Das Buch
Begonia hat ein Riesenproblem. Ihre beste Kuh, Alfalfa, ist entlaufen! Nicht ahnend, dass diese Reise ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen wird, bricht Begonia auf, um sie zu suchen. Eine magische Landkarte, ein tollkühner Vogel Strauß und ein entführter Kaiser sind dabei nur der Anfang eines unglaublichen Abenteuers, dessen Ausgang über das Schicksal des ganzen Kaiserreichs entscheidet.
Die Autorin
© Bruce Lucier
Julie Berry, hat einen Masterabschluss des Vermont College. Ihre Jugendbücher wurden für verschiedene Auszeichnungen nominiert, standen auf Bestenlisten und erhielten zahlreiche lobende Pressestimmen. Sie lebt mit ihrem Mann und vier Söhnen in einem Vorort von Boston. Dort arbeitet sie als Marketingleiterin eines Start-up-Unternehmens.
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Der Verlag
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Viel Spaß beim Lesen!
Nach Mitternacht außerhalb des Palastes.
In der Voliere, auf der anderen Seite der Palastgärten, schliefen unter leisem Gepiepe und Federgeraschel die Vögel der kaiserlichen Menagerie.
Ein Strauß, ein prachtvoller, männlicher Jungvogel, wurde aus dem Schlaf gerissen. Etwas lauerte dicht an seiner Seite in der Dunkelheit, doch nicht einmal seine riesigen Straußenaugen konnten erkennen, um was es sich handelte.
»Mein Freund, ich habe eine Mission für dich«, sagte das Etwas.
Der Strauß verstand vom Sprechen genauso wenig wie vom Kuchenbacken, doch in seinem Kopf tauchte das Bild eines kleinen, dürren Wesens auf. Sogleich kam ihm ein Straußenküken in den Sinn, denn er hatte nur ein sehr kleines Gehirn zum Denken. Er konnte ihn sehen. Seine Stimme hören. Seinen Geruch riechen. Dieser Mensch gehörte jetzt zu ihm.
»Finde ihn. Pass auf ihn auf.«
Dringlichkeit. Der Strauß spürte, wie sie ihm durch die langen Glieder fuhr. Er stand auf und breitete seine schützenden Flügel aus. Er musste dieses Menschenküken finden. Es tat nichts zur Sache, dass dieser junge Straußenvogel noch keine Partnerin gefunden, geschweige denn ein eigenes Küken aufgezogen hatte. Der Beschützerinstinkt eines Straußenvaters hatte ihn ergriffen. Er war bereit, loszurennen und zu kämpfen, wenn es nötig war.
Das Etwas in der Dunkelheit war verschwunden. Der Strauß fühlte seine Abwesenheit wie einen Lufthauch. Doch die Erinnerung, die dringende Aufforderung, war noch deutlich spürbar.
Finde ihn.
Er stakste durch die Voliere, entdeckte die Tür zu seinem Gehege und die Pforte zu den Gärten, die beide aufschwangen. Das war seltsam, doch die Frage nach dem Warum war nicht sein Fachgebiet. Er schritt durch knöchelhohes, nasses Gras und lauschte.
Finde ihn.
Die Zeit verstrich, er wusste nicht wie viel, doch nicht zu finden, was er suchte, schmerzte ihn.
Ein Schrei zerriss die stille Nachtluft.
Gefahr? Ein Schakal? Ein Löwe? Ein Jäger? Eine Bedrohung für sein Menschenküken? Der Strauß fing an zu laufen. Seine kräftigen Beine wirbelten durch die Luft und trugen ihn voran.
Da, am Palastgebäude. Eins der hohen Fenster war erleuchtet. Es flog auf und eine Gestalt krabbelte nach draußen. Sie bewegte sich weg vom Fenster und balancierte den schmalen Sims entlang, rutschte ab und drohte zu stürzen, schaffte es geradeso, sich mit den Beinen strampelnd am Sims festzuhalten. Doch nicht allzu weit oben. Genau die richtige Höhe, dass der Strauß zu seinem Menschenküken rennen konnte, um es durch sein tiefes Brummen zu beruhigen. Der Mensch stieß einen Schrei aus, bevor er sich fallen ließ und auf dem Straußenrücken landete, wo er seine Beine unter die Flügel des großen Vogels schob. Als hätte eine unsichtbare Hand ihn genau dorthin platziert.
»Hiiiilfe!«, schrie das Menschenküken und hielt sich verzweifelt an dem dünnen Vogelhals fest.
Doch der Strauß störte sich nicht daran. Er galoppierte davon, ohne das geringe Gewicht seines Reiters zu spüren. Als er die Palasttore erreichte, die ebenfalls weit offen standen, stob der Strauß über den festgestampften Kies der kaiserlichen Straße davon. Die Lichter von Lotus, der Hauptstadt des gesegneten Kaiserreiches von Camellion, blinkten im Tal, doch der Strauß umrundete den Palasthügel und bog in einen dunklen Pfad ein, der in eine ländliche Gegend führte, die ihn mit beruhigendem Vogelgezwitscher und Grillengezirpe empfing. Sein menschlicher Reiter kreischte und stöhnte und zitterte vor Angst.
Der Strauß ließ das wilde Geschrei über sich ergehen. Er hatte seinen Schützling gerettet und nur das zählte. Bald würde das arme Ding sich beruhigen und einschlafen. Das Junge hatte noch alle Zeit der Welt, um zu begreifen, dass sein Straußenpapa es beschützen würde.
Mitternacht im Palast. Eine Stunde vor der nächtlichen Flucht.
Die Stille war wie der sanfte Schimmer polierten Goldes, so weich wie feiner Samt. Die Sänger der Abendschicht atmeten langsam ein und sangen dann weiter in die Messingrohre, die die tiefen, beruhigenden Klänge ins kaiserliche Schlafgemach leiteten. Ihre Stimmen vermischten sich wie leises Wasserplätschern zu Liedern, die so sanft waren, dass sie einem das Herz brachen.
Der zweite Gehilfe des kaiserlichen Mundschenks näherte sich der Tür des Schlafgemachs mit einem Tablett, auf dem ein Becher stand. Die Oberfläche der aufgeschäumten, warmen Milch regte sich nicht. Kaiserliche Becherträger konnten vollgeladene Tabletts über glühende Lavafelder tragen, ohne dass die Oberfläche des Getränks für seine kaiserliche Majestät auch nur durch die geringste Erschütterung gekräuselt wurde. Das behaupteten sie zumindest.
Der zweite Gehilfe verneigte sich vor dem Türwärter. Der Blick des Türwärters wanderte zu der Reihe von uniformierten Leibwächtern, die sich hinter den schweren roten Vorhängen bereithielten.
Der erste Wächter trat vor und gab seinem Leutnant ein Zeichen. »Die Milch des Kaisers.«
Der Leutnant verbeugte sich vor seinem Hauptmann und zog seinen eigenen, weniger prunkvollen Becher aus der Tasche. Der zweite Gehilfe des kaiserlichen Mundschenks goss einen Fingerbreit heißer Milch in den Becher des Soldaten und wischte den Rand des kaiserlichen Trinkgefäßes ab.
Langsam trank der Leutnant seinen Schluck Milch. Dann säuberte er seinen kleinen Becher und schob ihn zurück in die Tasche. Alle warteten mit gespitzten Ohren, als würden sie auf die Geräusche in seinem Magen lauschen. Nur ein einziges Mal, dachte der Leutnant, wäre es interessant, wenn tatsächlich etwas passieren würde. Doch das würde wahrscheinlich bedeuten, dass sein Herz zu schlagen aufhörte. Denn so konnte das unglückliche Schicksal eines kaiserlichen Milchvorkosters aussehen.
Der Leutnant wippte ein paarmal auf den Füßen und tat einen tiefen, unvergifteten Atemzug.
»Sehr gut«, sagte der Türwärter zu dem zweiten Gehilfen. »Mögt Ihr eintreten?«
Der Träger des kaiserlichen Milchbechers nickte. Es war freundlich von dem Türwärter, ihn nicht wie einen kleinen Jungen zu behandeln und ihn darauf hinzuweisen, dass er das kaiserliche Schlafgemach zum ersten Mal betreten würde. »Ich werde eintreten.«
Der Türwärter tippte einen Teakholzschlegel gegen ein an der Wand befestigtes silbernes Röhrchen. Ein Glockenschlag vibrierte in der Luft und verhallte. Er wurde von einem gedämpften Glockenschlag aus dem Schlafgemach beantwortet.
Der zweite Gehilfe des Mundschenks spürte, wie sich seine Beinmuskeln verkrampften. Er wackelte mit den Zehen, die in glänzenden Schuhen steckten. Der Türwärter zog einen Schlüssel aus der Tasche, entriegelte die große Schlafzimmertür und schwang sie auf.
Ein feierlicher Schritt nach dem anderen führte den zweiten Mundschenkgehilfen durch das gewölbeartige, schummerige Schlafgemach, vorbei an Marmorbecken, in denen Orchideen träumten und goldene Karpfen umherschwammen, vorbei an beeindruckenden Statuen früherer Kaiserinnen, aus bernsteinfarbenem Granit gemeißelt und täglich mit frischen Rosenblättern geschmückt. Blüten schwammen in Wasserschalen, und parfümierte Kerzen in Kristallschälchen verströmten ihren betörenden Duft. Draußen in den Palastgärten sang ein Paradiesvogel.
Zwei Lampen bei der kaiserlichen Bettstatt verliehen den weißen Laken aus feinstem Seidendamast einen warmen, rötlichen Schimmer. Der Kaiser lag in der Mitte des Bettes, kaum mehr als ein schnaufendes, rastloses, um sich schlagendes Häuflein unter all den Decken und Laken. So viel Platz um ihn herum, und so viel Luxus, staunte der zweite Mundschenkgehilfe, und doch ist er ganz allein.
»Ich habe heute Abend keine Lust auf Milch«, sagte das Häuflein.
Der Becherträger verneigte sich und schickte sich an zu gehen.
»Ach, gib mir doch ein wenig, wo du schon einmal hier bist.« Der Kaiser setzte sich ächzend auf und der Diener beugte sich vor und presste den Becher an die Unterlippe seiner Hoheit.
Selbst im Schummerlicht des Schlafgemachs war der Becherträger wie geblendet von dem edlen Schimmer des seidenen, kaiserlichen Schlafgewandes und den funkelnden, goldenen Ohrringen. Rubine scharten sich wie glühende Verehrer auf seinen kaiserlichen Fingern, und sein Gesicht schimmerte, wo seine Haut nach der kaiserlichen Waschung von den Kammerdienerinnen mit Haselnussöl gesalbt worden war. Die langen Enden seines kaiserlichen Schnurrbarts kringelten sich zu kunstvollen, pechschwarzen Locken. Dieser lange Schnauzbart war der ganze Stolz des Kaisers. Manch älterer Mann konnte von dieser Schönheit nur träumen, die er mit nicht einmal zweiundzwanzig Jahren sein Eigen nannte!
Doch trotz all des prunkvollen Glanzes konnte der junge Becherträger einen weniger ehrfürchtigen Gedanken nicht unterdrücken: Er ist nur ein Mensch. Noch dazu ein jämmerlicher Wicht.
Der Kaiser schnupperte an der wohlriechenden, warmen Milch und zog die Nase kraus. »Schon gut, stell sie auf diesen Tisch. Nein. Da wird sie verschüttet. Stell sie auf jenen Tisch. Nein, lass es sein. Ich will sie nicht. Gib sie der Katze.«
Der Becherträger drehte sich bei jeder neuen Anweisung hier- und dahin, achtete darauf, dass weder seine Gesichtszüge, noch die Oberfläche der Milch die geringste Regung zeigten. Während all der Zeit, in der er gelernt hatte, wie die kaiserlichen Getränke zu tragen, einzuschenken und anzubieten waren, hatte der zweite Gehilfe des Mundschenks nicht geahnt, wie schwer es sein würde, die Gegenwart des Kaisers zu ertragen.
»Gewiss freuen sich Eure Kaiserliche Hoheit auf Euren Geburtstag«, traute er sich zu sagen und bedauerte augenblicklich seine Kühnheit, doch seine Zunge war nicht mehr im Zaum zu halten. »Zweiundzwanzig ist ein verheißungsvolles Alter für einen Herrscher …« Entsetzen ließ seine Stimme verstummen. Ein Becherträger durfte nur reden, wenn er gefragt wurde!
Zeit hing in der Luft, wie ein zitternder Tautropfen an den Blütenblättern der Palastgärten.
Der Kaiser beugte sich vor. »Wer bist du«, fragte er langsam mit ach so sanfter Stimme, »dass du dich erdreistest, das Wort an mich zu richten?«
Der Becherträger zitterte. Was würde als Nächstes kommen? Würde er den Henker rufen lassen? Mit angehaltenem Atem erwartete er sein Schicksal.
»Gib die Milch der Katze.«
Der zweite Becherträger ging zu der Elfenbeinschale, auf die der Kaiser gezeigt hatte, und fragte sich beklommen, ob es zu spät für ihn war, auf den Schweinehof seines Onkels zurückzukehren und seine Tage dort zu verbringen, wo man seine Dienste mehr zu schätzen wüsste. Doch zumindest roch der Kaiser nicht wie ein Schwein. Er kniete sich vor die Elfenbeinschale der kaiserlichen Katze, um die Milch hineinzugießen. Die Katze, ein großer grauer Perser, thronte auf einem samtenen Diwan und beobachtete die Vorgänge mit gelangweilten, gelben Augen.
Der zweite Gehilfe neigte den Becher.
»Nein!«
Der Becherträger fing den Tropfen auf, der in die Schale zu fallen drohte.
Die kaiserliche Brust hob sich. Er schlug sich die Hand gegen die Stirn, dass seine Fingerringe klirrten. »Warum habe ich nie daran gedacht? Warum haben die Priester mich nicht darauf hingewiesen? Katzen stehen mit Dämonen im Bunde!« Er griff nach dem Schlegel, der neben dem Bett hing, und drosch auf eine silberne Röhre ein – das Gegenstück zu der Röhre, die der Türwärter ertönen lassen hatte. Verrücktes Geläute gellte durch den Raum. »Wieso kommst du hierher und störst mich mit der elenden Milch?«
Der Becherträger stellte das Tablett ab und warf sich mit dem Gesicht nach unten auf den Teppich. Er hatte nur zwei Möglichkeiten: um Gnade zu winseln oder davonzulaufen, so schnell seine Füße ihn trugen. Diener waren schon für geringere Vergehen gestorben, als einem wankelmütigen Herrscher Milch zu bringen, der um Milch gebeten hatte. Oder ihm alles Gute zum Geburtstag zu wünschen. »Wer den Kaiser erzürnt, braucht keine grauen Haare zu fürchten«, pflegten die älteren Palastdiener zu sagen. Der Becherträger hatte immer gedacht, sie wollten ihm nur Angst machen.
Sämtliche Türen flogen auf und Diener, Wachen, der Kanzler, ein Priester, eine Tänzerin, eine Masseurin und ein Zuckerbäcker waren in Sekundenschnelle mit ihrem Handwerkszeug bewaffnet zur Stelle. Die Katze sprang von ihrem Diwan und verschwand mit einem eleganten Sprung unter dem kaiserlichen Bett.
»Die Katze«, zischte der Kaiser. »Verscheucht die Katze. Katzen stehen mit Dämonen im Bunde. Warum hat keiner von euch daran gedacht?«
Geleefrüchte erzitterten auf dem Teller des Zuckerbäckers. Das Tamburin der Tänzerin klingelte verzagt. Der Priester versteckte sich hinter dem Koch.
Nur der zweite Becherträger lag noch auf dem Teppich und sah die unter dem gewaltigen Bett hockende Katze, in deren goldenen Augen sich entferntes Kerzenlicht spiegelte. Oder waren es die Flammen der Hölle, fragte sich der Becherträger.
Der alte Kanzler ergriff das Wort. »Glorreicher Herrscher«, sagte er mit einer Stimme, die fast vermuten ließ, dass er sich über diese Anrede amüsierte, »seit Generationen gehören Katzen zum Leben Eurer kaiserlichen Familie. Eure erhabene Frau Mutter besaß drei Katzen und betrachtete sie als Glücksbringer. Ich erinnere mich daran, wie Ihr als kleines Kind an Eurem geliebten Kätzchen gehangen habt …«
»Genug von der Zeit, als ich ein Kind war!«, kreischte der Kaiser. »Ich bin kein Kind mehr. Ich bin jetzt der Kaiser.« Die Diener zogen die Brauen hoch, was im Beisein seiner Majestät äußerst leichtsinnig war. »Ähäm. Beziehungsweise in einer Woche werde ich der gekrönte Kaiser sein. Also sagt mir nicht, was ich tun soll, Kanzler. Ihr wisst, wie sehr mich das verdrießt. Und nun schafft mir diese widerwärtige Katze vom Leib!«
Der Becherträger schlängelte sich unter das Bett. Im schwärzlichen Dämmerlicht unter der Matratze starrten ihm die leuchtenden, gelben Katzenaugen entgegen. »Komm her, Miez, Miez«, flüsterte er. Das Tier regte sich nicht. Er streckte die Hand aus und packte die kaiserliche Katze am Nackenfell. Sie jaulte auf und versuchte, ihn mit den scharfen Krallen ihrer Hinterpfoten zu attackieren. Aber er ließ nicht los. Er zog die Katze unter dem Bett hervor und hielt sie in die Luft. Seine Schweinezüchter-Cousins hatten ihm den Trick mit ihren eigenen Rattenfängerkatzen beigebracht. Es sah zwar brutal aus, fügte der Katze jedoch keinerlei Schaden zu.
Der Kaiser hörte auf, den Kanzler zu beschimpfen und wandte sich dem Becherträger und seiner wutschnaubenden Beute zu. Unter den Locken seines makellosen kaiserlichen Schnurrbartes trat ein wunderschönes Lächeln auf seine Lippen.
»Ich danke dir, Diener«, sagte er. Eine heilige Freude ließ den Becherträger erschauern. »Von nun an ernenne ich dich zum Mundschenk. Jetzt kann ich ruhen. Scheuch die Katze fort, scheuch alle Katzen fort, und bring mir einen neuen Becher warme Milch. Diese Milch ist jetzt kalt.«
Der bisherige Mundschenk zog sich zurück, genau wie alle anderen, die auf Befehl des Kaisers herbeigeeilt waren. Der alte Kanzler trottete zu seinen Papieren, die bearbeitet werden mussten, um ein Reich zu regieren. Der frisch ernannte kaiserliche Mundschenk übergab die Katze der kaiserlichen Katzenpflegerin, einer älteren Dame, die aus dem Zimmer floh, bevor der Kaiser auf die Idee kommen konnte, die kaiserliche Katze oder sämtliche Katzen seines Reiches exekutieren zu lassen.
Im kaiserlichen Schlafgemach kehrte wieder Ruhe ein.
Der ehemalige zweite Gehilfe des Mundschenks kam mit einem frischen Becher warmer Milch zurück, der erneut von der Wache vorgekostet worden war.
Der Kaiser trank seine Milch und schloss die Augen.
Ein Karren voller äußerst verärgerter Palastkatzen rumpelte in die Nacht hinaus. Die Dorfbewohner entlang des Weges träumten von heulenden Teufeln und fragten sich, welchen Fluch ihre Albträume verkünden mochten.
Die Leibwachen traten leise von einem Fuß auf den anderen und beobachteten, wie sich die roten Samtvorhänge von ihren Atemzügen ein wenig wölbten.
Der frischgebackene kaiserliche Mundschenk packte seine wenigen Habseligkeiten, um seine Schlafstätte mit seinem degradierten Vorgänger zu tauschen, und erwog, seiner Mutter einen Brief über die stolze Wende in seinem Leben zu schreiben. Onkel Monds Schweinehof, also wirklich!
Die exotischen Vögel der Palastgärten zogen sich in ihre Nester zurück und steckten ihre vornehmen Schnäbel unter die grellbunten Flügel.
Es herrschte wieder Ruhe und Frieden.
Und dann …
Irgendwann kurz nach Mitternacht zerriss ein gequälter Schrei die nächtliche Stille des Palastes.
Zu ihrem Entsetzen konnten weder Wächter noch Tänzer noch Bäcker oder Mundschenk die Türen des kaiserlichen Schlafgemachs öffnen, um zu helfen.
Die Gucklöcher, die es den Wächtern ermöglichten, sich der kaiserlichen Sicherheit zu vergewissern, waren verschlossen.
Wer auch immer es wagte, die Türklinke des kaiserlichen Gemachs zu berühren, zog sich schlimme Verbrennungen zu, die nur sehr langsam verheilten.
Wächter droschen fluchend auf Tür und Wände ein. Diener liefen betend auf und ab. Dunkle Mächte mussten am Werk sein.
Wie dunkel diese Mächte waren, erfuhren sie erst am nächsten Morgen, als die Schlösser endlich nachgaben und der neue Mundschenk die kaiserliche Bettstätte leer und mit zerwühlten Laken vorfand. Der Kaiser selbst war nirgends zu sehen. Sein goldener Ohrschmuck und die Rubinringe lagen neben dem Bett auf dem Boden.
Ein Fenster stand offen, und der Mundschenk rannte hin und schaute nach, was es dahinter zu sehen gab. Draußen in den Palastgärten war keine Blume zertrampelt, kein Tier aufgescheucht.
Bis auf eines, wie sie später erfahren würden. Nachdem Horden von Dienern jeden Winkel des Schlosses und der kaiserlichen Gärten abgesucht hatten, nahm kaum jemand Notiz davon, als der kaiserliche Vogelwart meldete, dass einer der Straußenvögel fehlte.
Wenn bei den Himmelsteichen in den Gärten vor der heiligen Ahnenhalle eine halbe Stunde vor dem plötzlichen Verschwinden des Kaisers – wer wusste schon, ob Zeit in der heiligen Ahnenhalle überhaupt eine Rolle spielte? – ein Pfau herumstolziert wäre, um das Spiegelbild seines leuchtend blauen Gefieders im glasklaren Wasser zu betrachten, hätte er, wenn er gelauscht hätte, folgende Unterhaltung mit anhören können.
Ein Großvatergeist hockte gefährlich weit oben auf dem Kopf einer Drachenstatue und starrte mit gerunzelter Stirn in das stille Wasser. »Habt Ihr das gesehen? Habt Ihr das gesehen?«
Der Pfau, in der Annahme, dass der Großvatergeist ihn nicht direkt ansprach, mochte seinen geschnäbelten Kopf hin- und hergedreht haben, wie es Pfauen zu tun pflegen, um die Person zu suchen, mit der der Großvater sprach, als auf dem Rücken der Drachenstatue ein mit gerüschten, perlenbestickten Gewändern bekleideter Großmuttergeist in Erscheinung trat.
»Was denn, Schätzchen? Was soll ich gesehen haben?« Sie spähte mit zusammengekniffenen Augen ins Wasser. »O. Ihn meint Ihr? Ihr seid der Einzige, der sich noch die Mühe macht, ihn im Auge zu behalten. Ich habe jetzt die zauberhaftesten Urururenkelinnen, und ich bin so hingerissen von all den blitzgescheiten Dingen, die sie tun. Also erst heute Morgen …«
»Er hat eine Katze fortgejagt!«
Der Großmuttergeist erschrak. »Im Ernst?«
Der Großvater nickte.
»Nun«, sagte die Großmutter forsch, »das kann wieder in Ordnung gebracht werden. Wenn er die Katze zurückholen lässt, sich angemessen entschuldigt, ihr genug Leckereien anbietet, wird ihm nach einer Weile vergeben. Das Unglück …«
»Es geht nicht nur darum. Es geht darum, wie er Menschen behandelt.« Der Großvater spuckte die Worte aus. »Er ist ein Scheusal! Er ignoriert seine Verpflichtungen. Was wird über das Reich hereinbrechen? Unsere Welt wird aus den Fugen geraten.«
Großmutter tätschelte die haarigen Fingerknöchel des Großvaters. »Aber doch sicher nicht die ganze Welt. Die lässt sich nicht so leicht erschüttern.«
»Er hat das Herz einer verfaulten Zwiebel, und das Rückgrat einer Suppennudel.«
»Mmm, Nudeln … Ich vermisse Nudeln.«
»Lenkt nicht vom Thema ab und hört auf, vom Essen zu sprechen.« Der Großvater richtete sich mühevoll auf und stellte sich auf das eindrucksvolle Drachenmaul. Dies hätte den Pfau sicher verstört, aber in der Zwischenzeit wäre wahrscheinlich eine Pfauendame vorbeigeschlendert und der Pfau hätte zu ihrer Unterhaltung sein Rad geschlagen und alles andere vergessen. Dummer, eitler Pfau!
»Die Feier seines zweiundzwanzigsten Geburtstags steht vor der Tür«, brummte der Großvater mit finsterer Miene.
Die Großmutter strahlte. »Die Kaiserkrönung! Wie schön!«
Doch der Großvater knurrte nur grimmig vor sich hin. »Er ist noch nicht so weit. Könnt Ihr Euch vorstellen, was passiert, wenn der Kanzler ihm das Zepter überreicht?«
Die Großmutter zuckte mit den Achseln. »Er wird anfangen, das Reich zu regieren und aus seinen Fehlern zu lernen, wie es alle Herrscher tun.« Sie lächelte. »Ich erinnere mich an ein Krönungsfest in meiner Jugend. Lasst mich nachdenken, wie hieß dieser Kaiser noch gleich? Der Große. Alle Mädchen waren von ihm hingerissen, weil er so gut aussah. Im ganzen Reich hingen Fahnen mit seinem Bild.«
Der Großvater wedelte mit dem Zeigefinger. »Ich habe es satt mit der kleinen Kröte. Er ist eine Schande für die Familie.«
»Habt Geduld, alter Freund. Ihr wisst doch, wozu es führt, wenn man wütend wird. Chaos. Es führt zu Chaos!«
»Meine Geduld ist am Ende. Das Schicksal des Reiches steht auf dem Spiel. Es wird Zeit, dass jemand dieser armseligen, selbstsüchtigen, weinerlichen Ratte die Leviten liest.«
Die Großmutter zupfte an seinen in Sandalen steckenden Füßen. »Setzt Euch. Eine Kröte, eine Ratte … Er ist ein Sterblicher. Ihr dürft nicht zu viel von ihm erwarten. Außerdem ist es nicht Eure Sorge. Überlass das Leben den Lebenden, sage ich immer. Habt Ihr heute schon Eure Gelassenheits-Übungen gemacht?«
»Ständig mäkelt Ihr an mir herum. Es gibt eine Zeit für Gelassenheit und eine Zeit zum Handeln.«
Sie inspizierte seine Zehen. »Bereiten Eure Ballenzehen Euch wieder Probleme?«
»Ihr wisst ganz genau, dass ich schon seit Jahrhunderten keine Probleme mit meinen Ballenzehen habe. Schweift nicht vom Thema ab!«
Die Großmutter seufzte. Sie zwinkerte sich außer Sichtweite, bevor sie Sekunden später wieder auftauchte und sich in nachdenklicher Pose auf einem Lilienblatt über den Teich treiben ließ.
»Was habt Ihr vor? Ihr habt wieder diesen Blick, der mir Angst macht.«
Stille.
»Ihr wisst, dass wir nicht einschreiten dürfen.«
»Aber wir können einschreiten.« Mit einem Fingerschnippen war der Großvater verschwunden und ließ die Großmutter mit ihren sorgenvollen Gedanken und zwei verliebten Pfauenvögeln allein.
»Wenn ich nicht längst tot wäre, würdet Ihr mich ins Grab bringen«, murmelte sie ihrem abwesenden Gefährten zu. »Ihr wisst genau, wie ich es hasse, wenn Ihr mich dazu bringt, die Regeln zu brechen.« Nachdenklich schaute sie in den Teich, bis ein kleines Lächeln auf ihre Lippen trat. »Jetzt werde ich ebenfalls eingreifen müssen und einen Helfer auf den Weg schicken. Ich kenne genau das richtige Mädchen für diese Aufgabe.« Und damit war auch sie verschwunden.
Das war es, was ein Pfau hätte hören können, wenn er das Gespräch in den Palastgärten vor der Ahnenhalle belauscht hätte. Doch da Pfauen nicht imstande sind, auch nur ein einziges Wort, das gesprochen wird, zu verstehen, spielt es keine Rolle, was einer von ihnen gehört haben könnte.
Fünf Tage später an einem sonnigen Morgen.
»Alfalfa ist schon wieder verschwunden, Begonia.«
O, diese Kuh!
Ihre andere Kuh, eine griesgrämige alte Dame namens Wiederkäu, wurde gerade von Begonia gemolken und dankte es ihr, indem sie dem Mädchen mit dem Schwanz übers Gesicht fuhr. Dann spreizte die Kuh die Hinterläufe ein wenig weiter auseinander, wodurch ihr Euter schlechter zu greifen war. Begonia stemmte sich gegen ihre Flanke und molk entschlossen weiter.
»Hast du mir zugehört?«, fragte Begonias kleine Schwester Lilia, die von allen Lilly genannt wurde. »Mummelchen hat gesagt, du musst Alfalfa suchen und zurück nach Hause holen. Großmutter Flummox ist schon wieder krank, deshalb kocht Mummelchen ihr eine Suppe.«
Das Milchmädchen seufzte und sah ihre jüngere Schwester an. »Ich höre dich, Lilly. Meine Ohren funktionieren noch.«
Die roséfarbenen Strahlen der Morgensonne drangen durch die Spalten der Scheunentür. Die Frühlingsluft duftete nach frischem Morgentau, süßem Heu und warmem Kuhatem.
Lilly streichelte Sprössling, Alfalfas junges Kälbchen, über sein weiches Fell. »Mummelchen sagt, du sollst sie schnell finden, bevor sie noch eine von Frau Lydias Birnentorten frisst.«
»Such sie doch selbst«, rief Begonia. »Und miste ihren Stall aus!«
Lilly streckte ihr die Zunge raus und überließ den Kuhmist wie immer der gewissenhaften Begonia. Lilly hatte wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben noch keine Kuhkacke an den Stiefeln gehabt. Ihre schwarzen Locken schwangen über ihren Rücken, als sie die Scheune verließ. Wozu ein junges Bauernmädchen Haare bis zum Hintern haben sollte, war Begonia schleierhaft. Die Kühe könnten auf die Idee kommen, solche Haare zu fressen. Vor allem eine Kuh wie Alfalfa.
Alfalfa war ein sonderbares Exemplar. Es stimmte; einmal war sie tatsächlich zum Dorftempel gewandert und hatte den Nachmittagskuchen der Priesterin gefressen. Doch es war merkwürdig, dass Alfalfa ausgerechnet jetzt davongelaufen war, wo doch ihr Kälbchen Sprössling noch so klein war und ihre Milch brauchte.
»Ich habe schon mit neun ausgemistet und gemolken«, murmelte Begonia vor sich hin. »Und schon mit sechs den Gemüsegarten gejätet.«
Wiederkäus Kälbchen Strohhalm kommentierte ihre Worte mit einem Muhen. Strohhalm und Sprössling hatten Begonias Klagelied schon des Öfteren gehört.
»Sie sollte selbst losgehen und diese dumme Kuh suchen«, fuhr Begonia fort, während die Milch in den Eimer floss. »Mummelchen sollte sie schicken.«
Doch Lilly war zu jung, um über Berg und Tal zu wandern und eine entlaufene Kuh zu suchen, und Begonia wusste das. Ihre Mutter Mummelchen, die nach der gelben Teichmummel-Blume benannt worden war, hätte davon nichts hören wollen. Es war zum Verrücktwerden, wie Mummelchen ihre jüngere Tochter verwöhnte, doch Lillys Locken und Grübchen waren einfach unwiderstehlich.
Begonia machte sich in Gedanken eine Liste von all den Dingen, die sie als Nächstes tun würde: ein Tuch suchen, eine Feldflasche mit Wasser füllen, ein Stück Brot und vielleicht etwas Käse einpacken. Alfalfa nachzujagen konnte dauern. Das war nicht die Liste, die sie für den heutigen Tag im Sinn gehabt hatte. Eigentlich hatte sie vorgehabt, die Gemüsebeete mit Mist zu düngen und die Erde umzugraben, die Setzlinge zu wässern, die Hühner zu füttern und Eier zu suchen. Ein weitaus lohnenderer Tagesplan.
Sie hievte den Milcheimer hoch, um zur Tür zu gehen. Doch sie hatte kaum einen Schritt in diese Richtung getan, als etwas Hartes mit der Wucht einer Kanonenkugel gegen ihr Hinterteil prallte. Sie purzelte ins Stroh und landete mit dem Gesicht in einer Milchpfütze.
Ihr Eimer lag auf der Seite und mit der Gelassenheit einer Kuh, deren Tritt ins Schwarze getroffen hat, käute Wiederkäu in aller Ruhe ihr Futter wieder.
Begonia rappelte sich auf und schüttelte sich die Milch aus dem Haar. Die wüsten Schimpfwörter, die ihr für Wiederkäu in den Sinn kamen, schluckte sie herunter. Warum sollte sie ihre Energie für ein übellauniges Viech verschwenden, das sowieso nichts verstand? Es war ihre eigene Schuld gewesen. Sie war abgelenkt. Begonia wusste sehr wohl, dass man sich von den ausschlagenden Hufen fernhalten sollte. Obwohl sie Wiederkäus Hinterhältigkeit so schnell nicht vergessen würde.
Sie rieb sich den schmerzenden Po und humpelte ins Haus.
Minzi, die Katze, lag dösend auf der Fensterbank. Mummelchen schaute von dem Brotteig auf, den sie gerade knetete, und erblickte den leeren Eimer. »Hatte Wiederkäu wieder schlechte Laune?« Sie kicherte. »Albernes altes Rindvieh.«
Begonia nahm einen nassen Lappen und wischte sich die Milch aus dem Gesicht. »Albern? Die alberne alte Kuh hat mir einen Bluterguss am Hintern verpasst, der vielleicht nie wieder weggeht.«
Mummelchen strich sich mit mehliger Hand das Haar aus der Stirn. »Dann ist es ja gut, dass er da versteckt ist, wo keine Sonne hinscheint. Rührst du bitte die Suppe um, Begonia?«
Begonia rührte mit einer Hand und rieb sich mit der anderen das Hinterteil. »Und sie hat auch noch die ganze Milch umgestoßen.«
Mummelchen winkte ab. »Morgen ist auch noch ein Tag. Dann gibt es wieder einen Eimer. Außerdem hast du heute früh eine schöne Portion von Alfalfa gekriegt, bevor sie zu ihrem kleinen Spaziergang aufgebrochen ist.«
Begonia machte ein finsteres Gesicht. Mummelchen konnte leicht unbesorgt daherreden, aber sie brauchten die Milch. Wenn sie nicht genug Butter und Käse auf dem Wochenmarkt in Zweimühlen verkaufen konnten, mussten sie hungrig zu Bett gehen. Nicht heute Abend, aber schon bald. Es würde noch Monate dauern, bis sie im Garten Gemüse ernten konnten. In nächster Zeit gab es höchstens Salat und von Salat allein konnten sie nicht leben. Schließlich waren sie keine Kaninchen.
Lilly kam die Leiter vom Schlafboden heruntergeklettert und hielt eine Bürste in der Hand. »Kämmst du meine Haare, Mummelchen?«
»Gleich, mein Liebling«, antwortete ihre Mutter.
Liebling! Haare kämmen. Pah! Begonia beneidete Lilly nicht. Nicht wirklich. Für kein Geld der Welt hätte sie wie ihre eingebildete, verwöhnte Schwester sein wollen. Sie war viel lieber ein tüchtiges Bauernmädchen als eine Porzellanpuppe. Doch manchmal war das schwärmerische Getue zwischen Lilly und Teichmummel schwer zu ertragen.
»Ich muss den Teig gehen lassen und noch mehr Gemüse für die Suppe klein schneiden. Arme alte Oma Flummox! Ihre Erkältung wird und wird nicht besser. Aber so ist das, wenn man alt wird.«
Begonia beugte sich über den Wassereimer und drückte die letzte Milch aus ihren glatten Haaren. Dann strich sie Butter auf einen alten Brotkanten und knabberte daran herum. Sie wusste, dass es richtig und anständig von ihrer Mutter war, der alten Nachbarin einen Topf Suppe zu bringen. Großmütig und freigiebig wie Mummelchen war, würde sie es nie versäumen, anderen zu helfen. Doch insgeheim wünschte Begonia sich, dass Mummelchen nicht immer so viel arbeiten würde. Wenn sie nicht ständig so beschäftigt wäre, oder wenn Lilly auf dem Hof mithelfen würde, wie man es von einem Mädchen in ihrem Alter erwarten sollte, könnte Mummelchen sie bei der Suche nach Alfalfa begleiten, und das wäre so schön gewesen.
»Lilly könnte das Gemüse klein schneiden«, schlug Begonia ihrer Mutter vor.
»O, ich mach das schon«, erwiderte Mummelchen.
Begonia schaute weg. Wieder einmal wurde Lilly die Arbeit abgenommen.
Hinter Alfalfa herzujagen, könnte vielleicht die Abwechslung sein, die Begonia heute brauchte. Und wenn sie lange genug wegblieb, würde Lilly vielleicht gezwungen sein, ihre zarten kleinen Hände zum Arbeiten zu benutzen. Obwohl sie daran zweifelte.
»Vergiss nicht, Alfalfa zurückzubringen, Begonia«, rief Lilly ihr zu. »Mummelchen, hast du meine neuen Haarbänder für den Geburtstag des Kaisers gestickt?«
Begonia stürmte zur Tür hinaus, bevor sie Mummelchens Antwort hören konnte.