Krimi
(Alle London-Krimis von Edgar Wallace und Alex Barclay sind von Mr. Barclay für den ARAVAIPA-Verlag neu überarbeitet worden.)
Bis jetzt erschienen:
1. Band: Das Silberne Dreieck und das Bilderrätsel
2. Band: Das Silberne Dreieck und der dritte Zufall
3. Band: Das Silberne Dreieck und der Tote im Park
4. Band: Das Silberne Dreieck und der Sänger in der Kirche
5. Band: Das Silberne Dreieck und die Dame aus Brasilien
6. Band: Das Silberne Dreieck und der echte Mr. Drake
7. Band: Das Silberne Dreieck und der Mann der 2x starb
eISBN 978-3-03864-906-9
Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form, einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien, der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung und der Aufnahme in Datenbanken, ausdrücklich vorbehalten.
Lektorat: Horst und Fritz Eibl (A)
Umschlaggestaltung: Agentur flin
Copyright © 2017 by ARAVAIPA–Verlag,
Egg bei Zürich, Freudenstadt, Tucson
ARAVAIPA im Internet: www.aravaipa.ch
1.Anruf vor Mitternacht
2.Friede seiner armen Seele
3.Eine trostlose Gegend
4.Rätselhafte Todesursache
5.Der alte Kreuzweg
6.Der alte Kreuzweg
7.Neal und Bud
8.Der geheimnisvolle Mr. Drake
9.Der wirkliche Mr. Drake
Da es auf dem Hof von Cornelius Malan kein Telefon gab, entschied sich Leonora, bei Dunkelheit heimlich ins Dorf zu laufen und von dort aus anzurufen. Einmal gefasst, ließ ihr der Entschluss keine Ruhe mehr. Den ganzen Tag dachte sie daran, fast jede Minute, jeden Augenblick. Sie versuchte, ihre innere Angst loszuwerden, indem sie sich einredete, dass alles gar nicht so schlimm war. Sie nahm sich vor, besonders vorsichtig zu sein und den günstigsten Augenblick abzuwarten. Aber dann dachte sie wieder daran, dass Brixton bellen würde, wenn sie an der Scheune vorbeilief.
Brixton war ein schottischer Schäferhund mit blauschwarzem Fell und bernsteinfarbenen Augen. Falls er gewusst hätte, warum sie in dieser Nacht noch unbedingt ins Dorf musste, hätte er keinen Laut von sich gegeben. Aber sie konnte ihm ja nichts erklären. Sie konnte niemandem etwas von ihrer Absicht erzählen, nicht einmal Onkel Roos, der todkrank im Bett lag.
Onkel Roos würde sterben, wenn es ihr nicht gelang, ungesehen ins Dorf zu gelangen und dort in der öffentlichen Telefonzelle hinter dem Gasthaus zu telefonieren. Dieser Anruf war ihre letzte Hoffnung.
Den ganzen Tag hindurch verrichtete Leonora wie üblich ihre Arbeiten auf dem Hof. Sie molk die Kühe früh am Morgen, lange bevor sich die nebelige Dämmerung von den Niederungen her über der kahlen Ebene ausbreitete. Sobald sie mit dem Melken und der ersten Fütterung der Kühe fertig war, machte sie in einem Bottich über dem offenen Feuer die Maische für die Schweine warm. Ein Schwein, so wurde gesagt, soll einmal am Tag eine warme Mahlzeit kriegen, damit es einmal guten Speck hergab. Erst nachdem die fünf Schweine den Trog voll hatten, machte sie Frühstück für alle, auch für die beiden Tagelöhner, die im Schuppen ihr Lager hatten. Diese beiden Männer, einer von ihnen ein stämmiger Bursche aus Irland, der andere ein drahtiger zäher Kerl aus Wales, arbeiteten zur Zeit im nahen Forst, fällten Bäume, und was vom Holz später nicht zum Sägewerk kam, wurde in vier Fuß lange Stücke gesägt und am Wegrand gestapelt und noch bevor der Winter Einzug hielt als Brennholz verkauft. Auch auf dem Hof arbeiteten sie, drüben beim Heuschuppen, wo einige morsche Dachbalken ausgewechselt werden mussten. Als alle, bis auf Onkel Roos natürlich, der seit Tagen kaum mehr etwas zu sich genommen hatte, aus dem Haus waren, entfachte sie unter dem großen Wäschezuber das Feuer. Bis Mittag blieb sie in dem kleinen Waschküchenanbau, durch dessen verwitterte Bretterwände der kalte Novemberwind pfiff. Mittagessen. Am Nachmittag strickte sie drei Stunden lang an einer Wollweste für Onkel Roos, obwohl er sie wahrscheinlich nie tragen würde. Dann holte sie mit einem Schubkarren Scheite aus dem Holzschuppen, der voll war mit Buchenholzscheiten für den bevorstehenden Winter, von dem gesagt wurde, dass er einer der längsten und härtesten des Jahrhunderts werden würde.
Die beiden Tagelöhner hatten längst mit ihrer Arbeit im Wald begonnen. Bis zum Hof drangen Axtschläge, mit denen sie einige Buchen fällten, die Cornelius Malan gekennzeichnet hatte.
Obwohl sie mit anderen Gedanken beschäftigt war, hielt sie für einen Moment inne, lauschte den Axtschlägen, die durch ein offenes Fenster drangen, durch das der Dampf abziehen konnte, und sah den drahtigen Waliser, einen Jungen in ihrem Alter, der strahlend blaue Augen hatte und saubere schöne Zähne, wie sie es bei anderen Männern noch nie gesehen hatte. Einer von der stillen Sorte war er, noch nie hatte sie ihn ein Wort sagen hören. Überhaupt, dachte Leonora, denke ich zu oft an ihn, und oft, wenn sie sich am Abend zu Bett begab, wunderte sie sich, wie leicht es ihr fiel, in Gedanken in seinen Armen einzuschlafen.
Gegen Abend kam Cornelius Malan aus dem Dorf zurück. Er war schlecht gelaunt. Solange sich Leonora zurückerinnern konnte, war er fast immer schlecht gelaunt gewesen. Für sie war er nie etwas anderes gewesen als ein finsterer, menschenfeindlicher Eigenbrötler, ein Mann, der sich selbst zur Last fiel und sich in seiner Haut nicht wohl zu fühlen schien. Heute trat er nach Brixton, als dieser wedelnd auf ihn zulief. Dann schimpfte er mit den beiden Tagelöhnern, weil sie nach seiner Ansicht zu früh mit der Arbeit aufgehört hatten. »Es wird erst in einer halben Stunde dunkel!«, hörte sie ihn in seiner herrischen Art lärmen. »Und es ist abgemacht, dass von Tagesanbruch an gearbeitet wird, bis es dunkel ist! Die halbe Stunde, die ihr versäumt habt, werde ich euch vom Lohn abziehen!«
Die beiden Tagelöhner wagten es nicht, ihm zu widersprechen. Sie konnten froh sein, dass er ihnen Arbeit gab. Es waren schlechte Zeiten. Und es wurde jetzt schnell Winter in den Hügeln südwestlich von London. Wer keine Arbeit hatte und kein Dach über dem Kopf, lief Gefahr, die kälteste Zeit des Jahres im Freien oder in einem ungeheizten Rattenloch zu verbringen.
Brixton hatte sich in seiner Hütte verkrochen, und die beiden Tagelöhner gingen in das Bretterhäuschen, wo sie sich waschen konnten. Mit kaltem Wasser. Und selbstgemachter Schmierseife aus Aschenlauge.
So war das auf dem Hof von Cornelius Malan. Es wurde hart gearbeitet. Und gespart. Das war schon immer so gewesen. Schon zu den Zeiten, als Cornelius und Roos Malan noch jeder einen eigenen Hof bewirtschafteten. Doch das war lange her. Jetzt war Roos krank. Sterbenskrank. Sein Leben hing sozusagen an einem seidenen Faden.
Cornelius Malan stampfte in die Küche, warf seinen dicken Mantel über einen Stuhl, nahm den Hut von seinem mächtigen Schädel und setzte sich hin.
»Hilf mir mal mit den Stiefeln, Leonora!«, befahl er, und sie half ihm, seine dreckbehangenen, klotzigen Lederstiefel auszuziehen.
»Wie geht es Roos?«, fragte er. »Hast du gut für ihn gesorgt?«
»Es steht schlecht um ihn«, sagte Leonora. Sie stellte die Stiefel draußen vor die Tür. Nach dem Abendessen würde sie hinausgehen und sie saubermachen. Blitzblank, frisch eingefettet und auf Hochglanz poliert - so verlangte er es. Jeden Morgen inspizierte er sie, bevor er sie anzog, aber wenn er hinausging, achtete er nicht darauf, wo er hintrat; in Pfützen, in Pferdeäpfel oder in die klebrige Lehmerde am Wegrand.
»Roos ist ein zäher alter Bursche«, sagte er und ging zum Eckschrank. Er hatte einen Schlüssel für das untere Fach, in dem er seinen Gin aufbewahrte. Und jeden Abend trank er ein wenig davon. Nie mehr als einen Schluck oder zwei.
»Hier«, sagte er. »Trink einen mit!« Er schob ihr auf dem Küchentisch ein Glas zu, aber sie wehrte ab. »Nein danke, ich will mich lieber um das Abendessen kümmern.«
»Wie du willst«, murrte er und füllte nur sein Glas. »Alt genug wärst du, um hin und wieder einen Schluck Gin zu trinken. Und schaden würde es dir bestimmt nicht!«
Er setzte sich auf die Bank beim Kachelofen. Sie wusste, dass er sie beobachtete, während sie sich am Herd und an der Anrichte zu schaffen machte. Sie spürte seine Blicke wie Feuer auf dem Rücken. Es war ein unbehagliches Gefühl, und sie ließ beinahe einen Kochtopf fallen, weil ihre Bewegungen vor Anspannung zu ungeschickt wurden, einfachste Arbeiten zu verrichten, wenn er in ihrer Nähe war.
»Du denkst bestimmt, dass es meine Schuld ist, nicht wahr?«, fragte er plötzlich.
Leonora konnte nicht verhindern, dass sie zusammenzuckte. Schnell fing sie an, Kartoffeln zu schälen. Minuten verstrichen. Draußen wurde es dunkel. Er stand auf und ging hinaus, um die Laterne vor der Haustür anzuzünden. Drüben im Schuppen brannte kein Licht. Er hatte es den Tagelöhnern nicht erlaubt, eine Petroleumlampe zu benützen, es sei denn, sie bezahlten für das Petroleum.
Er machte die Tür leise hinter sich zu und kam um den Tisch herum. Jetzt spürte sie seine Nähe. Er roch nach Tabak und nach Schweiß. Nach feuchten Kleidern. Er blieb so dicht hinter ihr stehen, dass sie seinen warmen Atem im Nacken spürte. Sie fröstelte.
»Ich habe heute Jones gesehen«, sagte er.
Sie schnitt sich mit dem Schälmesser. Nicht sehr, der Finger fing an zu bluten und er lachte auf, als er es bemerkte.
»Sachte, Mädchen«, sagte er. »Lass dich nur nicht aus der Ruhe bringen.« Er strich ihr mit den Fingern durch einige der langen Haarsträhnen, die sie mit ihrem lose geflochtenen Zopf nicht bändigen konnte. Sie hatte wunderbares Haar, widerspenstig wie sie es selbst als Kind auch gewesen war. Viele Jahre waren seither vergangen, und es war Leonora klar, dass sie sich selbst geknechtet hatte, um hier am Hof von Cornelius Malan zu arbeiten. Ob sie sich jemals von dieser Knechtschaft befreien können würde, wusste sie nicht. Sie hatte den Mut nicht mehr, sich aufzulehnen, und doch, dachte sie, würde sie vielleicht nur noch so lange hier bleiben, wie die beide Tagelöhner blieben, und sich ihnen anschließen, wenn er sie vom Hof jagte, weil er sie nicht mehr brauchte.
Er gab ihr einen Klaps auf den Hintern und ging dann lachend zurück zur Ofenbank. Dort setzte er sich und trank einen Gin. »Eines Tages kriechst du zu mir ins Bett wie eine frierende Hündin«, sagte er spöttisch, während er sie betrachtete. »Was macht dich so stolz und unnahbar, als wärst du ein besonderes Weib und nicht nur ein Magd in meinem Haus? Du würdest eher mit Brixton schlafen als mit mir, nicht wahr?«
Leonora schwieg. Sie leckte das Blut vom Finger und arbeitete weiter.
»Ich habe Jones gefragt, was er noch in dieser Gegend verloren hätte«, sagte er. »Und weißt du, was er mir darauf zur Antwort gegeben hat?«
»Es interessiert dich doch, was er gesagt hat, nicht wahr? Es interessiert dich, aber du tust, als ob es dich nicht interessieren würde. Warum sagst du nicht, dass es dich interessiert, verdammt. Warum bist du so starrköpfig?«
Sie hörte ihn trinken und schnaufen.
»Ich sag’s dir, was er gesagt hat. Er hat gesagt, dass er dich eines Tages heiraten wird.«
Jetzt hob sie den Kopf. »War er betrunken?«, fragte sie, ohne sich nach ihm umzusehen.
»Er stand an der Theke und trank Ale. Ob er betrunken war oder nicht, weiß ich nicht. Aber ich habe ihm gesagt, dass er sich zum Teufel scheren soll, bevor ich ihm das Kreuz breche.«
Jetzt klang seine Stimme rau und hart. Sie brauchte sich nicht umzudrehen, sie kannte ihn gut genug, um sich vorzustellen, wie er jetzt aussah. Der kantige Schädel mit dem immer leicht geröteten Gesicht. Die gefährlichen Augen, in denen sich Misstrauen spiegelte, und der Hass, der wie Feuer im Innern dieses Mannes glühte.
»Eines Tages werde ich ihm Beine machen«, sagte er. »Bildet sich ein, er könnte hier für Unfrieden sorgen, dieser dahergelaufene Strolch. Als ob wir auf solche Leute warteten.«
»Er war ein guter Feldarbeiter«, sagte Leonora. »Onkel Roos kam gut mit ihm zurecht.«
»Der käme sogar mit dem Teufel gut zurecht«, antwortete Cornelius Malan scharf. »So war das schon früher. Immer kam er mit allen Leuten gut zurecht. Und dann haben sie ihn übers Ohr gehauen, haben ihn nach Strich und Faden betrogen, tanzten ihm auf dem Kopf herum, und er konnte sich nie dagegen wehren, weil er ein zu guter Mensch war.«
»Ist«, entfuhr es Leonora, und sie legte schnell die Hand vor den Mund, aber um das Wort zurückzuhalten, war es jetzt zu spät. Hinter ihr blieb es still. Sie hörte die Uhr an der Wand ticken und ihr Herz schlagen, und sie wartete darauf, dass er einen seiner lästerlichen Flüchen ausstoßen würde, aber er rückte nur den Stuhl hart zurück, erhob sich und ging zum Schrank und goss sich noch ein Glas voll. Das tat er sonst nie. Nicht einmal an einem Feiertag. Er trank nie mehr als ein Glas.
Leonora zerschnitt die Kartoffeln und tat sie ins Wasser. Dann blies sie mit dem Balg ins Herdfeuer.
»Natürlich lebt er noch«, sagte er plötzlich. »So leicht krepiert ein Malan nicht. Und Roos ist zäh wie ein Hanfstrick. Ich bin sicher, dass er wieder gesund wird.«
»Vielleicht sollte man einen Arzt herholen«, sagte Leonora halblaut.
»Blödsinn!«, fuhr er auf. »Du weißt, was er von Ärzten hält. Die machen alles nur schlimmer. Wenn du nicht krank bist und du gehst zu einem Arzt, wirst du krank. Und wenn du krank bist und du gehst zu einem Arzt, krepierst du. So einfach ist das. Roos braucht keinen Arzt. Alles, was Roos braucht, ist ein Schluck Gin.«
Er nahm den Schnapskrug und ein Glas. Lachend verließ er die Küche. Sie hörte ihn den schmalen Flur entlang nach hinten gehen, wo die Schlafkammern waren. Er rief nach seinem Bruder Roos. Aber Roos gab ihm keine Antwort. Roos war schon beinahe tot, und jeden Tag starb er ein bisschen mehr.
Nachdem Leonora den beiden Tagelöhnern eine Schüssel mit Stew vorgesetzt hatte, gab sie Brixton einen Knochen und goss frisches Wasser in seinen Napf. Sie blieb eine Weile bei ihm, kauerte sich nieder und sah ihm zu, wie er zähnefletschend am Knochen nagte.
»Ich werde mich heute Nacht davonschleichen«, flüsterte sie ihm zu. »Sei nur schön brav und weck mir nicht Onkel Cornelius auf.«
Manchmal schien es, als könnte er Menschen verstehen. Manchmal hatte er einen klugen Ausdruck in den Augen. Aber jetzt war er zu sehr mit dem Knochen beschäftigt, und so stand Leonora auf und ging ins Haus zurück.
Es war warm im Wohnzimmer. Sie setzte sich unter die Lampe und flickte die Wäsche von Cornelius Malan, der draußen beschäftigt war. Als er zurückkam, setzte er sich auf die Bank des Kachelofens und las in einem Buch. Manchmal blickte er zu Leonora hinüber, aber sie sah nicht ein einziges Mal von ihrer Arbeit auf.
Gegen neun Uhr bereitete sie ihm warmes Wasser, da-mit er sich waschen konnte. Dies pflegte er in seinem Zimmer zu tun. Sie sah ihn danach nicht mehr, denn er ging früh zu Bett und schlief meistens sofort ein. Er hatte einen leichten Schlaf, das wusste sie. Wenn Brixton auch nur einen Laut von sich gab, wachte er auf. Einmal hatte er daraufhin mit seiner Schrotflinte einen wilden Hund niedergestreckt, der drüben beim Hühnerhaus herumstrich.
Leonora sah noch nach Roos. Er schlief. Sein eingefallenes Gesicht war wachsbleich. Die Haut schimmerte durchsichtig wie altes fleckiges Pergamentpapier. Er hatte den Mund halb geöffnet. Fäden zogen sich von seiner Oberlippe zur Unterlippe. Eingetrocknete Speichelfäden. Sein Atem ging rasselnd.
Sie legte ihre Hand gegen seine feuchte Stirn. Sie war kalt. »Ich werde nicht zulassen, dass er dich umbringt, Onkel Roos«, flüsterte sie mit angehaltenem Atem. »Du musst nur ausharren, hörst du. Du musst nur noch einige Tage ausharren.«
Roos Malan regte sich nicht.
Vor der Finsternis fürchtete sie sich nicht. Auch nicht vor dem Nebel, der sich über der Ebene bis zu den Hügeln hin ausgebreitet hatte. Der Wind bewegte ihn, wehte ihn zu hauchdünnen Schleiern auf, die sich schwebend in geisterhafte Gestalten verwandelten.
Leonora blickte aus dem Fenster zu den Hügeln hinüber, die sich wie Buckel riesiger Urwelttiere aus dem Grau hoben, dunkel, jetzt mit Stoppeln bedeckt, wo sich die abgeernteten Felder befanden.
Im Hof war alles still. Brixton hatte sich satt gefressen. Jetzt schlief er. Normalerweise gab sie ihm am Abend nie zu fressen. Cornelius Malan wollte es nicht. Weil vollgefressene Hunde schlechte Wächter waren. So kriegte Brixton sein Futter jeweils morgens.
Leonora hatte den Mantel längst angezogen. Es war kalt draußen, und die Kälte drang durch das Backsteingemäuer in das Wohnhaus. Nur in der Küche war es noch warm, aber bis zum Morgen würde auch das Feuer im Kachelofen bis auf ein kleines Glutnest unter der Asche aus sein.
Eine Stunde war vergangen, seit sich Cornelius Malan zu Bett begeben hatte. Sie hörte ihn. Er schnarchte nicht laut, aber die Wände waren dünn. Man konnte es sogar hören, wenn im Nebenraum jemand Zwieback aß. Roos zum Beispiel. Beim Frühstück. Hin und wieder ließ er sich dazu überreden, ein Zwieback zu essen.
Unter dem Mantel trug Leonora das Nachthemd, das ihr bis zu den Fußknöcheln reichte. Sie hatte ihre Sportschuhe angezogen, die mit den dicken Kreppsohlen. Das Gesicht würde sie mit dem dunklen Wollschal bedecken, so dass man sie im Dorf nicht erkannte. Die Leute brauchten nicht zu wissen, was hier draußen vor sich ging. Die Leute brauchten überhaupt nichts zu wissen, damit nicht noch mehr Gerüchte aufkamen, schlimme Geschichten, die hinter vorgehaltener Hand von Mund zu Mund gingen und sich laufend veränderten.
Leonora fürchtete nur Cornelius Malan, den jüngeren Bruder von Roos. Er war ebenfalls ihr Onkel, aber schon als Kind hatte sie sich nie zu ihm hingezogen gefühlt, im Gegenteil, er war ihr furchtbar unheimlich gewesen. Im Gegensatz zu Roos. Roos hatte gute, warme Augen. Und er war ein ehrlicher Mensch, ganz gleich, was die Leute sagten. Die Leute wussten nichts über ihn. Aber sie redeten. Sie redeten über beide gleichermaßen.
Leonora entschloss sich, nicht mehr länger zu warten. Sie löschte das Licht bei ihrem Bett und ging auf den Zehenspitzen zur Tür. Dort verharrte sie eine Weile und lauschte. Eine der Kühe bewegte sich im Stall. Sonst war alles still draußen. Und die leise schnarchenden Atemzüge von Cornelius Malan waren regelmäßig.
Leise drückte Leonora die Klinke nieder. Die Tür gab nach, öffnete sich ein Stück und gab dann ein ächzendes Geräusch von sich, bei dem Leonora zusammenfuhr. Einen Augenblick lang hatte sie das Gefühl, als würde ihr Herz stillstehen. Sie bewegte sich nicht mehr. Mit angehaltenem Atem lauschte sie, hörte aber nichts mehr. Nicht das geringste Geräusch. Kein Schnarchen. Nichts.
Sie wagte es nicht weiterzugehen. Aber sie wagte auch nicht mehr, die Tür wieder zu schließen und zum Bett zurückzukehren. So stand sie da, ohne sich zu rühren, starrte in den schwarzen Flur hinein und betete lautlos, dass Cornelius Malan sie nicht entdecken würde. Leonora wusste nicht, wie viele Minuten vergangen waren, als sie das Knarren des Bettes aufschreckte. Ihr Onkel hatte sich umgedreht. Das tat er oft. Und jedes Mal ächzte sein Bett. Ganz leise folgten diesem ihr vertrauten Geräusch die ersten schweren Atemzüge. Cornelius Malan schlief wieder, falls er überhaupt wach gewesen war. Im nächsten Moment war Leonora draußen im Flur und drückte die Zimmertür hinter sich ganz sanft ins Schloss. Auf den Zehenspitzen schlich sie zur Haustür, die wie immer von innen verriegelt war. Sie hatte noch am Mittag den schweren Eisenriegel geölt, so dass er sich leichter öffnen ließ. Brixton durfte unter keinen Umständen erwachen. Er hätte sofort angeschlagen.
Leonora zog die Tür hinter sich zu, so behutsam, dass nicht das geringste Geräusch zu hören war. Trotzdem erwachte Brixton. Sie sah, wie er die Augen aufmachte und herüberschielte, ohne seinen schwarzen Kopf von den Pfoten zu heben.
Er sah sie ganz gewiss. Aber er rührte sich nicht. Guter alter Brixton, dachte sie. Sie warf einen Blick zum Verschlag hinüber, wo die beiden Tagelöhner hausten. Sie schliefen wohl beide. Leonora ging langsam über den Platz. Brixton beobachtete sie, beobachtete jede ihrer Bewegungen, aber er gab keinen Laut von sich.
Um zu dem alten Feldweg zu gelangen, der von Cornelius Malans Hof ins Dorf führte, musste sie am Schuppen vorbei und am Zaun der großen Koppel entlang. Es war unmöglich, die Hundehütte zu umgehen. Sie musste direkt an der Öffnung, aus der Brixtons Pfoten und seine Schnauze ragten, vorbei. Aber selbst jetzt rührte er sich nicht vom Fleck, schaute ihr nur nach, wie sie zum Schuppen hinüberlief und hinter der Bretterwand verschwand. Jetzt hatte sie offenes Land vor sich, und nichts sollte sie mehr aufhalten. Sie rannte den Koppelzaun entlang, erreichte den Rand der Senke und verschwand im Dickicht, durch das mehrere schmale Wildwechsel führten. Es war ziemlich dunkel, und sie musste vorsichtig sein, um nicht gegen Astwerk zu laufen. Nebel kroch durchs Gestrüpp, nahm sie auf wie eine schützende Decke. Sie kannte das Dickicht, wusste, wohin die schmalen Pfade führten, die auch vom Vieh benutzt wurden, um zur Tränke zu gelangen.