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Alexandra Kui

Solange
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hell
Ist

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1. Auflage 2018

© 2018 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Suse Kopp, Hamburg

Umschlagbild: © Getty Images/Kim Petersen

Songtext: James Blake, The Wilhelm Scream

© Universal Music Publishing Group

MI · Herstellung: CM

Satz: Buchwerkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-21528-6
V001

www.cbj-verlag.de

Prolog

Ich habe mir ein Spiderman-T-Shirt gekauft. Ein Leuchtturm war zu teuer. Es sind immer wieder welche im Angebot, das schon, traumhafte Exemplare, manche samt eigener Insel, aber dafür muss man selbst im Sommerschlussverkauf ein paar Millionen hinblättern. Spiderman-T-Shirts sind günstiger, und sie funktionieren nach dem gleichen Prinzip: Mut und Hoffnung. Es geht darum, der Dunkelheit die Stirn zu bieten. Mit Licht, mit Superheldenkräften, egal, Hauptsache weitersegeln. Auch wenn die Pause zwischen den Lichtsignalen manchmal so lange dauert, dass man denkt, es wird nie wieder hell. Es wird, versprochen! Und manchmal kann man wie Spiderman Mauern überwinden, und die Sinne sind plötzlich so scharf, dass es knistert, am Leben zu sein.

An Spiderman bin ich übrigens nur zufällig geraten, wann und wie, das erkläre ich noch, es hätte genauso gut Harry Potter sein können. Insgesamt kenne ich mich mit Helden weniger aus als mit Leuchttürmen, um ehrlich zu sein.

Ich weiß, dass mein Lieblingsleuchtturm hundertvierundvierzig Stufen hat und dass ich, wenn mich die schwarze Nacht umfängt, auf die Wiederkehr seines Lichts dreißig Sekunden warten muss.

Ich weiß auch, dass es vor über hundert Jahren Leute gab, die der Meinung waren, mit dem Bau von Leuchttürmen pfusche man Gott ins Handwerk, also hielten sie sie für Teufelszeug.

Im Sommer meines sechzehnten Lebensjahres hätte ich selbst beinahe angefangen, an den Teufel zu glauben, er schien geradezu Jagd auf uns zu machen. Seitdem habe ich da so ein Projekt laufen, möchte alles über die Leuchttürme dieser Welt erfahren, am liebsten würde ich jeden einzelnen von ihnen hinaufklettern.

Man muss Ziele haben, sich etwas suchen, das einem etwas bedeutet. Sonst wird es schnell zappenduster.

Eins

Immer wenn Katie Salomon kurz davor war, Mist zu bauen, murmelte sie diesen einen Satz vor sich hin: »Ich glaube, das ist gegen das Gesetz.« Es klang süßsauer, eine seltsame Mischung aus Wichtigtuerei und vorweggenommener Entschuldigung für das, was geschehen würde, und ich war nie ganz sicher, ob sie das sagte, um sich anzuspornen oder eben gerade nicht. Wahrscheinlich hatte sie selbst keinen Schimmer. Meistens jedenfalls setzte sie ihr Vorhaben dann in die Tat um – und kassierte die Quittung. Draufzahlen mussten wir natürlich alle. Bis auf die wenigen Ausnahmen, die Katie für uns zur Heldin machten. Beispiel: Auch geklaute Lichterketten lassen einen Weihnachtsbaum heilig erstrahlen. Und wie.

»Ich glaube, das ist gegen das Gesetz.« Jetzt also war es passiert. Ich hatte Katies Mantra auf den Lippen und fühlte mich dabei alles andere als heldenhaft. Nie hätte ich geglaubt, dass es jemals so weit kommen würde, denn ich wollte schon längst nicht mehr sein wie sie. Wer will das schon, mit fünfzehn eine Kopie der eigenen Mutter abgeben, und dazu noch eine schlechte?

Gegen das Gesetz. Die Hände vor mir auf dem Lenkrad sahen fremd aus, als gehörten sie nicht zu mir, als hätte ich sie nie zuvor gesehen. Die Glasperlenringe in Rosa, Himbeerrot und Türkis. Den Kratzer, den der Kater vom Hausmeister mir am letzten Tag vor den großen Ferien auf dem Schulhof verpasst hatte. Kein Zweifel, keine Ausflüchte – es waren meine Hände, und sie führten meinen Willen aus, als ich den Motor startete, wofür ich geschlagene fünf Versuche benötigte.

Die blaue Blechkiste, genannt Alditüte, machte einen gewaltigen Satz nach vorn, soff ab und kam auf dem Hang rückwärts ins Kullern, bis ich den Fuß von dem Pedal nahm, das ich idiotischerweise für die Bremse gehalten und als Reaktion auf den Schreck bis zum Anschlag durchgetreten hatte. Es war wohl eher die Kupplung. Die Kontrollleuchten auf dem Armaturenbrett glimmten in meinen Augen mindestens so hell wie einst die geklauten Weihnachtsbaumlichter, aber von Heiligkeit konnte keine Rede sein.

Ich riss an der Handbremse und fluchte. Verfluchte Katie, die mich in diese Lage gebracht hatte, wenn auch (ausnahmsweise) ohne jede Absicht, wie ich glaubte. Oder besser: hoffte. Dennoch war ich stinkwütend auf sie, gleichzeitig vermisste ich sie fürchterlich, während ich mir die Augen rieb und versuchte mich daran zu erinnern, was sie und ihr damaliger Freund Jens mir im vorletzten Winter über das Autofahren im Allgemeinen und über unseren störrischen alten Polo im Besonderen beigebracht hatten. Ein Auslaufmodell mit schwammiger Lenkung und einer Gangschaltung, die Jens zufolge zu viel Spiel hatte.

Zu viel Spiel, was immer das heißen mag. Es kam mir wie eine Metapher für das Leben meiner Mutter vor. Ich mag Metaphern. Und hier ist gleich noch eine, eine sensationelle, weil doppeldeutige Metapher für den Schlamassel, in dem ich steckte: auf der schiefen Bahn. Denn ich hatte natürlich keinen Führerschein (wie auch?), und die Auffahrt zur Berghütte war teuflisch steil. Zu allem Überfluss parkte die Alditüte auch noch mit der Nase zur Haustür, was bedeutete, dass ich wenden musste, um uns von hier wegzubringen.

Weit, weit weg. Dabei waren wir doch gerade erst angekommen und hatten uns Knall auf Fall in die Holzhütte mit ihren Schnitzereien am Giebel und den giftgrünen Fensterläden verliebt, hatten unter einem Wasserfall in einem Teich geplanscht, einen unordentlichen Strauß Wiesenblumen gepflückt und abends ein Lagerfeuer entfacht, was ziemlich kniffelig ist, wenn man von solchen Dingen keine Ahnung hat. Umso ausgelassener waren wir, als es endlich loderte und knackte. Unsere heißen, roten Wangen. Wie sich Funken in den Sternenhimmel geschraubt hatten. Wie glücklich wir waren. Heute, so der Plan, wollten wir zum Fluss, der in der Nähe rauschte, um ein Floß aus Treibholz zu bauen. Daraus wurde nun definitiv nichts.

Penny und Elias schliefen noch. Es würde schwer werden, die beiden davon zu überzeugen, so früh am Tag zu mir ins Auto zu steigen, obwohl unser Floßabenteuer lockte. Mir war schleierhaft, was ich ihnen erzählen sollte, aber eins wusste ich: Ich musste sie irgendwie überrumpeln, bevor sie richtig wach wurden. Und dann improvisieren – Katie-Style. Gegen das Gesetz. Mein Herz hämmerte. Ich drehte den Zündschlüssel im Schloss und bezweifelte, dass ich das Zeug dazu hatte, die Sache durchzuziehen.

Eine schwammige Lenkung bedeutet: Dein Wagen verarscht dich. Zuerst passiert nichts, dann viel zu viel, wie auf Glatteis. Weil ich beim besten Willen nicht am Hang anfahren konnte, ohne den Motor abzuwürgen, beschloss ich, mich ganz sachte auf die Wiese rollen zu lassen, um dabei mit maximalem Fingerspitzengefühl den entscheidenden Richtungswechsel zu vollziehen. Leider wurde, passend zu dem Taumel, in dem ich mich ohnehin schon befand, eine Pirouette daraus, wodurch der Polo so viel Schwung bekam, dass er plötzlich auf den Abgrund am Ende der Wiese zuraste.

Unterhalb schlängelte sich der Fluss durch den Wald. Ein schäumender Wildbach in einem felsigen Bett, überall Klippen wie Messer. Wenn die verfluchte Karre nicht bald täte, was ich von ihr wollte, würde sie entweder als Blechgeschnetzeltes oder – im besten Fall – als Floß enden, eine trotzige Antwort auf unsere Pläne für den Tag, die wir nun auf unbestimmte Zeit verschieben mussten. Vielleicht für immer.

Das Jaulen des Getriebes. Kräuterduft. Wie der Kühlergrill das hohe Gras und alles, was auf der Bergwiese wuchs und gedieh, durchsiebte – auch eine Art, Blümchen zu pflücken, nur dass man sie wahrscheinlich hinterher nicht in eine Vase stellen kann. Ich hatte immer noch unseren Strauß vor Augen, er stand unversehrt in seiner Vase auf dem Tisch und wollte bewundert werden. In Gedanken entschuldigte ich mich bei ihm und der Wiese.

Der Abgrund gähnte beinahe gelangweilt, ein Höllenschlund, bereit mich ohne Aufhebens samt Alditüte zum Frühstück zu verspeisen. Mir wurde schwindelig, die Bodenwellen rüttelten mein Hirn durch.

Auf einmal kam mir das Lenkrad wie ein Spielzeug vor, vielleicht war alles nur ein schlechter Witz, und ich saß in einer Autoattrappe in einem etwas zu groß geratenen Kinderkarussell. Gleich würde es sich unweigerlich in eine Achterbahn verwandeln. Ich kniff die Augen zusammen und wartete darauf, dass mein Magen sich hob. Das schreckliche Gefühl, ins Bodenlose zu fallen, kannte ich ja schon.

Doch diesmal blieb es aus. Der Untergrund und das Geräusch, das die Räder erzeugten, veränderten sich: Schotter. Als ich es wagte, die Augen zu öffnen und geradeaus zu schauen, konnte ich mein Glück kaum fassen. Wie durch ein Wunder war der Polo wieder auf Kurs, vor mir die Abfahrt ins Tal, hinter mir die Hütte. Die erste Herausforderung unserer Reise ins Ungewisse war gemeistert – ich hatte gewendet.

Ich keuchte wie nach einem Sprint. Gerade wollte ich den Motor ausschalten und aussteigen, um meine Geschwister aus den Betten zu holen, da wurden hinter mir die Türen aufgerissen. Penny und Elias ließen sich mit Schwung auf die Rückbank fallen.

»Wir wollen mit!«

Perfekt. Die Küken waren der Glucke wieder mal gefolgt. Das war ja einfach. Erleichtert nahm ich den Fuß von der Bremse, und schon rollten wir an, nahmen Fahrt auf. Unser Traum von unbeschwerten Ferien hatte ein jähes Ende gefunden.

Ich schluckte. Jetzt bloß nicht zurückschauen. Und um keinen Preis anfangen zu heulen, dafür war keine Zeit. Ich war schließlich die Älteste. Ich musste die Nerven behalten, meine Aufgabe war es, Weisheit und Zuversicht zu versprühen, wenn das hier klappen sollte.

»Wo ist denn Mika?«, fragte Penny direkt hinter mir, als sie bemerkte, dass niemand auf meinem Stammplatz, also auf dem Beifahrersitz saß.

Dann erst erkannte sie mich (wie hätte sie ihre normalerweise äußerst regelverliebte Schwester auch hinter dem Steuer vermuten sollen?), schrie vor Überraschung spitz auf, fing sich aber bemerkenswert schnell und korrigierte ihre Frage.

»Wo ist Katie?«

»Mama?«, rief Elias.

Er war der Einzige von uns, der sie so nannte. Für mich war sie Katie, seit ich denken konnte, in der Grundschule war Penny in ihrem damals noch grenzenlosen Ehrgeiz, mich zu kopieren, ebenfalls dazu übergegangen, unsere Mutter beim Vornamen zu nennen.

Inzwischen hatte die Kleine ihren eigenen Kopf. Wir waren vier Jahre auseinander, seit Neuestem hielt sie sich für eine elfjährige Stilikone, stand auf Miniröcke, schwarzen Nagellack und ihre falschen Doc Martens und gab mir ungefragt Modetipps. Ein richtiges Früchtchen, wie unsere scheintote Nachbarin sagen würde. Ich war eher der Typ Boyfriendjeans, T-Shirts und Hoodies. Damit fiel ich am wenigsten auf, was in unserem Viertel in Berlin von Vorteil sein konnte.

»Sitzt Elias auch richtig im Kindersitz? Hilf ihm, sich anzuschnallen«, befahl ich, ohne auf die Frage einzugehen.

Meine Stimme hatte Biss, Penny gehorchte. Ihr Bemühen, unser zappeliges Nesthäkchen ordnungsgemäß anzugurten, gewährte mir leider nur kurz Aufschub, bevor es mit der quälenden Fragerei weiterging.

»Wo ist Mama?«

»Hat Katie das erlaubt?«

»Wo fahren wir hin?«

Und so weiter.

Mein Kopf war voller Antworten, die ich für mich behielt. Es dauerte eine Weile, bis den beiden dämmerte, dass mein Schweigen eine Mauer war, hoch und mächtig und obendrauf mit Stacheldraht gesichert. Verständlicherweise frustrierte sie das gewaltig.

»Du bist gemein«, sagte Elias. »Ich hasse dich.«

Ich biss die Zähne zusammen. Hassen war anscheinend seine neue Lieblingsbeschäftigung, eine schlechte Angewohnheit aus dem Kindergarten, abgekupfert von den Älteren. Jetzt, mit fünf, gehörte er allerdings selbst schon zu denjenigen, die bald zur Schule kamen und daher den Ton angaben. Und der war rau.

»Ich muss mich aufs Fahren konzentrieren.«

Was stimmte. Wir hatten die Landstraße erreicht, und die hatte ich gestern schon vom Beifahrersitz aus nervenaufreibend gefunden, wie sie mit ihren Haarnadelkurven und Engpässen den verrückten Windungen des Flusses folgte. Obwohl weit und breit weder ein Auto noch sonst irgendjemand zu sehen war, setzte ich vorbildlich den Blinker und bog ab. Vor lauter Anstrengung bekam ich Schluckauf und meine Geschwister lachten mich aus. Anstatt mich zu ärgern, fand ich ihr Lachen beruhigend

Nachdem ich den Polo eine Weile in der Spur gehalten, diverse Kurven gemeistert und dabei ohne größere Schwierigkeiten die Kupplung bedient hatte, kam mir die Lenkung schon weniger störrisch vor. Erinnerungen an meine Fahrstunden mit Katie und Jens auf einem leer stehenden Fabrikgelände liefen wie ein Film in meinem Kopf ab und machten mich schon wieder traurig und wütend, versorgten mich aber gleichzeitig mit nützlichen Tipps:

Runterschalten, wenn es steil wird.

Keine ruckartigen Lenkbewegungen.

Seiten- und Rückspiegel im Auge behalten.

Es war übrigens meine Idee gewesen, so früh wie möglich fahren zu lernen. Mein durchschlagendes Argument: »Was ist, wenn Katie mal nicht kann und eins von den Kindern schlimm krank wird? Wer fährt dann mit ihnen in die Notaufnahme?«

Als Krabbelkind musste Elias ein paar Mal im Krankenhaus behandelt werden. Ständig verschluckte er irgendetwas oder steckte sich Spielzeug ins Ohr oder in die Nase.

Wir alle hatten gewusst, dass es Tage gab, an denen Jens auf Montage war und Katie nichts auf die Reihe bekam, egal ob wir hungrig waren oder jemand von uns Fieber hatte oder Kummer oder sonst irgendein dringendes Bedürfnis. Solche Tage waren seltener geworden, aber das konnte sich jederzeit ändern, sie lauerten auf meine Mutter wie Drogendealer im Park, süßes Gift im Gepäck.

Katie, ganz im Frauchenmodus, hatte die Entscheidung damals Jens überlassen: »Ich weiß nicht, sie ist doch noch so klein. Was meinst du?«

»Ich meine, Mika ist alt und vernünftig genug.«

Nur zur Information: Zu diesem Zeitpunkt war ich dreizehn. Vernünftig bin ich vermutlich schon zur Welt gekommen. Was blieb mir anderes übrig?

Als Jens ein Jahr später mit großem Tamtam seine Siebensachen packte und auszog, drückte er nicht etwa Katie, sondern mir die Wagenschlüssel in die Hand und brummte: »Die Alditüte lasse ich euch da.«

Dieser Mistkerl. Ließ uns einfach sitzen. Nicht, dass er der Erste gewesen wäre. Nicht, dass ich einen von Katies Typen jemals vermisst hätte. Wie hieß es doch so schön? Reisende soll man nicht aufhalten.

Aber der Rat mit den Seitenspiegeln war gut. So konnte ich besser abschätzen, wie nah ich den Felsen kam, zerklüftete, graue Granitwände, die der Straße an manchen Stellen bedrohlich zu Leibe rückten. Und ich verriss nicht gleich vor Schreck das Lenkrad, als eine Gruppe Motorräder vorbeidonnerte.

»Cool«, rief Elias.

»Wahnsinn.«

Er bestaunte die Maschinen, Penny die Fernsicht, denn gerade erreichten wir eine Art Hochebene. Berge, Hügel und Wälder bis zum Horizont. In der Ferne schimmerten die Kämme bläulich. Der Himmel makellos. Wir waren noch nie gemeinsam in die Ferien gefahren, hatten uns das Geld für die Reise mühsam zusammengespart. Ursprünglich hatten wir ans Meer fahren wollen, aber Unterkünfte dort waren in der Hochsaison viel zu teuer gewesen. Für die abgeschiedene Hütte im Harz hatte es gerade so gereicht. Und jetzt war alles für die Katz. Die Miete bezahlt, Blumen auf dem Tisch, wofür?

Ich riss mich am Riemen. »Hey, ihr da hinten, sagt mal, habt ihr wirklich geglaubt, wir würden die ganzen Ferien hier am Arsch der Welt verbringen?«

»Ja«, antworteten beide unisono.

Ich legte alle Munterkeit, die ich aufbringen konnte, in meine Stimme. »Ach kommt, hier kann man doch nichts Spannendes unternehmen. Überall Rentner am Krückstock. Es wird Zeit für ein richtiges Abenteuer, eins von Katies verrückten Spielen, ihr wisst schon.«

Schweigen. Offenbar hielt sich ihre Abenteuerlust in Grenzen. Oder war, genau wie meine, mit dem Anzünden eines Lagerfeuers und dem Bau eines Floßes bereits vollkommen befriedigt. Aber das konnte ich natürlich nicht zugeben.

Penny und Elias jammerten um die Wette. Alles sollte so sein wie gestern, doch das war es nicht. Nichts würde jemals wieder so sein. Was konnte ich dafür?

»Mal ehrlich, das Lagerfeuer hat doch gar nicht richtig gebrannt. Anderswo gibt es viel besseres Holz.« Eine selten dämliche Ausrede.

»Wo denn?«, fragte Elias sehr ernsthaft.

Hätte ich bloß die Klappe gehalten. Ich entdeckte das blaue Autobahnzeichen und folgte der Ausschilderung. Penny bemerkte es.

»Erlaubt Katie das?«

»Klar.«

»Echt jetzt?«

»Echt.«

Da unsere Mutter anders als andere Mütter war (anders, als Mütter nach Ansicht der meisten Erwachsenen zu sein haben), beschloss Penny, mir zu glauben. Ich sah es in ihrem Gesicht. Unsere Blicke begegneten sich im Rückspiegel. Penny grinste breit, ihre großen braunen Augen leuchteten. Vielleicht war sie doch für eine größere Herausforderung als einen Harzurlaub zu haben. Meine fesche kleine Schwester.

»Ich glaube, das ist gegen das Gesetz«, hauchte sie und betrachtete ihre frisch lackierten Nägel. Black Beauty. Ich wünschte, ich hätte ihren Schneid.

Zwei

Elias war barfuß. Ich sah es aus dem Augenwinkel und stöhnte auf. Schuhe! Wie konnte ich bloß die Schuhe vergessen? Im Morgengrauen, als ich in Rekordzeit Klamotten in Katies Reisetasche gestopft hatte, für jeden ein paar T-Shirts, Pullis, Jeans und als Extra Pennys Lieblingskleid, war ich lächerlich stolz auf mich gewesen, dass ich, obwohl ich heulte und am ganzen Körper bibberte wie ein Zwergpinscher im Eisregen, in der Lage war, an Unterwäsche, Socken und Zahnbürsten zu denken. Sogar unsere Kulturbeutel waren an Bord.

Und dann so ein dummer Fehler. Wie ich es hasste, Fehler zu machen. Mein Versagen war ein Schlag ins Gesicht, die Art Ohrfeige, die einen wachrütteln soll: Achtung Baby Blue, das hier ist mindestens eine Nummer zu groß für dich. Ich stöhnte wieder. Baby Blue. So hatte mich Katie früher oft genannt. Weil ich als einziges ihrer Kinder blaue Augen hatte.

»Was ist?«, fragte Penny. Neuerdings hat sie sich einen nörgeligen Unterton angewöhnt (den passenden Gesichtsausdruck dazu übte sie vor dem Spiegel), aber ihre Stimme klang sogar für ihre Verhältnisse extrem genervt.

»Nichts.«

»Und warum stöhnst du dann so?«

»Mach ich doch gar nicht.«

»Machst du wohl. So.« Gekonnt imitiert sie mich. »Lass es doch einfach bleiben, wenn du mir sowieso nichts zu sagen hast.«

»Okay.«

Sie hatte recht. Ich musste mich zusammenreißen. Da meine Geschwister nicht das Gefühl beschleichen sollte, von mir gekidnappt zu werden, war es wichtig, sie für unsere Mission zu begeistern, ihnen alles, was wir taten, so zu verkaufen, als wäre der Weg das Ziel, völlig egal, ob ich das selbst so empfand. (Was ich nicht tat, für mich galt definitiv die Losung: Das Ziel ist das Ziel. Zumindest redete ich mir das ein.)

»Hast du Schuhe an?«, fragte ich Penny, weil ich ihre Füße von meiner Position am Steuer aus nicht erkennen konnte.

»Klar, meine Dockers. Wieso?«

»Elias nicht.«

»Stimmt. Risikoooo!« Sie tat, als wollte sie Elias den großen Zeh abbeißen. Er lachte kreischend.

»So ist er eben.«

Ja, so war er. Ich wusste es doch: Unser Nesthäkchen erkundete die Welt am liebsten ohne Schuhe und Strümpfe, befreite sich bei jeder Gelegenheit davon. Als im Kindergarten ein Barfuß-Verbot ausgesprochen wurde, nachdem eine dieser hysterischen Ist-das-auch-ganz-bestimmt-alles-bio?-Mütter aus dem Jugendstilgetto für Hipster wegen angeblicher Fußpilzansteckungsgefahr Beschwerde eingereicht hatte (als wäre Fußpilz nicht irgendwie auch bio), weigerte sich Elias eine Woche lang hinzugehen.

Ich für meinen Teil hätte ihn ja gezwungen, doch Katie ließ ihm wie immer alles durchgehen. Weil er ein Junge und damit ein kleiner Mann war, glaubten Penny und ich. Bei Männern, den großen wie den kleinen, wurde sie eben schwach, da konnte sie nicht aus ihrer Haut. Was in Bezug auf Elias allerdings verständlich war. Er war wirklich ein Sonnenschein.

Am Ende des Kindergartenboykotts siegte zum Glück die Sehnsucht nach seinen Kumpels, sonst hätte er bis zum ersten Schnee gemacht, was er wollte.

Ich stellte mir Elias am Meer vor. Seine braunen Kinderfüße im Sand. Weiße Gischt. Kitschalarm, zugegeben, aber der Tagtraum verbesserte meine Laune schlagartig.

Wie zur Belohnung tauchte direkt hinter dem Ortsausgangsschild eines Städtchens, das wir gerade durchquert hatten, eine Ladenzeile auf. Es gab einen Aldi, eine Drogerie, einen Bäcker – und einen Billigschuhladen. Treffer! Ebenerdig wie eine Landebahn döste der Parkplatz in der Sonne, er wirkte frisch gepflastert, geradezu poliert, und war offenbar reichlich überdimensioniert für so ein verschlafenes Nest. Denn es herrschte gähnende Leere, Kunden waren keine in Sicht, lediglich vor dem Aldi-Eingang standen ein paar Autos.

Ein Himmelreich für Fahranfänger. Immerhin würde ich den Polo nicht unter der gestrengen Oberaufsicht irgendwelcher Altnazis in Rente, die sich aus Langeweile zum Hilfspolizisten berufen fühlten, in eine viel zu enge Lücke hineinmanövrieren müssen, wie es daheim in Berlin unter Garantie der Fall gewesen wäre.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Penny, als ich abbog und mich fragte, wo auf der riesigen Parkfläche unsere alte Karre am wenigsten auffallen würde.

»Was wohl? Schuhe kaufen. Für Elias. Ich habe vergessen, welche einzupacken.«

»Wie – einpacken?« Sie kaute auf dem Wort herum wie auf einem Stück Brokkoli (Penny hasste Gemüse), während ich die Alditüte neben einem Laternenmast parkte. Wir standen mitten auf dem Präsentierteller – da war nichts zu machen. Seufzend drehte ich den Zündschlüssel im Schloss.

Unterdessen dämmerte meiner Schwester, dass wir länger unterwegs sein würden, als ihr lieb war. Jetzt war sie es, die aufstöhnte.

Sie saß in der Falle.

Genau wie ich.

Wie jeder von uns.

Kaum war der Motor aus, sprang sie ins Freie, öffnete den Kofferraum und entdeckte die Reisetasche, daneben die Kühlbox, in der ich den Inhalt unseres Ferienhauskühlschranks verstaut hatte. Milch, Margarine, Aufschnitt, vier Äpfel. Dazu Toastbrot und Cornflakes und noch ein paar Getränke.

»Finger weg vom Gepäck. Bring nicht alles durcheinander«, befahl ich.

Es kam ziemlich unsouverän rüber, das hörte ich selbst. Egal wie viel Mühe ich mir gab, alles, was ich sagte, klang nicht nur genervt, sondern maximal gereizt, was schon wieder ein Sieg nach Punkten für Penny war, denn Genervtheit konnte durchaus etwas Lässiges haben, Gereiztheit nicht, gereizt war man nur, wenn man – wie ich – mächtig unter Strom stand.

Penny, eine Hand an der Tasche, die andere vorm Mund, starrte mich an, als hätte sie mich nie zuvor gesehen. Der Blick in ihren Augen war original der eines Entführungsopfers.

Es hatte wenig Sinn, meinen Bruder seine Schuhe selbst aussuchen zu lassen, dafür interessierte er sich viel zu brennend für Plüschtierhausschuhe in Form von Bulldoggengesichtern oder Drachenkrallen.

Ich entschied mich für ein Paar Skater mit Klettverschlüssen: schwarz, weiße Streifen, neongelbe Sohlen. Auch das Logo der No-Name-Marke war neongelb (ich fragte mich, warum No-Name-Marken überhaupt so fette Logos haben mussten). Allein schon wegen der grauenhaften Farbe waren die Schuhe eben gerade nicht das Gelbe vom Ei, aber sie sahen okay aus, außerdem waren sie laut Etikett für den Einsatz auf einem Skateboard konstruiert und daher entsprechend robust und bequem, wie ich hoffte.

Bevor ich Elias von einer Anprobe überzeugen konnte, flitzte er wie angeknipst die langen Regalreihen entlang und rappte: »Keine Schuhe, is’ mir egal. Kein Handy, is’ mir egal.«

Zum Glück besaß er keins. Anders als Penny. Gelangweilt stand sie genau in dem Moment vor einem Spiegel und tippte darauf herum, ein vertrauter Anblick, der mich diesmal allerdings in Panik versetzte, bis mir einfiel, dass ihre Prepaidkarte leer war. Gestern hatte sie den halben Tag darüber gejammert, woraufhin Katie zwar an der nächstbesten Tankstelle pflichtschuldig neues Guthaben für sie gekauft, es ihr aber zu meinem Erstaunen aus erzieherischen Gründen noch vorenthalten hatte, was ich richtig fand. Penny ging wirklich verschwenderisch mit ihrem Handygeld um.

Konkret hieß das jetzt für mich, dass der Guthaben-Code uneingelöst in Katies Brieftasche steckte, die wiederum in meinem Rucksack sicher verwahrt war. Ich konnte also erst mal aufatmen. Dennoch: Solange es auf Empfang war, blieb Pennys Smartphone definitiv ein Problem, egal ob mit oder ohne Geld zum Telefonieren und Surfen auf der Karte. Ich hätte mich ohrfeigen können, weil ich vorhin nicht gleich auf die Idee gekommen war, es an mich zu nehmen, als sie noch friedlich in ihrem Bett lag und schlief. Jetzt würde es unweigerlich Streit geben. Wie gesagt, ich hasste es, Fehler zu machen.

Ich zwang mich zur Ruhe: eins nach dem anderen.

Die Schuhe passten.

Elias hatte keine Einwände.

»Woher hast du so viel Geld?«, fragte Penny, als ich an der Kasse einen Fünfziger aus der Tasche meiner abgeschnittenen Jeans zog.

Um eine Antwort verlegen, schwieg ich verbissen. Ich weiß nicht, warum mir auf die Schnelle keine logische Erklärung einfiel, wahrscheinlich, weil sich meine Erfahrungen im Lügen allgemein in Grenzen hielten. Katie nannte mich immer »eine ehrliche Haut«, das meinte sie allerdings nicht als Kompliment, sondern spöttisch. Einmal hatte sie auch behauptet, ich sei einfach zu feige, um »kreativ mit der Wahrheit umzugehen« (auf diese Formulierung, die bestimmt nicht von ihr war, war sie lächerlich stolz). Doch inhaltlich war da etwas dran, zugegeben. Ich kann manchmal ein schrecklicher Feigling sein, was zur Folge hat, dass ich mich bemühe, so wenig wie möglich in Schwierigkeiten zu geraten. Meistens geht diese Strategie auf. Hin und wieder nicht.

Die Kassiererin guckte skeptisch, faltete den zerknitterten Schein auseinander und steckte ihn in eines dieser Prüfgeräte, die Fälschungen erkennen können. Anscheinend war er echt, denn sie klemmte ihn kommentarlos in die Kasse und zahlte das Wechselgeld aus, ihr Mausgesicht noch immer wachsamer, als mir lieb war. Obwohl: Sehen Mausgesichter nicht immer wachsam aus? Das ist ja gerade das Maushafte an ihnen.

»Geld wie Heu, die Gangsterbraut«, sagte Penny.

»Is’ mir egal«, sang Elias.

Ich spürte, wie mir das Blut in Hals und Wangen stieg, und versuchte, beim Knallrotwerden so entspannt wie möglich auszusehen.

Nichts wie raus hier. Leider geriet mein Tonfall ziemlich aggressiv, als ich der Kassenmaus einen schönen Tag wünschte. Trotzdem hätte sie ruhig antworten können, fand ich, das war schließlich ihr Job, und wir waren solvente Kunden, egal ob wir in ihr Weltbild passten.

Hektisch nahm ich meinen Bruder an die Hand und zog ihn hinter mir her aus dem Laden. Ich betete, dass Penny, dieses freche kleine Miststück, endlich die Klappe halten und uns folgen würde, und genau das tat sie dann auch. Ihr Glück.

Die Stimmung blieb also angespannt, und mir wurde klar, dass ich jede Menge gute Gründe hatte, mich einzuschmeicheln. Die Bäckerei neben dem Schuhladen verkaufte nicht nur Backwaren, sondern auch Waffeleis, angeblich selbst gemacht. Obwohl wir nicht gefrühstückt hatten, spendierte ich jedem von uns zwei Kugeln und erntete immerhin ein Dankeschön von Elias. Penny war sich dafür natürlich zu fein, also fürs Bedanken, nicht fürs Eisessen.

»Kann ich dein Handy mal sehen?«, fragte ich sie.

»Warum?«

»Nur so.«

»Was heißt nur so?«

»Einfach so eben. Kann ich?«

»Is’ mir egal.«

Wir mussten lachen. Eigentlich hätte so etwas wie Ferienlaune aufkommen müssen. Die Sonne schien, wir saßen nebeneinander auf der Rückenlehne einer Bank und hatten die Füße auf der Sitzfläche abgestellt. Elias balancierte in der Nähe auf einer hüfthohen Mauer – immer noch barfuß, versteht sich. Die Schuhe steckten im Karton und ließen ihn kalt.

Penny war misstrauisch, das konnte ich spüren, aber sie war auch verunsichert, weil wir ohne Katie in einem fremden Kaff auf einem fremden Parkplatz rumhingen, und ging daher ausnahmsweise nicht auf Konfrontationskurs. Nach einer kleinen Weile zog sie bereitwillig ihr Handy aus der Hosentasche, ein billiges China-Smartphone mit pinkfarbener Plastikverschalung, ihr ganzer Stolz.

»Hier.«

»Danke.«

Ich nahm es und schaltete es ab.

»Was soll das denn? Spinnst du?« Penny empörte sich halbherzig, reine Pflichterfüllung, als hätte sie insgeheim damit gerechnet, dass ich etwas Derartiges vorhatte.

Ich mochte nicht die sein, die gerade aus mir wurde. Es machte überhaupt keinen Spaß.

»Das ist Teil des …« Ich setzte zu einer ausgiebigen Denkpause an, in der ich es leider nicht eine Sekunde lang schaffte, zu denken. » … Spiels.« Es klang unglaublich lahm, das wusste ich selbst.

»Was für ein Scheißspiel soll das bitte sein?«

Ich seufzte. »Weißt du noch die Schnitzeljagden, die wir früher in der Wohnung veranstaltet haben?«

»Da waren wir Babys!«

»Und der Geburtstag, als sich Katie in der alten Fabrik versteckt hatte, weißt du noch, wie –«

»Das war kein Spiel. Da wollte sie sich umbringen, weil Jens sie sitzen lassen hatte.«

Sie konnte einen wahnsinnig machen. Ich schüttelte heftig den Kopf. »Sag so was nicht, das wollte sie nie und nimmer. Sie war bloß etwas schräg drauf. Aber das ist jetzt sowieso ganz egal. Jetzt haben wir nämlich ganz andere Sorgen.«

»Und die wären?« Missmutig knabberte Penny an ihrer Waffel, ihre Lippen vom Eis himbeerfarben. Nichts hasste meine kleine Schwester mehr als geteilte Sorgen. Sie hatte ihre eigenen. Von denen anderer Leute hielt sie sich fern, so gut es ging, selbst wenn es um ihre Familie ging. Schlaues Mädchen.

»Wir müssen diesen Leuchtturm finden.«

»Welchen Leuchtturm?«

»Den Katie immer zeichnet. Weißt du?«

»Mann, frag das doch nicht immer. Du nervst, Mika. Nichts weiß ich.«

Ich holte tief Luft. »Wenn Mama mit einer besonders langweiligen Bekannten telefoniert oder fernsieht, ohne richtig hinzusehen, oder einfach nichts weiter macht, dann kritzelt sie doch ständig auf irgendwelchen Zetteln herum.«

»Das weiß ich. Ich bin ja nicht blöd.«

»Vielleicht ist dir aufgefallen, dass immer wieder dasselbe Motiv dabei rauskommt: ein Leuchtturm nämlich, und zwar genau der, den sie früher mal am Meer gesehen hat, bei einer Jugendfreizeit. Das ist ihr Sehnsuchtsort. Weißt du?« Ich hatte es schon wieder gesagt, Penny hatte recht. Ich hätte mir auf die Zunge beißen können.

Meine Schwester rollte die Augen. »Ja. Ich. Weiß. Da war sie sogar obendrauf, glaube ich. Hat sie mal erzählt. Und dass das der beste Sommer ihres Lebens war.«

»Genau. Den suchen wir.«

»Den besten Sommer ihres Lebens?«

»Den Turm!«

»Der ist doch total weit weg. In Schweden oder so.«

»Dänemark.«

»Das ist doch alles dasselbe. Irgendwo da oben. Im Ausland. Wir können doch nicht einfach so mit dem Auto ins Ausland fahren. Katie bringt uns um.«

Keiner von uns dreien hatte je eine Landesgrenze übertreten.

»Doch können wir. Müssen wir sogar. Denn das ist nun mal unser … Auftrag. Und Regel Nummer eins lautet, wir dürfen nicht erreichbar sein. Deswegen muss dein Handy ausgeschaltet bleiben. Genau wie meins.«

»Wetten, dein Handy ist nicht aus?«

Ich zeigte es ihr.

Penny zog die Stirn kraus. Ich sah, wie es in ihr arbeitete.

Mein Konstrukt war mehr als dürftig, das war mir klar, irgendein ominöser Auftrag, ein Spiel mit bizarren Regeln, bestenfalls erinnerte sie all das wirklich ein wenig an unsere Mutter. An Katie, wie sie gewesen war, bevor sie anfing, in der Altenpflege zu arbeiten und auch sonst Dinge geregelt zu kriegen, wie die Familienhelferin es nannte. Die Zeit, als sie in den Tag hinein lebte, sich amerikanische Serien ansah, zeichnete und in ihrer Fantasiewelt lebte, an der sie uns manchmal teilhaben ließ, manchmal nicht. Wir hatten zigtausend verrückte Sachen mit ihr gemacht. Aber so verrückt?

Elias sah zu uns rüber. Er hatte sein Eis aufgegessen, ihm wurde langweilig, also warf er mit kleinen Steinen nach größeren Steinen. Er konnte sich gut selbst beschäftigen, natürlich machte er dabei jede Menge Quatsch, wie alle Kinder, aber nicht nur. Als er noch kleiner war, liebte er Wimmelbücher, inzwischen interessierte er sich fürs Buchstabieren, außerdem malte er gern, dann hatten wir noch Benjamin-Blümchen-Kassetten für ihn dabei. Elias würde ich locker bei Laune halten können. Was Penny betraf, machte ich mir Sorgen.

»Ist Katie echt damit einverstanden?«, fragte sie.

»Wenn nicht, hätte sie doch längst versucht, dich anzurufen, oder? Denk doch mal nach, dein Handy war heute morgen die ganze Zeit an.«

»Trotzdem«, sagte Penny. »So ist sie doch gar nicht mehr. So … durchgeknallt.«

»Nicht wenn sie arbeiten muss. Aber jetzt sind Ferien, da kann ein Hauch Durchgeknalltheit nicht schaden. Im Gegenteil. Komm schon, Penny, mach’s mir nicht so schwer, bitte. Es geht ans Meer, das ist doch toll. Du wolltest doch eigentlich viel lieber an die Ostsee als in die Berge.«

»Fahren wir denn an die Ostsee?«

Nicht mal die Frage konnte ich beantworten. Ich rief mir die stumme Karte in Erinnerung, die Teil der letzten Erdkundearbeit zum Thema EU gewesen war. Ich hatte eine Zwei geschrieben, nicht zu verachten, da musste doch irgendetwas hängen geblieben sein.

Dänemark also, oberhalb von Deutschland, unterhalb von Schweden und Norwegen, links und rechts Wasser. Nordsee UND Ostsee.

Wo war Katies Leuchtturm? Das Meer, das Katie zeichnete, war aufgewühlt, die Ostsee, wie wir sie kannten, eine Badewanne. Drei Tagesausflüge mit Katie und Jens nach Warnemünde, mehr Meer hatte ich in meinem Leben noch nicht gesehen.

»Wir fahren dahin, wo es am schönsten ist«, sagte ich. »Wirklich?«

»Versprochen. Hoch und heilig. Wir haben einen Supersommer vor uns. Wahrscheinlich sogar den besten unseres Lebens, wenn mich nicht alles täuscht.«

Hoch und heilig – am Arsch. So ist das mit dem Lügen. Je dicker man aufträgt, desto schneller gewöhnt man sich dran.