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Ihm scheint einzufallen, dass sie nicht alleine auf dem Platz stehen, die Dorfbewohner interessierte Zuschauer ihres Wiedersehens sind und schiebt sie von sich. »Metá – später«, raunt er heiser. Tief in seinen Augen sieht sie eine Glut lodern, die nur sie kennt.

»Metá – später« ist die Lebensphilosophie der Bewohner eines malerischen Fischerdorfes vor der Kulisse des Taygetos-Gebirges auf dem Peloponnes. Jetzt scheinen langgehegte Hoffnungen, Wünsche und Träume endlich wahr zu werden: Eine neue, eine alte Liebe, glückliche Zweisamkeit, ein Leben ohne Zwänge, hemmungsloser Sex, eine gemeinsame Reise, Ansehen, Erfolg und Geld, ein schnittiges Auto, das Ende der Einsamkeit. Doch im Moment der Erfüllung ist bereits das Scheitern angelegt und so nehmen kleine und große Tragödien ihren Lauf…

Lilo Wessels Erzählungen führen den Leser zurück ins Griechenland am Ende des 20. Jahrhundert, in eine Zeit vor der großen Wirtschafts- und Finanzkrise, in der noch genügend Raum war für die kleinen Alltagskatastrophen. Kenntnisreich und mit bitterem Humor entlarvt die Autorin das Idyll, das sich dem flüchtigen Urlauber bietet und lenkt den Blick des Lesers hinter die Dinge, dorthin, wo sie kompliziert und schmerzlich werden.

Lilo Wessel, geboren 1948 in Frankfurt am Main, studierte Literatur- und Politikwissenschaft in München und Mainz. Schon immer gehörten Schreiben und Lesen zu ihren Ambitionen. In ihrer professionellen Laufbahn setzte sie sich über Jahrzehnte kontinuierlich und systematisch mit den Entwicklungen der deutschsprachigen Literatur auseinander.

Sie ist langjährige Kennerin und Beobachterin der sozialen, politischen und kulturellen Veränderungen in Griechenland und hat zahlreiche Vorträge dazu verfasst.

Lilo Wessel lebt in Speyer am Rhein und in Kalamata.

LILO WESSEL

METÁ – SPÄTER

Erzählungen aus Griechenland

TREDITION Taschenbuch

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©Lilo Wessel, 2017

www.lilowessel.de

Für Stávros

Inhalt

Lebensreise

Hundsjahre

Kaffeetrinken

Einzige Lieben

Verkehrsunfall

Männerbegehren

Metá – später

Glossar

Lebensreise

Sommer 1975

Der Fahrweg verengte sich. Wir ließen den Wagen stehen, kraxelten begleitet vom auf- und abschwellenden Gesang der Zikaden einen steinigen Pfad hinab, der sich durch Olivenhaine schlängelte und in einen winzigen Ort am Meer führte. Azurblauer, wolkenloser Himmel. Die Sonne, weiß verschleiert, im Zenit. Die Luft flirrte. Erschöpft hielten wir inne. Vier baufällige Häuser begrenzten den Dorfplatz zum Land hin. Türen und Fenster verschlossen. Kein Mensch weit und breit. Tische und Stühle, in lockerer Reihe am Gestade aufgestellt, leer. Wellen plätscherten und versickerten knisternd im Kiesstrand.

»Ich brauch’ was zu trinken!«, stöhnte M., eine Freundin, mit der ich damals hin und wieder verreiste. Sie schaute sich um. Deutete auf ein abseits vom Platz gelegenes Haus.

»Da sitzt einer! Da hinten, auf der Veranda!«

Der Fremde hatte uns nun auch entdeckt und winkte uns mit einer einladenden Geste zu. Zielstrebig setzte sich M. in Bewegung. Ich hinterher, langsamer, blieb schließlich stehen.

Wow, dachte ich. Was für ein Mann!

Blauschwarze, glänzende, leicht wellige, mittellange Haare, eine Strähne hing in die Stirn. Vollbart. Ein Che Guevara im tiefsten Süden Griechenlands. Nur das Barett fehlte. Ich war hin und weg und breitete mich daher lieber auf einem flachen Felsblock aus, der ins Meer hineinragte. Die Veranda fest im Blick.

M. hatte sich zu ihm an den Tisch gesetzt, schien irgendetwas zu sagen. Er reichte ihr seine Cola-Flasche, die sie in großen Schlucken leertrank, zündete sich eine Zigarette an und blies träge Rauchkringel in die Luft. Zwischen den einzelnen Zügen schob er sich etwas in den Mund – rohe Kartoffelscheiben, wie sich Jahre später herausstellte – und kaute genüsslich. Dann lehnte er sich zurück, faltete die Hände über dem Brustkorb, drückte den Rücken fest gegen die Lehne und kippelte mit dem Stuhl. Offenbar schien er jetzt einer Unterhaltung nicht abgeneigt. Mir kam es vor, als rede nur er. M. nickte manchmal, lächelte oder wiegte bedächtig den Kopf. Wortfetzen, die ich nicht verstehen konnte, drangen an mein Ohr. Meist gestikulierte er wild mit den Händen, schaute hin und wieder zu mir herüber, so als wolle er mich einbeziehen.

Ich verharrte auf meinem Felsblock.

Irgendwann erhob er sich, kam auf mich zu. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas unbezähmbar Trotziges, einen langen Augenblick sah er mich mit tiefbraunen Augen durchdringend an.

»Get up! I will show you my house! It’s on the hill.«

Hinter der Häuseransammlung bog ein Trampelpfad ab, der über Steine und Felsbrocken einen mit Olivenbäumen und Zypressen bestandenen Berg hinaufführte. Der Aufstieg gestaltete sich für uns beschwerlich, er hingegen hüpfte leichtfüßig von Stein zu Stein, so dass wir zurückfielen.

»Was’n das für’n Typ?«

»War während der Junta im Widerstand«, keuchte M..

»Wurde gefasst und kam in den Knast. Versteckt sich da oben in seinem Haus!«

»Die Junta gibt’s schon seit einer Jahr nicht mehr. Warum versteckt er sich noch?«

Sie zuckte die Schultern. »Frag’ du ihn doch!«

Endlich hatten wir das Plateau erreicht. Hinter einem ausladenden Feigenstrauch verbarg sich ein rechteckiges, aus klotzigen Kalksteinen gemauertes Haus, wie eine Trutzburg. Rechts vom Eingang stand eine Zinkbadewanne. Er hieß mich eintreten.

Modergeruch schlug mir entgegen. Im Haus war es überraschend kühl. Das einzige Fenster war mit einer löchrigen Plane verhangen. Es dauerte, bis sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Unter dem Fenster stand ein mit Stroh bedecktes, verrostetes Eisenbett. Am Fußende döste ein Hund. In der Mitte ein schäbiger Holztisch nebst einem notdürftig ausgebesserten Korbstuhl.

Meine Aufmerksamkeit fesselte eine Ablage, die in die Steinwand gemeißelt war. Dort stand ein gutes Dutzend Bücher. Ich trat dicht heran, kniff die Augen zusammen, um den Aufdruck auf den Buchrücken zu entziffern. Schriften von Marx und Engels, Lenin, Trotzki, Che Guevara, Hegel und Feuerbach, einige davon in griechischer Übersetzung, die anderen in englischer Sprache. Daneben verschiedene Ausgaben griechischer Klassiker.

Fragend drehte ich mich nach ihm um. Zuckte zusammen, denn er stand direkt vor mir. Seine dunklen Augen blitzen mich an, unsere Gesichter kamen sich bedenklich nahe. Ich entwand mich einer Umarmung und ging nach draußen.

Eine Weile noch saßen wir zu dritt im Schatten eines Mandelbaums. Unter uns erstreckte sich in vielfältigem Blau die Messenische Bucht. Die Sonne neigte sich nach Westen. Es war an der Zeit aufzubrechen.

Sommer 1985

Die Ehe war nach sieben Jahren am Ende. Er hatte, dem Klischee entsprechend, eine Affäre mit seiner Sekretärin. Dennoch bestand mein Mann auf einem gemeinsamen Familienurlaub. Unter der Bedingung, dass M. mit von der Partie wäre, willigte ich schließlich ein. Einer von Ms. griechischen Bekannten hatte in jenem Fischerdorf eine Ferienwohnung für uns angemietet. Die einsame Häuseransammlung von einst hatte sich zu einem lebhaften Ort entwickelt. Auf dem Dorfplatz parkten zahlreiche Autos. Die drei Tavernen am Meer waren vollbesetzt.

An unserem Tisch herrschte miese Stimmung. Mein Ehemann beäugte mich übellaunig, die Kinder quengelten.

»War das nötig, den Kindern eine so lange Reise zuzumuten?«, tadelte er. »Ein Urlaub im Schwarzwald hätte es auch getan!«

Ich ignorierte ihn und wandte mich M. zu. »Meinst du, der Typ von damals ist noch hier?«

Schulterzuckend sah sie sich um.

»Welcher Typ von damals?«, horchte mein Mann auf.

Plötzlich stieß mir M. den Ellbogen in die Seite. »Der, da drüben, das muss er sein!«

Meine Blicke glitten zwischen den Gästen hindurch, blieben an unserem vermeintlichen Bekannten hängen.

»Könnte sein. Wir wissen ja nicht mal seinen Namen«, wiegelte ich ab und stocherte unbeteiligt in meinem Salat, merkte aber, dass ich unruhig wurde.

»Na los, geh’ rüber und frag’ ihn«, feixte mein Mann.

Ich warf ihm einen verächtlichen Blick zu, trank mein Weinglas in großen Zügen leer, knallte es auf den Tisch, stand auf und zwängte mich durch die Tischgesellschaften hindurch zu dem Besagten.

Er war es tatsächlich. Ich schluckte.

»Do you remember me?«, säuselte ich und strahlte ihn an.

Er taxierte mich beiläufig.

»No!«, polterte er und konzentrierte sich auf sein Feuerzeug. Zündete eine Zigarette an und schaute den Rauchkringeln nach, wie sie sich langsam auflösten.

Idiot, dachte ich pikiert. War mir bisher nie passiert, dass mich ein Mann vergessen hatte. Trotzdem blieb ich wie angewurzelt stehen. Er drückte die halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher aus und schnippte sie auf den Boden. Dann lehnte er sich zurück, kippelte mit dem Stuhl, verschränkte die Arme vor dem Brustkorb und musterte mich vom Kopf bis zu den Füßen. Sämtliche Spezies von Fluginsekten schwirrten in meinem Bauch, das Herz hämmerte in den Schläfen. Kniee weich wie Wackelpudding. Die Synapsen tanzten.

Unsere Blicke suchten sich und verliefen ineinander wie die Farben eines Aquarells. Das Rundherum versank. Kein Geräusch mehr war zu hören, still stand die Zeit.

»Willst du deinen Freund nicht an unseren Tisch bitten?« raunzte mein Mann. Erschrocken fuhr ich herum.

Keine Ahnung, wie lange er schon hinter mir gestanden hatte. Seine Gesichtszüge entgleisten. Wütend verließ er die Taverne.

Nach den Sommerferien zog er zu seiner Sekretärin. Ein Jahr später wurde die Ehe geschieden.

Winter 2010

Das Telefon plärrt, als die Nacht in den Morgen hinübergleitet. Schlaftrunken lange ich nach dem Hörer. Die Verbindung ist schlecht. Schließlich verstehe ich. Die Nachricht zerschneidet mein Herz. Ein trockenes Schluchzen schüttelt meinen Körper. Morgen früh um acht wird die Beerdigungszeremonie beginnen. Ich melde mich krank und nehme den Abendflieger nach Athen, von dort den Überlandbus.

Als ich übernächtigt in deinem Dorf ankomme, regnet es. Du bist bereits in der Kirche neben deinem Elternhaus aufgebahrt. Ich kann nicht glauben, dass du tot bist. Ich beuge mich über dich, flüstere deinen Namen. Doch dein Gesicht bleibt wächsern und starr. Dieses Gesicht, das voller Leben war, das mich fasziniert hat, das ich geliebt habe. Noch immer ist dein Haar tiefschwarz und glänzend, nur der Bart ist grau. Sacht küsse ich deine Stirn, sie ist kalt. Fahre mit Zeige- und Mittelfinger über deine geschlossen Augen, deine Augen, die mich stets voller Wärme und Liebe angesehen haben.

Die Dorfbewohner bedecken deinen Leichnam mit Blumen und Ölzweigen, drücken meine Hand, umarmen mich, kramen nach Worten. Fünfundzwanzig Jahre. Obwohl wir nicht verheiratet waren, niemals längere Zeit zusammen leben konnten, bin ich deine Witwe. Ich weine nach innen.

Meine Gedanken kreisen um jenen Tag, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Wie weit ist alles, wie nah.

Hundsjahre

Sie hatte rotgeränderte Augen vom vielen Weinen. Teilnahmslos kauerte sie in seinem Lieblingssessel. Manchmal schüttelte sie ein Weinkrampf, hin und wieder wimmerte sie vor sich hin. Dann wieder verharrte sie reglos, starrte ins Leere, streichelte das Armpolster, so, wie sie ihn immer gestreichelt hatte. Oder vergrub ihr Gesicht in der Rückenlehne, um seinem Geruch nachzuspüren, der dem Sessel anhaftete. Manchmal rief sie seinen Namen, erst leise und kosend, dann lauter und bestimmt. Er kam nicht.

Seit drei Tagen, seitdem das Unglück geschehen war, verharrte sie so, ohne irgendwelche Nahrung aufzunehmen. Sie verließ ihren Platz lediglich, um ihre Notdurft zu verrichten.

Mit der Zeit drängte dieses Bild in ihren Kopf: Sie kommt zurück vom Einkaufen, biegt mit dem Auto in die Aiántos-Straße ein, in der sie wohnt. Zwischen den Bäumen parken halb auf dem Bürgersteig, halb auf der Straße beidseitig die Autos der Anwohner. Auch an den gelb markierten Seitenrändern. Auf der engen Fahrbahn blockiert eine Menschentraube die Durchfahrt. Sie rollt langsam mit dem Wagen an die Menge heran, bremst, steigt aus. Nachbarn und Passanten werfen ihr betretene Blicke zu und bilden eine stumme Gasse. Schräg zur Fahrbahn steht der rote Toyota der Nachbarstochter. Vor dem linken Vorderrad liegt leblos ihr Willis. Sie stößt einen gellenden Schrei aus, wirft sich über ihn, spürt, dass sein Herz noch leise schlägt. Er öffnet kurz die Augen, sieht sie an, wedelt matt mit dem Schwanz. Vorsichtig schiebt sie die Arme unter seinen Körper, nimmt ihn auf, stolpert durch die Menge zum Wagen, bettet ihn auf die Rückbank, herrscht die Gaffer an, den Fahrweg freizumachen, rast zum Tierarzt, hupt um Willis Leben. Als sie dort ankommt, atmet er nicht mehr.

*

Willis war tot, Willis, ihr Gefährte, ihr Baby. Nichts anderes konnte sie denken. Nicht einmal als ihr Mann vor fünf Jahren ertrank, in der Bucht nahe seines Heimatdorfes, hatte sie einen solchen Schmerz verspürt. Kurz nach dessen Tod fand sie Willis halb verhungert auf der Strandstraße, beugte sich über ihn, streichelte ihn, sprach mit ihm. Mühsam erhob er sich und trottete mit letzten Kräften hinter ihr her, so als gehöre er zu ihr. Nachdem er sich nicht abschütteln ließ – und sie ihn auch gar nicht abschütteln wollte –, nahm sie ihn mit nach Hause, päppelte ihn auf, liebte ihn über alles.

Die Nachbarn telefonierten ihren einzigen Sohn herbei, der seit geraumer Zeit in einer anderen Stadt lebte, in der er Arbeit und eine Liebe gefunden hatte. Er umsorgte sie, kochte ihre Lieblingsspeisen und stellte sie auf einen Hocker neben ihrem Sessel. Doch enttäuscht räumte er stets alles unangetastet wieder ab.

Nur einmal erwachte sie aus ihrer Apathie. Es klingelte, der Sohn öffnete die Tür, vom Flur her vernahm sie Stimmengewirr. Intuitiv spürte sie, worum es ging.

»Bring ihn her!« herrschte sie ihn an, als er, so als wäre nichts gewesen, das Wohnzimmer betrat. »Bring ihn sofort her!«

Fortan verharrte sie wie bisher, nur, dass jetzt die blaue Keramikurne mit Willis Asche auf ihrem Schoß einen festen Platz gefunden hatte.

Der Sohn verzweifelte. Er warf einen verärgerten Blick auf seine Mutter, die in ihrem Sessel vor sich hin vegetierte und Willis Urne mit beiden Armen umklammerte. Unter ihren Augenlidern hatten sich tiefdunkle Ringe gebildet, ihre Wangenknochen stachen hervor, sie war nur noch Haut und Knochen. Ein Schatten ihrer selbst. Weder ihre Freundinnen noch die Nachbarn, die er in seiner Not herbeirief, konnten etwas ausrichten. Selbst der Arzt war überfordert.

Zu der Angst, dass sie niemals mehr aus diesem Zustand herausfinden würde, mehr noch, dass sie gar sterben könne, kam die Angst um seine Arbeit und seine Beziehung. Drei Wochen war er nun schon hier und nichts hatte sich zum Guten gewendet. Er konnte nicht ewig hierbleiben.

Am dreißigsten Tag nach Willis tragischem Ableben kam er pfeifend nach Hause, entriss der Mutter die Urne, verfrachtete sie ins Bücherregal und platzierte ein kleines Bündel auf ihrem Schoß. Danach reiste er ab.

*

So fest wie sie Willis Urne umklammert hatte, so fest umklammerte sie nun jenes Bündel, das daraufhin jämmerlich zu fiepen anfing. Erschrocken ließ sie es los, das Bündel plumpste zu Boden. Da hockte er nun, der neue Hund und winselte vor sich hin.

»Willis, was hast du?« Sie starrte ihn an. Da saß nicht Willis. Vergeblich rief sie nach ihrem Sohn. Doch der war weg, und was da zu ihren Füßen saß, war ihr neuer Hund. Sie musterte ihn kritisch.

»Was war mein Willis doch für ein schönes Tier!«

Dieser da wirkte völlig unproportioniert. In Relation zu seiner Größe hatte er riesige tapsige Pfoten.

»Oh Gott«, murmelte sie, »der wird riesig. Und missgestaltet ist er auch!«

Sein Kopf war so groß wie der eines Säuglings. Er hatte eine handtellergroße platte schwarze Schnauze, schnappte röchelnd nach Luft, an seinen wulstigen Lefzen hing ein Speichelfaden.

»Bäh«, machte sie und suchte Blickkontakt. Noch nie hatte sie solche Augen gesehen. Die Unterlider hingen schlaff nach unten, so dass ein Teil der Bindehaut sichtbar war, völlig gerötet. Die Augäpfel wässrig rosa, die Pupillen dunkelbraun. Mit Ausnahme der Pfoten und der Brust war sein Fell dunkelblond, nur um das linke Auge rundete sich ein tennisballgroßer weißer Fellfleck, um das rechte ein schwarzer.

»Pfff«, machte sie und schaute auf Willis Urne. »Was für ein hässlicher Hund!«

Doch der sah sie erwartungsvoll an, wedelte mit seinem Stummelschwanz, so dass der ganze Körper wackelte, und leckte ihre Hand. Da es keinen Ausweg gab, tätschelte sie zaghaft seinen Schädel und erhob sich aus ihrem Sessel.

Sie nannte ihn Hermes, rief ihn aber, wenn sie in Gedanken war, Willis. Sie gewöhnte sich an ihn, brachte ihm sogar ein wenig Liebe entgegen, die er dankbar erwiderte. Er war gutmütig, treu und anhänglich. Zwar verglich sie ihn beständig mit Willis, der stets besser abschnitt, dennoch war sie froh, dass sie nicht alleine war. Tatsächlich fasste sie dank Hermes wieder Tritt im Leben. Der Sohn war überglücklich und rühmte sich ob seiner grandiosen Idee, einen neuen Hund anzuschaffen.

*

Hermes wuchs zu einem kräftigen Hund heran, den Kopf voller Flausen, und als er ausgewachsen war, wog er stattliche dreißig Kilo. Mittlerweile schlief er, wie einst Willis, zu ihren Füßen im Bett.

Eines Nachts weckte er sie, indem er erst unablässig fiepte, dann einmal kurz bellte, schließlich ihr Gesicht ableckte, worauf sie zu sich kam, auf den Wecker blickte und gähnte.

»Drei Uhr, was fällt dir ein?«

Hermes rannte kläffend zwischen Bett und Schlafzimmertür hin und her. Sie drehte sich wieder auf die Seite, wusste aber, dass es kein Entkommen gab. Hermes musste Gassi, und schlussendlich war es besser, er weckte sie, als dass er auf den Teppich pinkelte.

Sie brummelte »Scheißköter«, tat sich mit dem Aufstehen schwer. Das Schlafzimmer war ungeheizt, an den Fensterscheiben hatten sich Eisblumen gebildet. Hastig zog sie eine Trainingshose über den Pyjama, schlüpfte barfüßig in die Winterstiefel, fuhr in ihren Mantel, schlang einen Schal um den Hals und stülpte eine Strickmütze über. Dann legte sie Hermes die Leine an und eilte mit ihm nach draußen.

Es war eisig. Tagsüber hatte es geschneit und nachts fiel das Thermometer weit unter Null. Eine Seltenheit in Athen.

Ausgerechnet in einer solchen Nacht musste dieser Hund Gassi. Willis hatte niemals nachts raus gewollt. Sie schob die Unterlippe vor und blies warme Atemluft zu ihrer Nasenspitze. Hermes strebte zu seinem Stammbaum, schnüffelte, hob das Bein, tapste einige Schritte weiter durch den gefrorenen Schnee und setzte sich für ein großes Geschäft neben einen Laternenpfahl. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, kramte in der Manteltasche vergeblich nach einem Plastikbeutel und herrschte Hermes zur Eile an. Dann zog sie ihn Richtung Haustür. Brav trottete er hinter ihr her.

Doch kurz vor dem Eingang nahm er plötzlich Witterung auf und begann wie verrückt zu ziehen. Sie wollte ihn festhalten, in Richtung Tür dirigieren. Gab Kommandos, doch er zerrte und zog immer mehr, legte an Tempo zu, sie konnte ihn kaum noch halten.

»Stopp,« schrie sie, »stopp!« Doch Hermes hörte nicht. Auf der anderen Straßenseite tauchte unvermittelt der Nachbar auf, dessen Tochter Willis auf dem Gewissen hatte.

»Halt deinen Köter fest«, brüllte er, »meine ist läufig!«

»Willis aus«, kreischte sie, doch Hermes hörte nicht mehr, zog sie stolpernd hinter sich her, zwischen den parkenden Autos hindurch auf die eisglatte Straße. Sie kam ins Rutschen, schlingerte, ließ die Leine los, verlor das Gleichgewicht, fiel zu Boden.

In diesem Moment biegt ein roter Toyota in die Straße, bremst, schleudert, rutscht.

»Willis!« — »Hermes!«

Sie schreit. Der Nachbar schreit.

Es knallt, kracht, wird dunkel um sie herum.

*

Der Sohn ließ, nachdem die Diagnose feststand, Hermes von einem befreundeten Jäger erschießen. Sie hatte keine Erinnerung an das, was geschehen war.

»Willis – Hermes – Nacht – Gassi – Schnee – Auto«, stammelte sie hin und wieder.

»Du musst etwas essen, Mána!« Der Sohn hatte ihre Küchenschürze angezogen und trat mit einem Tablett in der Hand an den Rollstuhl heran, an den sie für den Rest ihres Lebens gefesselt sein würde. Nur die Arme konnte sie noch bewegen. Mit dem linken umklammerte sie die blaue Keramikurne, mit dem rechten eine schwarze und starrte in endlose Fernen.

Kaffeetrinken

Er hatte sich die ganze Nacht schlaflos in seinem Bett gewälzt. Als Aphrodíti viel zu spät von einem Zirkusbesuch zurückkam, stellte er sich schlafend. Er wollte das Geplapper über ihre Erlebnisse in der Stadt nicht hören. Er wollte seine Ehefrau auch nicht maßregeln müssen, weil diese sich verspätet hatte. Für all das hatte er keinen Kopf. Seine Gedanken kreiselten um diesen einen Satz, den sie zu ihm gesagt hatte. Nicht in seinen kühnsten Träumen hatte er sich das vorstellen können. Er schüttelte leicht resigniert den Kopf. Seit einem Vierteljahrhundert kam sie regelmäßig in ihren Ferien in dieses Dorf; niemals hatte sie ihn das gefragt. Im Gegenteil. Sofort hatte sie ihr Herz an diesen Nichtsnutz von Alékos gehängt und war damit tabu für ihn. Doch der war nun tot.

Er war ein Esel. Jetzt hatte sie ihm den Himmel in Aussicht gestellt, und er hatte sie abgewiesen. Anstatt sofort zu reagieren, war er wie angewurzelt sitzengeblieben. Er hätte sich ohrfeigen können. Ohnehin wäre es einfacher gewesen, die Angelegenheit gleich gestern Abend anzugehen, zumal das ganze Dorf in diesem Zirkus war. Aber nun würde es eben heute geschehen, er musste nur vorsichtig sein.

Er warf einen prüfenden Blick auf seine Ehefrau, die friedlich und gleichmäßig schnarchend in ihrem Bett lag.

Hat sie schon jemals nicht geschnarcht?, dachte er unwirsch, während er sich mit beiden Armen auf der Bettkante abstützte, um sich behutsam aufzurichten. Mitten in der Bewegung hielt er abrupt inne, zuckte zusammen, seine rechte Hand fuhr reflexartig ins Kreuz. Nun auch noch der Rücken. Längst hätte er die Knie operieren lassen müssen, Aphrodíti lag ihm täglich damit in den Ohren. Doch er traute den Ärzten nicht.

Ich werde alt, dachte er und schlurfte humpelnd ins Bad. Üblicherweise duschte er einmal in der Woche – am frühen Samstagnachmittag – aber diese Angelegenheit verlangte nach einer Ausnahme.

Er schälte sich aus seiner Unterwäsche, in der er trotz Aphrodítis Nörgeleien zu schlafen pflegte, trat unter die Dusche, drehte den Wasserhahn zur Hälfte auf, nahm sein Genital in die Hand und landete einen gezielten Urinstrahl im Abfluss. Obwohl er allmählich auf die siebzig zuging, noch kein Nachtröpfeln wie bei den anderen Männern seines Alters im Dorf. Er wusste Bescheid. Wenn sie ein, zwei Ouzo zu viel getrunken hatten, redeten sie mit einer ängstlichen Neugier über dieses Thema, taten aber am nächsten Morgen so, als habe eine solche Unterhaltung nie stattgefunden. Er atmete auf. Selbstgefällig wiegte er sein Gemächt in der Handinnenfläche, betrachtete es liebevoll, als es sich, kaum wahrnehmbar, regte und leicht anzuschwellen begann. Na, geht doch noch, frohlockte er und begann sich einzuseifen. Eine halbe Stunde später, als der Gesang der Zikaden sich erhob, verließ er geschniegelt und gebügelt das Haus.

*

Das Läuten der Türklingel schlich sich sacht, dann drängender in ihren Schlaf. Bleischwer die Augenlider. Sie hatte die Nacht über vor sich hingedämmert, wie immer, wenn sie sich nicht mit Rotwein in den Schlaf trank. Beim leisesten Knacken schreckte sie hoch, war sofort hellwach und lauschte angespannt nach draußen. Es war ihr seit geraumer Zeit nicht mehr geheuer in diesem Haus, das einsam auf dem Plateau eines Olivenberges stand. Zumal mittlerweile ein jeder Dorfbewohner von einem Verwandten zu berichten wusste, der nachts im Schlaf von Einbrechern überrascht worden war. In schlimmeren Fällen, so erzählte man sich, hantierten die Eindringlinge mit einem Spray, das die Bewohner bewusstlos machte, damit sie sich in aller Ruhe deren Habseligkeiten bemächtigen konnten. Keiner, dessen war sie sich sicher, hätte sich zu Alékos’ Lebzeiten in böser Absicht in die Nähe des Hauses gewagt. Doch der war nun tot.

Jedenfalls hatte sie erst, als der Morgen graute und die Zikaden zu plärren begannen, ein traumloser Schlaf überfallen. Immer penetranter nahm sie das Läuten wahr. Jetzt klopfte es auch noch an die Eingangstür.

»Éla, anoíxe – los, mach auf!«, rief einer leise, aber sie war viel zu schlaftrunken, um die Stimme zuordnen zu können. Dösig kramte sie nach einem klaren Gedanken, an den sie ihre Angst andocken konnte. Einbrecher klingeln nicht, dämmerte ihr. Vielleicht hatte sie sich alles nur eingebildet, war angesichts des Geredes im Dorf Opfer ihrer eigenen Phantasien geworden.

Wieder läutete es. Sie hielt den Atem an. Offenbar wurde sie den ungebetenen Besucher nicht los, indem sie nicht reagierte. An Weiterschlafen war nicht mehr zu denken, ohnehin war sie jetzt wach. Entschlossen stand sie auf, eilte zur Eingangstür. Sie atmete tief ein, öffnete die Tür einen Spalt breit und lugte hinaus. Niemand zu sehen. Sie wurde mutiger, öffnete die Tür um einen weiteren Spalt und steckte den Kopf ins Freie. An dem kleinen Klapptisch neben dem Eingang saß Nikos.

»Verdammt, was machst du hier um diese Uhrzeit?«, entfuhr es ihr. »Du hast mich zu Tode erschreckt!«

Er saß reglos, hatte keine Worte. Sein Atem ging schwer und unregelmäßig. Mit einem merkwürdig verhangenen Blick sah er sie an.

»Ist was mit Aphrodíti? Wo sind die anderen?« Noch immer verärgert, bemühte sie sich, ihrer Stimme einen besorgten Klang zu verleihen. Etwas musste passiert sein. Wie kam er sonst dazu, mit seinen kaputten Knien diesen unwegsamen Pfad hier hoch zu kraxeln?

»Kaffee!«, stieß er hervor. »Mach mir einen Kaffee!«

»Was? Jetzt?« Sie runzelte die Stirn.

»Kaffee«, keuchte Nikos und ließ keinen Blick von ihr.

Sie zoppelte verlegen an ihrem Nachthemd. Schwerfällig schraubte er sich aus dem Plastiksessel, bewegte sich hinkend auf sie zu, schob sie zur Seite und humpelte in die Wohnküche.

Zum ersten Mal betrat er ihr Haus. Neugierig schaute er sich um, ließ sich auf einen der Holzstühle fallen, die um den Esstisch standen. Fassungslos stand sie im Türrahmen, ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus. Keine Ahnung, wie sie ihn loswerden sollte. Draußen maunzten die Katzen nach Futter.

»Kennst du schon meine Katzen?«, versuchte sie die Situation zu überspielen. »Die Mutter ist mir zugelaufen, schwanger. Jetzt hat sie ihre drei Kinder angeschleppt.«

Sie eilte zu der Tür, die an der Schmalseite des Raumes auf die Veranda führte, und ließ sie rein.

»Sind sie nicht süß?«

Nikos interessierte sich in keinster Weise für ihre Katzen. Ohnehin gehörte er zu denjenigen, die gnadenlos Giftköder auslegten, um die Katzenpopulation im Dorf zu regulieren. Stattdessen fingerte er nach einer Zigarette.

»Hier drin wird nicht geraucht!«

Sie blickten sich in die Augen. Er zündete sich eine Zigarette an. Sie knallte den Aschenbecher auf den Tisch. Die Katzen hockten erwartungsvoll vor dem Küchenblock und miauten unablässig.

»Die Mutter habe ich sterilisieren lassen«, sagte sie, in der Hoffnung, dass er die Botschaft verstand.

Nikos verzog den Mund, blies hektisch kleine Rauchwolken in die Luft, während sie das Katzenfutter richtete.

»Gibt es jetzt endlich Kaffee!«, brach es aus ihm heraus. Wieder sah er sie mit diesem sonderbaren Blick an.

Ohne Kaffee bekomme ich ihn nie los, dachte sie, stellte die Tüte mit dem Trockenfutter beiseite, suchte nach dem Messingkännchen, maß Leitungswasser ab, gab Mokkapulver hinzu und erhitzte die Brühe unter Rühren auf einer Gasflamme. Sie sah an der Farbe, dass sie zu wenig Pulver genommen hatte, außerdem bildeten sich beim Erwärmen keine Schaumbläschen.

Egal, dachte sie, als sie das hellbraune Gebräu in eine Tasse füllte und ihm widerwillig brachte. Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Er kam ihr ausgesprochen merkwürdig vor heute morgen. Angetrunken schien er nicht zu sein. Sie wandte sich den Katzen zu.

Er stammelte ein mühsames Danke, beäugte seinen Kaffee, rührte ihn aber nicht an. Sein Atem ging jetzt schneller, er hyperventilierte beinahe.

»Mach‘ die Türen zu!« Seine Stimme flatterte.

»Wie?«

»Es zieht!«

Sie stutzte, sagte schnell: »Hier stinkt’s nach Rauch!«

Wieder taxierte er sie mit diesem sonderbaren Blick. Sie kam sich vor, als stünde sie nackt vor ihm. Verunsichert strich sie ihr Nachthemd glatt. Langsam und tief atmete sie ein.

»Was willst du?! Sag endlich, was du willst!«

Nikos stammelte verwirrt: »Willst du denn Sex bei offenen Türen?« Er schnaufte tief durch. Jetzt war es endlich heraus.

Sie starrte ihn an, traute ihren Ohren nicht, schnappte nach Luft, rang nach Worten. Er wiederholte seine Frage, seine Stimme klang fester. Die Packung mit dem Trockenfutter glitt ihr aus der Hand, die Kroketten prasselten auf die Fliesen. Augenblicklich machten sich die Katzen darüber her, wuselten zwischen ihren Füßen herum. Allmählich gewann sie ihre Fassung wieder.

»Bist du noch ganz dicht?« keifte sie.

Verständnislos gaffte er sie an.

»Du willst doch Sex!«

»Ich? … Sex?… mit dir???«

Sie schüttelte sich. Der bloße Gedanke widerte sie an. Sie verkniff sich ein gehässiges Kichern und überlegte, ob sie ihm etwas Verletzendes an den Kopf schleudern sollte. Dass er zu alt sei, zu faltig, zu unförmig, zu ungepflegt. Doch sie unterließ es, entschied sich für ein barsches »Wie kommst du darauf?« und fuchtelte mit dem Arm in Richtung des plakatgroßen Porträtfotos von Alékos, das seit dessen Tod an der Wand in der Essecke hing. Umständlich drehte Nikos den Oberkörper um, warf einen Blick auf das Bild. Alékos. Im besten Alter. Attraktiv. Er wandte sich sofort wieder ab.

»Aber du hast doch selbst gesagt, dass du Sex willst!«, verteidigte er sich schwach.

Jetzt bekam sie Oberwasser.

»Da sitzt du unter dem Foto von Alékos, dem Unglückseligen, und entblödest dich … « Sie fiel sich ins Wort. »Ich bin seine Witwe, verstehst du, auch wenn wir nicht verheiratet waren … bin ich seine Witwe!«

Nikos wurde kleiner auf seinem Stuhl. Ihr begannen ihre Suaden zu gefallen, also fuhr sie lautstark fort: »Und einer Witwe bringt man Ehrerbietung entgegen. Kennst du nicht die Sitten deines Landes?« Sie holte tief Luft. »Außerdem … ich kenne deine Frau seit fünfundzwanzig Jahren. Meinst du, der würde gefallen, wenn sie wüsste, dass du hier herumgockelst?«

»Du hast es doch selbst gesagt«. Er war jetzt ganz kleinlaut.

»Was habe ich gesagt, was?????«

»… dass ich zum Kaffeetrinken kommen soll … «

Einen Moment herrschte Stille. Dann brach sie in schallendes Gelächter aus.

Nikos verzog beleidigt das Gesicht. Gerade zwölf Stunden war es her, dass sie ihn gefragt hatte, ob er mit ihr einen Kaffee trinken wolle. Er hatte arglos vor seinem Haus gesessen und den Sonnenuntergang betrachtet, allein, das ganze Dorf war zu dieser Zirkusvorstellung in die Stadt gefahren. Da kam sie vorbeigerauscht, hatte zu plaudern begonnen und schließlich, als er ihr vorflunkerte, sie hätten ihn versehentlich ausgesperrt, diesen verhängnisvollen Satz von sich gegeben, wegen dem er jetzt hier saß und sich demütigen lassen musste. Wenigstens wollte er die Situation klären und sich reinwaschen.

»Wenn eine Frau einen Mann zum Kaffeetrinken einlädt, ist klar, was sie von ihm will!«

Wieder fing sie an zu lachen.

»Es ist besser du gehst jetzt!«, lenkte sie ein.

Er schraubte sich aus dem Stuhl, reflexartig fuhr die Hand ins Kreuz, drehte sich umständlich nach Alékos’ Foto um, neigte kurz den Kopf und brummelte Unverständliches. Und zu ihr gewandt: »Entschuldige bitte!«.

Schwerfällig hinkte er zur Tür, stolperte über eine der Katzen, verkniff es sich, ihr einen Tritt zu versetzen. Im Türrahmen blieb er stehen, warf einen letzten Blick auf den Ort seiner Schmach.

»Keine Sorge«, meinte sie begütigend. »Von mir erfährt niemand was. Es sei denn …«, sie erhob die Stimme, deutete auf die Katzen und fuhr mit der Handkante an ihrer Kehle entlang.

Einzige Lieben

1.

Unschlüssig drehte er den Luftpostbrief in seinen Händen. Er ahnte, dass er unangenehme Nachrichten enthielt. Schon die Kaffeespritzer auf dem Umschlag und der kreisrunde, braune Brandfleck in der unteren rechten Ecke verhießen nichts Gutes. Die Anschrift stammte unverkennbar von der Hand seiner Tochter. Er runzelte die Stirn. Seinen Doktortitel hatte sie unterschlagen, dafür den Doppelnamen ihrer Mutter ausgeschrieben. Missmutig schüttelte er den Kopf. Auch die Hausnummer fehlte. Nun gut, dachte er, selbst ohne Straßennamen wäre der Brief angekommen. Hier in Hamburg kannte jeder die Kanzlei. Ehrenreich und Pracht, das waren Namen, die über die Stadtgrenzen hinaus hohes Ansehen genossen.

Den Absender hatte sie vergessen, vielleicht sogar absichtlich weggelassen. Er wendete den Brief, kniff die Augen zusammen und beäugte prüfend den Poststempel. 1-9-9-6 konnte er lesen. Die restlichen Zahlen und einige Buchstaben waren verwischt. Κ - umgedrehtes V - A - T, entzifferte er. Resigniert zuckte er die Schultern. Weder das genaue Datum noch der Absendeort ließen sich erschließen. Das umgekehrte V kannte er noch aus seinem Physikunterricht. Lambda, der elfte Buchstabe des griechischen Alphabets. Irgendein Formelzeichen, er hatte keine genaue Erinnerung. Physik war nicht sein Lieblingsfach gewesen. Immerhin - ein Brief von Serena. Aus Griechenland! Sechs Wochen waren seit ihrem Anruf verstrichen, in dem sie ihren Eltern lapidar mitgeteilt hatte, sie komme nicht mehr nach Hamburg zurück.

»Macht euch keine Sorgen, mir geht es gut!« Danach hatte sie aufgelegt.

Seither lebten seine Frau und er in beständiger Unruhe. Die abendlichen Gespräche der Eheleute Pracht drehten sich längst nicht mehr um die Fälle ihrer Klienten und die Abläufe in der Kanzlei, sondern waren bestimmt durch die Sorgen und das Rätselraten über den Verbleib ihrer Tochter.

Anfang August sollte sie ihr Referendariat beginnen. Die Verlobung mit dem Sohn eines Kollegen stand bevor. Abend für Abend die gleichen Fragen. Weshalb nur war Serena nicht rechtzeitig von ihrer zweimonatigen Rucksackreise durch Griechenland zurückgekommen? – Warum meldete sie sich nicht? – Wo steckte sie? – Was war passiert?

Weder Pracht noch seine Frau fanden eine plausible Antwort. Die Ungewissheit trieb sie um.

*

»So kann es nicht weitergehen«, meinte Sonja eines Abends und trommelte mit den Fingerkuppen auf die Tischplatte. Sie saßen in der großen weißgefliesten Küche. Seitdem sie die Praxis gemeinsam führten, diskutierten sie hier allabendlich die Fälle, mit denen sie sich tagsüber in der Kanzlei beschäftigten. So verlängerten sie seit zwanzig Jahren ihre Arbeit in die Nacht.

Sonja hatte einige angebrochene Feinkostbecher mit Salaten, Heringshappen, Shrimps und Käsewürfeln aus dem Kühlschrank gekramt und achtlos auf den schweren Holztisch gestellt. Dazu zwei Rotweingläser, Gabeln, ein halbes Baguette vom Vortag. Pracht entkorkte eine Flasche Chateau Margaux.

»Etwas Lebensfreude kannst du mir ruhig gönnen«, brummte er, als er den missbilligenden Blick seiner Frau auffing.

»Seit Wochen haben wir keinen einzigen Fall mehr besprochen. Alles dreht sich nur noch um Serena. Ich arbeite gerade an einem hochkomplizierten Fall…«

»Und?«, unterbrach sie Pracht empört. »Ist unser Kind nicht wichtiger?«

»Natürlich, Hermann! Aber das Leben hier geht auch weiter. Die Anwälte der Gegenseite haben inzwischen eine ganze Barrikade von Anträgen und Aufschubgründen aufgebaut. Wir haben kaum Aussicht auf Erfolg. Ich müsste mit dir über die Komplikationen sprechen, die sich ergeben haben, Details klären.«

Sie nahm das Weinglas in die Hand, schwenkte es, hielt die Nase über das Glas und atmete tief ein. »In der Kanzlei läuft auch einiges schief«, fuhr sie fort. »Die neue Anwaltsgehilfin spielt sich auf, als wäre sie die Bürovorsteherin.«

»Frau Trumpfheller ist eine ausgezeichnete Bürokraft«, wandte er schnell ein. »Und was diesen Fall betrifft … die Erfolgsaussichten deines Mandanten waren von Anfang an gering. Schließlich hat das Unternehmen die Arzneimittelstudien tatsächlich erfunden. Du hättest den Fall nicht annehmen sollen!« Er holte tief Luft. »Du und dein krankhafter Ehrgeiz! Vor lauter Ehrgeiz kommst du nicht dazu, auch nur einen Blick in die Zeitung zu werfen. Sonst wüsstest du nämlich, dass Griechenland gerade ein Hexenkessel ist. Der ehemalige Premierminister ist vor fünf Tagen gestorben. Die Bevölkerung ist hoch emotionalisiert. Dazu sind die Griechen empört, weil die Olympiade in Atlanta stattfindet und nicht in Athen. Das kocht demnächst wieder hoch, wenn die Spiele beginnen. In der Ägäis streiten sich Griechenland und die Türkei um Hoheitsrechte und Seegrenzen und haben ihre Flotten in Alarmbereitschaft gesetzt. Griechenland blockiert die Auszahlung von Geldern der EU an die Türkei und …«

»Griechenland und die Türkei haben bereits Ende Januar ihre Kriegsschiffe wieder abgezogen, mein Lieber!«, unterbrach sie ihn kühl.

»Papperlapapp!« Er wedelte mit der Hand. »Beide Staaten betreiben ein Wettrüsten sondergleichen! Die Situation dort ist hochbrisant. Jederzeit könnte ein Krieg ausbrechen. Und unser Kind mittendrin!«

Pracht schaute Sonja durchdringend an. Er verstand seine Frau einfach nicht.

»Serena war schon mal in Griechenland. Sie kennt sich aus und sie kann die Sprache. Sie hat sogar einen Kurs belegt!«

Er schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Was redest du da? Sie hat nach ihrem Abitur eine zehntägige Gruppenreise gemacht. Und sie kann vielleicht ein paar Brocken!«

Sonja nahm ihre Brille ab, lehnte den Kopf in den Nacken und unterdrückte ein Gähnen. Ihm fiel auf, dass ihre Gesichtszüge hart geworden waren. Um Mund, Augen und auf der Stirn hatten sich Fältchen eingegraben. Die Mundwinkel zogen nach unten. Das Unterkinn hing schlaffer. Obwohl sie auf die Fünfzig zuging, gehörte sie bisher zu den Frauen, die ihr Äußeres bewahrt hatten. Ihre Frisur war die gleiche wie zu der Zeit, als er sie kennenlernte. Schulterlange, wellige Haare, die sie im Nacken zu einem lockeren Knoten schlang und bei entsprechenden Gelegenheiten, an die er jetzt lieber nicht dachte, herunterließ. Kein einziges graues Haar hatte sie. Das Kastanienbraun war noch immer ihre natürliche Haarfarbe, er hingegen war schon seit Jahren silbergrau. Nach wie vor war sie schlank, wirkte von ihrer Erscheinung her jugendlich. Im Gegensatz zu ihm achtete sie auf ihre Ernährung, joggte sonntagmorgens, wenn er noch schlief, eine Stunde an der Außenalster entlang und verrichtete täglich ihre Morgengymnastik, die sie den wechselnden Fitnesstrends – derzeit Tae Bo – unterwarf. Um diese Zeit saß er schon längst am Frühstückstisch und schlemmte gemäß der Redensart wie ein Kaiser. Seine Kollegen beneideten ihn um sie, nicht nur wegen ihres juristischen Sachverstandes, sondern auch wegen ihres Äußeren und ihres angeblichen Charmes, den er aber schon seit langem vermisste. Eigentlich hätte er sich glücklich schätzen müssen.

Wenn sie bloß nicht so nüchtern und emotionslos wäre! Wenigstens ist Serena da anders. Obwohl sie ihrer Mutter total ähnlich sieht. Nur jünger eben, dachte er. Aber was ihr Inneres betrifft, da kommt sie doch eher nach mir.