurückgekehrt.
Fast drei Jahre waren seit dem Sieg vergangen. Aber die Aufräumarbeiten schienen kein Ende zu nehmen. Noch immer zerrten in deutschen Innenstädten kleine Lokomotiven große Mengen Schutt zu Verwertungsanlagen in den Vororten. Und die deutsche Kohleförderung hatte noch längst nicht wieder Vorkriegsniveau erreicht.
General Lucius D. Clay begann seine Zuversicht zu verlieren. Jack Bennett hatte das in den letzten Wochen oft in dem Gesicht direkt vor ihm ablesen können. Er wusste aber auch, dass Clay ihm noch immer vertraute.
»General – die Sache in Buchenwald … Es waren für uns alle schreckliche Bilder, aber das ist doch schon fast drei Jahre her … Lucius, bitte glaube mir. Es sprechen viele Gründe für Tenenbaum. Hier sind die wichtigsten drei. Erstens: Er ist fachlich wirklich gut. Er hat in Yale die beste wirtschaftswissenschaftliche Arbeit seines Jahrgangs geschrieben. Das wird ihm auch Respekt bei den deutschen Fachleuten verschaffen. Du weißt genauso gut wie ich, dass wir einige deutsche Experten hinzuziehen müssen. Zweitens: Er spricht nicht nur Deutsch, sondern auch fließend Französisch …«
Clay sprang verärgert auf. »Jack – noch nicht einmal die gutwilligen Briten werden ihm zuhören, geschweige denn die eigensinnigen Franzosen. Kein Wunder. Mit 26 Jahren soll er Fachleuten und altgedienten Frontoffizieren sagen, was wir wollen und was sie zu tun haben? Du hältst zwar große Stücke auf ihn. Aber er bleibt ein Nobody-Lieutenant aus deiner Finanzabteilung.«
Zu Clays Überraschung stand Bennett mit seinem Kaffeebecher in der Hand ebenfalls auf, setzte den Becher hart auf der Untertasse ab und klatschte dann zweimal in die Hände. »Ein Nobody. Genau das ist er. Und genau das ist auch mein Grund Nummer drei: die Geheimhaltung. Niemand hat ihn unter Beobachtung – die Russen nicht, und vor allem nicht die Deutschen. Du weißt, an welche ich denke.«
Um Zeit zu gewinnen, ging Clay um seinen Schreibtisch herum. Fast unmerklich nickte er seinem Finanzberater zu. Sicher, die Nazis mussten sie im Blick behalten. Sie sammelten sich wieder. Aber anstatt deutlich zu sagen, was ihn beunruhigte, machte Jack Andeutungen. Das war schon immer seine Art gewesen. Nur nichts dramatisieren, nichts schriftlich, und um Himmels willen nichts ins Protokoll. Ja, es stimmte. Jack würde immer der Washingtoner Bürohengst bleiben, der er vor dem Krieg gewesen war – im Ministerium, und früher in der Bank.
Clay klopfte Bennett auf die Schulter. »In Ordnung, Jack. Ich denke darüber nach und melde mich bei dir.«
»Okay. Na dann …« Jack Bennett stand auf und ging zur Tür, drehte sich aber noch einmal um. »Lucius, bitte vergiss nicht: Wir haben schon viel zu lange gewartet. Und wir zahlen teuer für den ganzen Schlamassel hier. Jeder amerikanische Steuerzahler tut das. Weil diese verdammte Inflation verhindert, dass sich die Deutschen selbst ernähren können.«
Clay nickte. »Ja, Jack. Du hast sicher recht. Und ich werde mich schnell entscheiden.«
Clay öffnete die Tür. Doch Bennett weigerte sich, von seinem Lieblings-Thema abzulassen, und hielt sein Handgelenk hoch. »Wo hast du deine Armbanduhr gekauft, Lucius? Es ist doch eine Gruen, oder?«
»Meine Frau hat sie mir geschenkt.«
»Wusstest du, dass die Gruen Watch Company von einem Deutschen gegründet wurde? Einem Deutschen aus der Gegend hier?«
»Nein, Jack, das wusste ich nicht. Wie so vieles andere, was ich nicht weiß. Was willst du mir sagen?«
»Es sind amerikanische Uhrwerke, keine Schweizer. Das stimmt. Aber die Dinger sind okay und nicht billig, deine wie meine. Hast du eine Ahnung, was deine Uhr auf dem Schwarzmarkt einbringen würde?«
Clay schüttelte verblüfft den Kopf und schmunzelte dann ein wenig. »Nein, Jack. Aber ich habe das Gefühl, ich müsste schon ein größeres Geschütz als meinen Colt auftreiben, um zu verhindern, dass du es mir gleich sagst …«
»Stimmt. Für deine Armbanduhr bekommst du gerade mal zwei Kilo Butter. Und das auch nur, weil sie aus den Staaten ist. Lucius, wir können nicht weiter warten.«
Clay nickte langsam.
»Ich melde mich, Jack. Und danke für den Einkaufstipp …«
Clay stieß die Tür hinter Bennett ins Schloss, setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl, lehnte sich nach hinten und ließ die Beine auf die weiche Schreibunterlage fallen.
Auf der Militärakademie in West Point hatten sie immer ihre Späße über detailversessene Zahlenjongleure wie Jack Bennett gemacht. Aber verdammt, manchmal war man auf sie angewiesen. Und wenn Jack meinte, für das Projekt bräuchten sie Youngsters wie Tenenbaum, dann war es wohl auch so. Die Frage war nur, wie die Jungs all die düsteren Dinge so wegsteckten, die sie als junge Soldaten zu Gesicht bekommen hatten. Vielleicht würde sich später mal jemand darum kümmern müssen. Aber jetzt hatten sie andere Sorgen.
10. März 1958. Internat Burg Baldringen. Altena, Südwestfalen.
Das Schlimmste ist, morgens aufzuwachen und nicht zu wissen, ob ich in der Nacht wieder geschrien habe. Und wenn ich geschrien habe, ob es nur Schreie waren. Oder Worte. Oder Namen? Würde es mir überhaupt helfen, wenn ich es wüsste? Oder wäre ich einfach nur unendlich traurig?
Manchmal kommt eine ungeheure Wut in mir auf. So wie gerade, nachdem ich aufgewacht bin. Es ist eine Wut auf meine Eltern, weil sie sich umgebracht haben. Wie konnten sie aufgeben, in der Mitte ihres Lebens? Warum haben sie nicht gekämpft? Warum fehlte ihnen die Kraft dazu? Sie haben doch beide nicht an einer tödlichen Krankheit gelitten. Das Leben wäre doch weitergegangen – egal, welche Probleme sie auch hatten. Wie konnten sie mich mit in den Tod reißen wollen? Ihr Tod war vielleicht ihr freier Entschluss. Aber mit welchem Recht sollte ich sterben?
Einen Vorwurf an sie muss ich allerdings zurücknehmen. Den Vorwurf, dass sie mir keinen Abschiedsbrief hinterlassen haben. Ein Abschiedsbrief an mich war aus ihrer Sicht unnötig. Sie wollten, dass wir gemeinsam sterben. Ich habe nur durch Glück überlebt. Dr. Schlehan spricht manchmal von dem Kind, das ich einmal war. Er sagt, dass es mir deshalb so schwerfällt, mich an früher zu erinnern. Auch wenn meine Eltern mich nicht mit in den Tod genommen haben – sie haben dennoch das Kind getötet, sagt er.
Heute ist mein Abschiedstag, hier im Internat, und später auch auf der Arbeit. Wenn ich mich in meinem Zimmer umsehe, dann muss ich an Simon denken. Fünf Jahre haben wir uns diese Besenkammer geteilt, bis zu seinem Abitur. Simon hat sich nie zu meinen Albträumen geäußert. Er hat sogar akzeptiert, dass anfangs die kleine Lampe auf meinem Nachttisch eingeschaltet bleiben sollte, damit ich besser einschlafen konnte. Simon war froh, selbst in Ruhe gelassen zu werden. Er blieb genauso wie ich fast jedes Wochenende hier. Sein Stiefvater wollte ihn nicht sehen. So waren wir also auch am Wochenende zusammen. Immerhin bekam er am Elterntag Besuch.
Dr. Schlehan erwartet mich gleich zum Abschlussgespräch um 9 Uhr. Ich habe ihm viel zu verdanken. Er hat mir nach meinem Abitur auch die Lehre im Fernseherwerk besorgt. Ich durfte sogar als Externer noch hier wohnen bleiben.
Aber heute, an diesem Tag mitten in der Woche, ist die Zeit der strengen Internatsregeln für immer vorbei. Meine Sachen sind bereits gepackt.
Nur den Füllfederhalter meines Vaters muss ich noch einpacken. Er liegt in meinem abschließbaren Pult. Früher, zu Hause, da hab ich ihn manchmal aus der Halterung auf dem Schreibtisch genommen. Aber nur dann, wenn Papa nicht da war. Ich mag es immer noch, den Füller gegen das Licht zu halten. In dem Sichtfenster sieht man die Tinte. Früher, als Papa noch damit schrieb, schwappte die Tinte langsam hin und her. Wie kleine Wellen. Jetzt allerdings nicht mehr. Sie ist wohl eingetrocknet.
27. Februar 1948. Bremerhaven. Amerikanische Besatzungszone. Seefliegerhorst Nordhafen.
Der Pilot fuhr das Fahrwerk aus und drückte die Nase der Beechcraft Staggerwing in Richtung Landebahn. »Freigabe zur Landung erhalten, Lieutenant.«
Tenenbaum freute sich, dass das beunruhigende Rumpeln unter seinen Füßen aufgehört hatte, und drehte den Kopf leicht nach rechts. Im ersten Moment sah er allerdings kaum mehr als die weit vorgeschobene untere Tragfläche des Doppeldeckers. Nach vorn begrenzte der große Pratt & Whitney Sternmotor das Blickfeld. Irgendwo da unten musste dieses riesige Hafenbecken sein, von dem die Kameraden der Air Force erzählt hatten – die Basis des ersten Flugzeugträgers, den Hitler in Auftrag gegeben hatte. Kaum etwas zu sehen. Brauchte er eine neue Brille? Oder lag es nur daran, dass es dunkel wurde?
»Sie fliegen sofort nach Bremerhaven«, hatte ihm General Lucius D. Clay heute Morgen befohlen und dabei gegrinst. »Ein paar Master of Desaster in Washington haben uns ’ne Menge Päckchen geschickt und machen nun wie immer einen Riesenwirbel darum.« Der Chef freute sich jedes Mal, wenn er über die Leute im Finanzministerium in Washington lästern konnte. »Washington findet, die Deutschen kosten uns zu viel Geld. Aber was machen die Klugscheißer? Schicken uns Wertsachen, auf die wir auch noch aufpassen müssen.«
Clay schüttelte den Kopf und versuchte sich mit offensichtlichem Vergnügen in der Rolle des empörten Untergebenen, dem seine Vorgesetzten Unrecht getan haben. Tenenbaum fand jedes Mal, dass sein oberster Chef nicht zum Schauspieler taugte. Doch Clay schien diese Zweifel nicht zu haben.
»Die letzte Lieferung ist angeblich heute Morgen angekommen. Falls das Zeug tatsächlich da ist, will ich es schnellstmöglich hier in Frankfurt haben. Geräuschlos. Und, Tenenbaum: keep your mouth shut.«
Er fragte sich, mit wem er hätte reden sollen. Sein einziger Begleiter im Moment, also sein Pilot, hatte sich jedenfalls eine Art Schweigegelübde auferlegt.
Tenenbaum öffnete den Reißverschluss und zwängte seine rechte Hand ins Innere seines Fliegeroveralls. Das Erste, was er ertastete, war seine ausgeprägte Speckrolle. Verfluchte, verführerische Candy-Riegel. Zum Glück war der dünne Papierstreifen auch noch da. Tenenbaum zog das gefaltete Fernschreiben heraus, griff zu seiner Dynamo-Taschenlampe und presste den Schwunghebel gegen den Griff. Dem vertrauten Surren folgte ein flackernder, schmaler Lichtstrahl. Er ging noch einmal jede Zeile durch.
***
OFFICE OF MILITARY GOVERNMENT FOR GERMANY (U.S.)
OUTGOING MESSAGE
TOP SECRET
PRIORITY
From:
Office of Military Government for Germany
Office of the Financial Advisor
APO 742, U.S. Army
To:
Commanding General
Bremerhaven Port of Embarkation
APO 751, U.S. Army
Last incoming shipment of Bird Dog. Date of arrival: 26 Feb 48.
Name of Vessel: General W. M. Black
4.800 boxes. Total Bird Dog and Door Knob: 22.895 boxes.
AGC IN 13171
26 Feb 48
REF NO: WX-88489
***
Also 4.800 Kisten aus New York erwarteten ihn, Anlieferung heute in Bremerhaven als Fracht auf der »General W.M. Black«, die letzte Lieferung von insgesamt rund 23.000 Kisten. Eine ganze Menge Zeug. Alles Top Secret, Priority. Und sein Chef Jack Bennett wollte also, dass er hier den Postboten spielte. Kisten mit Codenamen. Aber von »Bird Dog« und »Door Knob« hatte er noch nie gehört. Da war er sicher.
Sein Pilot hatte bisher nur das Nötigste in den Funk genuschelt. Jetzt allerdings schien er freiwillig sprechen zu wollen. Er gestikulierte mit seiner Hand Richtung Boden.
»Sehen Sie, Lieutenant, das hier ist fast perfekt angelegt. Der Seehafen, die Eisenbahnlinie und direkt daneben der Flughafen.«
Tenenbaum nickte und rutschte noch etwas mehr nach rechts, um besser durch das Seitenfenster sehen zu können. Irgendwas an der Tür bohrte sich hart und tief in seinen Magen. Er sah nur Wasser – weder das Flugfeld noch Eisenbahnschienen. Ärgerlich über sich selbst zog er den Reißverschluss seines Overalls wieder zu, weil ihm kalt war. Wo war eigentlich die Wolldecke, die er beim Start neben sich gelegt hatte?
»Sir, hier haben wir alles, was unsere Truppe braucht. Es ist wirklich kein Wunder, dass die Logistiker das Gelände damals sofort haben wollten – vor drei Jahren, nach der Kapitulation der Deutschen.« Der Pilot verstummte wieder, weil er sich auf die Landung konzentrierte.
Tenenbaum dachte an seinen Start bei der Army drei Jahre zuvor. Direkt nach seinem Examen als Wirtschaftswissenschaftler wollte er unbedingt Soldat werden, und zwar in Deutschland. Für einen Sohn polnischer Juden nicht unbedingt naheliegend. Aber in seiner Abschlussarbeit in Yale hatte er Hitlers Kriegswirtschaft analysiert – einen Fall von extremer Lenkung der Wirtschaft. Tenenbaum brannte darauf zu zeigen, wie viel leistungsfähiger eine Volkswirtschaft sein konnte, wenn sich der Staat heraushielt. Eine Leidenschaft, für die seine Freunde allerdings kaum Verständnis aufbrachten.
Nach der Landung rollte der Doppeldecker zu dem Jeep, der am nördlichen Rand der Landebahn parkte. Tenenbaum zog seine Handschuhe an, setzte die Kapuze seines Parkas auf und kletterte aus dem Flieger. Die Scheinwerfer des Jeeps leuchteten, aber niemand stieg aus. Es saß kein Fahrer darin, und es gab auch kein Begrüßungskomitee. Merkwürdig. Die Army war sonst bei solchen Sondereinsätzen immer mit ein paar Männern mehr als unbedingt nötig vertreten. Tenenbaum öffnete die Fahrertür, stieg in den Jeep und war froh, dass es eine Windschutzscheibe gab.
Die Fahrt bis zum Kai war kurz, kalt und plötzlich zu Ende. Und zwar an einer Art Absperrung. Auch hier: kein Mensch zu sehen. Aus dem Bereich dahinter schien allerdings Licht herüber. Von einer Sperrzone hatte ihm der General am Morgen nichts erzählt.
Die hohen Tore der alten Lagerhäuser am Rand der Kaimauer schienen jedenfalls verschlossen. Und den Blick nach vorn am Kai entlang blockierte diese Sichtblende. Jemand hatte quer über die Straße entlang des Kais hohe Holzpfosten miteinander verbunden. Über den Pfosten lag eine dunkelgrüne Plane. Eine kleine Öffnung hatten sie immerhin gelassen.
Tenenbaum stellte den Motor ab und öffnete die Tür, stieg aber nicht aus. Nichts zu hören. Eigentlich ungewöhnlich für ein Hafengebiet. Auch nachts herrschte hier nie Ruhe. Frachtschiffe wurden sonst zu jeder Tageszeit beladen oder entladen. Er spürte, wie ihn die Stille verunsicherte. Er versuchte, sich mit der Überlegung zu beruhigen, dass es gewöhnlich für alles eine vernünftige Erklärung gab – selbst bei der Army. Tenenbaum stieg aus und sah sich um. Dunkelheit und Wasser. Vom Kai wehte eine Art Ölgeruch herüber. Noch immer niemand in Sicht. Ein lautes Empfangskomitee aus polternden und frotzelnden Marinesoldaten wäre ihm jetzt willkommen gewesen. Andererseits – das ganze Gelände hier in Bremerhaven war schließlich amerikanischer Boden. Was sollte hier schon passieren? Er schlug die Tür des Jeeps zu und drängte sich zwischen den Pfosten hindurch.
Hinter der dunkelgrünen Absperrplane sah die Welt auf den ersten Blick nicht viel anders aus als davor. Kaianlagen, die Schienen der Hafenbahn und die roten Ziegel der alten Lagerhallen. Tenenbaum kannte diesen dumpfen, modrigen Geruch aus alten Hallen am Meer. Öl vermischt mit getrocknetem Seetang und Salz. Plötzlich hörte er rechts hinter sich ein leises Quietschen. Wie bei alten Eisenrollen, die blockierten, wenn sie über eine rostige Schiene gezogen wurden. Er drehte sich um. Keine Wachmannschaft. Niemand zu sehen. Aber viele Tore. Das dritte von links, das mit der großen weißen Aufschrift 43, schien einen Spalt offen zu stehen. Wieder dieses leise Quietschen.
Verdammt. Mit so einem Einsatz im Dunklen hatte er nicht gerechnet. Immerhin hatte er sich an die Vorschriften gehalten und seine Dienstwaffe eingepackt. Das Päckchen mit der Reservemunition für seinen 38er S&W lag allerdings 500 Kilometer entfernt in seiner Schreibtischschublade. Tenenbaum zog seinen Revolver und lief in gebückter Haltung zu der Mauer rechts von dem Tor. Er ging runter auf die Knie und robbte langsam auf das Tor zu. Tatsächlich – ein Armeestiefel klemmte in der Spalte zwischen Tor und Mauerwerk. Ein amerikanischer Armeestiefel.
Tenenbaum presste sich gegen die Mauer direkt neben dem Tor. Ziegelsteine, feucht und kalt. Plötzlich ein feines »Klong« direkt vor ihm. Er schrak zusammen. Das Geräusch kam aus dem Schacht unter dem verrosteten, feinmaschigen Gitterrost, der direkt vor allen Schiebetoren verlegt war. Tenenbaum sah nach unten. Nichts zu erkennen. Es musste irgendetwas Kleines durch das Gitter gefallen sein. Vielleicht verliefen da unten Heizungsrohre. Er legte sein linkes Ohr ganz nah an das Gitter. Aufgeregtes Umherrennen, feines Fiepen. Er hatte direkt unter sich irgendwelche Viecher aufgescheucht. Hoffentlich hielt das rostige Zeug sein Gewicht. Die Deutschen waren doch schließlich berühmt für die Qualität ihrer Erzeugnisse aus Stahl und Eisen. Er verspürte jedenfalls keine Lust, einer Meute Ratten vor die Nagezähne zu fallen.
Noch immer war keine Bewegung am Tor zu sehen. Auch nichts zu hören. Der Winkel für einen Schuss aus dem Inneren des Lagerhauses war zu spitz. Hatte sich der Stiefel gerade bewegt? Oder versuchte eine Art verborgener Federmechanismus, das Tor ins Schloss zu drücken? Jedenfalls war es ein Stiefel wie seiner. Trooper tactical boots.
»Hier ist Lieutenant Edward A. Tenenbaum, US Military Government for Germany.«
Keine Antwort. Tenenbaum sprang vor, drückte mit der Schulter gegen das Schiebetor. Der Stiefel fiel zur Seite. Nur ein einzelner Schuh, nichts weiter. Fehlalarm. Tenenbaum steckte seine Waffe ein und leuchtete mit seiner Taschenlampe in das Innere des Lagerhauses. Im Halbdunkel, nur zwei Schritte von ihm entfernt, lagen graue Decken – wie in einem Möbelwagen, wenn etwas Wertvolles geschützt werden sollte. Er hob eine Ecke an. Schwere, schwarze Materialkisten. Abgeschlossen. Er griff zu seiner Taschenlampe, suchte den Boden im Erdgeschoss ab und ging eine Etage höher. Aus einem der kleinen Fenster oben konnte er die Kaianlagen überblicken. Die dunklen Punkte hinten am Kai schienen ihm Jeep Willys zu sein, mit schweren Maschinengewehren auf der Heckfläche. Daneben parkten Zivilfahrzeuge der Army, schwarze und graue, alle der Marke Packard. Weiter hinten standen einige Eisenbahnwaggons mit offener Ladetür. Sie hatten die Fracht direkt vom Schiff verladen wollen. Der Kahn selbst sah nicht aus wie ein Frachtschiff. Eher ein Truppentransporter mit großem Kabinenaufbau und vielen Kranauslegern für die Rettungsboote. Der Auftrag sollte offensichtlich nicht als Frachtpassage zu erkennen sein. Tenenbaum erinnerte sich an die vielen »top secrets« auf seinem Fernschreiben. Die Leute in Washington hatten sich mit der Tarnung diesmal wirklich Mühe gegeben.
Plötzlich bewegte sich der große Ladekran am Kai. Eine schwere Last schwenkte langsam herüber zu den bereitstehenden Waggons. Ein Stapel von einer Art Kartons oder Kisten, in Folie verpackt. Der Kran setzte den Stapel vor einem der Waggons ab. So vorsichtig, als würde Munition verladen werden. Männer schnitten sofort die Folie auf und trugen die Kisten in die Waggons. Jede einzelne Kiste war auch noch mal in Folie verpackt.
Die lange Reihe der Waggons bot Tenenbaum ausreichend Schutz, um an die Verladezone heranzukommen. Er musste einfach wissen, ob sein Transport tatsächlich in falsche Hände geraten war – oder nicht.
Als er näher kam, war er erleichtert. Er erkannte einen der beiden Offiziere unter dem großen Portalkran. Major George Müller, der Chief Port Operations Bremerhaven kam regelmäßig zu Besprechungen ins Hauptquartier nach Frankfurt.
Tenenbaum kletterte zwischen den Puffern der bereitstehenden Waggons hindurch. Als er sich umdrehte, hatten ihn aus jedem der Waggons Soldaten mit Maschinenpistolen im Visier.
Der Chief stapfte auf ihn zu und begrüßte ihn.
»Na, Tenenbaum? Überrascht, dass es kein Empfangskomitee gab? Wir waren ein wenig beschäftigt. Ein paar übermütige Krauts haben beschlossen vorbeizuschauen. Waren wohl auf Beutezug für den Schwarzmarkt. Ist ihnen aber nicht gut bekommen.«
Der Chief Port Operations setzte sich langsam auf einen Stapel Paletten. Dann zog er aus seiner Brusttasche einen Flachmann und nahm einen Schluck.
»Der Aufmarsch war schon recht massiv, mit mehreren Trucks. Kein Kinderspiel, mit denen fertigzuwerden. Das waren gut ausgebildete Soldaten, die für jeden schießen, der zahlt. Wir haben sie erst mal zurückgeschlagen.«
Tenenbaum sah zu dem Schiff hinüber. Wie ein Kampfplatz nach einem Schusswechsel sah es auch hier nicht aus.
»Ich weiß, was Sie denken. Haben wir oben nicht gut aufgeräumt? Die drei Krauts, die es erwischt hat, hat die Military Police eingesammelt. Gut verpackt natürlich. Kann mir aber nicht vorstellen, dass uns das irgendwohin führt.«
Der Kapitän des Transportschiffs kam hinzu und unterbrach alle weiteren Überlegungen. Er begrüßte Tenenbaum und übernahm sofort die Gesprächsführung. Ein drahtiger, kleiner Mann in der Uniform der US Coast Guard, getrieben von großer Ungeduld.
»Okay. Boy. Wir haben nicht den ganzen Abend Zeit. Wir haben schon lange genug gewartet, bis sich endlich jemand von euch aus dem Hauptquartier hat sehen lassen. Also, hör zu! Sämtliche 4.800 Kisten sind bereits sicher in die Waggons verladen worden. Ordentlich gestapelt und gesichert für den Transport – ein feiner und ordentlicher Navy-Job. Nach dem Fernschreiben zu urteilen, bist ab sofort du für die Ladung verantwortlich. Ich verstehe zwar nicht, warum die Army kleine, dicke Kids wie dich schickt. Aber deinen Namen schreiben wirst du ja wohl können. Ich brauche nur deine Unterschrift. Dann kannst du wieder zu Mama. Die wartet sicher schon mit Pancakes auf dich …«
Tenenbaum hatte große Mühe, trotz des beleidigenden Tons ruhig zu bleiben. Was hatten sie ihm in der Ausbildung als Grundregel bei Belastungssituationen beigebracht? Irgendetwas mit Durchatmen. Eines war jedenfalls offensichtlich: Dieser Bursche stand wohl etwas zu lange und zu oft in seinem Leben im kalten Wind auf irgendwelchen Decks. Ranghöhere, ältere Offiziere fanden es zwar häufiger unter ihrer Würde, ihm als jungem Lieutenant mit Sondervollmacht Meldung machen zu müssen. Aber seinen nagelneuen Parker-Füller konnte sich der Captain auf jeden Fall in den Arsch stecken. Wer bestätigte schon den Empfang einer Ladung, ohne sie geprüft zu haben? Er jedenfalls nicht. Erst recht nicht bei seinem ersten Auftrag in eigener Verantwortung.
»Sir, bei der Army quittieren wir nichts, was wir nicht geprüft haben. Ich nehme an, das machen Sie bei der Coast Guard nicht anders. Woher soll ich wissen, ob Anzahl und Inhalt stimmen?«
»Come on, Boy. Willst du 4.800 Kisten nachzählen? Zähl einfach die Waggons.«
Der Kapitän grinste. »Als wir alles draußen hatten, waren es zwölf. Seitdem dürfte keiner weggekommen sein, dafür steht hier zu viel Military Police herum. Wir haben es dir einfach gemacht. Und in der Schule seid ihr im Rechnen sicher schon bei den Hundertern angekommen, oder?« Er hielt Tenenbaum ein Klemmbrett mit einem eng bedruckten Formular entgegen. »Unterschreib gefälligst hier.«
Tenenbaum kritzelte seinen Namen unleserlich in die rechte untere Ecke. Dann riss ihm der Kapitän das Klemmbrett aus der Hand.
»All right, Boy. Es sind zwölf Waggons, und in jedem Waggon liegen 400 Kisten. Nimm dir auf der Fahrt ruhig Zeit zum Nachrechnen. Denn vom Inhalt siehst du sowieso nichts: alles wasserdicht verpackt. Also: Ich wünsche gute Reise! Und tu mir einen Gefallen und grüße alle unsere Helden im Hauptquartier!«
Tenenbaum hatte das Gefühl, vollkommen allein mit einer derart großen Verantwortung zu sein. Bis ihm wieder einfiel, dass die Military Police den Transport nach Frankfurt bewachen würde. Er musste nur den kommandierenden Offizier finden. In einem der Waggons vermutlich. Tenenbaum ging auf den ersten Waggon zu. Männer mit Maschinenpistolen über der Schulter sprangen von der Ladefläche herunter und gaben den Blick frei auf die gestapelte Fracht. Er sah vor allem Paletten, umwickelt von Verpackungsfolie. Unter der Plastikfolie mussten die Kisten sein. Angeblich bestand die Ladung, die er übernehmen sollte, aus Tausenden von Kisten.
Tenenbaum wollte auf keinen Fall unnötig Zeit verlieren. Er freute sich darauf, den Befehl zur Abfahrt zu geben. Vor ihnen lag eine lange Bahnfahrt durch die britische Besatzungszone. Eine bedrohliche Fahrt. Denn schließlich war jedem Schmuggler und Schwarzmarkthändler klar, dass die amerikanischen Truppen in Deutschland ihr Material in Bremerhaven in Empfang nahmen. Die Zahl der intakten möglichen Wege nach Süddeutschland war damit sehr übersichtlich.
28. Februar 1948. Bahnstrecke zwischen Bielefeld und Paderborn. Britische Besatzungszone.
An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken. Dabei hatte Tenenbaum sein Quartier für die Dauer des Transports zunächst als durchaus komfortabel empfunden: ein Abteil ganz für ihn allein, saubere Bettwäsche und eine gepolsterte Liege. Allerdings alles in der Größe einer halben Gefängniszelle. Direkt vor seiner Nase klapperte der Deckel über dem Abfluss des Waschbeckens. Der Fahrtwind blies durch das Rohr in sein Gesicht, und wie durch ein Hörrohr verstärkt dröhnten die Fahrtgeräusche in seinen Ohren. Als Kind hatten ihn die Geräusche im Zug immer in seine tiefen Träume begleitet. Aber in dieser Nacht quälten sie ihn. Kein Wunder, weil er ständig wach wurde und an den ersten Überfall denken musste, den im Hafen. Da hatte die Fracht erst ein paar Meter auf deutschem Boden zurückgelegt. Womit war zu rechnen bei einer Fahrt von 500 Kilometern quer durch Deutschland?
Seit fünf Stunden ratterten sie durch die Nacht, direkt nach Süden. Von Bremerhaven quer durch die britische Besatzungszone: Bremen–Bielefeld–Paderborn–Brilon. Nie durch die Innenstädte, und hinter Marburg zurück in die amerikanische Zone, nach Frankfurt. Bald müsste Paderborn kommen. Nicht ganz die Hälfte der Fahrtzeit, und der einzige technische Halt, um die Wasservorräte aufzufüllen. Die beiden großen Dampflokomotiven hatten einen gewaltigen Durst.
Es war sicher nicht falsch, langsam wach zu werden. Er beugte sich vor, öffnete den Wasserhahn, sammelte Wasser in seiner Handfläche und ließ es sich über das Gesicht laufen. Die Ärmel der Jacke mussten als Handtuch herhalten. Draußen seit Stunden das immer gleiche Bild: Wiesen und Wald, manchmal ein Feld. Erst hell, dann dunkel. Tenenbaum sortierte sitzend mit den Füßen seine Stiefel und bückte sich, um sie anzuziehen. Genau in diesem Moment, mit dem Kopf tief unten, traf ihn ein plötzlicher Stoß. Als hätte eine Hauswand den Zug gestoppt. Hart prallte sein Kopf gegen das Abflussrohr des Waschbeckens. Irgendeine scharfe Metallkante schnitt in seinen Rücken, und seine Nervenbahnen schickten den stechenden Schmerz bis zu den Zehen. Tenenbaum rappelte sich mühsam auf, hielt sich am Bettrahmen fest. Jemand hatte die Notbremse gezogen. Er fühlte, wie Blut aus einer Schnittwunde an der Schulter den Rücken hinunterlief. Er riss einen der schäbigen, braunen Vorhänge zur Seite und sah aus dem Fenster. Die stählernen Radreifen rutschten noch immer über die Schienen. Erst langsam kam der Zug zum Stehen. Auf einem ungewöhnlich niedrigen Gleisbett. Ein kleiner Bahndamm, quer über einer Art Wiese. Weiter entfernt konnte man Bäume erahnen. Aber nur, weil weit dahinter Licht durch die Bäume schimmerte. Auf einmal verstummte das Kreischen der Bremsen. Stille. Kein Geräusch war zu hören – weder drinnen noch draußen. Die Wachmannschaft im Zug war offenbar in Deckung gegangen. Keiner rührte sich. Kein Mensch war zu sehen oder zu hören. Aber Tenenbaum konnte nicht unten bleiben. Es war sein Transport. Er hob sein Hemd hoch und presste ein Handtuch auf die Schnittwunde. Leise schob er die Tür zum Gang auf, die Taschenlampe in der Hand.
»Kein Licht!«
Tenenbaum drehte sich um. Neben ihm hockte Major Bill Webster, der Commanding Officer der Wachmannschaft. Webster presste ein Ohr gegen die äußere Wand des Waggons. Einige Soldaten knieten in geduckter Haltung bereits auf dem Gang.
»Runter – und weg von den Fenstern! Funker – zu mir!«
Der Funker krabbelte im Schneckentempo heran, offensichtlich noch nicht ganz wach. Webster fuhr ungerührt seine rechte Pranke aus und zog den Mann am Riemen des Funktornisters unsanft hinter sich her, bis zu einer Nische. Dort riss er dem Funker den Kopfhörer herunter und schnappte sich das Mikrofon.
»17 für Alpha drei, Meldung. Bitte kommen.«
Die Antwort des Zugführers ließ offenbar nicht lange auf sich warten. Webster nickte mehrmals.
»Verstanden, 17. Hindernis auf der Strecke. Telegrafenmasten. Achtung: Lokomotive bleibt unter Dampf. Licht ausschalten, auf Empfang bleiben. Bestätigen. Ende.« Webster drehte sich um zu seinem Funker. »Hauptquartier anrufen. Verstärkung anfordern. Verdammt, wo sind wir hier eigentlich?«
»Irgendwo kurz vor Paderborn«, flüsterte einer der Soldaten.
»An alle: Gefechtsbereitschaft. Bestätigung Standort beim Zugführer einholen. Und – Miller …«
Der Funker hatte sich inzwischen aufgerappelt. Zu Tenenbaums Erstaunen wirkte er weniger verängstigt als erwartet. Eher konzentriert, mit Block und Bleistift in der Hand. Webster sprach leise zu ihm.
»Versuch, die Engländer zu erreichen. Minden Headquarter. Die sind im Zweifel schneller hier als unsere Leute aus Frankfurt.«
Tenenbaum robbte näher an Webster heran. »Wie übel sieht es aus?«
»Wir wissen nicht, wie stark sie sind. Sie wissen, dass unsere Verstärkung vorläufig nicht kommt. Wer auch immer da draußen ist: Die haben dieses Gelände ausgesucht. Wir stehen ungeschützt – keine Bäume, kein Bahndamm. Dazu eine ebene Fläche auf beiden Seiten. Freies Schussfeld, ohne Deckung. Wir sehen sie nicht. Aber wir geben eine verdammt gute Zielscheibe ab.«
Tenenbaum überlegte. Welche Möglichkeiten blieben ihnen? Er sah auf seine Uhr. Zehn Minuten waren vergangen, seit der Zug gestoppt worden war. Bislang hatten sich die Angreifer nicht gerührt. Sie warteten ab. Weiter hinter musste es eine Straße geben. Da, wo das Licht war. Da würden die Lkw stehen. Webster sprach erneut ins Funkgerät, schüttelte dann den Kopf.
»Keine Verbindung mehr zum Lokführer. Ist vermutlich mit dem Heizer in die Security-Box geflüchtet.«
Die Logistiker im Hauptquartier hatten stolz von den Umbauten an den Sicherheitszügen erzählt. Die versteckte Kabine im Kohletender war eine der Sicherheitsmaßnahmen, die nicht gleich ins Auge sprangen.
Tenenbaum hielt den Spiegel hoch, den er inzwischen von seinem Waschtisch heruntergerissen hatte. Im Spiegelbild erschien eine dunkle Fläche. Erst langsam gewöhnten sich seine Augen an das schwache Licht. »Hier kommt man jedenfalls mit Lkw direkt heran an die Schienen, und damit an die Waggons.«
Webster rutschte näher, um das Bild im Spiegel besser ausrichten zu können.
»Da hinten, das könnten Reste eines Hauses sein. Aber auch was anderes. Irgendwas an dieser Wiese ist merkwürdig. Normalerweise wird ein Bahndamm höher gebaut. Die Nazis sollen überall unterirdische Tanklager angelegt haben. An den Autobahnen, aber auch an Bahnstrecken.«
»Wenn es hier ein Tanklager gibt – heißt das, die könnten das explodieren lassen?«
»Unwahrscheinlich. Unsere Ladung, auf die sie es ja abgesehen haben, würde mit in die Luft gehen. Egal, was hier ist oder nicht ist. Der Gegner kennt den Ort. Ich muss genauer wissen, wie es weiter vorn aussieht.« Webster kroch in Richtung nächster Waggon.