Dirigenten und andere Katastrophen
Aufgeschrieben von
Thomas Füting
LangenMüller
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© für die Originalausgabe und das eBook:
2016 LangenMüller in der
F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München.
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagillustration: Dieter Hanitzsch
Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel
Vignetten: Mascha Greune, München
Satz und eBook-Produktion:
Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
www.Buch-Werkstatt.de
ISBN 978-3-7844-8333-7
Inhalt
Blick in die Abgründe am Pult
KAPITEL 1: Liebeserklärung
KAPITEL 2: Preußischer Drill und Katastrophen
KAPITEL 3: Wie kam es dazu? Bobs Musikgeschichte(n)
KAPITEL 4: Etikette und Todesfälle
KAPITEL 5 : Kriege
KAPITEL 6: Dirigentinnen ohne Whisky (ohne »e«, schottische Schreibweise)
KAPITEL 7: Die Waffe Taktstock
KAPITEL 8: Die dunkle Seite
KAPITEL 9: »Fake News« oder die Macht des Feuilletons
KAPITEL 10: Freie Marktwirtschaft mit Blechschaden
KAPITEL 11: David gegen Goliath
KAPITEL 12: Alles wird größer. Her mit dem »System«
KAPITEL 13: Planet der »Graunkes«
KAPITEL 14: Modern Times
KAPITEL 15: Vom Millionär zum Tellerwäscher
KAPITEL 16: Entertainment
KAPITEL 17: Kuriositäten
KAPITEL 18: Die neue Welt
KAPITEL 19: Play-back
KAPITEL 20: Anekdotisches
KAPITEL 21: Backstage-Boys und Secret Service
KAPITEL 22: Mit Musik geht alles besser
Blick in die Abgründe am Pult
Im Musikbetrieb wird nicht nur Übermenschliches geboten, wie die Mitwirkenden meist ganz fest glauben, sondern auch allzu Menschliches, und das in reichlichem Ausmaß.
Es ehrt Bob Ross, dass er dies nicht nur über die Tyrannen am Pult sagt, sondern auch über seinesgleichen, also die Musiker, die im Orchester sitzen und manchmal ihren Einsatz verpassen, Misstöne von sich geben oder auf folgenreiche Weise ihre Trinkfestigkeit überschätzen. Ja, er erzählt uns sogar die abgründige Geschichte von Orchestermitgliedern, die mit Geld aus ihrer Privatschatulle Statisten bestochen haben, einen Heldentenor, der schon erfreulich früh auf der Bühne sterben durfte und anschließend sofort ein Fußballspiel anschauen wollte, nicht wie vorgesehen hinter dem Vorhang abzulegen, sondern ganz vorne auf der Bühne gleich neben dem Kasten der Souffleuse, sodass er dort bis zum Ende der Aufführung ausharren musste. Wahrlich ein Akt der Bosheit und Infamie, der auch jedem Dirigenten gut angestanden hätte.
Bob Ross mit seinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn behauptet also nicht, dass alle Musiker herzensgute Menschen seien, die in den Konzertsälen dieser Welt stets die Rolle unschuldiger Opfer spielen. Allerdings kann man ihn schon so verstehen, dass ein erschreckend hoher Anteil der Dirigenten, vor allem jener mit Weltruf, aus der Nähe betrachtet ziemlich unerträglich sein muss.
Sie nennen alle Musiker herablassend oder kumpelhaft beim Vornamen, lassen sich selber aber ausschließlich als »Maestro« anreden. Sie verlangen im Hotel ein noch besseres Zimmer, weil sie in der bereits zugewiesenen Präsidentensuite den Safe nicht öffnen können. Sie kennen keine Wertschätzung für ihre Kollegen, die sie mit vernichtenden Verbalinjurien in die Tonne treten können, aber auch keine Pressefreiheit für kritische Journalisten und keine Altersgrenze für sich selber. Sie sind die einzigen Menschen im gesamten Konzertsaal, die hoch erhoben stehen dürfen, während alle anderen sitzen müssen, und das scheint die Selbsteinschätzung für ihr ganzes Leben zu prägen. Wenn sie Lust verspüren, einen der Streicher oder Bläser abzukanzeln, erinnern ihre über das Orchester schweifenden Augen »an die Suchscheinwerfer des Gefängnisses von Alcatraz«.
Kurzum: Dieses Buch ist ein helles Vergnügen für alle Menschen, die ihre Urteilskraft und ihren Menschenverstand noch nicht aus schwärmerischer Verehrung oder gar byzantinistischer Unterwerfungslust eingebüßt haben, die allenfalls noch darüber diskutieren, ob »ihr« Maestro nur gottähnlich oder schon göttlich sei und die alle Musikliebhaber, die auch andere Weltstars mit Taktstock ziemlich musikalisch finden, für entsetzliche Banausen und Barbaren halten.
Bob Ross hat sich zwar ein langes Berufsleben hindurch bei den Münchner Philharmonikern behauptet, betrachtet das Geschehen in den heiligen Musikhallen aber nicht mit devoter Ergriffenheit, sondern mit aufsässigem schottischem Gemüt, gelassenem Humor, gewitzter Menschenkenntnis und zunehmend mit der Unabhängigkeit eines Pensionisten, der disziplinarisch nicht mehr zu belangen ist.
Diese Freiheit nutzt er aber nicht gegen die frühere Arbeitgeberin Stadt München, sondern vor allem gegen Tabus der Musikwelt. Er wagt sogar die todesmutige Behauptung, dass er ebenso wie Sergiu Celibidache mit der Akustik im Gasteig ganz gut klargekommen sei, schlimmer noch, er erinnert auch noch daran, dass Lenny Bernstein mit seinem legendären und bis zum Erbrechen zitierten Ausruf »Burn it« gar nicht die Philharmonie, sondern sein soeben durchgefallenes eigenes neues Werk gemeint hat. Das ist zwar verbürgt, aber von den Zensoren in den Feuilletonredaktionen strengstens verboten worden. Bei Zuwiderhandeln droht eine einstweilige öffentliche Hinrichtung! Und dann erlaubt sich Bob Ross auch noch, aus den Archiven Beweise herauszuklauben, dass auch die »Tonhalle« seligen Angedenkens von den Gralshütern des guten Tons seinerzeit als »Turnhalle« verhöhnt worden ist – wegen der angeblich unerträglich schlechten Akustik!
Außerdem hat er sich in den letzten drei Jahrzehnten die Souveränität eines eigenständigen Bandleaders erarbeitet, dessen Formation »Blechschaden« bald so bekannt ist wie die Philharmoniker selbst. Manchmal sogar bekannter. Der »Blechschaden« durfte in den 90er-Jahren sogar in der Münchner Residenz vor dem Bundeskanzler und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten aufspielen. Als George Bush (der Vater) Bob Ross etwas hochheben wollte für ein Dreier-Foto, wurde er von Helmut Kohl angeraunzt: »Jetzt lassen Sie doch den Dirigenten der Philharmoniker in Ruhe!« Eine wahre Geschichte, die freilich mehr über Helmut Kohl als über Bob Ross aussagt.
Was wohl Celi dazu gesagt hätte? Ich habe mit dem Großmeister viele schwierige Gespräche gehabt, meistens ging es um Geld, das er angeblich »verachtet« hat, aber doch sehr gerne bar in Geldkoffern nach Paris brachte. Einmal wollte ich die verkrampfte Atmosphäre etwas auflockern mit dem Hinweis, dass seine Blechbläser bei einer Jubiläumsfeier das Publikum wieder einmal zu Begeisterungsstürmen hingerissen hätten. Da verzog er das Gesicht, als hätte ich ihn in eine Zitrone beißen lassen und ihm gleichzeitig auch noch einen Geldkoffer entrissen. Das habe ich mir gemerkt. Immer wenn die Honorarverhandlungen eine weitere Millionengrenze zu überschreiten drohten, habe ich angefangen, von Bob Ross und seinen Leuten zu schwärmen. Dann kamen wir schnell zum Ende.
Der »Blechschaden« gab seinem Bandleader nicht nur die Gelegenheit, selber den Taktstock zu schwingen, sondern auch die Chance, mit professioneller Perfektion, aber auch mit Humor, Witz und Temperament ein neues Publikum hinzuzugewinnen, Erfahrungen backstage und mit Play-back zu sammeln und die Treffsicherheit seiner Pointen zu steigern. Ein kleiner Mann als großer Entertainer.
Man kann dieses Buch gar nicht lesen, ohne ständig laut aufzulachen – was will man bei einem so ernsten, tabubeladenen Thema mehr? Als ich einmal Bob Ross und seine Band ehren sollte, kam dafür nur »München leuchtet« infrage. Aber in welcher Kategorie? Bronze bekommt man schon für ausdauerndes Ehrenamt, Silber, wenn man es schon sehr weit, aber noch nicht an die Spitze gebracht hat, und Gold nur als Bester seiner Zunft – das wäre schon angemessen gewesen, aber gleich für so viele Leute? Viel zu teuer. Wir entschieden uns für »München leuchtet« in Blech – das war ungewöhnlich wie die Preisträger, sparsam wie der schottische Leader – und einmalig. Also die einzig denkbare Ehrung für ein einmaliges Phänomen!
Christian Ude
KAPITEL 1
Liebeserklärung
Musiker sein ist ein wunderbarer Beruf, etwa so schön wie Fußballer. Wir spielen, anstatt zu arbeiten.
Dirigenten und andere Katastrophen. Bevor ich zu den »Maestri« komme, eine Liebeserklärung an das Leben als Musiker. Es ist ein großes Privileg, als Kind die Gelegenheit zu haben, ein Instrument zu erlernen, um später dann durch die Musik die Miete zahlen und die Familie ernähren zu können. Und weil ich ein Arbeiterkind bin und aus einer schottischen Bergarbeiterstadt stamme, weiß ich das erst recht zu schätzen.
Vor meiner Zeit hat es jemand aus unserer Straße geschafft, ins Royal Scottish National Orchestra zu kommen, und als das Orchester in meiner Heimatstadt Kirkcaldy gastierte, sind viele aus unserer Straße ins Konzert gepilgert, obwohl sie niemals zuvor ein klassisches Konzert besucht haben. Weil: »Einer von uns spielt mit.« Es ist wie im Sport. Man bekommt Anerkennung vom Umfeld. In Schottland gibt es einen schönen Scherz über unsere Brassbandtraditionen. Brassband ist der dritte Nationalsport nach Fußball und Sex. Durch diese Bands hab ich meine Ausbildung kostenlos bekommen, was natürlich für einen Schotten Gold wert ist. Sie kennen die sogenannten Schottenwitze, die ich in Deutschland gehört habe. Und nach über 40 Jahren Orchestertätigkeit in Deutschland kann ich behaupten: Die Schottenwitze stimmen nicht, dafür aber die Behauptung, das Leben als Orchestermusiker sei herrlich.
Bei einer Umfrage der Deutschen Orchestervereinigung haben knapp 90 Prozent meiner Kollegen diese Meinung geteilt. Und falls in diesem Büchlein der eine oder andere Dirigent nicht wirklich gut wegkommt: Nehmen Sie es von der humorigen Seite. So bin ich, so möchte ich bleiben, meine schottische DNA nicht verändern.
Zu meinem 40. Dienstjubiläum habe ich ein Buch von der Deutschen Orchestervereinigung geschenkt bekommen. Geschrieben 1931 von dem Berliner Hans Distel. Ein Orchestermusiker schreibt über Dirigieren und Dirigenten. Und ich stelle fest: Im Verhältnis zwischen Orchestermusikern und Kapellmeistern hat sich in den vergangenen 85 Jahren fachlich und menschlich so gut wie gar nichts verändert. Das hat mich motiviert, dieses Buch zu schreiben. Wenn Sie jetzt meinen, ich gehöre auch zum Stamme der Dirigenten: falsch. Erstens bin ich Hornist bei den Münchner Philharmonikern, zweitens heißt mein Orchester »Blechschaden«, und ich bin Bandleader. Kein Dirigent. Nur manchmal werde ich einer, bei den Scheichs am Golf. Später mehr.
Sergiu Celibidache, mein langjähriger Chef, hat auch länger gebraucht, um meinen Humor zu verstehen. Als ich mich im Flugzeug mal mit einer Ajatollah-Chomeini-Maske neben ihn setzte, hat er keine Miene verzogen und gesagt: »Das kann nur der Bob sein.« Er hat alle Kollegen mit dem Vornamen angesprochen, dafür mussten wir ihn Maestro nennen.
Der Mann war ein Phänomen, er kannte nicht nur die Namen, sondern auch die Partituren auswendig. Als einer ihn mal Herr Celibidache nannte, hat er allerdings beleidigt die Probe verlassen.
Ein Witzchen gefällig?
Ein Mann will einen Papagei kaufen. »Der grüne ist aber hübsch.«
»Ein schönes Tier«, bestätigt der Verkäufer, »und sehr musikalisch: er kann drei verschiedene Melodien pfeifen. Kostenpunkt: 300 Euro. 100 pro Melodie.«
»Ein bisschen teuer«, meint der Kunde, »dann vielleicht den roten.«
»Tja, der ist leider noch teurer, er beherrscht fünf Melodien, also 500 Euro.«
»Und was ist mit dem blauen?«
»Das ist der teuerste: 5000 Euro.«
»Wieso das? Was kann der?«
»Eigentlich nichts«, antwortet der Verkäufer, »aber die anderen nennen ihn ›Maestro‹.«
Elias Canetti beschreibt in seinem Roman »Masse und Macht«, was einen Dirigenten ausmacht: »Es gibt keinen anschaulicheren Ausdruck für Macht als die Tätigkeit des Dirigenten. Jede Einzelheit seines öffentlichen Verhaltens ist bezeichnend, was immer er tut, wirft Licht auf die Natur der Macht. Wer nichts über sie wüsste, könnte ihre Eigenschaften eine nach der anderen aus einer aufmerksamen Betrachtung des Dirigenten ableiten … Der Dirigent steht. Die Aufrichtung des Menschen als alte Erinnerung ist in vielen Darstellungen der Macht noch von Bedeutung. Er steht allein. Um ihn herum sitzt sein Orchester. Hinter ihm sitzen die Zuhörer, es ist auffallend, dass er allein steht. Er steht erhöht und ist von vorne und im Rücken sichtbar. Das Werk, das er ausführt, auf alle Fälle komplexer Natur, erfordert von ihm, dass er scharf aufpasst. Über Gesetzesbrecher muss er mit Blitzeseile herfallen. Die Gesetze werden ihm an die Hand gegeben als Partitur … Er ganz allein bestimmt, und er allein richtet auf der Stelle über Fehler. Er ist allwissend, denn während die Musiker nur ihre Stimmen vor sich liegen haben, hat er die vollständige Partitur im Kopf oder auf dem Pult. Es ist ihm genau bekannt, was jedem in jedem Augenblick erlaubt ist. Dass er auf alle zusammen achtet, gibt ihm das Ansehen der Allgegenwärtigkeit.«
Manche Maestri sind vielleicht großartige Musiker, gleichzeitig aber furchtbar weltfremd. Tournee der Münchner Philharmoniker. Aufzug in einem Hotel in Los Angeles. Celibidache, nicht mehr gut zu Fuß, stützt sich auf einen Helfer. Ich zufällig dabei. Ein großer, kräftiger Amerikaner ist im Aufzug, sieht, wie Celi langsam in den Aufzug humpelt, und fragt: »Hey, what’s wrong with you?« Celi, peinlich berührt, schweigt. Das erste und einzige Mal, dass ich Celi wortlos erlebe. Der Ami gibt nicht auf und fragt mich: »What’s wrong with him? Ich hab heute schon viele alte Leute mit Handicap im Hotel gesehen. Haben die einen Kongress?«
Ein anderes Hotel. Diesmal in Japan. Hotel und Konzertsaal unter einem Dach. Diesmal nicht Celi, anderes Orchester, anderer Weltdirigent. Der will die Musiker vor dem Konzert nicht sehen. Bekommt von der Direktion die Erlaubnis, den Personalaufzug zu nehmen. Fährt in den Keller und findet den Ausgang zum Konzertsaal nicht. Das Konzert soll beginnen. Alle sind bereit, nur der Dirigent fehlt. Der Intendant findet den verzweifelten Maestro schließlich im tiefen, dunklen Keller.