MASCHA MAY

DAS
SCHNEEKUGEL-DESASTER

UND DAS ALLES NUR

für einen Kuss

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Für Rainhard Gaßmann.
Deine Theater-AG war phänomenal.

Mascha May studierte Germanistik, Spanisch und Kunstgeschichte. Nach ihrem Abschluss las sie Berge von Kinder- und Jugendromanen und begann auch selbst zu schreiben. Inzwischen hat sie einige Bücher für verschiedene Altersstufen veröffentlicht. Wenn sie nicht gerade schreibt, arbeitet sie in einer Schulbibliothek und gibt Kurse im Kreativen Schreiben. Zusammen mit ihrer Familie lebt sie in ihrer Lieblingsstadt Berlin.

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1. Auflage 2018
© 2018 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Maria Seidel, unter
Verwendung von Motiven von iStock (© jupiter55, NYS444)
ISBN 978-3-401-80767-6

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1

»Hoppla.« Tinos Gesicht ist nur eine gefühlte Wimpernlänge von meinem entfernt. Ich traue mich kaum zu atmen.

Im Flur herrscht mal wieder dichtes Gedränge, und als Tino sich gerade an mir vorbeischieben wollte, wurde er von hinten angerempelt. Leider landete dabei nicht nur er, sondern auch der Inhalt seiner Trinkschokolade auf mir. Genauer gesagt, auf meiner linken Brust. Eine Schreckenssekunde lang denke ich, dass Tino auch noch seine Hand dort hinlegt, weil er sie reflexartig hebt. Doch dann hält er inne und kramt stattdessen ein Taschentuch aus seiner Jeans.

»Hier, nimm. Tut mir leid! Das wollte ich nicht.«

»Ähm, kein Problem«, krächze ich mit glühenden Wangen.

»Wirklich?« Seine Karamellaugen mustern mich skeptisch. Sie waren das Erste, was ich an ihm bemerkt habe, als er zum Halbjahresstart an unsere Schule kam. Jetzt, wo ich ihm zum ersten Mal so nahe bin, fällt mir auf, dass sich auf seiner braunen Iris gelbe Sprenkel befinden. Und seine Wimpern sind wahnsinnig lang.

Ich nicke. »Ja, wirklich.« Mein Herz klopft mir bis zum Hals.

»Komm schon, Tino, wir haben Mensadienst!«, ruft ihm einer seiner Freunde zu, der bereits die Glastür am Ende des Ganges erreicht hat. Tino macht einen Schritt rückwärts, ohne den Blick von mir zu lösen.

»Der Pulli ist nigelnagelneu«, schaltet sich Lou ein und stemmt die Hände in die Hüften.

Ich zucke zusammen. Dass meine Cousine die ganze Zeit bei mir war, hatte ich völlig vergessen. Ihr strenger Ton zerstört die Magie zwischen uns endgültig. Entschuldigend hebt Tino die Hände und eilt davon.

»Hey!«, ruft Lou ihm hinterher, doch ich zerre sie rüber zu den Toiletten, bevor sie noch mehr sagen kann. Normalerweise mag ich ihre direkte Art, aber jetzt wünschte ich, sie würde die Klappe halten.

»Er kann doch nichts dafür«, zische ich ihr ins Ohr. Am liebsten möchte ich noch eine Weile in dem kribbeligen Gefühl baden, das Tinos Nähe gerade in mir ausgelöst hat. Leider ist Lou unerbittlich. Mit zusammengekniffenen Augen zupft sie an meinem vormals cremefarbigen Oberteil, das die braune Flüssigkeit aufsaugt wie ein vertrockneter Schwamm. »Mann, Marie, du hast null geschaltet.«

»Hm?« Keine Ahnung, was sie meint.

»Na, du hättest sagen können, dass dein Lieblingspulli jetzt ruiniert ist, weil man so einen Kackfleck nie wieder rauskriegt, und du ihn dir deshalb noch einmal kaufen oder zumindest in die Reinigung bringen musst. Dann hätte Tino dir vielleicht angeboten, dich zu begleiten. Oder er hätte dich als Entschädigung ins Café eingeladen.« Sie kratzt sich an der Nase. »Wenn du dann auch noch dein Schauspieltalent ausgepackt und eine dicke Krokodilsträne geweint hättest, dann hätte er dich getröstet und dir einen Entschuldigungskuss gegeben.«

»Jetzt geht die Fantasie mit dir durch.« Ich zupfe an meinem Pulli herum und kann dabei an nichts anderes denken als an Tinos Augen. Es ist, als hätte mir jemand eins über den Schädel gezogen, wodurch die meisten meiner Gehirnzellen ins Koma gefallen sind.

Meine Cousine nickt grinsend. Ihr ist klar, dass sie maßlos übertreibt, und sie weiß genau, dass ich nicht der Typ bin, der Leuten etwas vorspielt. Zumindest nicht außerhalb meines geliebten Theaterkurses. Trotzdem hat sie recht. Tino hat mich gerade zum ersten Mal wahrgenommen und ich habe lediglich zwei stotternde Sätze zustande gebracht.

Missmutig zwirbele ich an einer Strähne aus meinem Pferdeschwanz herum.

»Wieso warst du denn so kurz angebunden?«, meckert Lou weiter.

»Weil Tino plötzlich tierisch nah vor mir stand und noch dazu auf meine Brust gestarrt hat.« Ich seufze laut. »Das war irgendwie verwirrend.«

»Dich hat’s wirklich erwischt.« Lou öffnet die Tür zu den Klos und verschwindet in einer Kabine. »Aber ich kann dich verstehen. Wenn ich nicht schon einen Freund hätte, fände ich Tino auch süß.«

»Schhhhhhhht, nicht so laut. Muss ja nicht gleich jeder mitkriegen, dass ich ihn mag.« Ich hoffe, dass niemand hier ist und sie gehört hat. Ganz besonders nicht Fenja. Meine Mitschülerin hat nämlich sofort Anspruch auf Tino erhoben, als er in der Sporthalle aufgetaucht ist, die sich meine Klasse seit dem Halbjahresstart mit seiner teilt. Normalerweise wird eine Zwischenwand runtergelassen, doch weil sie kaputt ist, können wir uns wunderbar gegenseitig beobachten.

»Der gehört mir«, hat Fenja selbstbewusst verkündet. Total lächerlich. Als könnte man jemandem einen unsichtbaren Bitte-Abstand-halten-der-ist-potenziell-vergeben-Stempel aufdrücken.

Ständig hat sie den Ball über die Bodentrennlinie zu den 10ern rübergeworfen. Dann ist sie hinterhergerannt, hat sich in Pose geschmissen und so getan, als hätte sie nur schlecht gezielt. Unser Sportlehrer Herr Trempke fand die Aktion gar nicht lustig. Irgendwann hat er mit dem Trommelfelltöter eingegriffen. So nennen wir seine Trillerpfeife. Sie kommt immer zum Einsatz, wenn es ihm stinkt, und hat einen dermaßen schrillen Ton, dass wir davon jedes Mal halb taub werden.

Jedenfalls hat Herr Trempke Fenja ausgewechselt. Doch die lässt sich von nichts unterkriegen. Dauernd entwickelt sie neue Strategien, um Tino aufzufallen. Vor zwei Tagen hat sie zum Beispiel im Flur einen Bücherstapel direkt vor seine Füße fallen lassen. Ich kam gerade um die Ecke und wurde Zeugin ihres Anmachversuchs. Tino hat ihr eilig geholfen und sich dann mit einem knappen »Sorry, ich muss weiter. Wir schreiben einen Test« in seine Klasse verabschiedet. Fenja tat mir fast ein bisschen leid, weil sie so traurig aus der Wäsche schaute. Deshalb habe ich ihr geholfen. Natürlich hat sie sich nicht mal dafür bedankt.

Später hat sie ihren Freundinnen erzählt, sie hätte eine prickelnde Begegnung mit Tino gehabt, bei der er heftig mit ihr geflirtet hätte. Entweder leidet sie unter akuten Wahrnehmungsstörungen oder sie ist eine eiskalte Lügnerin. Auf jeden Fall ist mit ihr nicht zu spaßen, wenn es um Tino geht.

Ich beuge mich runter und checke die Kabinen, vor denen ich immer noch stehe. Zum Glück sind Lou und ich alleine. Beruhigt gehe ich zum Waschbecken und versuche, das Desaster auf meinem Pulli zu beseitigen. Mit mäßigem Erfolg. Das Kackbraun verwandelt sich lediglich in einen pitschnassen Ockerton. Zum Glück muss ich heute nur noch zwei Stunden Kunst überstehen.

»Du solltest endlich aktiv werden, sonst wird das nix mit Tino«, sagt Lou, die neben mir auftaucht und sich die Hände wäscht. »Allerdings würde ich es nicht auf einen offenen Krieg mit Fenja anlegen. Die kämpft nicht fair.«

Nickend ziehe ich einen Stapel Papierhandtücher aus dem Spender, um damit, so gut es geht, den Fleck zu trocknen. »Das wäre mir sowieso zu kindisch.«

Lou prustet los. »Du bist ja sooooo erwachsen mit deinen fünfzehn Jahren.«

Ich strecke ihr die Zunge raus und lache mit.

Heute projizieren wir Porträtfotos von uns auf eine Papierrolle, die an der Wand hängt, und zeichnen die Umrisse ab. Danach teilen wir die skizzierten Gesichter in unterschiedlich große Flächen auf und malen diese bunt aus. So soll ein Pop-Art-Bild entstehen. Lou ist mit Feuereifer dabei. Ihre drei Sommersprossen auf der Stupsnase macht sie gelb, die braunen Augen grün, den breiten Mund pink und ihre kringeligen dunklen Haare orange. Das erinnert mich ein bisschen an ein Knallbonbon.

Ich achte gar nicht darauf, welche Farben ich benutze, weil meine Gedanken sich verselbstständigen. Wie soll ich mich gegenüber Tino nur verhalten? Bei meinem ersten Freund Cedrick ist alles so einfach gewesen. Er war derjenige, der auf mich zugekommen ist. Letzten Sommer hat er in Lous und meiner Lieblingseisdiele ausgeholfen. Irgendwann fragte er mich nach meiner Nummer. Weil ich ihn süß fand, gab ich sie ihm. Kurz darauf sind wir zusammen ins Kino gegangen und wurden ein Paar. Als die Sommerferien zu Ende gingen, ist Cedrick mit seinen Eltern weggezogen. Er lebt jetzt in Hamburg. Am Anfang war das ganz schön hart. Eigentlich wollten wir Kontakt halten, haben uns dann aber schnell aus den Augen verloren und das Ganze schließlich beendet.

Im Jungs-Anflirten habe ich also null Erfahrung. Fest steht nur, dass ich nicht der Typ für peinliche Völkerball- oder Bücherwerf-Aktionen à la Fenja bin. Und um einfach zu Tino zu gehen und ihn anzuquatschen, fehlt mir der Mumm.

Ich tunke den Pinsel in meinen Farbkasten auf dem Tisch. Dann tupfe ich vorsichtig den Bildhintergrund damit ab. Vielleicht sollte ich ihn doch noch mal wegen dem Pulli ansprechen? Das würde aber sicher komisch wirken, oder?

»Cool!« Lous begeisterte Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Sie tippt auf mein Papier. »Du siehst genauso schrill aus wie ich.«

Überrascht starre ich auf das Kunstwerk vor mir, das quasi von selbst entstanden ist. Meine normalerweise dunkelblonden Haare hängen in weißen Strähnen über meine Schultern. Die blauen Augen schimmern fliederfarben, meine Haut erstrahlt in verschiedenen hellblauen Nuancen und den Hintergrund habe ich mit türkisen Tupfen bedeckt.

Lou schiebt ihr Bild neben meins. »Wir sollten sie Opa schenken.«

Obwohl ich bezweifle, dass er mit zwei dermaßen schrägen Porträts seiner Enkelinnen etwas anfangen kann, nicke ich. Bestimmt freut er sich trotzdem.

Nach dem Unterricht machen wir uns auf den Weg nach Hause. Wir öffnen unsere Fahrradschlösser und schwingen uns auf die Sättel. Heute herrscht typisches Aprilwetter. Es nieselt und der Wind pfeift mir ordentlich um die Ohren. Ich freue mich schon auf den Mai, denn dann wird es endlich wärmer.

Zum Glück ist es nicht weit bis nach Hause. Auf der Straße vor unserem Haus parkt ein LKW und unsere Mütter schleppen mit hochroten Köpfen Kistenberge in den Spielzeugladen im Erdgeschoss. Ich hatte ganz vergessen, dass heute eine Großlieferung ansteht. Gut, dass Lou und ich nicht gebummelt haben. Mama und Tante Anna hätten es uns sicher übel genommen, wenn wir nicht gleich nach der Schule aufgetaucht wären.

»Hey, ihr zwei, packt bitte mal mit an!«, ruft uns meine Mutter auch schon zu. Wir stellen die Räder ab und schnappen uns ein paar kleinere Kisten. Opa ist auch da. Wegen seines Rückens kann er nichts mehr tragen, kontrolliert jedoch mit Argusaugen die Lieferung und hakt alles auf einer Liste ab.

Als der LKW schließlich leer ist, sieht der Laden aus wie eine Großbaustelle. Schon an normalen Tagen wimmelt es hier von Legokästen, Spielen, Puzzeln, Puppen und etlichen anderen Kinderträumen. Jetzt kann man aber kaum mehr einen Fuß vor den anderen setzen.

»Wo soll das ganze Zeug denn hin?«, erkundige ich mich. Ich habe mich erschöpft an eine Truhe mit einem rot-gelben Schnörkelmuster gelehnt. Lou hockt auf dem Tresen und trinkt gierig eine Flasche Wasser leer. Opa hat es sich in seinem Samtsessel gemütlich gemacht. Der steht vor dem Schaufenster, direkt neben dem Bücherregal, und sieht aus, als wäre er aus einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht hergebeamt worden. Der blaue Samt an den Armlehnen ist allerdings leicht abgewetzt und das Gold am Rand blättert auch ab. Kein Wunder, denn Opa sitzt die meiste Zeit des Tages darin, liest den Kindern aus der Nachbarschaft etwas vor, berät die Kunden oder döst einfach vor sich hin.

»Ach.« Mama winkt ab. »Wenn alles ausgepackt ist, kriegen wir es schon unter. Da ist jede Menge Verpackungsmaterial dabei.«

Tante Anna nickt. »Astrid hat recht. Ansonsten kommt eben ein Teil davon in den Keller.« Die beiden sind meistens einer Meinung. Deshalb klappt es zwischen ihnen auch so gut. Lou und ich nennen sie heimlich das A-Team. Seit zwei Jahren führen sie das Geschäft zusammen. Sie haben es von Opa übernommen, als Oma gestorben ist. Ein richtiges Schwesternunternehmen also.

»Wer hat denn das Monstrum hier bestellt?« Mit leicht gerümpfter Nase zieht Tante Anna ein mindestens ein Meter großes Kuscheltiereinhorn aus einem Karton.

»Das war ich«, antwortet Opa. Er steht auf und tätschelt die bunte Stoffmähne. »In irgendeinem Karton muss auch noch eine Ladung mit kleineren Einhornvarianten stecken – den Socken, Postkarten, der Schokolade und so weiter. Ich dachte, ein großes Kuscheltier wäre ein Hingucker im Schaufenster. Immerhin wollen wir zeigen, dass wir mit dem Trend gehen.«

Mama und Tante Anna werfen sich einen skeptischen Blick zu. Derweil schnappt Lou sich das Riesenvieh, schwingt sich auf dessen plüschigen Rücken und tut so, als würde sie reiten. »Ich find’s cool.«

»Ich auch«, bestätige ich. Bestimmt werden die kleinen Kundinnen ausflippen und gleich darauf rumturnen wollen. »Wir sollten ihm einen Namen geben.« Grübelnd runzele ich die Stirn. »Wie wär’s mit Horst?«

»Horst?«, quietscht Lou. »Was ist denn das für ein bescheuerter Name? Einhörner heißen doch eher Abendsonne, Dreamy, Glitzerschweif und Mondreiter oder so.«

»Mir egal. Das hier ist eindeutig ein Horst.« Natürlich ist mein Vorschlag kein bisschen ernst gemeint. Aber Opa gluckst und nickt zustimmend.

»Horst finde ich gut. Ein früherer Mitschüler von mir hieß auch so und der hatte dieselben großen Augen und wirren Haare wie unser Glitzerpferd hier.«

»Dann aber bitte wenigstens Magic Horst«, sagt Lou und tut so, als würde sie in einen wilden Galopp verfallen.

»Gute Idee«, kichert Mama, während sie die anderen Einhorn-Accessoires auspackt.

Tante Anna schiebt die Spielzeugeisenbahn an der Fensterfront beiseite. »Na gut, dann soll er Magic Horst heißen und hier oben stehen«, sagt sie seufzend.

Ich jubele, platziere zusammen mit Lou den neuen Ladenbewohner im Schaufenster und lege ein paar Einhornsocken, -bleistifte und -blöcke daneben, die Mama uns reicht. Danach fangen wir an, zu viert die restlichen Kartons auszupacken, während Opa oben in der Wohnung verschwindet.

»Zeit für eine Stärkung«, sagt Opa irgendwann. Er hat seinen Kopf durch die Tür gesteckt und wir folgen ihm im Entenmarsch in die Küche, wo ein duftender Eintopf auf uns wartet. Hungrig machen wir uns darüber her und genießen Opas Köstlichkeit.

Nachdem wir alle satt und zufrieden sind, werden Lou und ich entlassen. Wie so oft liefern wir uns auf dem Weg zu unseren Zimmern ein wildes Rennen. Leider ziehe ich den Kürzeren. Noch vor dem Dachgeschoss hängt Lou mich ab. Wir wohnen ganz oben und haben sogar ein eigenes kleines Bad. Die Küche, ein großes Bad und die Zimmer von Mama, Tante Anna und Opa liegen gleich unter uns im ersten Stock.

Als sich meine Eltern getrennt haben und Mama ins Spielzeuggeschäft eingestiegen ist, schlug sie mir vor, hier einzuziehen. Ich war sofort Feuer und Flamme. Lou und Tante Anna haben damals schon hier gewohnt. Seit ich denken kann, sind sie nur zu zweit. Im Gegensatz zu mir hat Lou nämlich keinen Vater. Also natürlich hat sie einen, aber sie kennt ihn nicht. Opa ist also der einzige Mann im Haus. Manchmal wäre er gerne der Chef, doch gegen unsere geballte Mädelspower hat er selten eine Chance.

»Ich muss dringend duschen!«, ruft Lou mir zu und verschwindet im Bad. Ein Grinsen macht sich in meinem Gesicht breit. Mir ist klar, wieso sie es eilig hat. Sie will mit Jason chatten. Es ist mindestens vier Stunden her, dass die beiden sich WhatsApp-Nachrichten geschickt haben. Eine halbe Ewigkeit!

Ich lege meine Tasche in die Ecke, ziehe meinen Pulli aus und streiche über den mittlerweile trockenen Ockerfleck. Natürlich muss ich dabei an Tino und seine Karamellaugen mit den gelben Sprenkeln und den langen Wimpern denken. Vielleicht sollte ich mal wieder einen Wunsch aufschreiben. Das hat mir bisher immer Glück gebracht.

Kurzerhand ziehe ich ein Papier aus meinem Zettelkästchen, setze mich an den Schreibtisch und notiere: »Ich wünsche mir einen wunderbaren Prickelkuss von Tino.« Dann falte ich den Zettel zusammen und hole meine Schneekugel von der Kommode, um ihn darin zu verstecken. Sie hat ein Geheimfach, das gut verborgen in dem großen blau-weißen Sockel liegt. Darauf steht eine Fee mit Zauberstab, über der sich wiederum ein mit Wasser und Glitzer gefülltes Glas wölbt.

Wahnsinnig kitschig, aber Oma hat sie mir vor ein paar Jahren geschenkt und seither ist sie mein Geheimversteck für Herzenswünsche aller Art. Ein bisschen wie ein Tagebuch, nur ohne viel Text. Mittlerweile haben sich schon einige Zettel angehäuft – zwischen zwanzig und dreißig sind es bestimmt. Und tatsächlich sind die meisten Wünsche wahr geworden.

Als mir zum Beispiel in der Grundschule beim Sport ein Basketball die Nase plattgemacht hat, habe ich mir gewünscht, dass sie wieder wie vorher wird. Ich wollte nicht für den Rest meines Lebens wie eine griechische Statue oder eine schrullige Hexe mit einem schiefen Zinken im Gesicht rumlaufen. Kurz darauf bekam ich einen Nasengips. Das sah absolut dämlich aus, hat aber gewirkt. Der Knochen wuchs einwandfrei zusammen. Nach der Trennung meiner Eltern habe ich mir dann gewünscht, bald wieder mit einer glücklichen Familie zusammenzuleben. Und das tue ich jetzt.

Auf dem letzten Wunschzettel, der sich noch nicht erfüllt hat, steht: »Ich würde gerne endlich mal wieder was richtig Aufregendes und Verrücktes erleben.« Das habe ich geschrieben, als Lou vor einem halben Jahr Jason kennengelernt und sich total in ihn verknallt hat. Er war einen Monat als Austauschschüler in unserer Parallelklasse. Kurz nachdem es zwischen den beiden gefunkt hat, ist er wieder zurück nach London gegangen. Lou war wochenlang am Boden zerstört. Seither tauschen sie sich ständig per Whats-App aus. So teilen sie trotz der Entfernung ihren Alltag miteinander.

Eine Liebesbeziehung über einen Ozean hinweg. Genauer gesagt einen Kanal. Total verrückt und aufregend, finde ich. Mit Cedrick habe ich nicht mal die Entfernung Berlin-Hamburg geschafft. Demnächst sehen sie sich auch wieder live. In den Sommerferien will Lou ihren Jason zum ersten Mal besuchen. Tante Anna hat es erlaubt, nachdem sie mit seinen Eltern telefoniert hat.

Mein Leben dagegen wirkt wie ein Dornröschenschloss im Tiefschlaf. Vor allem mein Liebesleben. Da herrscht völlige Ebbe. Ich wünschte, es wäre auch bei mir endlich mal wieder etwas los. Mit Tino an meiner Seite würde sich das schlagartig ändern. Wenn wir ein Paar wären, würde ich auf Wolke sieben schweben. Ich hätte aufregende Dates, jede Menge Herzklopfen und Spaß. Doch dafür müsste ich Tino endlich näherkommen.

Seufzend stelle ich die Kugel zurück auf die Kommode und mache es mir auf meinem Bett gemütlich. Wenn ich nur wüsste, wie ich ihn besser kennenlernen könnte, ohne mich vor ihm zum Affen zu machen. In seiner Gegenwart traue ich mich ja kaum zu atmen. Aber wie soll ich das ändern? Im Moment fällt mir einfach keine gute Lösung ein. Das nervt mich gewaltig. Normalerweise bin ich nämlich nicht so eine Piepsmaus.

2

Am nächsten Morgen sind meine schweren Gedanken wie weggeblasen. Heute Nachmittag findet endlich wieder mein geliebter Theaterkurs statt. Ich freue mich schon riesig darauf.

Unten in der Küche begrüßt Opa mich fröhlich und ich gebe ihm ein Küsschen auf die Wange. Er hat Kakao gemacht und Cornflakes bereitgestellt. Gestern Abend haben Lou und ich ihm noch unsere Pop-Art-Porträts geschenkt. Zu unserer großen Belustigung hat er sie sofort über seinem Samtsessel im Laden aufgehängt, obwohl sie überhaupt nicht zur Einrichtung passen. Mama und Tante Anna haben fast so skeptische Gesichter gemacht wie bei Magic Horst, aber kein Veto eingelegt.

»Guten Morgen«, begrüßt er Lou lächelnd, als die mit hängendem Kopf zu uns stößt.

»Hmpf«, murmelt sie.

»Hmpf«, antwortet Opa im gleichen Tonfall und zwinkert mir zu.

Wir alle wissen, dass meine Cousine ein schlimmer Morgenmuffel ist. Und heute scheint sie ganz besonders müde zu sein. Sie schüttet die Milch für die Cornflakes in ihren Kakao, tunkt dann den Löffel hinein und runzelt die Stirn, als sie keine Flakes darin findet. Ich unterdrücke ein Glucksen und schiebe ihr wortlos die gefüllte Müslischüssel unter die Nase. Wahrscheinlich hat sie die halbe Nacht mit Jason gechattet.

Kurze Zeit später rauschen Mama und Tante Anna rein, machen sich zwei Espresso und unterhalten sich angeregt über todlangweilige Buchhaltungsthemen.

»Was hast du dir denn für heute Nachmittag überlegt?«, frage ich Opa mit vollem Mund. Seine regelmäßigen Vorlesestunden für interessierte Kunden und die Kinder aus der Nachbarschaft nimmt er sehr ernst. Immer sorgt er für passende Stimmung. »Backst du wieder?« Als er kürzlich einen Jugendreiseführer über Stockholm vorstellte, hat er vorher einen Riesenberg Zimtschnecken gemacht. Die sogenannten Kanelbullar waren dermaßen lecker, dass sie in Windeseile weggeputzt wurden.

Opa schüttelt den Kopf. »Ich bin mir noch nicht sicher. Vielleicht lese ich ein Märchen vor oder etwas aus dem Feenbuch, das gestern gekommen ist.«

»Du könntest dich ja als böser Zauberer verkleiden«, schlägt Tante Anna vor, die offenbar mit halbem Ohr zugehört hat. Sie macht einen Schritt auf ihn zu und tippt ihm auf die Nase. »Einen krummen Zinken hättest du schon mal.«

Gespielt empört schlägt Opa ihr auf die Finger und murrt etwas von »Frecher Tochter«, woraufhin Mama und sie anfangen zu glucksen wie kleine Mädchen.

»Also als Onkel Fester fand ich dich grandios«, werfe ich ein. Beim Vorlesen einer Monstergeschichte hat sich Opa neulich als Mitglied der Addams Family verkleidet. Er klebte sich eine Glatze auf und malte sich schwarze Ringe unter die Augen. Immer ist er für eine Überraschung gut. Das lieben wir alle so an ihm. Ganz bestimmt hat Lou ihre Verrücktheit von ihm geerbt. Ich komme da eher nach meiner Oma. Die war etwas zurückhaltender.

»Heute ist mir nicht so danach«, sagt er und trinkt einen Schluck aus seiner Kaffeetasse.

»Ach, dir fällt schon was ein.« Ich stehe auf, um ins Bad zu verschwinden und mich fertig zu machen. Lou kommt sicher gleich nach. Ihre Schüssel ist mittlerweile halb leer gefuttert und sie blinzelt ein paarmal, als ob sie langsam aus ihrem Tiefschlaf erwachen würde.

»Vielleicht könnte ich mir ja deine Schneekugel ausborgen, Marie?«, überlegt Opa, als ich die Küche gerade verlassen will. »Die würde zum Feenbuch passen.«

Ich zögere. Es ist ja nicht irgendein Spielzeug, auch wenn es vielleicht so aussieht. Andererseits weiß ich, dass sie bei Opa in guten Händen ist. Und wenn ich meine Wunschzettel vorher rausnehme, besteht kein Grund zur Sorge. Also nicke ich schließlich. »Klar.«

Er lächelt glücklich und ich freue mich, dass ich ihm eine Freude machen kann.

Ich bin noch nicht lange im Bad fertig, als es klingelt. Niemand außer mir scheint es zu hören, denn kurz darauf klingelt es wieder und dann noch einmal.

»Komme schon!«, brülle ich, schnappe meine Tasche und flitze runter an die Tür.

»Hallo, ich bin Frau Blum, die neue Putzhilfe.« Eine nett aussehende ältere Frau streckt mir ihre Hand entgegen.

»Ach, hallo«, begrüße ich sie. Mama und Tante Anna haben vor ein paar Wochen eine Anzeige geschaltet. Sie suchen jemanden, der regelmäßig sauber macht und ab und zu auch mal im Laden aushilft. Anscheinend hat Frau Blum das Rennen gemacht.

»Ich habe zuerst an der Ladentür geklopft. Da hat mir aber niemand geöffnet«, entschuldigt sie sich.

»Kein Problem, kommen Sie rein.« Ich lotse sie durch den Hausflur zur Hintertür des Ladens. Kaum haben wir diese erreicht, treten Mama, Tante Anna und Opa aus dem Keller. Kein Wunder, dass sie das Klopfen und Klingeln nicht gehört haben. Nach einem flüchtigen Blick auf die Uhr verabschiede ich mich. Es wird Zeit, sich auf den Weg zur Schule zu machen.

Lou wartet bereits vor dem Haus. Bevor es losgeht, muss ich aber erst einmal dafür sorgen, dass ihr Gesicht zahnpastafrei wird. Grinsend wische ich an ihrer Wange herum, um die weißen Kleckse zu beseitigen.

»Wie kommt das denn dahin?«, fragt sie verwundert. Endlich ist sie zu einem vollständigen Satz fähig, was mir signalisiert, dass ihre Gehirnzellen angesprungen sind und wir uns gefahrlos mit den Rädern in den Straßenverkehr werfen können.

»Ich habe mir was überlegt.« Schlapp tritt sie in die Pedale.

»Was denn?«, erkundige ich mich und ziehe den Reisverschluss meines Sweaters höher, weil der Fahrtwind ziemlich frisch ist.

»Tino ist doch in der Sport-AG.«

»Stimmt.« Ein paar unserer Klassenkameraden nehmen daran teil und haben neulich über das Team gesprochen.

»Also solltest du dich auch anmelden.«

Schwungvoll drehe ich den Kopf zu ihr nach hinten und verliere dabei fast das Gleichgewicht. Die Gruppe spielt meistens Basketball und Lou weiß ganz genau, dass ich mit Bällen auf dem Kriegsfuß stehe. »Nicht dein Ernst.«

»Mit Sicherheit würdest du ihm dort auffallen.«

»Ja super, als eine echte Oberniete.«

»Genau, vielleicht kriegst du den Ball wieder blöd an den Kopf, fällst in Ohnmacht und er fängt dich auf. Wäre das nicht romantisch?«

»Hmpf.« Also ehrlich. So doofe Vorschläge bringen mich kein Stück weiter.

»Ja, schon gut«, brummt Lou. »Dumme Idee.«

»Korrekt.« Den Rest des Weges ärgere ich mich darüber, dass ich so schlecht in Sport bin. Denn tatsächlich wäre eine gemeinsame AG die perfekte Gelegenheit, Tino näherzukommen. Wenn ich wie ein elegantes Reh in hübschen Trainingsshorts vor ihm herumhüpfen würde, könnte ich ganz bestimmt seine Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Aber das kann ich mir abschminken, denn statt eines Rehs wäre ich eher eine bemitleidenswerte Watschelente.

Als ich am frühen Nachmittag in den Theaterraum gehe, kribbelt mein Bauch vor Vorfreude. Seit ich denken kann, liebe ich die Schauspielerei. Es gibt nichts Besseres, als in fremde Welten und Personen zu schlüpfen. Dabei entdeckt man immer wieder neue Seiten an sich und muss ständig über den eigenen Schatten springen. Manchmal ist das eine echte Herausforderung, aber gleichzeitig fühlt man sich unglaublich lebendig und erfüllt.

Im ersten Halbjahr haben wir mit dem Kurs Straßentheater gespielt. Zum Start des zweiten Halbjahres vor mehreren Wochen wollten wir mit einem neuen Stück beginnen. Leider ist unser Lehrer Tassi, eigentlich Herr Tassmann, ausgefallen. Er hatte einen Bandscheibenvorfall. Niemand wusste, wann er zurückkommt und ob der Kurs in diesem Schuljahr überhaupt noch stattfinden wird. Jetzt ist Tassi wieder fit. Letzte Woche habe ich seinen Aufruf für schauspielinteressierte Schüler am Schwarzen Brett gesehen.

Ich öffne die Tür und entdecke sofort ein paar bekannte Gesichter. Meine Freunde Miro, Fred, Jasper, Nina, Lilly und Elisabeth sitzen auf dem Boden und machen Atemübungen. Ich winke ihnen zu und schaue mich neugierig um. Mehrere Neulinge sind zu uns gestoßen. Drei von ihnen stehen unsicher am Rand nebeneinander und beobachten die anderen. In einer Ecke lehnt ein Junge an einem Tisch und hinter mir drückt sich ein Mädchen vorbei, das bestimmt erst in der siebten Klasse ist. Tassi wühlt neben dem Fenster in seiner Aktentasche herum und hat eine etwas gebückte Haltung, wahrscheinlich, um seinen Rücken noch zu schonen. Direkt neben ihm – mich trifft fast der Schlag – steht Tino. Mein Tino! Mir wird heiß und kalt zugleich. Ich wusste gar nicht, dass er sich für Schauspielerei interessiert. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich aber ohnehin nicht viel über ihn.

Tassi zieht einen Stapel Blätter aus seiner Tasche und steuert in die Mitte des Raumes, wo er sich zu der Gruppe auf dem Boden setzt und die restlichen Schüler zu sich winkt. Ich stehe noch immer neben der Tür und versuche, meinen Puls in den Griff zu kriegen. Tino ist hier. In meiner AG. Ich muss also kein sportliches Reh sein, um ihm näherzukommen. Das ist absolut genial! Wenn Lou das erfährt, flippt sie aus.

»Marie, komm her, damit wir loslegen können«, fordert Tassi mich auf.

Mit klopfendem Herzen sinke ich neben Tino auf den Teppich. Er schenkt mir ein Lächeln. Ich lächle zurück.

»Wie schön, dass ihr alle da seid«, heißt Tassi uns willkommen. »Leider bin ich eine Weile ausgefallen, aber jetzt geht es mir wieder gut und wir können endlich ein richtiges Stück einüben. Ich dachte an einen Klassiker, und zwar an William Shakespeares Romeo und Julia.« Ein Raunen geht durch den Raum. »In einem kleinen Kino in der Nähe läuft gerade die Verfilmung mit Leonardo DiCaprio«, fährt Tassi fort und verteilt die Texte. »Wenn ihr wollt, schauen wir sie uns gemeinsam an und überlegen dann, wie wir das Stück umsetzen. Wir können das entweder modern machen oder streng nach Vorlage.«

Nachdem wir das Material durchgeblättert haben, klatscht Tassi in die Hände und steht auf. »Okay, lasst uns zunächst ein paar Aufwärm- und Kennlernübungen machen. Ihr könnt dabei schon mal überlegen, welche Rolle ihr haben wollt.«

Da brauche ich nicht lange nachzudenken. Natürlich wäre ich gerne die Julia. Das wäre ein richtig großer und aufregender Part im Stück. Und während wir durch den Raum laufen und jedes Mal in unserer Bewegung einfrieren müssen, wenn Tassi »Stopp!« ruft, wird mir auf einmal klar, dass mein sehnlichster Wunsch vielleicht schneller in Erfüllung geht als gedacht. Wenn Tino Romeo wird und ich Julia, dann spielen wir in Kürze das berühmteste Liebespaar der Weltliteratur. Wir hätten etliche romantische Szenen zusammen, würden sicher auch mal nur zu zweit proben und uns dabei zwangsläufig näherkommen. Als Romeo und Julia würden wir uns sogar küssen! Ein Schwall prickelnder Glücksgefühle überrollt mich und ein breites Grinsen schleicht sich in mein Gesicht.

»Entschuldigung«, trällert da eine Stimme, die mir ziemlich bekannt vorkommt. Gerade stehen wir im sogenannten Freeze. Ich balanciere auf einem Bein, das andere schwebt angewinkelt in der Luft. Nun schiele ich rüber zur Tür, um mich zu vergewissern, dass meine Ohren mir keinen Streich spielen. Das tun sie nicht. Fenja steht dort. Schlagartig verabschiedet sich mein seliges Grinsen.

»Du wirst es nicht glauben«, brumme ich, als Lou und ich unsere Räder vom Hof schieben. Wie bereits im letzten Halbjahr haben wir uns nach meinem Theaterkurs und ihrer Chorprobe verabredet, um zusammen nach Hause zu fahren. »Tino macht in der AG mit.«

»Was?«, kreischt Lou viel zu schrill. Wenn sie vom Chor kommt, sind ihre Stimmbänder jedes Mal mehrere Dezibel lauter als sonst. »Das ist ja der Hammer!«

»Nee, der kommt erst noch. Wir üben jetzt Romeo und Julia von Shakespeare ein und …«

»Wie romaaaantisch«, trällert sie. »Ich sehe schon die Balkonszene vor mir. Du als Julia, die verliebt zu ihrem Romeo alias Tino runterschaut. Er betet dich an, macht dir eine herzzerreißende Liebeserklärung, klettert an der Rosenranke hoch und …«

»Küsst Fenja«, beende ich ihre Schwärmerei. Am liebsten würde ich aus Frust gegen mein Fahrrad treten, obwohl das nichts dafür kann.

Ruckartig bleibt Lou stehen und ich halte direkt neben ihr. Eine Spaziergängerin mit einem Rauhaardackel schiebt sich an uns vorbei und beschwert sich lauthals, weil wir den gesamten Gehweg blockieren. Doch auf solche Befindlichkeiten können wir im Moment keine Rücksicht nehmen.

»Ich habe die Rolle nicht gekriegt«, bringe ich meine Cousine auf den neusten Stand. »Tino ist Romeo und Fenja ist Julia. Sie ist wieder in der AG.« Fenja war schon früher dabei. Zu Beginn des neuen Schuljahres ist sie aber ausgestiegen, weil sie keine Lust auf Straßentheater hatte. Und nun hat sie Tassis Aushang am Schwarzen Brett gesehen. »Nach dem Aufwärmen mussten wir eine Szene zu unseren Wunschrollen improvisieren. Tino ist ein echtes Naturtalent und Fenja hat eine super Figur neben ihm gemacht. Ganz im Gegensatz zu mir. Ich war total gehemmt in seiner Nähe.« Jetzt trete ich doch gegen mein Vorderrad. Die beiden werden sich küssen. Und das nicht nur einmal, sondern gleich mehrfach. Und ich muss ihnen dabei zuschauen.

Mitleidig tätschelt Lou mir den Arm. »Und wen spielst du stattdessen? Gräfin Capulet?«

Ich schüttele den Kopf.

»Den verräterischen Priester?«

Wieder schüttele ich den Kopf.

Ungeduldig pikt Lou mir in die Seite. »Was denn nun, einen Baum im Wald, die Rosenranke am Balkon?«

»Die Amme.«

»Die Amme?«, wiederholt Lou und ich nicke gequält. Endlich hätte ich mal eine richtig große Rolle spielen können. Ich hätte alles gegeben, damit ich das gut hinkriege. Stattdessen bin ich nur das Kindermädchen.

»Die Amme ist doch total unterbelichtet.«

»Stimmt.« Ich steige auf den Sattel und knirsche mit den Zähnen. So hatte ich mir das nicht vorgestellt, als ich Tino im Theaterraum entdeckt habe. Wirklich nicht.

Nach einem Zwischenstopp im Café, wo ich eine heiße Trostschokolade mit einer Extraportion Sahne schlürfe, geht es mir schon etwas besser. Tassi hat schließlich offengelassen, wie wir das Stück umsetzen werden. Wenn wir uns nicht streng an die Ursprungsfassung halten müssen, kann ich die Amme vielleicht zu einer sympathischeren und schlaueren Figur machen. Das tröstet mich natürlich nicht darüber hinweg, dass Fenja mich um meinen Bühnenkuss mit Tino gebracht hat. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Mein Wunsch wird sich erfüllen. Irgendwann. Irgendwie.