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Impressum:

1. Auflage 2018

Cover: D-ligo

ISBN: 978-3-95791-071-4

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet.

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Sebastian Caspar

Zone C

Roman

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Für Monti

Jeder von uns weiß, wo was geht, und du könntest meinen Opa fragen, wer für den Flow zuständig ist, den Flow, der Kaputte und Junkies auf die Straßen spuckt und uns die Nächte mit einem Affen im Nacken wachhält. Er würde mit hochrotem Kopf und einer pulsierenden Vene auf der Stirn über die Asylanten und das Kopftuch schimpfen. Du würdest – genau wie ich – vor ihm sitzen, deine Augen trotz Sonnenbrille geschlossen halten und dich fragen, ob du deinen Entschluss, auf die Toilette zu gehen, jetzt oder erst zwei Minuten später verkündest.

Draußen, vor den Fenstern des kubanischen Restaurants Guantanamera, bewegt der Wind die Blätter der Bäume und dieses leise an- und abschwellende Rauschen, das durch die geöffnete Tür zu mir dringt, jagt mir einen sanften Schauer über den Rücken. Die milde Sonne des Spätnachmittags taucht den Tag in warmes Licht. Mein Großvater hat mich hierhergebeten, um mit mir wieder einmal über meine Mutter und Gott und die Welt zu reden. Er ist in großer Sorge, denn seitdem mein Vater sich vom Acker gemacht hat, geht es meiner Mutter sichtlich beschissener. Mir tut sie ebenfalls ein bisschen leid, jedoch empfinde ich die überschwängliche Fürsorge meines Opas für seine Schwiegertochter, eine erwachsene Frau und Mutter, doch etwas überzogen. Ehrlich gesagt, nervt es auch ein wenig, doch höre ich ihm gerne zu, denn ich mag ihn irgendwie.

Und während ich erfolglos versuche, zu verdrängen, dass mein Job bei der Post seit heute Morgen beendet ist, sieht mein Großvater auf einmal sehr alt und fertig aus. Ein wenig Stoff müsste aber noch in dem kleinen Briefchen sein, welches ich vorhin aus dem Gemüsefach unseres Kühlschrankes in meine rechte Gesäßtasche befördert habe. Deshalb teile ich meinem Opa mit, dass ich kurz für kleine Römer gehe und verpasse somit die schon tausendmal gehörten Erlebnisberichte von der Front und den schlimmen Zeiten nach dem Krieg.

Als ich die Tür der Herrentoilette mit einem Schuss zu viel Vorfreude aufschwingen lasse, knallt diese gegen den Eimer einer weiblichen ausländischen Reinigungskraft. Möglicherweise war die bis zu meinem Erscheinen intensiv damit beschäftigt, die Fliesen blitzeblank zu wischen, doch durch mein rüpelhaftes Benehmen hat sich das gesamte dreckige Wasser jetzt wieder auf dem Boden verteilt. Unter dem Licht der weißen Leuchtstoffröhren hebt sie jetzt den Kopf und blickt mir in die Augen. Zugegeben, sie sieht blendend und sehr exotisch aus.

Das Wasser breitet sich als eine immer größer werdende schmutzige Lache um uns herum aus, doch das stört mich nicht dabei, angestrengt zu überlegen, was für ein Name zu so einer schönen Frau passen könnte. Ich werde sie Aruna nennen, denn das bedeutet Morgendämmerung und passt zu ihrem indischen Gesicht. Ihr Mund öffnet sich und ihre Lippen formen eine Sprache, die mir fremd ist, aber so anmutig klingt wie ein Gesang aus einer fernen Welt. Die Melodie ihrer Worte erinnert mich an Peperonischoten, an roten Sand und braune Haut. Dabei mustert sie mich mit einem Blick, den ich nicht zu beschreiben vermag. Es entsteht eine in sich ruhende Wärme und ich spüre das Pochen unser beider Herzen in der Brust.

Dieser selige Zustand hält nicht lange an, denn er wird durch meinen Großvater abrupt zerrissen. Dieser tritt von außen so stark gegen die wieder geschlossene Tür der Herrentoilette, dass sie noch heftiger aufliegt als vor einem Moment und laut an die Wand knallt. Aruna zuckt erschrocken zusammen und beginnt sofort, stoisch die schmutzigen Wasserlachen auf dem Boden mit ihrem Wischmob zu bearbeiten. Zerstörung steht vor mir in schwarzen Lettern an die Fliesen geschmiert, und dann geschieht etwas sehr Ungewöhnliches: Ein Herr, ein Fremder in einem feinen weißen Anzug, betritt die Szene und gibt vor, Gott zu sein.

Er hält ein Gemälde in den Händen, auf dem ich meinen eigenen Körper verspeise, und ich weiß nicht, ob das alles wirklich passiert oder ob ein vergessener Traum aus meinem Unterbewusstsein emporsteigt. Gott ist schwarz. Er sieht aus wie Moses, der Äthiopier, Glaubensbote bei den Sarazenen und späterer Bischof. Dieser Gott möchte von mir jetzt wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält, und mir kommt die Frage sehr bekannt vor. Komischerweise muss ich auf einmal an einen Pudel denken und da mir keine Antwort einfällt, drehe ich mich zu meinem Großvater um, denn er weiß immer Bescheid in solchen Dingen. Doch der Türrahmen ist leer, niemand steht darin oder wartet auf mich, auch Aruna ist verschwunden.

Als ich mich wieder Gott zuwende, ist er ebenfalls vom Erdboden verschluckt worden. Ich bin allein, man hat mich urplötzlich verlassen. Verstört gehe ich in eine der Kabinen, verriegele von innen die Tür und ziehe das kleine Briefchen aus meiner Hosentasche. Vorsichtig, fast zärtlich, entfalte ich das Papier und dann sehe ich es endlich vor mir. Kleine, weiße Kristalle, durchsichtig und glatt, liegen dort. Ein Gemisch aus Ephedrin, Abflussreiniger und Batteriesäure. Crystal Meth, bei uns auch C genannt. Der letzte Schrei aus der Tschechei.

Absolut fertig, aber irgendwie auch erfrischt, gehe ich in den Speiseraum des Lokals zurück. Dort verweile ich an dem Tresen der Bar. Das C hat meinen Blutdruck nach oben schnellen lassen. Wellen aus Euphorie, Klarheit und Hitze durchfluten meinen Körper, und ich wische mir mit meinem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn.

Von hier aus, wo ich stehe, kann ich durch die großen Fenster, in denen sich die Strahlen der Sonne brechen, Monti auf dem Fahrrad sitzen sehen. Ich muss die Augen zusammenkneifen, so hell ist es, doch ich erkenne, wie er, eine Zigarette rauchend, an einem der Bäume lehnt, die vor dem Restaurant einen kleinen Park bilden. Das Licht des ausklingenden Sommers schimmert durch das Netz ihrer Äste und taucht den Vorplatz in bewegte Schatten und mir ist, als wäre Monti Teil dieser diffusen Szenerie und nicht von dieser Welt.

Mein Großvater hockt am anderen Ende des Raumes stumm vor seinem Glas Bier, und ich weiß, dass er jetzt in Gedanken irgendwo in Oberschlesien eine holprige Landstraße hinunterradelt. Dabei geht es vorbei an goldenen und satten Feldern, seine Lippen sind trocken und seine Beine schmerzen. Doch bald, hinter der nächsten Biegung, wartet Maria auf ihn. Das Mädchen mit den schwarzen schweren Haaren, und darum gibt er noch mal richtig Gas. Im Schatten der Bäume werden sie dann Apfelmost trinken und sich wolkenbilderinterpretierend in eine gemeinsame Zukunft träumen. Sie werden einen Sohn zeugen und sich lieben. Doch lang ist all dies her, und ich wende mich ab, denn alles deprimiert mich schon wieder, auch habe ich meine Oma gemocht und vermisse sie sehr. Ja, es wird Zeit, nach Hause zu gehen. Vielleicht. Ach, ich weiß es einfach nicht.

Während ich so herumstehe, denke ich an die hochbrisanten Meldungen des letzten Sommers, an die Nachrichten über Mitbürger, die aufgrund der wochenlangen Hitze tot zusammengebrochen oder durchgedreht sind. Ich denke an die Schlagzeilen in den Zeitungen, die von entführten Flugzeugen und zusammenkrachenden Wolkenkratzern berichteten.

Ich denke an eine Zeit, die nicht allzu lange zurückliegt, aber schon jetzt unerreichbar ist. Ich erinnere mich an Asic, das Auftauchen Montis und das Treffen mit ihren Eltern, ebenfalls hier im Guantanamera, Anfang dieses Jahres. Ich erinnere mich an den eindringlichen Appell ihrer Mutter, mich von ihrer Tochter fernzuhalten, an meine Hilflosigkeit und Asics Entschluss, von hier fortzugehen. An ihren Vater, der während des Gespräches die meiste Zeit so aussah, als würde er mir gleich eine reinhauen. Und obwohl ich ihre Mutter zuvor nur einmal gesehen hatte, wusste ich, dass sie aus Angst um ihre Tochter geweint hatte. Alles hat sich verändert.

Die letzten Monate waren leer und doch angefüllt mit der Hoffnung auf einen Anruf oder wenigstens darauf, einen Brief von Asic zu erhalten. Sie hat es mir versprochen, bevor sie verschwand, zum Studieren, in den Westen. Doch ich warte bis jetzt vergeblich auf ein Zeichen von ihr und manchmal tut es so weh, dass das dumpfe Gefühl in meinem Bauch sich dermaßen intensiviert, dass ich mich übergeben muss. Niemand kann mir helfen. Meine Mutter ist ein Wrack, mein Vater verschwunden, Opa am Ende, Kumar mit Lousenne beschäftigt und Monti versteht von all diesen Dingen nicht das Geringste.

Und wenn mich trotzdem jemand fragen würde, was noch so ging in diesen letzten Monaten, dann wären es nur komische Sachen, an die ich mich erinnern kann. Bilder, die wie ein weißes Stroboskoplicht vor mir aufzucken und wieder verschwinden. Bilder, von denen ich weiß, dass ich sie nie vergessen werde.

Ich erinnere mich an national befreite Zonen im Osten und an Tage, an denen ich aus dem Fenster starre und nichts passiert. An das erste C in unserer Stadt, das Stechen in der Nase und einen noch nie zuvor gefühlten Kick. Ich erinnere mich an die Nächte, in denen ich voll drauf bin, wach auf meinen Atem höre. Und an meinen Körper, der vom C schweißnass ist und zittert. An den Versuch, ein Buch zu lesen, das Gefühl, etwas verloren zu haben, den Moment, als alles begann. Wind, der warmen Regen über Felder treibt.

Mein Großvater fährt mit der Tram nach Hause und ich laufe mit Monti in die Stadt. Er schiebt sein kleines grünes Klapprad neben mir her und sein Blick wandert ständig über den Boden. Er hat die Angewohnheit, fast alles, was auf der Straße liegt, aufzuheben und sich in die Taschen zu stecken. Warum er das tut, kann ich mir nicht erklären, doch solange es nur kaputte Feuerzeuge, Zeitungsfetzen und anderer anorganischer Müll ist, ist es für mich okay.

Monti ist mindestens einen Kopf kleiner als ich, hat einen schlurfenden Gang, wasserblaue Augen und zerzauste, kurze, blonde Haare. Wir unterhalten uns oft über meinen Opa, momentan ist jedoch das heutige Desaster auf der Post unser Thema, und dann irgendwann auch Asic. Nicht, dass ich unglücklich wäre über den Verlust meines Jobs als Paketfahrer. Nein, ich hatte es darauf angelegt, doch dass mir meine Chefin mit der Polizei drohte und dabei vor Wut im Gesicht blau anlief, war schon sehr verstörend. Fünf quälend lange Wochen Pakete und Büchersendungen durch die Kante zu kutschen, über Dörfer und Feldwege, zu Leuten, die niemand kennen möchte, ist der reinste Horror. Mit den ganzen Scheißpaketen im Rücken kam ich mir vor wie ein Getriebener. Das macht einen absolut fertig.

Monti sagt jetzt, dass ich nicht traurig sein soll, gefeuert worden zu sein, und dass ihn mein heutiger Besuch im Guantanamera nachdenklich gemacht habe, auch dass er sich irgendwie schuldig fühle. Die Aussprache mit Asics Eltern hafte noch sehr in seinem Gedächtnis, aber bis heute könne er nicht verstehen, wie man auf C so durchdrehen kann. Aber schließlich sei er derjenige, den Asic nie hatte leiden können und mit dem ich die meiste Zeit abhing, als ich noch mit ihr zusammen war. Im Nachhinein, glaubt er, wäre es das Beste gewesen, er wäre beizeiten von der Bildfläche verschwunden. Dann würden wir alle uns bestimmt nicht so viel des tschechischen »Way of Life« in die Nase jagen. Beste Ware zwar, aber irgendwie verändere es einen doch, wohin, weiß er nicht, und auch ich bin überfragt.

Die verfallenen Häuserzüge auf beiden Seiten der Straße formen eine breite Gasse und das Rot des Abendhimmels klebt wie eine Tapete über den Dächern, auf denen alte Fernsehantennen wie knochige Finger in die Höhe ragen. Es ist wenig Verkehr auf den Straßen, eigentlich ist überhaupt kein Auto zu sehen, und als mir das auffällt, fragt mich Monti, ob ich es bereue, ihn kennengelernt zu haben. Überrascht von dieser für ihn untypisch offenen Art, drehe ich meinen Kopf zu ihm und betrachte ihn still, während wir langsam weiterlaufen.

Schließlich sage ich, dass ich mir darüber noch nie Gedanken gemacht habe, außerdem solle er sich nicht sinnlos den Kopf über Dinge zerbrechen, die er sowieso nicht versteht. Auch, füge ich hinzu, haben wir doch alle irgendwann angefangen, C zu ziehen, und eigentlich sei es auch egal, wer wann und wo damit begonnen hat und wie das zusammenhängt, denn ändern wird sich sowieso nichts. Alles ist eben so, wie es ist.

Jetzt ist es ein alter Kinderschuh, der Montis Interesse weckt, und wir bleiben kurz stehen. Monti bückt sich, um ihn aufzuheben, und ich denke noch mal über das eben zwischen uns Gesagte nach. Es stimmt, ich bereue es nicht, Monti kennengelernt zu haben, obwohl seine Gegenwart nicht immer einfach ist, auch wenn es sich oberflächlich oft so anfühlt. Monti ist nicht der Hellste, aber seine naive Art ist ziemlich erfrischend und manchmal ist mir, als durchdringe er mein Dasein, um direkt in mein Herz zu blicken. Dort sieht er dann deutlich meine Zukunft begraben und auch den Tag meines Todes gelistet, und nur indem ich mir einrede, dass es ihm an Verstand mangelt, zu verstehen, was in mir vorgeht, beruhige ich mich einigermaßen. Ich möchte einfach von ihm nicht allzu sehr durchschaut werden, denn dazu brauche ich ihn zu sehr.

Jedoch hat Monti recht. Asic hat ihn nie gemocht. Sie hat ihn ignoriert, wie Luft behandelt, und zum Schluss, kurz vor ihrem finalen Zusammenbruch, nur noch mit dem Kopf geschüttelt, wenn ich von ihm erzählte. Auch jetzt, nach langem Überlegen, fällt mir der Moment, in dem ich Monti das erste Mal begegnete, nicht ein. Ich glaube, er war einfach irgendwann da und wurde von allen geduldet. Seit das C kam, peilt er oft durch die Gegend, doch sieht er noch immer so aus, als besuche er die Grundschule. Und wenn ich zurückblicke, fällt mir auf, dass Monti nach Asics Fortgehen immer öfter bei mir auftauchte. Jetzt schmeißt er plötzlich sein Fahrrad auf die Straße und beginnt, wie ein Kaputter Salti auf dem Fußweg zu schlagen.

Alles geht den Bach hinunter. Dieses Viertel, dieser Moment, ja, sogar mein Leben. Diese Gedanken gehen durch meinen Kopf, nachdem ich Monti in einem der Abbruchhäuser abgeliefert habe und die leicht ansteigende Straße auf dem Weg zu unserem Viertel entlanglaufe. Mein Blick bleibt an der Fassade eines Ladens auf der gegenüberliegenden Straßenseite kleben. Noch immer kann man dort in blassroten Lettern das Wort Tempoeck lesen, doch mit seinen plakatierten Bretterverschlägen lockt dieses Lädchen niemanden mehr in sich hinein.

Bis heute erschließt es sich mir auch nicht, was mich vor Jahren bewegte, in diesem Geschäft Zuflucht zu suchen. Mein Vater hatte mich wieder einmal übers Knie gelegt und ich rannte heulend durch die Stadt, bis hierher. Ich erklomm die wenigen Stufen und öffnete die Tür des Ladens, um mich schweißnass und vor Adrenalin zitternd hinter einer Pyramide aus Gemüsekonserven zu verstecken.

Von dort aus konnte ich dann die Kassiererin, welche mein Eintreten nicht bemerkt hatte, ungewollt beobachten. Eine dicke und schwitzende Frau, die, hineingepresst in eine Kittelschürze, murmelnd Zahlen in die Kasse tippte und einem kleinen, untersetzten Mann, der schnaufend Kisten an ihr vorbei in die hinteren Räume des Ladens schleppte, böse Blicke zuwarf.

Offenbar ging es der schwitzenden Frau nicht schnell genug, denn als der arme Teufel, mit einem besonders großen und schweren Paket in den Armen, die Frechheit besaß, versehentlich an den Kassenverschlag zu stoßen, steigerte sich ihr Zorn ins Unermessliche. Abrupt stieß sie einen beängstigenden Schrei aus und versuchte mit einem bereitliegenden Stock, dem Mann einen Schlag auf den Hinterkopf zu geben. Der war jedoch flinker, als man es ihm zugetraut hätte, und verschwand geschwind hinter einer Regalzeile. Überall roch es nach Tod, alten Lebensmitteln, und arbeitenden, ungepflegten Körpern. Und ich erinnere mich wieder, wie elementar der Ekel war, den ich in diesem Moment empfand, an die Stunden jenes Tages, an das Zusammenspiel von Demütigung und Abscheu. An vieles, ohne jede Bedeutung, das man nie wieder vergisst.

Ja, diese Stadt hängt in ihren letzten Atemzügen und ich bin immer noch hier. Mein Weg führt weiter, hinein in den Park, durch den ich gehen muss, wenn ich nach Hause möchte. Im Zentrum der Grünanlage versucht ein zerbröckelndes Karl-Marx-Monument, einer verlorenen Generation die letzte Ehre zu erweisen. Grimmig blickt der Kopf in die Dunkelheit, und ich beschließe, mich eine Weile auf die Treppen des Sockels zu setzen, um etwas auszuruhen.

Ich befühle mit meinen Fingerspitzen den porösen Stein der Stufen, rauche dann Zigaretten, bis es dunkel wird und ich mich entschließe, wieder aufzustehen. Dabei wünsche ich mir einen Zylinder, aus dem weiße Kaninchen springen könnten, die dann wie toll über die Wiesen spurten würden. Ein schicker Panamahut würde mir ebenfalls sehr gefallen. Den könnte ich mir lässig ins Gesicht ziehen und auf dicke Hose machen, doch ich habe keinen Hut und bin wohl auch so schon wieder ziemlich drauf.

Sekunden verfliegen mit Erinnerungen an Asics Körper und ihre unvergesslichen Küsse, bis ich auf der großen weiten Straße stehe, die zu den Blocks unserer Siedlung führt. Im Weitergehen registriere ich einen Asiashop, den ich noch nie zuvor gesehen habe. Komischerweise habe ich etwas Hunger und deshalb trete ich ein.

Das Schellen einer Glocke über der Tür lässt mich kurz zusammenfahren, und um mich zu beruhigen, zähle ich die Sitzplätze an den insgesamt drei Tischen, die mit Plastikgestecken verziert sind. An den weiß gefliesten Wänden hängen Bilder, auf denen knallbunte Vögel über undurchlässige Urwälder segeln; kleine braune Erdenbürger mit Mandelaugen winken darauf dem Besucher lächelnd zu. Die Tür fällt ins Schloss und der kupferne Ton der kleinen Glocke hängt noch lange in der Luft.

Es ist etwas eng in derartigen Etablissements, und somit habe ich ein wenig Mühe, mich an einen der Tische zu zwängen. Ich bestelle lediglich eine Suppe und Cola, drehe mir eine Zigarette, stecke sie aber nicht an. Ich warte auf das Essen, jetzt höre ich Töpfe in der Küche klappern und versuche, mit der jungen Vietnamesin am Tresen zu flirten, die sich jedoch von mir wegdreht, um eine neue Scheibe asiatischen Pops einzulegen.

Seit mein Vater uns vor einiger Zeit wegen eben solch einer asiatischen Schönheit verlassen hat, ist die Beziehung meiner Mutter zu ihrem Schwiegervater eingefroren. Im Grunde haben sie keinerlei Kontakt mehr und mein Opa versucht, mich bei den gut geplanten, doch spontan aussehenden Treffen, so wie heute im Gunatanamera, auszuquetschen. Obwohl wir alle drei in einer Stadt leben, schreibt er jede Woche einen Brief an meine Mutter und ich verschweige ihm, dass sie ungelesen im Papierkorb landen und von ihr als Belastung angesehen werden.

Mein Opa steht dennoch in diesem Konflikt auf der Seite meiner Mutter, denn dass sein Sohn sich mit einer Asiatin eingelassen hat, geht für ihn, einen Träger des Eisernen Kreuzes zweiter Klasse, überhaupt nicht. In gewisser Hinsicht ist es rührend, wie sehr mein Opa versucht, die Schieflage in unserer Familie zu kitten. Doch es ist hoffnungslos, da meine Mutter nach der Trennung jeden Kontakt zu meinem Großvater verweigert. Aus diesem Grund griff er sicherlich vor einigen Monaten zu dem letzten Mittel, um sein Mitgefühl und eine Art von Solidarität zu kommunizieren – er schreibt ihr Briefe.

Nach einer Weile bekomme ich das Bestellte. Die Suppe dampft und duftet gut, doch selbst hier in diesem angenehmen Ambiente komme ich mir wieder unendlich verloren vor. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und schließe die Augen. Dann rieche ich den Duft exotischer Blumen, der sich über Ozeanen entfaltet, und lausche auf das Rauschen von Palmen, deren Blätter, vom Wind berührt, eine ewige Melodie anstimmen. Doch auf einmal werde ich in gebrochenem Deutsch gefragt, ob etwas mit der Suppe nicht stimme, und mir wird schnell wieder bewusst, wo ich mich befinde und dass ich seit Minuten auf meine geöffneten Handflächen starre.

Ich schaue gequält zu dem asiatischen Mädchen auf, die, wer weiß wie lange schon, an meinem Tisch steht und an der Decke zupft, und deshalb gebe ich ihr zu erkennen, dass ich zahlen möchte. Sie zuckt missbilligend mit den Schultern und räumt schweigend den Tisch mit der von mir nicht angetasteten Suppe ab, dann sitze ich noch ein paar Minuten rum. Die Rechnung kommt und ich zahle. Kurz danach stehe ich auf, nehme meine Jacke vom Haken und verabschiede mich in die Küche rufend.

Auf der Straße ist es menschenleer. Es regnet Schleier und ich stülpe die Kapuze der Jacke über den Kopf, stecke die Hände in die Taschen und setze einen Fuß vor den anderen. Eine Weile laufe ich so, rhythmisch und den Blick auf den Boden gerichtet, bis zu einer Tramstation, die aus dem Nichts aufzutauchen scheint. Dort halte ich inne und studiere den Fahrplan, spekuliere, ob ich weitergehen soll oder ob die Straßenbahn mich nach Hause bringen wird. Ich entscheide mich für die Tram und stelle mich unter das Glashäuschen, in einigem Abstand zu einer ebenfalls dort wartenden Frau.

Ich suche meinen Tabak, finde ihn nicht und bemerke jetzt den Kinderwagen, welchen die Frau neben mir fest umklammert hält. Mir ist, als weine sie leise, und dabei werden wir umgeben von dem schmutzigen Boden der Straße. Die Nacht mit ihrem kalten Hauch kriecht aus den Gullys der Stadt, und auf dem Weg in unser kollektives Chaos, das nur aus einem einzigen trudelnden Sturz zu bestehen scheint, durchnässt weiterhin der Regen meine Gedanken. Ich wende mich zu dieser traurigen Frau und betrachte ihr Kind, eine Unschuld, die mit blauen Augen hoch in den Kosmos blickt. Doch ich habe Angst um die Zukunft, denn wir werden alle zerbrechen. Zerschellen an Sternen, welche, kurz zuvor geboren, uns ihre Schatten auf die Erde warfen.

Die Blocks im Zentrum der Trabantensiedlung sind schwarze Monolithen. Und vor ihnen sitze ich nun auf einer der Schaukeln, die in der Mitte des Spielplatzes an einem Holzgerüst paarweise aufgereiht sind. Ich rieche bis hierher den Gestank des kleinen Holzhäuschens, welches sich auf vier hölzernen Stelzen vom Boden abhebt und links neben dem vergammelten Sandkasten wurzelt. Schon früher war dies ein beliebter Ort zum Urinieren.

Ich schaukele etwas hin und her, doch das Gefühl im Bauch, dieses ganz spezifische Kribbeln, mag sich nicht mehr einstellen und deshalb gebe ich nach einiger Zeit erschöpft auf. Ich schaue hinauf zu unserer Wohnung, doch da ist kein Licht. Es scheint niemand daheim zu sein. Ein Hund kläfft irgendwo und vereinzelt zucken die blauen Strahlen der Mattscheiben stroboskopisch aus den Fenstern der Wohnungen.

Als ich mich erhebe, um endlich zu gehen, schiebt sich der Mond weiter den Himmel hinauf und thront unberührt von mir über den Plattenbauten. Er beleuchtet meinen Weg noch bis zum Hauseingang und dort stecke ich den Schlüssel in das Schloss, drehe meine rechte Hand etwas und spüre einen flüchtigen Widerstand. Die Tür öffnet sich und ich trete ein.

Ohne den Lichtschalter zu betätigen, prüfe ich den Inhalt unseres Briefkastens, doch kein Brief von Asic befindet sich darin, auch sonst herrscht dort gähnende Leere. Enttäuscht steige ich leise und zügig im Dunkeln die Treppen hinauf. Etwas außer Atem komme ich oben im siebten Stock an und streife meine Schuhe von den Füßen. Ich öffne unsere Wohnungstür und begebe mich als Erstes in das Schlafzimmer meiner Mutter, um aus meiner Vermutung, allein zu sein, eine Tatsache zu machen. Ihr Bett ist gemacht, blütenweiß, so als ob nie jemand darin gelegen hätte, dann gehe ich in mein Zimmer.

Klamotten liegen verstreut auf dem Boden und die Musikanlage erhellt mit ihren blinkenden, bunten Lichtern den Raum. Das einzige Geräusch, welches ich höre, ist das Summen des Kühlschrankes aus der Küche. Ich schließe die Tür, gehe zurück ins Wohnzimmer und setze mich auf die große Couch. Hier baue ich mir eine Tüte aus meinem letzten Gras, sitze im Dunkeln und blase den Rauch in den Raum, der dann vor dem Fenster des Wohnzimmers wie ein Nebel nach oben steigt.

Heute ist wahrlich kein guter Tag, denke ich, noch immer enttäuscht von der Leere des Briefkastens. Das Gespräch mit meinem Großvater am heutigen Nachmittag hat mich nicht gerade aufgebaut, die bizarre Erscheinung auf dem Klo mich endgültig sehr verwirrt und die morgendliche Auseinandersetzung auf der Post hat mich ebenfalls ziemlich mitgenommen. Mein Gott, ich erinnere mich an Szenen, in denen ich schreiend und gegen die Frontscheibe boxend über ein Feld auf eine Gewitterfront zurase. Die ganzen Scheißpakete fliegen wie verrückt hinter mir im Laderaum durcheinander. Ich hatte mir wohl vor kurzem im Laderaum eine gute Portion C reingezogen und stand deswegen etwas neben mir.