Die These dieser Studie lautet, daß die Lyrik von heute ein Randphänomen der Gegenwartsliteratur ist, die fast keine gesellschaftliche Bedeutung mehr hat. Wir leben in einer säkularen Gesellschaft, die nicht mehr weiß, was ein Fest ist. Dem entspricht der prosaische Grundzug lyrischer Texte, die meist ohne Reim und Metrum auskommen. Die Autoren folgen dem nüchternen Trend der Zeit; meist ist ihnen der Gedanke fremd, daß das Gedicht „ein Fest des Geistes“ (P. Valéry) sein könnte.
Ich vergleiche die heutige Dichtung mit dem artistischen Paradigma der modernen Lyrik, wie es Hugo Friedrich in seinem Standardwerk beschrieben hat. Die Dichtung unserer Zeit übernimmt gewisse Stilmittel der modernen Lyrik, ohne aber deren Formbewußtsein und ohne deren Geist zu besitzen. Ihr Modernismus ist häufig reine Manier. Schließlich bespreche ich, was die Lyriker heute zu den Themen der poetischen Tradition zu sagen haben: zu Natur, Politik, den existentiellen Fragen, den künstlichen Paradiesen, zum Verfassen von Gedichten.
Der Zustand der gegenwärtigen Lyrik bringt es mit sich, daß die Studie äußerst kritisch verfährt – trotz der inflationären Publikation von Lyrik bestehen nur wenige Gedichte die strenge Qualitätsprüfung. Doch ist unsere Zeit keineswegs die erste Epoche dieser Art, Blütezeiten der Dichtung sind vielmehr die Ausnahme in der Geschichte der Kultur.
Josef Quack, Jg. 1944, Dr. phil., Publikationen:
Bemerkungen zum Sprachverständnis von Karl Kraus (1976)
Die fragwürdige Identifikation. Studien zur Literatur (1991)
Künstlerische Selbsterkenntnis. Über E.T.A Hoffmann. (1993)
Wolfgang Koeppen, Erzähler der Zeit (1997)
Die Grenzen des Menschlichen. Über Simenon & Co. (2000)
Geschichtsroman und Geschichtskritik. Döblins „Wallenstein“. (2004)
Diskurs der Redlichkeit. Döblins „Hamlet“. (2011)
Wenn das Denken feiert. Philosophische Rezensionen (2013)
Zur christlichen Literatur im 20. Jahrhundert (2014).
Über das authentische Selbstbild. Zum Tagebuch. (2016)
(www.j-quack.homepage.t-online.de)
Josef Quack
Essay
© 2017 Josef Quack
ISBN 978-3-7439-7572-9 (Paperback)
ISBN 978-3-7439-7573-6 (Hardcover)
ISBN 978-3-7439-7574-3 (e-Book)
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Künstler sind empfindsam, und wie die Götter leben sie von Weihrauch.
Es war Ende der fünfziger Jahre. Kurz zuvor waren Paul Claudel, Gottfried Benn und Bert Brecht gestorben. Von den Großen der modernen Lyrik lebten noch T.S. Eliot, Ezra Pound und René Char, der sich ein Jahrzehnt später mit Heidegger anfreunden sollte. Auch war Paul Celan schon hervorgetreten. Da bemerkte Reinhold Schneider, ein eifriger Leser der ausländischen Presse, der die meisten Sprachen Europas beherrschte, zu seiner Lektüre: „Wenn man die in den Literaturbeilagen der resteuropäischen Blätter verflimmernden Namen zusammenzählen wollte, könnte man leicht auf tausend kommen. Kein Mensch wird ernstlich behaupten, daß heute tausend Dichter leben.“ Übrigens rechnete Schneider sich selbst keineswegs zu den Dichtern; die christlichen Gedichte, die er während des Krieges geschrieben und heimlich verbreitet hatte, hielt er für reine Gebrauchsliteratur ohne künstlerischen Wert.
Einen ähnlichen Eindruck eines krassen Mißverhältnisses kann man heute gewinnen, wenn man die kleine Ausgabe der Anthologie von Karl Otto Conrady in die Hand nimmt, eine Sammlung deutscher Gedichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Von siebenhundert Seiten sind sage und schreibe zweihundert Seiten der lyrischen Produktion der letzten vierzig Jahre gewidmet, fast dreißig Prozent! Damit wird eine Fülle heute lebender und dichtender Talente vorgetäuscht, die maßlos übertrieben ist. Sie verrät aber, daß die Wertmaßstäbe des Herausgebers, um mit Büchner zu reden, in der schändlichsten Verwirrung sind. Doch ist seine Sammlung in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Die Anthologien der zeitgenössischen Lyrik, die ich kenne, leiden alle mehr oder weniger stark unter dem gleichen Mangel an kritischen Normen und Idealen.
Wer in den sechziger oder siebziger Jahre einen gewagten Text lyrischer Art vorlegte, konnte sich damit rechtfertigen, daß es sich um experimentelle oder avantgardistische Dichtung handle, und die Kenner im Feuilleton nickten allseits zustimmend. Wer heute sein Textgestammel mit diesen Schlagworten rechtfertigte, würde sich nur lächerlich machen – wenn er überhaupt beachtet würde. Denn dies ist das eigentliche Problem der zeitgenössischen Lyrik, daß sie nicht mehr wahrgenommen wird. Sie ist ein Randphänomen der Literatur geworden, die ihrerseits in Öffentlichkeit und Gesellschaft nur noch eine unbedeutende Rolle spielt.
Dies ist die Lage der gegenwärtigen lyrischen Dichtung: eine inflationäre Produktion, die aber öffentlich kaum beachtet wird, und eine Desorientierung in dem Punkt aller Punkte, der kritischen Bewertung. Diese Lage hat mich angeregt, einmal genauer nachzusehen, ob an den Gedichten unserer Tage überhaupt etwas dran ist. Da in der Nachkriegszeit begrifflich oder theoretisch festgelegt wurde, was man unter Moderne und der Lyrik der Moderne versteht, habe ich im ersten Teil dieses Essays eine damals beschriebene Strömung diskutiert, nämlich die artistische Auffassung der Lyrik, was impliziert, daß es auch andere Konzeptionen der Dichtung gab, zum Beispiel die gesellschaftskritische Auffassung Brechts.
Mit dem artistischen Paradigma der modernen Lyrik sind drei Probleme verbunden, die jeder im Auge behalten sollte, der sich mit der Poesie von heute beschäftigt: das Zeitbewußtsein der Autoren, die Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung der Dichtung und der festliche Charakter, der ehedem das Gedicht auszeichnete.
Im zweiten Hauptteil bespreche ich die Typen und Themen der zeitgenössischen Lyrik; damit sind im wesentlichen die Texte gemeint, die nach der Wende entstanden sind. Denn das geistige Klima und die literarische Situation heute sind entscheidend durch die damalige historische Zäsur geprägt: wir leben in einer Zeit nach dem Ende des ideologisch bestimmten Ost-West-Konflikts, in dem den Schriftstellern hüben und drüben eine politische Funktion zukam. Diese Funktion haben die Autoren nach der Wende verloren – sie werden politisch nicht mehr gebraucht, was für ihr Selbstverständnis nicht ohne Folgen blieb. In den neunziger Jahren entlarvten unsere Feuilletonisten lustvoll die Überbewertung der DDR-Literaten, ohne zu bemerken, daß nach der Wende auch die westlichen Schriftsteller – und damit auch die Feuilletonschreiber – ihre gesellschaftliche Bedeutung weitgehend einbüßen würden.
Man hat kaum bemerkt, daß heute, nach der Wiedervereinigung, im Bezug auf die deutsche Literatur eine nationale Blickverengung eingetreten ist. Man versteht das Prädikat „deutsch“ gelegentlich nur noch in einem nationalen, nicht mehr in einem sprachlichen Sinne und klammert die österreichischen und Schweizer Autoren aus der Literaturbetrachtung aus. Ich verstehe dagegen jenes Prädikat in einem sprachlichen Sinne und berücksichtige in meinem Rundblick selbstverständlich auch Gottfried Keller und Ernst Jandl. Auf das weitere, mit dieser Sache verbundene Problem, den Umstand, daß manche norddeutsche Interpreten wenig Verständnis für die Literatur südlicher Regionen des deutschen Sprachgebietes aufbringen, kann ich jedoch nicht eingehen, obwohl er die Diskussion über die Lyrik von heute ein wenig tangiert.
Der Titel des Essays ist eine Anspielung auf „Die Rückschritte der Poesie“, einen kulturgeschichtlichen Aufsatz von Carl Gustav Jochmann (1789-1830), eine Schrift, die Werner Kraft in den dreißiger Jahren wiederentdeckt hatte; Walter Benjamin hat sie dann mit einem gesellschaftskritischem Kommentar veröffentlicht. Doch teile ich weder Jochmanns Spekulationen über die Poesie als vorherrschende Sprache in der Frühzeit der Menschheit, noch seine geschichtsphilosophischen Implikationen. Seine Hauptthese besagt, daß der Rückschritt der Poesie in ästhetischer Hinsicht zwar ein Verlust sein, in anderer, wissenschaftlicher oder humaner Hinsicht aber ein Gewinn oder ein Fortschritt sein kann. Sein Beispiel ist das Heldenepos Homers, das seine historiographische Funktion verlor, als mit Thukydides die wissenschaftliche Geschichtsschreibung aufkam. Wenn ich von den Rückschritten der gegenwärtigen Lyrik spreche, dann meine ich die offensichtliche literaturhistorische Tatsache, daß es in den zwanziger Jahren, als George, Rilke, Lasker-Schüler, Werfel, Benn, Brecht wirkten, und selbst noch in der Nachkriegszeit, als Benn, Brecht, Hesse, Bergengruen, Huchel, Eich, Celan schrieben, eine Blütezeit der Dichtung gab, während in unserer Zeit kein Autor vergleichbaren Ranges dieses Genre vertritt. Überflüssig zu sagen, daß ich jeden geschichtsphilosophischen Ansatz ablehne und kritisiere.
Meine Übersicht ist natürlich begrenzt, ich stütze mich auf zehn, mehr oder weniger repräsentative Anthologien aus den letzten Jahren und eine Handvoll Gedichtbände verschiedener Autoren, und es ist durchaus möglich, daß ich einen bedeutenden Autor oder ein paar hervorragende Gedichte übersehen habe. Doch scheint mir dies weniger wichtig als die Frage, ob meine kritische Überprüfung der Texte überzeugend begründet ist. Ich werde viele Fragen des Gedichts anschneiden und viele Aspekte dieser Textarten beschreiben und diese Fragen auch in eine gewisse Ordnung bringen, aber keineswegs werde ich die Begriffe und die Theorie der Lyrik systematisch darstellen.
Ein besonderes Problem ergibt sich beim Zitieren der besprochenen Gedichte. Ideal wäre gewesen, wenn ich alle erwähnten Gedichte vollständig zitiert hätte. Doch wäre dadurch aus einem Essay eine Anthologie geworden, was nicht meine Absicht war. Deshalb habe ich nur die im positiven oder negativen Sinne auffälligsten Texte vollständig zitiert; die übrigen Texte möge der geneigte Leser am angegeben Ort selbst nachschlagen.
Als Fazit kann ich vorwegnehmen, daß sich entgegen meiner Befürchtung doch einige Gedichte gefunden haben, die meines Erachtens das Zeug haben, die Zeit ihrer Entstehung zu überdauern. Sie würden gewiß nicht zweihundert Seiten füllen, sondern allenfalls zwanzig; doch wäre dies immerhin ein wenig mehr als nichts.
La plupart des hommes ont de la poésie une idée si vaque que ce vague même de leur idée est pour eux la définition de la poésie.
(Die meisten Menschen haben von der Poesie eine solch vage Vorstellung, daß diese Vagheit ihrer Vorstellung für sie die Definition der Poesie ist.)
Wenn ich im folgenden literaturtheoretische Begriffe verwende, dann, wie gesagt, nicht in systematischer Absicht, sondern nur, um einigermaßen deutlich anzugeben, wovon ich rede, wenn ich die lyrische Ausbeute dieser Jahre bespreche. Ich halte mich dabei meist an die herkömmliche Terminologie, in erster Linie an die grundlegende Opposition von Lyrik und Prosa. Das heißt, ich lehne den Versuch ab, den Begriff der Lyrik so zu erweitern, daß er auch prosaische Texte umfaßt, und, wie wir sehen werden, ist diese Abgrenzung eines der wichtigsten Probleme bei der Beurteilung zeitgenössischer Gedichte.
Bekanntlich lassen sich die Arten des Gedichts unterscheiden, indem man sich an den sprachlichen Äußerungsformen orientiert, die die Texte prägen: singen (Lied), loben (Hymne), klagen (Elegie), erzählen (Ballade), besprechen (Spruchdichtung). Es versteht sich, daß diese Einteilung im Hinblick auf die jeweils in einer Textart dominierende Sprachfunktion vorgenommen ist, daß also ein Lied auch eine Erzählung oder eine Spruchweisheit enthalten, Balladen liedhafte Qualitäten und Epigramme durch Metrum und Reim spezifisch klangliche Eigenschaften haben können, analog den Eigenschaften des Liedes. Diesen Arten ist gemeinsam, daß es „Werke in rhythmisch gebundener Form“ sind (Kutschera 1989, 380). Die Definition entspricht durchaus dem üblichen Verständnis von Lyrik, sie setzt stillschweigend voraus, daß damit Epen in metrischer Form nicht gemeint sind, und sie ist so weit gefaßt, daß sie auch Gedichte in freien Rhythmen einschließt.
Karl Otto Conrady orientiert sich dagegen nicht an der Eigenschaft der Rede, sondern der Eigenschaft der Schrift, der Textform, die gegenüber der Rede eine sekundäre Eigenschaft der Sprache ist, wenn er Gedichte definiert als „sprachliche Äußerungen in einer speziellen Schreibweise“ (Conrady 2008, 8). Es ist eine rein deskriptive Definition, die es nicht mehr erlaubt, zwischen Poesie und Prosa zu unterscheiden. Wenn Harald Hartung sich gegen „die Laberlyrik, die spannungslose Prosa zu Flattersatz zerhackte“, ausspricht, dann verwirft er implizit den Begriff des Gedichts, der sich ausschließlich an der Schreibweise mit Zeilenumbruch orientiert (Buchwald 2007, 23). Außerdem setzt er voraus, daß Gedichte uns etwas zu sagen haben sollten, eine Forderung, die sich von selbst versteht.
In einem weitverbreiteten Literatur-Lexikon werden einige Merkmale der Lyrik angeführt, die dem üblichen Verständnis des Genres entsprechen, und andere Eigenschaften, die einem fragwürdigen Verständnis dieser Gattung entstammen. Ich möchte die damit verbundenen Probleme hier nicht eingehend diskutieren, sondern nur anmerken, was mir für die folgende Studie brauchbar erscheint. Ludwig Völker hat sieben Merkmale der Lyrik benannt, von denen fünf Merkmale der gewöhnlichen Auffassung mehr oder weniger entsprechen:
In der Lyrik kommt der formalen Gestaltung eine sehr große Bedeutung zu.
Zweitens ist Lyrik die Gattung, die sich durch formale Abgeschlossenheit, Einheitlichkeit und Übersichtlichkeit auszeichnet.
Drittens weicht die lyrische Rede von der alltagssprachlichen Norm ab, durch Reim und Vers oder irgendeine nicht-umgangssprachliche Form der Rede.
Viertens hat die lyrische Sprache eine „autonome Bedeutungsstruktur“, die sich von der mimetischen Beziehung zwischen Wort und Sache in der Alltagssprache unterscheidet.
Fünftens: „Lyrik ist durch höchste Konzentration und Ökonomie der Ausdrucksmittel gekennzeichnet.“ (Völker 1996, 1204).
Dazu wäre zu bemerken, daß das Merkmal der formalen Gestaltung und das Merkmal der lyrischen, von der Alltagsrede abweichenden Sprache nichts anders besagen als das, was traditionell mit gebundener Rede gemeint ist. Das Merkmal der formalen Abgeschlossenheit und Einheitlichkeit ist ein allgemeines Merkmal des sprachlichen Kunstwerkes, es gilt auch für Drama und Erzählung (Epos, Roman, Novelle, Anekdote); dagegen sind nicht alle, sondern nur die kürzeren Gedichte überschaubar, Schillers „Spaziergang“ oder die „Duineser Elegien“ Rilkes sind es nicht, während wiederum einige Prosagattungen wie Aphorismus, Anekdote und Kurzgeschichte in ihren Grenzen zu überblicken sind. Dann kommt es nicht darauf an, daß die lyrische Rede allgemein von der Umgangssprache abweicht, sondern daß diese Abweichung meist in Reim und Vers besteht; denn auch die Fachsprachen weichen extrem von der Alltagssprache ab.
Das vierte Merkmal, wonach in der lyrische Sprache die Bedeutung der Wörter autonom oder absolut sei, was heißen soll, daß die Wörter oder Sätze nicht auf die Realität bezogen seien, die deskriptive Funktion der Sprache also nicht aktiviert sei, gilt nicht allgemein, sondern nur ausnahmsweise. Viele Gedichte enthalten durchaus Beschreibungen und Erzählungen im normalen Sinn. Auch ist das Merkmal der Konzentration ein Ideal, das keineswegs für alle lyrischen Textarten gilt, andererseits aber auch für andere Gattungen gefordert sein kann.
Das weitere Problem, daß lyrisches Sprechen durch „fingierte oder tatsächliche Authentizität und Unmittelbarkeit geprägt“ sei, kann ich hier nicht besprechen, da nicht klar ist, was damit gemeint sein soll. Vielleicht soll es heißen, daß ein Gedicht in der Ich-Form eine andere Qualität hat als eine Ich-Erzählung, die per se durch Unverläßlichkeit bestimmt ist, während eine auktoriale oder personale Erzählweise als verläßlich gilt (Stanzel 1989, 200f.). Dabei ist natürlich zu beachten, daß der Sprecher eines Gedichtes nicht mit dem Autor identisch sein muß, wie schon Lessing im Hinblick auf die Oden von Horaz bemerkte: „Selten ist das Ich sein eigen Ich“. Was aber mit Authentizität gemeint ist, bleibt bei Völker nicht nur ungeklärt, es ist schlicht unverständlich. Zu diesem Begriff möchte ich nur sagen, daß wir in der Literatur dann eine Darstellung als authentisch bezeichnen, wenn es sich um eine wahre Darstellung einer authentischen Erfahrung oder Existenzweise handelt (Quack 2016, 103f.; 145ff.). Es ist klar, daß eine fingierte oder vorgetäuschte Authentizität eben keine Authentizität ist, so wie falsches Gold kein Gold ist.
Bei meiner Kritik an dieser neueren Begriffsbestimmung der Lyrik habe ich mich stillschweigend an der Sprachauffassung von Roman Jakobson orientiert, der das Sprachmodell von Karl Bühler aufgegriffen und weiterentwickelt hat. Bühler unterscheidet bei einer sprachlichen Äußerung das Sprachzeichen, das von einem Sender, einem Sprecher, an einen Empfänger gerichtet ist und sich auf Gegenstände und Sachverhalte bezieht. Dementsprechend spricht er von drei Sprachfunktionen: der expressiven oder emotionalen Funktion, der appellativen Funktion und der darstellenden, deskriptiven Funktion der Sprache (Bühler 1982, 28f.). Übrigens hat Popper, der dieses Sprachmodell übernommen hat, es präzisiert, in dem er die wichtige argumentative Funktion hinzufügte. Jakobson seinerseits hat dann jenes Sprachmodell um drei andere Funktionen erweitert, die für die Beschreibung der dichterischen Sprache wichtig sind: die poetische Funktion, die sich auf die Botschaft selbst oder das Sprachzeichen selbst richtet; die phatische Funktion, die den physischen Kontakt oder den Kanal betrifft; und die metasprachliche Funktion, die den sprachlichen Kode thematisiert und zum Beispiel schon beim Spracherlernen ins Spiel kommt. Zu Jakobsons am Englischen ausgerichteten Terminologie wäre zu sagen, daß er statt von der appellativen, von der konativen Funktion spricht, wobei konativ soviel wie strebend, antriebshaft bedeutet. Phatisch heißt kontaktknüpfend oder kontakterhaltend, was in der Tat eine fundamentale Bedingung des Sprechens betrifft. Unglücklich ist in der Übersetzung des Aufsatzes von Jakobson das Fremdwort „referentiell“, das im Englischen kein Fachterminus ist, sondern schlicht und einfach „bezugnehmend“ (beschreibend, darstellend) bedeutet. Treffender sind die alternativen Ausdrücke „denotative“ oder „kognitive“ Funktion (Jakobson 1979, 88f.).
Für die poetische Funktion der Sprache ist nun bezeichnend, daß sie nicht nur in der Dichtung vorkommt, sondern vielfach auch in anderen Textgattungen. Andererseits gilt es zu beachten, was z. B. Völker übersehen zu haben scheint: „Die poetische Funktion stellt nicht die einzige Funktion der Wortkunst dar, sondern nur eine vorherrschende und strukturbestimmende und spielt in andern sprachlichen Tätigkeiten eine untergeordnete, zusätzliche, konstitutive Rolle.“ (l.c. 92) Damit wird unterstrichen, daß bei sprachlichen Äußerungen in der Regel mehrere Funktionen erfüllt sind, und was die poetische Funktion angeht, so kommt sie in mehreren Textarten vor, sie dominiert jedoch in der Dichtung. Dies heißt aber nichts anderes, als daß ein Text, in dem die poetische Sprachfunktion nicht vorherrscht und dessen Struktur sie nicht bestimmt, eben kein lyrischer Text ist. Diese Frage wird uns beschäftigen, wenn wir auf regellose Gedichte zu sprechen kommen (2.21).
Anmerken möchte ich hier nur noch, was Jakobson über die Erlebnisweise der regelkonformen Lyrik schreibt: „Nur in der Dichtung mit der regelmäßigen Wiederkehr äquivalenter Einheiten wird das Zeitmaß des Redeflusses erfahren, wie auch bei der musikalischen Zeit – um ein anderes semiotisches System anzuführen“ (l.c. 95). Ein Merkmal, das man zu beachten hätte, wenn man der Dichtung musikalische Eigenschaften zuschreibt.
Es dürfte klar sein, daß in vielen Gedichten die expressive oder emotionale Funktion eine besondere Rolle spielt; bei anderen Gedichten ist es die appellative Funktion, bei der Spruchdichtung die kognitive Funktion. Allen Gedichten ist jedoch gemeinsam, daß die Aufmerksamkeit auf die sprachliche Eigenart der Aussage gerichtet ist, die poetische Funktion also den Tenor des Gedichtes bestimmt. Wie wir sehen werden, ist für die artistische Auffassung der modernen Lyrik bezeichnend, daß in ihr die expressive Funktion ohne das emotionale Moment verwendet wird; desgleichen wird die appellative Funktion der Sprache als Medium der Suggestivität stark betont, worauf das kommunikative Moment der Sprache reduziert ist.
Schließlich bekräftigt Jakobson die traditionelle Auffassung, daß die Dichtung symbolisch, in einem weiten Sinn des Wortes, oder polysemantisch ist: „Mehrdeutigkeit ist eine unabdingbare, unveräußerliche Folge jeder in sich selbst zentrierten Mitteilung, kurz eine Grundeigenschaft der Dichtung“. Dies betrifft nicht nur die sprachliche Botschaft, sondern auch die anderen Faktoren der Rede, wo man zwischen Autor, Leser und dem lyrischen Sprecher, der „ich“ sagt, unterscheiden muß. Auch kann ein Gedicht an einen anderen Adressaten gerichtet und zugleich eine subjektive Mitteilung des Dichters sein. Für die darstellende Funktion ergibt sich aus dieser Eigenart die wichtige Konsequenz: „Der Vorrang der poetischen Funktion vor der referentiellen löscht den Gegenstandsbezug nicht aus, sondern macht ihn mehrdeutig“ (l.c. 110f.). Auf das Problem der Mehrdeutigkeit im Gedicht werde ich zurückkommen (2.42).
Wer sich nun über die deutsche Lyrik der Gegenwart ein Urteil bilden will, tut gut daran, die literarische Situation der Nachkriegszeit zum Vergleich heranzuziehen und zwar aus zwei Gründen: Damals lebten und schrieben noch zwei der bedeutendsten Dichter des letzten Jahrhunderts, Gottfried Benn und Bert Brecht, und in den fünfziger Jahren erschienen die ersten Gedichte von Paul Celan, der wohl der letzte deutsche Dichter von europäischem Rang ist. Zweitens waren die Nachkriegsjahre jene Zeit, in der das Bild der klassischen Moderne, wie es heute noch maßgeblich ist, gleichsam kodifiziert wurde. Damals wurde in einem bestimmten Sinn festgelegt, was wir unter Moderne verstehen (Quack 2008, 27). Was die Lyrik angeht, so haben vor allem zwei Texte das Verständnis entscheidend geprägt: Benns Rede über „Probleme der Lyrik“ (1951) und Hugo Friedrichs Arbeit über die „Struktur der modernen Lyrik“ (1956), ein bis heute unübertroffenes Standardwerk über die neuere Dichtung, ähnlich einflußreich wie Erich Auerbachs klassische Schrift über den Realismus in der Literatur, Mimesis (1946).
Friedrichs Studie ist ebenso erhellend wie anregend – zum Weiterdenken und zur Kritik. Sie hat den Vorzug, daß sie eine ausgearbeitete, sachlich beschreibende und analysierende Theorie der Lyrik enthält, während viele Literaturwissenschaftler gegenüber lyrischen Texten merkwürdig ratlos agieren, weil sie die Differenz zwischen der begrifflich genauen, terminologisch festgelegten Metasprache der Interpretation und der nicht normierten, oft dunklen Objektsprache der Dichtung nicht konsequent beachten und Gedichte eher bildlich paraphrasieren als präzis beschreiben. Manche Arbeiten der Literaturtheorie verkörpern das andere Extrem, eine überladene, unnötig komplizierte Terminologie, die den literarischen Gegebenheiten nicht gerecht wird.
Demgegenüber ist Friedrichs Buch eine überaus brauchbare Diskussionsvorlage für poetologische Fragen, in unserem Zusammenhang der wichtigste Vergleichs- und Bezugspunkt, wenn es um das Verständnis der Gegenwartslyrik geht.
Ich möchte nur ein paar Stichworte aus dieser Poetik anführen, um anschließend zeigen zu können, inwiefern sich die Dichtung der Gegenwart von den poetischen Normen der Moderne, wie Friedrich sie formuliert und festgesetzt hatte, unterscheidet.
Nach der Theorie Friedrichs, die er an Gedichten von Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé exemplifiziert, ist die moderne Lyrik keine Erlebnisdichtung, sondern artistische Dichtung, bei der die Aussageweise immer wichtiger ist als der Aussageinhalt. Für sie ist charakteristisch, daß sie bewußt mit der poetischen Tradition bricht und sich von der normalen Weltorientierung fernhält. Daraus folgt, daß sich ihr Wesen vor allem mit negativen Kategorien beschreiben läßt, wie Dissonanz, Unverständlichkeit, Desorientierung, Inkohärenz, alogische und agrammatische Anlage, leere Idealität, Fragmentierung, Enthumanisierung, künstliche Subjektivität u.ä. (Friedrich 1964, 15). Im Hinblick auf Mallarmés poetisches Programm hat Friedrich die Merkmale dieser Strömung der modernen Lyrik in den folgenden Stichworten zusammengefaßt: „Fehlen einer Gefühls- und Inspirationslyrik; intellektuell gesteuerte Phantasie; Vernichtung der Realität und der logischen wie affektiven Normalordnungen; Operieren mit den Impulskräften der Sprache; Suggestivität statt Verstehbarkeit; Bewußtsein, einer Spätzeit der Kultur anzugehören; zwiefaches Verhältnis zur Modernität; Bruch mit der humanistischen und christlichen Überlieferung; Vereinsamung, die sich als Auszeichnung weiß; Ranggleichheit von Dichten und Reflexion über das Dichten, wobei in der letzteren die negativen Kategorien überwiegen.“ (l.c. 72)
Das lyrische Ideal dieser Schule ist die poésie pure, die Benn das absolute Gedicht genannt hat, eine Poesie, die nicht Ausdruck der Alltagserfahrung ist, keine Lehren erteilt und keine praktischen Zwecke verfolgt, sondern im Grunde nur „Sprachmagie“ ist. Dies ist die positive Seite der modernen Lyrik: der Primat der Form, ihre artistische Suggestion, die auf der Klangwirkung von Reim, Assonanzen, Wortfolgen, ungewohnten Metaphern beruht (l.c. 39).
Die angeführten Stichworte und Kategorien sind zwar beschreibender Art, doch gilt es zu beachten, daß einige Stichworte normativ gemeint sind, Grundsätze oder Maximen aussprechen, und diese Maximen enthalten radikale Forderungen, die nur in extremen Fällen auch in der Dichtung verwirklicht sind.
Der oberste Grundsatz, der die von Friedrich favorisierte Art der modernen Lyrik auszeichnen soll, ist das Postulat, daß es keine Erlebnislyrik sein sollte. In der ersten Auflage seines Buches hat er seine Sympathie für unsentimentale Autoren und seine Abneigung gegen das Interpretationsprinzip 'Erlebnis und Dichtung' noch offen ausgesprochen (l.c. 204). Er spielt damit auf ein Buch von Wilhelm Dilthey an, das die autobiographische Bekenntnisdichtung Goethes zum Ideal erhob und mit dieser These in der Literaturwissenschaft viele Anhänger fand. Laut Friedrich ist das moderne Gedicht prinzipiell nicht als Wiedergabe autobiographischer Erlebnisse des Autors zu verstehen. Es ist kein persönliches Bekenntnis des Autors und sein Sinn läßt sich nicht aus der Persönlichkeitsstruktur des Autors psychologisch ableiten. Wenn man die Maxime in diesem eng begrenzten Sinn versteht, dürfte sie tatsächlich ein allgemeines Merkmal der modernen, sich artistisch gebende Lyrik beschreiben, wenngleich es auch hier Ausnahmen gibt, z. B. bei Gottfried Benn. Die Antipathie gegen eine naive Erlebnislyrik läßt sich übrigens gut verstehen, wenn man an die Zeit der Entstehung des Buches denkt, wo Friedrich gegenüber einer gemüthaften Ausdruckslyrik das Formbewußtsein gar nicht stark genug betonen konnte.
Genau genommen, ist die von ihm beschriebene moderne Lyrik jedoch nicht eine Dichtung, die überhaupt keine Beziehung zu dem Erleben des Autors hätte. Sie will nämlich programmgemäß Ausdruck epochaler Grunderfahrungen der Moderne sein, literarische Verarbeitung des Zeitschicksals, poetische Antwort auf das Zeitschicksal. Friedrich konzediert ausdrücklich im Hinblick auf das Epochenphänomen der Angst, daß es durchaus Texte gebe, die „die Echtheit dieser Grunderfahrung“ zeigten (l.c. 125).
Ähnlich muß man die radikale Maxime relativieren, wonach das moderne Gedicht keine Inspirationslyrik sei. Damit ist, überspitzt formuliert, gemeint, daß das Gedicht, als vollendetes Gebilde betrachtet, nicht ein Werk der Eingebung sei, sondern seine Vollkommenheit vielmehr der bewußt vollzogenen artistischen Gestaltung oder Formung verdanke. Diese These hat vor allem Benn unterstrichen und propagiert, behauptet er doch kategorisch: „Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht“ (Benn 1989, 505f.). Fraglos hat diese Auskunft des berühmten Mannes dann zu dem fatalen Mißverständnis geführt, daß man Gedichte tatsächlich ohne weitere Vorgabe des Talents oder des Kunstverstandes einfach machen könne. Man hat übersehen, daß Benn sich in diesem Punkt selbst widerspricht. Denn im weiteren Verlauf der Rede berichtet er, daß er bei einem Gedicht zwanzig Jahre warten mußte, bis ihm die zweite Strophe einfiel (l.c. 522). Mit anderen Worten, ohne Inspiration und die rechte Stimmung kommt kein nennenswertes Gedicht gleichwelcher Art zustande.
Außerdem paßt die These von der fehlenden Inspiration schlecht mit der Eigenart der modernen Poesie zusammen, daß sie vielfach Traumlyrik sein will, aus natürlichen oder künstlich erzeugten Träumen entstanden, Träume aber durchaus inspirativen Charakter haben. Das gleiche gilt von dem kollektiven Unbewußten, einer archaischen Quelle des Dichtens, auf die einige Dichter der Moderne sich berufen.
Ich brauche wohl nicht zu betonen, daß die Abneigung gegen die dichterische Inspiration keineswegs ein Wesensmerkmal der Literatur der Moderne insgesamt ist. Einer der bedeutendsten Erzähler dieser Epoche, Franz Kafka, ließ bekanntlich von seinen Werken nur jene gelten, die aus der Inspiration entstanden sind, genauer gesagt, aus einer anhaltenden, ununterbrochenen Inspiration, daher sein Vorbehalt gegenüber dem Roman. Und was die gegenwärtige Dichtung angeht, so war selbst ein Exponent der Laut- und Wortkombinatorik wie Ernst Jandl (1925-2000) sich durchaus bewußt, daß das Dichten vom glücklichen Einfall abhängt, den man nur selten hat: „Ein Titel wie 'Laut und Luise' kommt nur einmal im Leben“. Auch wußte er: „Aber dann gab es wieder ganz leere Zeiten, ganz ohne Ahnung, wie man je wieder etwas schreiben sollte“ (Jandl 2012, 80 u. 78). Für den Leser bedeutet dies, daß man bei Jandl aus der Menge seiner Texte die strengste Auswahl vornehmen sollte; denn vieles ist nur Fingerübung, monotone, nichtssagende Routine der einmal gewonnenen Schreibtechnik, der Gedichte in heruntergekommenem Deutsch oder in nachgeahmter Kindersprache, ermüdende Wiederholung weniger geschmackloser Ausdrücke. Auch Jandls Größe als Lyriker zeigt sich nur in der begrenzten Zahl unvergeßlicher Gedichte.
Die moderne Lyrik ist ihrer Intention nach monologisch, nicht kommunikativ, absichtlich mehrdeutig, dunkel und geheimnisvoll, dem großen Publikum nicht mehr vermittelbar. Das einzige Band zu den wenigen Lesern ist die klangliche oder gesangshafte Wirkung der Gedichte, die letztlich zu verstummen drohen. Da diese Dichter die gesellschaftliche Realität der modernen Zivilisation als banal oder häßlich empfinden, vollziehen sie mit den Mitteln einer diktatorischen Phantasie des Bizarren und Absurden eine Abkehr von der Wirklichkeit des alltäglichen Erlebens, die aber letztlich enttäuscht, d.h. zum Schweigen führt. Friedrich spricht bei Rimbaud von einer „Dialektik der Modernität“, einer Leidenschaft, die Realität zu transzendieren, was auf eine sprachliche Zerstörung der Realitätsabbildung hinausläuft. Das Ergebnis nennt er „ein chaotisches Zeichen für die Unzulänglichkeit des Realen überhaupt wie auch für die Unerreichbarkeit des 'Ungekannten'“ (l.c. 57f.). Überaus erhellend ist dabei der Gedanke, daß das in dieser Lyrik beschworene Schweigen nur im Kontext der dichterischen Rede und als Gegensatz zur Unzulänglichkeit dieser Rede bedeutsam ist. Sich auf Max Kommerell berufend erklärt er, daß das hier gemeinte Schweigen ein Hilfsbegriff für etwas sei, „das überhaupt erst durch die Sprache wahrnehmbar und dichterisch akut“ werde (Friedrich 1996, 158). Lakonisch und mit allem Recht bemerkt er zu vielen Nachahmern Rimbauds, „daß es für sie besser gewesen wäre, überhaupt stumm zu bleiben“ (Friedrich 1964, 71).
In diesen Überlegungen wurde schon der Kerngedanke, das Zentrum dieser Auffassung der modernen Lyrik berührt, der Kern der Strukturbeschreibung, auf den alle Merkmale und Grundsätze dieses poetischen Typs einer artistischen Kunst letztlich bezogen sind. Es ist eine philosophische Einsicht oder eine weltanschauliche Überzeugung, der Gedanke, daß das Ziel des Wegstrebens von der enttäuschenden Wirklichkeit „eine leere Idealität“ sei. Dies soll besagen, daß die Dichter dieser Schule sich nicht in der Lage sehen, „an eine inhaltlich bestimmte, sinngefügte Transzendenz zu glauben oder sie zu schaffen“ (l.c. 36). Sie lehnen die christliche Vorstellung einer Transzendenz oder eines Jenseits und damit überhaupt eine religiöse Sinngebung von Welt und Leben ab. Friedrich erläutert bei Mallarmé das ontologische Schema einer Abkehr von der Wirklichkeit, die Hinwendung zu einer Idealität, die als Nichts erkannt und in der Sprache der Phantasie zum Ausdruck gebracht wird. Er nennt diese Auffassung im Unterschied zu einem moralischen Nihilismus, der Verneinung moralischer Werte, einen „idealistischen Nihilismus“ (l.c. 95). Nicht viel anders wäre die Weltanschauung Gottfried Benns zu bezeichnen, der seinen Nihilismus oft genug erläutert hat.
Man kann die Bedeutung der weltanschaulichen Grundlage dieser Lyrik gar nicht stark genug betonen. Diese philosophische Überzeugung ist letztlich das Argument, das den artistischen Charakter dieser Gedichte als bedeutsam rechtfertigt, das Übergewicht der Form des Gedichts über den semantischen Sinn als plausibel erscheinen läßt, und diese Weltanschauung ist der Grund, warum sowohl Friedrich als auch Benn behaupten konnten, „daß die Aussagekraft der Lyrik für die geistige Lage der Gegenwart nicht geringer ist als die Aussagekraft der Philosophie, des Romans, des Theaters, der Malerei und der Musik“ (l.c. 10). Ohne diesen weltanschaulichen Hintergrund hätte die Lyrik des artistischen Typs keinerlei Sinn, man könnte ihr keine zeitdiagnostische Bedeutung zusprechen, sie wäre belanglose, in jeder Hinsicht irrelevante Spielerei.
Friedrich setzt den literarischen Rang und die kanonische Geltung der französischen Dichter der Moderne als unbestritten und allgemein anerkannt voraus. Doch ist dies keineswegs der Fall. Ich will dieses Thema aber hier nicht aufgreifen, sondern nur daran erinnern, daß Georges Pompidou noch hundert Jahre nach Baudelaire in seiner hochgeschätzten Anthologie de la poésie française es für nötig hält, die französische Lyrik im Vergleich mit der englischen und deutschen Dichtung zu verteidigen und ihr den gleichen Rang zuzubilligen. Er beruft sich dabei auf das Argument, daß es in der Poesie tausend unübersetzbare und für einen ausländischen Leser wahrscheinlich nicht wahrnehmbare Dinge gebe, selbst wenn er die Sprache des Dichters fließend spreche (Pompidou 1961, 10f.).