Sabine Ludwigs
Winterlicht
Das Buch:
Mia lebt mit ihrer kleinen Familie glücklich. Bis zu jener Nacht, in der ihre Eltern beim heimlichen Eistanz unter Mondenschein einbrechen und im See ertrinken. Das Schicksal schlägt erneut zu, als es Mia und ihren kleinen Bruder trennt. Sie kommt in eine Jugendeinrichtung, er soll sich bei einer Pflegefamilie einleben. Das bedeutet: Keine Kontakte zwischen den beiden. Zu innig ist ihr Verhältnis, zu groß das Risiko, dass Mias Gegenwart hemmenden Einfluss auf Joshuas Eingewöhnung nimmt. Wochen der Trennung werden zu Monaten. Mias Sehnsucht nach Joshua bleibt grenzenlos. Zudem hat er Heiligabend Geburtstag. Der Tag rückt näher. Verzweifelt fragt sich Mia, ob sie Joshua je wiedersieht und wo er ist? Doch da ist der an Wunder glaubende Sterngucker Jasper an ihrer Seite, der das Zimmer über ihrem bewohnt. Als dann in einer Raunacht Lichter am Himmel aufziehen und ein überirdisches Wesen aus den Wolken schneit, hofft auch Mia, dass Wunder wahr werden. Gemeinsam mit dem Sterngucker Jasper, ihrer zerstreuten Großmutter Melchora und dem alten Geigenlehrer Balthazár folgt sie dem Lichtwesen, um Joshua zu finden. »Winterlicht« spielt mit Motiven aus der Dreikönigslegende und einem alten Wunderglaube und vereint beides mit leisem Humor zu einem modernen Wintermärchen voller Sehnsucht und Warmherzigkeit. Vor der Kulisse eines Fleckchens namens Winteraue, werden Eisnächte heraufbeschworen, Sternengeglitzer und himmlische Mächte – für eine Geschichte von Glaube, Hoffnung und Liebe.
Die Autorin:
Sabine Ludwigs wurde in Dortmund geboren und wuchs auch dort auf. Zur Schriftstellerei fand sie 2004 und trat kurz darauf in einer Krimi-Anthologie erstmals als Autorin in Erscheinung. Bis etwa 2010 verfasste sie ausschließlich Kurzprosa. Es folgten zahlreiche Publikationen in Anthologien, Hörbüchern und Zeitungen. 2011 erfolgte Ludwigs erste Einzelveröffentlichung: eine Kurzgeschichtensammlung (Krimis, Thriller). 2012 erschien ihr Debütroman, dem weitere Romane folgten. Inzwischen veröffentlicht die Autorin vorwiegend Unterhaltungsromane. Sabine Ludwigs Schreibstil ist ausdrucksstark, packend, eindrücklich – egal, welches Thema sie aufgreift. Sie schafft es, Spannendes und Gefühlvolles gekonnt miteinander zu verknüpfen und ihre Leser zu bewegen. Sie erhielt den Friedes-Literaturpreis des Berliner Kulturrings sowie den Literaturpreis Ideale Stiftung. Die Autorin lebt als Freiberuflerin mit ihrer Familie in Lünen an der Lippe im Ruhrgebiet.
www.sabine-ludwigs.de
Sabine Ludwigs
Roman
Winterlicht
Sabine Ludwigs
Copyright © 2017 at bookshouse Ltd.,
Ellados 3, 8549 Polemi, Cyprus
Umschlaggestaltung: © at bookshouse Ltd.
Coverfotos: www.shutterstock.com
Satz: at bookshouse Ltd.
Druck und Bindung: bookwire
Printed in Germany
ISBNs: 978-9963-53-838-6 (Paperback)
978-9963-53-839-3 (E-Book .pdf)
978-9963-53-840-9 (E-Book .epub)
978-9963-53-841-6 (E-Book Kindle)
www.bookshouse.de
Urheberrechtlich geschütztes Material
Dieses Buch ist meiner Mutter gewidmet
Marianne Ludwigs
Prolog
1. Das Winterkönigspaar
2. Und sie lebten glücklich – bis ans Ende ihrer Tage
3. Märchentod
4. Eiskind
5. Kaltes Grab
6. Königskinder
7. Winterstarre
8. Der Sterngucker
9. Schweres Herz
10. Hinter den Sternen
11. Rückkehr nach Winteraue
12. Himmlische Kristalle
13. Raunacht
14. Wildschnee
15. Jasper
16. Melchora
17. Balthazár
18. Sternlauf
19. Der nächtliche Weg
20. Der Heustall
Epilog
Danksagung
Der Stern von Bethlehem ist ein Stern in dunkler Nacht – auch heute noch.
Edith Stein
Ordensfrau
Prolog
Dies ist ein modernes Märchen. Ein richtiges, echtes Märchen, mit allem, was an Märchenhaftem dazugehört: mit einem König und einer Prinzessin, mit großem Unglück, Waisenkindern und Riesen. Mit Bösewichten, Helden, düsteren und guten Kräften. Und wundersamen Mächten …
Es ist das Märchen einer Eisprinzessin namens Hanna, die fröhlich war und warmherzig.
Das bemerkte auch der stattliche Winterkönig David, als er sie zum ersten Mal erblickte. Und es geschah, dass er sich unsterblich in die schöne Eisprinzessin verliebte.
Der Winterkönig wohnte in einem Königshaus, das gerade groß genug war, um die Eisprinzessin zu seiner Königin zu machen. Also bat er sie zu sich und nahm sie zu seiner Frau. Und weil sie einander innig zugetan waren, lebten sie glücklich und zufrieden miteinander.
Sie schenkten erst einer Winterprinzessin und einigen Jahren darauf einem kleinen Prinzen das Leben. Das Winterkönigspaar hätte nicht seliger sein können! Tagein, tagaus herrschte eitel Wonne und Freude in dem Schloss, und sie wünschten sich, es möge ewig weitergehen.
Doch eines Nachts, die junge Winterprinzessin und der kleine Prinz lagen in tiefem Schlummer, schlichen der Winterkönig und die Eisprinzessin hinaus, um für sich allein auf dem zugefrorenen, mondbeglänzten See zu tanzen.
Da brach das tückische Eis unter ihren Füßen! Das schwarze Wasser verschlang sie und zog sie in Windeseile bis tief auf den Grund des kalten Funkelsees, wo sie elendig starben.
So waren die Königskinder in einer Nacht zu Waisen geworden. Sie hatten nur noch einander und die alte Königin mit dem roten Mantel. Im Königshaus herrschten bittere Trauer und Verzweiflung.
Es dauerte nicht lange, da erschien eine geisterhafte Frau und nahm die Winterprinzessin mit sich, damit sie von nun an in einem Waisenhaus lebte.
Das Brüderchen holte ein Halbriese fort. Er brachte es an einen fremden Ort, den niemand der Winterprinzessin verriet, damit sie nicht nach dem Knaben suchte und ihn zu sich holte.
Die Winterprinzessin konnte ihr Brüderchen nicht vergessen, und das Herz tat ihr weh. Sie sehnte sich so sehr nach dem Knaben, dass es selbst die Engel rührte.
Und so öffnete sich in einer Raunacht der Himmel, und es begann zu schneien. Es schneite die ganze Nacht, es schneite in dichten Schleiern, es schneite riesige, schimmernde Flocken. Ja, es schneite die Art von Schnee, dem wunderbare Mächte innewohnen.
Als es aufhörte und keine Schneeflocken mehr herabfielen, nahm das Wunder seinen Lauf. Das Wunder der Winterprinzessin, die gemeinsam mit der Königin Melchora im roten Mantel, dem Sterngucker Jasper und dem alten Balthazár, mit einem Kamel und Geschenken einem vom Himmel gefallenen Stern namens Ester folgte. Um den Knaben Joshua zu finden …
Die meisten Menschen lieben den Sommer
oder den Frühling.
Meine Eltern lieben den Winter.
»Da sind wir uns zum ersten Mal begegnet«,
sagt Papa, »und im Winter
darauf haben wir geheiratet.«
Mama sagt: »Und ihr wurdet im Winter geboren.
Zuerst du, Mia König, unsere Winterprinzessin.
Danach Joshua.«
Das stimmt.
Wir Königs sind eine Familie
wie aus einem Märchenbuch.
Und wie meine Eltern und Joshua,
liebe ich den Winter, Märchen und Geschichten!
Mia
Das Winterkönigspaar
Der Eismond, so nennt Mias Mutter den Januar, macht seinem Namen alle Ehre. Denn an Neujahr ist der Tiefe See mit einer Eisschicht überzogen. Erhaben und schön wie im Wunderland, funkelt er hinter verschneiten Bäumen mit dem Raureif auf den Ästen um die Wette. Als Mia es sieht, will sie kehrtmachen, um ihre Schlittschuhe zu holen, die am Heiligabend auf dem Gabentisch lagen.
Ihre Mutter wird ihr lachend hinterherkommen, davon ist sie überzeugt. Gefolgt von ihrem Vater, der den jauchzenden Joshua auf seinen ausladenden Schultern trägt. Weil die Beine des Dreijährigen beim Laufen durch den Schnee noch nicht lange mithalten.
»Bleib hier. Die Eisdecke trägt noch nicht. Wir müssen noch warten«, ruft Mias Mutter stattdessen, als könnte sie Gedanken lesen.
Mia wirft einen sehnsüchtigen Blick auf das in der Sonne gleißende Eis. »Ach, Mama!«, versucht sie, zu protestieren. Zu ihrer Enttäuschung schüttelt diese den Kopf, und Mia ist klar, dass es keinen Zweck hat, sie überreden zu wollen.
Ihre Enttäuschung sitzt tief. Schließlich ist der Winter nicht jedes Jahr so schön. In Großstadtnähe ist es häufig zu mild. Also präsentiert sich der Winter wässrig, grau und matschig. Selbst in Winteraue, das ein gutes Stück außerhalb liegt. Ein Vorort mit einer herausgeputzten Altstadt wie auf einer Ansichtskarte.
Das historische Rathaus mit dem trutzigen Turm und die Dorfkirche stehen mitten im Ort. Die alte Grundschule auch. In angemessenem Abstand drängen sich Fachwerkhäuser und einstöckige Bürgerhäuser um den kopfsteingepflasterten Marktplatz.
Wald, Wiesen und der Tiefe See sind nur wenige Gehminuten vom Königshaus entfernt, da es am Dorfrand gebaut wurde. Deshalb wäre es eine Kleinigkeit, die Schlittschuhe zu holen.
Mia mault vor sich hin. Auf den Schultern seines Vaters greift Joshua die Unmutslaute der Schwester auf. Mia findet, er sieht besonders niedlich aus mit der dunkelblauen Strickmütze, auf der in weißer Schrift ‚Eisbär‘ gestickt steht. Nebenbei bemerkt sie, dass sogar ihr Vater murrt. Aber es nützt nichts! Also warten sie.
Am darauffolgenden Tag besuchen sie Großmutter. Mia hängt zärtlich an ihrer Oma, deshalb muntert der Besuch sie auf. Melchora, liebevoll Melli genannt, ist klein, ein wenig eigentümlich und farbenfroh anzusehen. Wegen der Blusenhemden mit psychedelischen Mustern in kräftigen Farben, die sie am liebsten zu Jeans trägt. In der kalten Jahreszeit kommt ihr scharlachroter Kapuzenmantel dazu, der ihr ein wichtelhaftes Aussehen verleiht.
Melli hat glattes, kurzes Silberhaar. Es umschließt ihren Kopf wie ein Platinhelm. Unter der tadellosen Frisur funktioniert ihr Gedächtnis an einigen Tagen leider weniger tadellos, sondern wie eine schwer kontrollierbare, ruckelnde Zeitreisemaschine.
Das ist der Grund für Mellis Eigentümlichkeit.
Die Zeitmaschine unter dem Haarhelm befördert sie ohne Vorankündigung vom heutigen Frühstückstisch in längst vergangene Sommer an der Küste. Oder von romantisch durchtanzten Mainächten in Pauls Armen, als sie noch Verlobte waren, in die morgige Chorprobe. Oder zu einem der vielen Heiligabende und dem Zauber vergangener Weihnachten.
Oft ist ihr Enkel Joshua einfach Joshua für sie. Es kommt allerdings vor, dass er plötzlich ihr Sohn David ist. Der Dreikäsehoch von damals, als ihr Mann Paul noch lebte und jung war, die Geschäfte sonntags geschlossen blieben und sich die Kinder in den Ferien von Sonnenaufgang an draußen herumtrieben. Bis sie am Abend, mit Angehen der Straßenlaternen, müde und glücklich zum Abendessen zurückkehrten. Melli leidet an gutartiger Altersvergesslichkeit; sie bringt nicht mehr sofort alles in die richtige Zeitschiene.
Gut, sie kann nicht behaupten, dass sie leidet. Der Zustand ist ihr einfach lästig! Das unvermittelte Abrutschen und Herumschwirren in den Zeiten. Dazu diese Vergesslichkeit, die im Laufe der Jahre zunahm. Weshalb Melli häufiger als früher nach den Schlüsseln, dem Portemonnaie oder einem Regenschirm sucht und Termine versäumt. Manchmal kommt es vor, dass sie Wochentage durcheinanderbringt oder ihre Adresse vergisst. Zu Verabredungen kommt sie regelmäßig zu früh oder spät, weil ihr die Uhrzeit entfällt.
Lieder und Gedichte dagegen merkt sich Melli gut. Sie erinnert sich an alles, was sie als Mädchen in der Schule lernte, als wäre es vor einer Woche gewesen.
Ja, ihr Verstand ist kindlicher geworden. Vielleicht, weil Kinder sorgloser sind. Doch hat das keinen verbessernden Einfluss auf ihre Vergesslichkeit. Für den Fall, dass ihr entfällt, wo sie wohnt, hat Mia ihr ein Gedicht beigebracht. Melli kann es einem Taxifahrer oder Passanten vorsagen. Zweimal hat das Adressengedicht bereits gut funktioniert.
Ihr Vater findet, Mia soll sich die Idee patentieren lassen. Ihre Mutter sagt, sie wäre froh, nicht anwesend sein zu müssen, falls Melli ihr Gedicht aufsagt. Strammstehend, mit gerecktem Kinn, das rechte Bein einen Tick nach vorn gestreckt, die Hände gefaltet. Mit feierlichem Gehabe, als rezitierte sie Fallerslebens König Nussknacker.
»Melchora König, so heiß‘ ich.
Meine Adresse, die weiß ich!
Süße Wiesen achtunddreißig.
Im Heim »Zur Sonne«, in Alversgrund.
Manchmal hab’ ich Erinnerungsschwund.
Doch meistens läuft es gut und rund.«
Seit Melli im Herbst ihre Wohnung mit dem Schaumbad Fichtennadeltraum geflutet hat, ist sie auf eigenen Wunsch in das letzte leer stehende Apartment eines Seniorenzentrums gezogen. Es gibt ein winziges Dachgärtchen. Direkt unter den Himmel. Beim Blumengießen redet sie mit Paul.
In der Einrichtung in Alversgrund wird sie bei Bedarf betreut und mit Mahlzeiten versorgt, lebt aber eigenbestimmt.
»Frau Melchora ist bloß tüdelig«, betont ihre Betreuerin Corinna, um die besorgte Königsfamilie zu beschwichtigen. Mias Eltern fürchten, dass Melli an Alzheimer erkranken könnte. Beide sind heilfroh, wenn Corinna dem widerspricht. »Nein, nein! Sie ist ab und zu mal durch den Wind. Das ist alles.«
Melli ist also tüdelig, kindlich und bei manchen Besuchen melancholisch. Dann lächelt sie kaum und erscheint nachdenklich. Die Familie nennt es ihre Nebeltage, an denen Melli Fragen nur widerwillig beantwortet. Mit ihren Gedanken ist sie wer weiß wo.
Glücklicherweise sind Nebeltage selten. Melchoras heiteres Gemüt behält die meiste Zeit die Oberhand. Für gewöhnlich tauscht sie Glanzbilder mit Mia. Seit Kurzem sammelt Melli die Bildchen ihrer Kindheit wieder mit Leidenschaft. Bevorzugt Engel mit Glitzerstaub, die sie in einem Zigarrenkistchen verwahrt. Oder sie klebt sie in ein Poesiealbum und schreibt Verse dazu, die sie manchmal vorträgt.
Das sind gute Besuche: Sonnentage! Stunden, in denen Melli glücklich ist und sie miteinander lachen.
Mia gefällt es, eine kindliche Großmutter zur Freundin zu haben, Glanzbilder mit ihr zu tauschen und sich zum Abschied Verse aufsagen zu lassen, wie: »Möge der Himmel dich bewahren, vor Gefahren, Schmerz und Pein. Möge stets ein guter Engel deines Lebens Hüter sein.«
Obwohl es verabredet ist, treffen sie Melchora nicht in ihrem Apartment an, sondern finden sie nach einiger Sucherei in der Cafeteria. Hier sitzt sie mit zwei Freundinnen und ist in eine lebhafte Plauderei verstrickt. »Oh, ihr Lieben«, ruft Melchora bei ihrem Auftauchen. »Ich habe euch erst am Samstag erwartet.«
»Melli«, antwortet David, »heute ist Samstag.«
»Jaja, klar. Ich meine den Samstag nach Neujahr.«
Ihre Freundinnen tauschen amüsierte Blicke. David lupft vielsagend seine Brauen. Da dämmert es Melchora. »Oje. Ich habe es vermurkst. Heute ist der Samstag nach Neujahr.« Hoffnungsfroh fügt sie an: »Oder?« Sie müssen lachen. Der anschließende Spaziergang durch den Stadtpark ist herrlich!
Nach diesem Besuch vergehen einige Tage. Mia zählt nicht mit, wie viele es sind. Ihr kommt es jedenfalls unglaublich lang vor. An zweien dieser Tage fällt Schnee.
»Nirgendwo schneit es schöner als bei uns in Winteraue«, behauptet ihre Mutter jedes Mal.
Mia findet, das stimmt. Es ist so anheimelnd.
Ein wenig vermisst sie ihre Freundinnen Judit, die wie ein Junge aussieht und sich auch so benimmt, und Nela. Doch Judit ist mit ihrem Bruder und dem Vater im Skiurlaub. Und die dauernd lachende Nela, die Judit und sie Prustekuchen nennen, ist den Großteil der Ferien bei den Großeltern zu Besuch. Aber das macht nichts, findet Mia, da sie die Weihnachtsferien am liebsten mit ihrer Familie verbringt. Vor allem, wenn es richtig schneit. Bei solchem Wetter ist Mias wintervernarrte Familie dauernd unterwegs.
Am meisten liebt Mia das lautlose Schneegeriesel zur Weihnachtszeit. Weihnachtsschnee ist kein normaler Winterschnee. Das weiß jedes Kind. Er ist voller Verheißung! Gleichzeitig macht er die Welt stiller. Sie mag es, in dem feinen Treiben zu stehen, den Kopf in den Nacken gelegt, in die Wolken schauend, bis ihr schwindelt.
Auch bereitet es ihr in den Schneemonaten Freude, heimlich mit Joshua vom Fenster seines Kinderzimmers aus zuzuschauen, wie nächtlicher Flockenfall das Winterkönigreich mit frischem Weiß bedeckt. Aneinandergeschmiegt sitzen sie in solchen Nächten auf der breiten Fensterbank, bezaubert und jedes Mal aufs Neue staunend.
Oder sie beobachten tagsüber die Vögel in dem uralten Apfelbäumchen im Winterkleid, das sie Resi tauften, nach den runden roten Früchten, die es trägt.
Ende September, Anfang Oktober (oder nach den Worten von Mias Mutter, Ende Herbstmond, Anfang Reifmond) pflücken sie das Obst. Einen Teil der saftig-süßen Ernte behält Mias Mutter für den Obstkorb und zum Einkochen. Einen Teil bekommt ihre Freundin Tine zum Verbacken. Ein paar nimmt Mia für ihren Geigenlehrer Balthazár Balthazár, er heißt wirklich so, mit. Als Dankeschön dafür, dass er sich abmüht, ihr das Geigenspiel beizubringen. Das Gartenobst wechselt mit den Jahreszeiten, Mias Untalent dagegen hält gleichbleibend an.
Es gibt Tage, an denen Balthazár an Mias Mangel an Begabung und ihrem Sturkopf weiterzumachen, schier verzweifelt. »Mia, eher werde ich den Notenständer das Tanzen lehren als dich das Geigen.«
Balthazár behauptet, die Äpfel schmecken wie die aus dem Garten seiner Großeltern. Einige lassen sie in Resis Zweigen, als Futter für die Vögel. Im Winter verlieren die Äpfel ihre prallen Rundungen. Sie schrumpfen, werden schrumpelig und dunkler. Als hätte Balthazár Dutzende seiner Bratäpfel aus der Röhre gezogen und den Baum bestückt. Den Vögeln scheinen sie zu schmecken.
»Resis Äpfel sind Nikolausäpfel. Deshalb sind sie besonders apfelig und kolossal köstlich«, erzählt Mias Vater an Nikolausabenden, während Mia und Joshua ihre Gummistiefel vor die Haustür stellen. »Bevor ich das Haus kaufte, gehörte es dem Nikolaus. Aber es gibt mehr und mehr Kinder auf der Welt.« Er geht mit Mia nach oben, und sie bringen Joshua zu Bett. »Also brauchte der Nikolaus ein großes Haus mit einem größeren Garten und viel mehr Apfelbäumen. Damit er genug rote Äpfel hat, um jedem Kind einen in den Stiefel zu stecken.« Joshuas Wangen sind vor Aufregung apfelrot. Mia hört gern, wenn er auf Vaters Frage, wie Resiäpfel schmecken, antwortet: »Apfelig und tolossal töstlich.« Er spricht das K noch als T aus. In solchen Momenten möchte Mia ihm vor lauter Schwesterliebe in seine süßen Apfelbacken beißen.
Sie fährt oft mit dem kleinen Bruder Schlitten. Oder die Familie unternimmt Spaziergänge zum See, um die Eisdecke zu inspizieren. Vorgestern haben sie einen Schneemann gebaut. Sie banden einen alten, bunten Schal ihres Vaters um seinen Hals und setzten ihm Mutters verblichenen Strohhut von den letzten Sommerferien auf. Er trägt eine ausrangierte Brille Melchoras. Sein Grinsen besteht aus pinkfarbenen Legosteinen.
Mia gab ihm den Namen Hubertus, weil er dick ist, weiß und breit lächelt. Wie der in einen Kittel gekleidete Eiermann Hubert, der donnerstags vorfährt. »Er hat den gleichen lustigen Gesichtsausdruck«, behauptete Mia. »Und wie er nach Resis Äpfeln schielt!«
Alle lachten. Es sieht wirklich aus, als überlege Hubertus Schneekerl, nach welchem Schrumpelapfel er zuerst greifen möchte, um ihn zu vertilgen.
An den meisten Nachmittagen kommt Tine Franke aus dem Nachbarhaus vorbei. Das Königshaus und das von Tine teilen sich einen weitläufigen Landgarten. Sie und Hanna sind seit der Grundschule befreundet. Tine hat ihren Kater Beau im Schlepptau und bringt Kuchen mit. Mia hegt eine besondere Schwäche für Tines Nusskuchen. Zwar ist ihre Mutter eine erstklassige Köchin, aber leider eine miserable Bäckerin. Obwohl sie es immer mal wieder versucht und sämtliche Backvorgaben und Rezeptangaben penibel befolgt, möchte den Kuchen am Ende niemand essen. Denn entweder ist er zu trocken oder verbrannt, versüßt oder eingefallen, matschig oder verklumpt. Selbst Mias Mutter rührt ihn nicht an. Oder Beau, der regelrecht besessen ist von Kuchen und Gebäck.
Tine ist ein Naturtalent als Bäckerin. Mia fragte sie einmal zwischen zwei Bissen Zupfkuchen, warum sie das Backen nicht zu ihrem Beruf gemacht hat und stattdessen Kindergärtnerin geworden ist.
»Weil ich keine Kinder bekommen kann. Da freue ich mich eben an Kindern anderer Leute«, antwortete sie.
Tines schulterlange schwarze Ponyfrisur, das auffällige Make-up und ihr Faible für Katzen lassen sie wie eine alte Ägypterin in Jeans und Shirt erscheinen. Neben Beau hat sie zwei schwer vermittelbare Katzen vom Katzenschutzbund aufgenommen. Beide mögen erkennbar keine Menschen und meiden ihre Nähe – bis auf Tines natürlich. Der zimtfarbene Streuner Murr und die rotschwarze Schildpattkatze Pippa sind Halbwilde. Wenn sie nicht gerade in der Nachbarschaft umherstromern, klettern sie im heimischen Garten auf Bäumen herum. Oder sie stellen ohne schlechtes Gewissen Grashüpfern, Schmetterlingen, Wühlmäusen, Eichhörnchen und Vögeln nach. Müde geworden, verschwinden sie in ihrer Katzenkammer, um zu dösen. »Kuschelig, niedlich und anbetungswürdig«, schwärmt Tine.
Derart katzentriebige Aktivitäten sind nichts für Beau. Gemessen folgt er Tine wie ihr Schatten. Er schläft in ihrem Bett, nicht in der Katzenkammer. Wenn er sie ins Königshaus begleitet und seinen Anteil vom Kuchen verspeist hat, schmeichelt er schnurrend um Mias Beine. Er weiß, auf diesem Wege fällt eine Extraportion für ihn ab.
Seit Kurzem wünscht sich Mia eine eigene Katze. Zu ihrem Geburtstag im Dezember hat sie von den Eltern eine aufrecht sitzende schneeweiße Porzellankatze geschenkt bekommen. Deren linkes Auge ist saphirblau und das rechte goldfarben. Tine sagte, das Phänomen heißt odd-eyed. Es kommt bei weißen Katzen öfter vor. Das Besondere an der Goldiris in dem Porzellankopf aber ist die verformte Pupille. Sie ist wie ein schwarzes Sternchen gezeichnet. Sicher unabsichtlich verwischt. Ein Produktionsfehler, den Mia wunderhübsch und geheimnisvoll findet. Der klare, ruhige, ja versonnene Sternenblick hat eine Tiefe, welche die Figur lebendig wirken lässt.
»Du kannst sie Ester nennen«, schlug ihre Mutter vor. »Das bedeutet Stern und passt zu ihr.«
In der beiliegenden Glückwunschkarte stand: Wir sehen uns im Frühjahr! Da begriff Mia, dass, wenn die Frühlingskätzchen geboren worden sind, sie sich eines aussuchen darf.
Bis sie eine echte, lebendige Ester bekommt, genießt sie Beaus Gesellschaft und freut sich über seine Besuche.
Gleichzeitig fürchtet sie bei Tines Auftauchen diesen Satz, der ihr eine Gänsehaut verursacht, der in ihren Ohren wie ein ungutes Orakel dröhnt. Oder besser den ersten Teil des Satzes: »Kennst du eigentlich …«. Denn dem folgt unweigerlich eine Hiobsbotschaft.
»Kennst du eigentlich einen Bernd Küster? Der ist unser Jahrgang, Hanna. Der Typ mit dem fahlen Gesicht, der in der Mosterei auf dem alten Gut arbeitet. Der ist tot. Sonntag. Herzinfarkt.«
Oder: »Kennst du eigentlich eine Katharina Berner? Kathi, diese lange, dünne Frau aus der Apotheke. Die ist tot. Mittwoch. Brustkrebs.«
Oder: »Kennst du eigentlich einen Paul Nowak? Den hundertjährigen Misanthropen aus der Buchenstraße? Der ist tot. Samstag. Überfahren.«
Mias Vater meint nach solch Unglück verkündenden Besuchen, es sei kein Wunder, dass Tines Mann abgehauen ist. Leichen würden praktisch ihren Weg pflastern. »Tine ruft den Tod ja förmlich herbei! Jeder in ihrer Nähe muss fürchten, der Nächste zu sein, der sein Leben verwirkt hat, sobald Tine sagt Kennst du eigentlich …« Und dann intoniert er mit Düstermiene den Trauermarsch: »Daaa daaa dadaaa, dadada dada dadaaaa.«
Mias Mutter lacht darüber, nimmt Tine dennoch in Schutz. Joshua gluckst, weil seine Mutter lacht. Mia findet das zwar nicht komisch, kichert aber trotzdem, um ihr Unbehagen zu vertreiben.
Was, wenn ihr Vater recht hat, und Tine redet das Unglück herbei? Kennst du eigentlich … lässt Mia erstarren. Kennst du eigentlich … erscheint ihr wie ein Satzteil aus einer Bösenachtgeschichte. Hört sie diese Worte, bleibt ihr die Luft im Halse stecken wie ein Hustenanfall.
In den Tagen, in denen sie warten, dass das Eis des Tiefen Sees trägt, sagt Tine den Unglückssatz nicht. Was bedeutet, dass in Winteraue niemand gestorben ist.
Noch nicht.
Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten
im Leben meinen,
wagt er zu weinen mitten in uns.
Rainer Maria Rilke
Lyriker
Und sie lebten glücklich – bis ans Ende ihrer Tage
Bevor Mia und Joshua zur Welt kamen und David König den Mut fand, Hanna zu bitten, seine Frau zu werden, war Hanna Eiskunstläuferin und David spielte in seiner Freizeit Eishockey.
Er bemerkte Hanna zum ersten Mal an einem besonders kalten Nachmittag Ende November. Sie trug einen bordeauxroten Trikotanzug und glitt auf der zugefrorenen Fläche (es war ein Jahrhundertwinter) des Tiefen Sees dahin wie keine andere. Anmutig tanzte sie auf schmalen Kufen. Sie vollführte elegante Sprünge, beeindruckend hoch, als existierte keine Schwerkraft. Oder sie wirbelte um die eigene Achse, die schlanken Arme weit nach oben gestreckt: Sie pirouettierte, dass ihr unter der Wollmütze hervorquellendes Haar in alle Windrichtungen spritzte.
Nicht nur David, viele Leute hielten inne, um sich an der tanzenden Gestalt zu erfreuen. Doch weder an diesem noch an den darauffolgenden Tagen traute sich David, sie anzusprechen. Er trieb sich am See herum, bis er Hanna ausfindig machte, und umkurvte sie aus der Distanz. Er wunderte sich über den alten Mann, der trotz Kälte und Glatze keine Mütze trug und oft Geige spielte. Offenbar für die Eisprinzessin. Einmal fragte er den Geiger, ob die Eiskunstläuferin sein Spiel hören könne. Er selbst hörte es nicht, wenn er auf dem See war.
»Je nachdem! Steht der Wind günstig, hört sie es gut. Andernfalls fängt sie ein paar Sequenzen auf. Aber das ist gleichgültig. Sie lauscht der Melodie in ihrem Kopf.«
»Woher wissen Sie das?«
»Von ihr. Außerdem bleibt sie auch im Rhythmus, wenn ich aufhöre, zu spielen«, erklärte der schlaksige Musiker und setzte das Instrument ab.
Hanna stockte weder noch zögerte sie. Sie tanzte einfach weiter.
»Sehen Sie, was ich meine?«
David hatte genickt. Just in diesem Moment wehte eine Brise eine winzige weiße Daunenfeder herbei, die sich zu den großen Füßen des Musikers niederließ. Er hob sie auf, voll Zärtlichkeit, und ließ sie in seiner Manteltasche verschwinden, ohne im Gespräch innezuhalten. Es war ein beiläufiger Hergang. Wie blinzeln. Oder schlucken. Der Geigenmann schmunzelte. »Es ist halt in ihr.« Er stellte sich als Balthazár Balthazár vor, ehe er sein Spiel fortsetzte.
»Ach, Tänzerinnen«, schwärmte er, »ob auf Spitzenschuhen oder Edelstahlkufen; gibt es einen anmutigeren Anblick?«
Davids Aufmerksamkeit kehrte zu der Frau auf dem Eis zurück. »Nein. Wohl nicht.« Das Timbre seiner Stimme klang gleichzeitig rau und weich.
»Ich musste eure Mutter immerzu ansehen«, erzählt David an den langen Winterabenden, an denen sie sich mit Geschichten vor dem Kamin einnisten. David sitzt mit einem Glühwein in seinem roten Nikolaussessel. Die drei anderen Königs schmiegen sich in die ausladenden moosgrünen Kaminkissen vor dem Feuer und trinken heiße Milch mit Tausendblütenhonig und einem Stäubchen Zimt. Im Zimmer verbreitet sich ein Duft nach blauen Trauben und Honigblüten. Es riecht buttrig, zimtig und nach brennendem Holz. Auf den lodernden Scheiten tanzen Funken. Sie stieben durch den Schlot, ehe sie in die Dunkelheit entschwinden, während David erzählt:
Wie er eines Nachmittags eintraf und das Eis auf dem See aufgerissen fand. Dass ihm daraufhin der Schweiß ausbrach, weil er fürchtete, er hätte die Eisprinzessin verloren. Und zu allem Übel konnte er den Geigenspieler nicht finden, der sie doch kannte.
Aber ein gutes Schicksal wollte, dass sich Hanna und David wieder begegneten. Sie trafen in der neuen Eissporthalle aufeinander, in der sie seit Kurzem trainierten. Davids Training begann, wenn Hannas endete. Also kam er früher, um ihr nahe zu sein.
Sie tanzte manchmal in einem perlenbestickten, lilienweißen Eislaufkleid. Unzählige Male stand David an der Bande und schaute zu. Und sie, sie schaute unzählige Male zurück.
Kurz vor Ende der Saison gestanden sie sich, ineinander verliebt zu sein. Jeder hatte sein Herz verloren – und das des anderen gewonnen. Also wurde aus der Eisprinzessin Hanna mit dem Perlenkleid die Frau des Winterkönigs David.
Mia hört die Geschichte allzu gern und trägt mit Vergnügen das Eisprinzessinnenkleid, das ihrer Mutter zu eng geworden ist. Zig Abende sitzt sie, Tausendblütenhonigmilch schlürfend, mit Joshua und ihrer Mutter auf den Kissen zwischen dem Kaminfeuer und Davids rotem Plüschsessel. Diesem Möbel, von dem der väterliche Geschichtenerzähler in der Adventszeit gern behauptet, es bei der Hausübergabe vom Nikolaus übernommen zu haben.
Zu einem guten Preis, versteht sich. Der Sessel hatte nicht durch die Tür gepasst.
Worauf Joshua unausbleiblich feststellt: »Der ist zu tlotzig.«
»Genau. Nikolaus schnaufte mächtig, als wir versuchten, den Sessel rauszubekommen.« Ihr Vater ächzt und stöhnt. Seine Mimik ist angestrengt, als würde er etwas Schweres tragen.
Tatsächlich ähnelt sein Gesichtsausdruck einem Nikolaus aus einem von Joshuas Bilderbüchern. Weshalb sich Joshua vor lauter Ehrfurcht kaum zu rühren wagt. Er stellt sich sicher vor, wie sich sein Vater und Nikolaus mit dem Sessel plagten. Wie sie am Ende kapitulierten und das Riesending vor dem Kamin platzierten.
Mia in dem Perlenkleid rührt sich ebenfalls kaum. An solchen Abenden, die wie Zeitschleifen sind, malt sie sich Mutters und Vaters Geschichte aus. Sie klingt genau wie ein Märchen! Das Märchen von der Eisprinzessin und dem Winterkönig. Die ihre Liebe auf dem Eis des Tiefen Sees von Winteraue fanden. Und sie lebten glücklich mit ihren Königskindern.
Bis an ihr Lebensende.
Beinahe hat Mia die Hoffnung verloren, aber dann passiert es doch! Am letzten Samstag vor dem Ferienende überzieht Frost die Welt. Er macht die Luft klirrend und klar und das Eis stark.
Es ist lausig kalt im Winterkönigreich! Mia begrüßt die Kälte begeistert, weil ihre Mutter beim Frühstück den ersehnten Satz ausspricht. Ein bisschen atemlos, voller Freude. Sie klingt wie die Eisprinzessin von damals. »Kommt, lasst uns auf dem Eis tanzen!«
Mia läuft auf ihr Zimmer, um sich umzuziehen. »Beeil dich«, drängt ihr Vater von unten, »damit wir bald loskönnen.«
»Jaha.«
Rasch zieht Mia gefütterte Leggins an. Sie schlüpft in ihre hellblaue Winterjacke und stülpt die dazu passende Mütze über. Von der Diele her hört sie, dass sich die Eltern in ausgelassener Erwartung unterhalten. Einzelne Worte versteht sie nicht, aber sie sprechen liebevoll miteinander.
Joshua beobachtet seine Schwester durch einen Türspalt. Hell erkennt sie das Jungengesicht im Zwielicht des Korridors. Er späht mit Augen wie Christbaumkugeln zu ihr ins Zimmer. Joshua trägt sein Schmusetier bei sich: Tleiner, (eigentlich Kleiner), ein plüschiges Kamel mit Schlenkerbeinen. Mia hat es ihm am Tag seiner Geburt von ihrem Ersparten gekauft und in den Stubenwagen gelegt. Seither ist Tleiner sein heiß geliebter Begleiter. Und falls es das gibt, dass ein Kind und ein Stofftier allerbeste Freunde sein können, sind Joshua und Tleiner genau das: die dicksten, allerbesten Freunde.
Mia öffnet die Tür weiter. »Soll ich dir beim Anziehen helfen, Joshi?«
»Ja. Ich will schnell raus!«
Ihre Mutter kommt herauf, aber Mia sagt, dass sie es übernimmt, Joshua anzuziehen. Sie nickt Mia zu. Danke, sagt das Nicken, bei dir fühlt er sich wohl, große Schwester. Bei dir ist er bestens aufgehoben. Gleichgültig, was geschieht.
Aus einem abstrusen Impuls heraus versetzt die wortlose Zustimmung Mia in Sorge, die sie aber beiseitedrängt. Sie packt Joshua warm ein. Danach machen sie sich auf den Weg. Über Bürgersteige, von denen manche nicht gestreut oder von Schnee befreit sind. Sie reden und lachen, Atemluft ausstoßend wie dampfende Teekessel auf zwei Beinen.
Ihre Gänsehaut schiebt Mia auf den Winterwind.
Am Ende der Straße bemerkt Mia ihren Geigenlehrer und großväterlichen Freund hinter seinem Fenster, das nie eine Gardine verhängt. Zur Weihnachtszeit ist es von einer schlichten Tannengirlande eingefasst.
Wenn es warm ist, das Fenster offensteht und Balthazár Violine spielt, trägt der aus Süden kommende Wind die Stücke bis zum Königshaus. So schön gespielt, wie Mia es gern könnte. Eine kleine Nachtmusik, Für Elise, Brahms Wiegenlied, die Mondscheinsonate. Sein am häufigsten gespieltes Stück ist Schwanensee.
Unter den Schluchzern seiner Geige denkt Balthazár an schmerzlich Schönes. Bei den ersten Klängen legt sich sein runzliges Gesicht noch mehr in Fältchen. Als wäre es aus zerknülltem und anschließend notdürftig glatt gestrichenem Notenpapier. Doch je länger Balthazár spielt, desto knitterfreier wird das vergilbte Notenpapiergesicht, desto ruhiger. Friedlich.
Einmal, als Mia ihm Äpfel brachte und fragte, weshalb es sein Lieblingsstück sei, antwortete er, seine Schwester Bele hätte danach Ballett getanzt. Sie sei sehr jung gestorben. Viel zu früh. Wie seine Eltern.
»Mia, deine Mutter gleicht meiner Mutter, und du ähnelst Bele. Schaue ich dich an, schaue ich ein klein wenig meine Schwester an.«
Balthazár, der um Mias Märchenleidenschaft wusste, erzählte ihr das Märchen zu dem Ballett, Beles Märchen. Von der Prinzessin, die der Zauberer Rotbart in einen Schwan verwandelte. Dass sich ein Prinz in die Schwanenprinzessin verliebte – was der Zauberer nicht duldete. Und schließlich das Ende.
Schwanensee