Christian Schwab:
Oh mein Gott! 5 Weltreligionen in 5 Monaten: ein Selbstversuch
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© edition a, Wien
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Lektorat: Maximilian Hauptmann
Cover: Jaehee Lee
ISBN 978-3-99001-256-7
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
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Für Niko, meinen Papa.
Nicht mehr da, wo du warst, aber überall dort, wo ich bin.
(nach Victor Hugo)
24. Dezember 2016, Heiliger Abend
Ich sehe einen kleinen Christbaum, vielleicht einen Meter hoch, schlicht und von meiner Mutter geschmackvoll geschmückt, mit roten Kerzen und roten Kugeln. Leider steht dieser Baum nicht bei ihr im Wohnzimmer. Er steht auf dem Friedhof. Er ist für meinen Papa.
Nikolaus Schwab 24. Juni 1944 – 18. November 2014. Das steht auf der Steintafel hinter dem Christbaum, und ich kann diese eingravierte Inschrift noch so oft lesen – dass mein Vater vor etwas mehr als zwei Jahren plötzlich verstorben ist, will und kann ich bis heute nicht glauben. Herzinfarkt im Auto, bei der Heimfahrt von einem gemütlichen Hallenfußballspiel mit Freunden. Er hatte nie schwere gesundheitliche Probleme gehabt. Allerdings war mein Papa seit seinem elften Lebensjahr zuckerkrank, deswegen hatte ich stets die Angst, dass er nicht an der Zuckerkrankheit selbst, sondern an den jahrelangen körperlichen Abnützungserscheinungen sterben würde. So ist es dann wohl auch gekommen.
Aus der Kirche neben dem Grab ist eine Ziehharmonika zu hören, sicherlich ein Weihnachtslied, ich kann aber nicht heraushören, um welches es sich handelt. Es ist knapp nach 16 Uhr, die Kinderchristmette dürfte soeben begonnen haben. Mein Vater darf noch nicht hier auf diesem Friedhof liegen, nein, er müsste jetzt in der Kirche sitzen, um dort den Zeremonienmeister zu geben, wie er es so viele Jahre getan hat. Obwohl er einen gesunden Abstand zur katholischen Kirche hatte, war mein Papa stark in der kirchlichen Gemeinschaft von St. Jakob verankert. Er hielt Lesungen bei Messen, aber vor allem wurde er für seine einfühlsamen, sehr persönlichen Trauerreden bei Begräbnissen geschätzt. Er hat sie auch für Menschen gehalten, die aus der katholischen Kirche ausgetreten sind. Ebenso hat er als Theaterliebhaber für die Dramaturgie bei Anlässen wie etwa dieser Kinderchristmette gesorgt.
Und deshalb stelle ich mir die Frage: Warum musste er mit siebzig Jahren gehen? In dieser guten körperlichen und geistigen Verfassung? Ist Gott so brutal? Bringt es nichts, sich in der Kirche zu engagieren? Aber wenn ich weiterdenke, dann sehe ich das vielleicht falsch – mein Vater durfte trotz seines Diabetes I siebzig Jahre alt werden. Nicht nur einmal in seinem Leben hatte mein Papa Glück. In seiner Jugend zum Beispiel hat er die ein oder andere nicht ungefährliche medizinische Untersuchung, später so manchen Hypo (Kurzform von Hypoglykämie – starke Unterzuckerung) gut überstanden. Ich habe keine Antworten auf diese Fragen, und selbst wenn ich welche hätte, der Schmerz würde nicht vergehen, Wut und Trauer würden nicht kleiner werden.
Dort, wo das Wissen aufhört, fängt der Glaube an, sagt man so schön. Ich zünde die Kerze an, die ich für meinen Papa mitgebracht habe, setze sie behutsam auf sein Grab und stelle mir an diesem Heiligen Abend selbst die Gretchen-Frage: Wie hast du es mit der Religion?
Nachdem ich keine schnelle Antwort finde, kehre ich wieder in Gedanken zurück zu meinem Papa, beginne – wie immer an seinem Grab – ein innerliches Zwiegespräch, wische mir die eine oder andere Träne aus den Augen, verabschiede mich und beschließe dann, doch noch einen Sprung in die Kirche zur Kinderchristmette zu machen. Auch letztes Jahr habe ich sie besucht, mit meiner Mutter, meinem Bruder, seiner Frau und ihren beiden Zwillingskindern Anna und David, damals knapp ein Jahr alt. Die Kirche war voll, es hatte den Anschein, als wollte sich niemand aus den umliegenden Häusern am Fuße der gelben St. Jakober Kirche diese Messe vor der Bescherung am Heiligen Abend entgehen lassen. Waren wirklich alle da? Nein, einer kam nicht – der Pfarrer selbst. 2015 ist in die Kirchengeschichte von St. Jakob eingegangen als das Jahr, in dem kein Pfarrer am Heiligen Abend in die Kirche gekommen ist.
Wie immer in kirchlichen Angelegenheiten gibt es in solchen Fällen einen offiziellen und einen inoffiziellen Grund. Der offizielle war: organisatorische Gründe. Der inoffizielle war, zumindest machte dieses Gerücht Tage später die Runde, dass der Pfarrer Weihnachten schon etwas vorgefeiert hatte, um es vorsichtig zu formulieren.
Ich habe damals zu den Leuten gesagt, seht es positiv, überall sonst sieht man in der Kirche nur noch den Pfarrer, aber keine Leute mehr. In St. Jakob ist es genau umgekehrt.
Meine Familie hat daher beschlossen, heuer gleich zuhause zu bleiben. Sie waren scheinbar die Einzigen, denn als ich die schwere Eisentüre zur Kirche öffne, kann ich gerade mal einen Schritt machen, mehr Platz ist nicht. Ich blicke zum Altar. Komisch, Pfarrer ist wieder keiner zu sehen, obwohl die Messe schon hätte beginnen müssen.
Ich frage den Herren neben mir: »Wieder kein Pfarrer hier?«
»Scheint so, die Kinder spielen schon zwanzig Minuten Lieder.«
Doch unser Dialog wird von einem Gemurmel vor uns unterbrochen, ich höre die Worte: »Ich glaube, jetzt tut sich was.«
Tatsächlich, die Glocken werden geläutet, die Ministranten kommen aus der Sakristei, dahinter der Pfarrer, doch es ist nicht der Pfarrer, den ich erwartet hatte – sondern ein Inder im Talar. Musste ein Hindu plötzlich einspringen, weil unser katholischer Diener Gottes wieder irgendwo mit organisatorischen Problemen zu kämpfen hat?
Die Sache hat sich rasch aufgeklärt. Der neue Pfarrer ist einfach aus Indien. Ja, anscheinend gibt es auch dort Leute, die dem katholischen Glauben angehören. Wenn man, so wie ich, wirklich nur zu den heiligen Zeiten in der Kirche vorbeischaut und noch dazu mittlerweile knappe 300 Kilometer weit entfernt vom Heimatort lebt, kriegt man solche Änderungen eben nicht mit.
»Zunächst möchte ich sagen – tut mir leid.« Der indische Pfarrer beginnt mit diesen Worten die Messe. Seine freundliche Ausstrahlung nimmt gleich die ganze Kirche ein, dennoch, ein katholischer Pfarrer aus Indien ist für mich ein genauso ungewöhnliches Bild wie der zweite Platz für Bayern München in der Deutschen Bundesliga.
Nach den Begrüßungsworten des Pfarrers quält ein kleines Mädchen ihre Geige, ich bilde mir ein, dass ich ein »Alle Jahre wieder« erkennen kann. Ich stelle mir meinen Papa neben mir vor und wie wir beide schmunzeln müssen.
Meine Gedanken schweifen zurück in meine Kindheit, als ich in St. Jakob am Altar neben dem Pfarrer gestanden, gesessen und gekniet habe. Damals war ich Ministrant. In der Schule bekam ich von Pater Wild Religionsunterricht. Der Pater stellte sich mit den Worten vor: »Ich heiße Wild, bin nicht wild, kann aber wild werden.« Das war er eigentlich nie, außer ich habe bei der Wandlung zu wenig Wein und zu viel Wasser in den Kelch geschüttet. Dann wurde mir schon das eine oder andere Mal ein »Nicht so viel Wasser!« in der Kirche zugeflüstert. Ebenso trank Pater Wild bei Hausbesuchen in seiner Gemeinde gerne den einen oder anderen Schnaps, aber nie so, dass er dadurch organisatorische Schwierigkeiten bekommen hätte.
Ministrieren empfand ich als schöne Aufgabe, neben den normalen Messen gab es auch viele Begräbnisse und Hochzeiten, bei denen ich als Ministrant dabei war. Ich denke, auf eine Hochzeit sind ungefähr zehn Begräbnisse gekommen, so gab es für mich schon sehr früh in meinem Leben eine häufige Auseinandersetzung mit dem Tod. Allerdings hatte ich damals noch die kindlich naive Vorstellung, dass es dann im Himmel locker weitergeht und sich alle, die jetzt noch am Grab stehen und trauern, wiedersehen werden.
Überhaupt war ich als Kind sehr im katholischen Glauben eingebettet und eingebetet. »Jesu Kindlein komm zu mir, mach ein frommes Kind aus mir, mein Herz ist rein, darf niemand hinein, außer du, mein liebes Jesulein.« Das war mein katholisches Mantra beim Schlafengehen, ich kann es jetzt noch auswendig. Meine Oma erklärte mir auch alle katholischen Bräuche und Sitten; den Religionsunterricht, die Vorbereitungskurse zur Erstkommunion und Firmung gab es dann noch quasi von offizieller Seite dazu. Darüber hinaus nahm ich an vielen Krippenspielen teil und zwei Jahre lang rückte ich auch als Sternsinger aus, und auch das hat mir gefallen.
Insgesamt kann ich also behaupten, dass ich mich in diesem katholischen Umfeld, im katholischen Jahreskreislauf, geborgen fühlte. Vielleicht ist das mittlerweile eine verklärte Sicht der Dinge, aber so habe ich diese Zeit in Erinnerung. Ein schönes Gefühl, das sich erstmals bei einem sogenannten Ministrantenlager änderte. Es gab zur Nachmittagsjause Marmeladenbrote, und ich mag einfach keine Marmeladenbrote. Mir grauste als Kind vor Marmeladenbroten ungefähr so wie heute den RTL-Dschungelcamp-Kandidaten, wenn sie bei den Dschungelprüfungen Kakerlaken oder Känguruhoden vorgesetzt bekommen. »Ich bin ein Schwab – holt mich hier raus!«, dachte ich mir damals, als ich mein Marmeladenbrot nicht essen wollte, aber die Pastoralassistentinnen, die Tagesaufsicht hatten, sagten: »Du bleibst so lange hier sitzen, bis das Marmeladenbrot weg ist.« Und das war vollkommen ernst gemeint und mit Nachdruck gesagt.
Erst nach zwei Stunden Hungerstreik und einem kleinen Bissen vom Marmeladenbrot durfte ich vom Tisch aufstehen. Ein Ereignis, das mich nachhaltig geprägt hat. Damals dachte ich mir zum ersten Mal, dass in diesem Verein doch nicht alles so in Ordnung ist, wie ich gedacht hatte.
Vielleicht war das schon der Beginn einer kleinen jugendlichen Revolution gegen die katholische Kirche, die schließlich dazu führte, dass ich mit zwanzig Jahren aus dieser austrat. Ich wollte eigentlich nur über die Kirchensteuer verhandeln, aber die Sekretärin beim Amt für die Kirchensteuer nervte mich damals mit ihrem biederen und verhärmten Auftreten. Auf jeden Fall konnte ich mit ihr über die Senkung meines Kirchensteuerbetrags nicht verhandeln, und ich sagte dann einfach: »Wissen Sie was, streichen Sie mich überhaupt raus. Ich kündige die Mitgliedschaft in Ihrem Verein.« Auf Nachfrage, ob es mit der Kirchensteuer zu tun habe, antwortete ich, nicht nur deshalb, ich konnte auch mit der ganzen Sache überhaupt nicht mehr viel anfangen. Ich denke, mit den ersten Missbrauchsvorfällen, die damals bekannt wurden, hatte das nichts zu tun, auf jeden Fall habe ich dieses Argument ausgelassen. Sie waren also nicht der entscheidende Grund. Meine Kündigung bei der katholischen Kirche passierte eher aus einer Laune heraus. Die Tatsache, dass danach mein Vater von einem Vertreter des Kirchenamts angerufen wurde, der ihn fragte, wie es so weit kommen konnte und ob er das nicht hätte verhindern können, hat meinen Entschluss nicht rückgängig gemacht. Eher hat es mir bewiesen, den richtigen Schritt getan zu haben.
Seitdem lebe ich ohne Bekenntnis. Gott und Religionen beschäftigen mich trotzdem noch immer. Dieses Thema hat bei mir schon immer einen großen Raum eingenommen, ob beruflich als Kabarettist oder auch beim ganz privaten Nachdenken, wobei man Berufs- und Privatleben bei einem Kabarettisten wohl nie ganz trennen kann. Was ist im Namen Gottes nicht alles schon Schreckliches auf der Welt passiert. Religionen predigen nach außen den Weltfrieden, doch ist es nicht so, dass es erst Frieden auf der Welt geben wird, wenn es keine Religionen mehr gibt? Das sind die Fragen, die ich mir stelle. Millionen Menschen wurden im Lauf der Geschichte umgebracht, weil irgendjemand überzeugt war, er glaube an den richtigen Gott. Früher ist man mit Schwertern in Dörfer eingefallen, hat Häuser angezündet, wenn sich Leute nicht zum richtigen Glauben bekehren wollten. Heute fahren sogenannte Gotteskrieger mit einem Lastwagen in Menschenmassen, wie in Berlin geschehen oder auf der Strandpromenade von Nizza. Früher wurden Frauen mit roten Haaren öffentlich verbrannt, heute werden Comic-Zeichner erschossen, weil sie provokante Karikaturen veröffentlichen.
In meinen Augen ist es eine Anmaßung, zu glauben, dass alles sei wirklich Gottes Wille. Man könnte meinen, dass die meisten von uns sich mittlerweile Religionen gegenüber, vor allem der eigenen, aufgeklärt, abgeklärt und gelassen verhalten. Dennoch: Wenn Religionen und gläubige Menschen kritisiert werden oder ich Scherze auf der Bühne oder im Radio machte, dann habe ich bemerkt, wie schnell die Toleranzgrenze erreicht ist, oder wie oft auch heute noch der Satz fällt: »Darüber braucht man wirklich keine Schmähs machen.«
Auf meiner Top-3-Hitliste von Personen, die sich nach meinen Beiträgen bei mir beschweren, liegen nach 14 Jahren Comedy-Autor im Ö3 Wecker noch vor den Lehrern und den Tierschützern die Religionsfanatiker.
Nach jeder noch so kurzen Papstparodie gibt es sicher mindestens einen, der sich folgendermaßen beschwert: »Machen Sie das einmal beim Islam. Ihnen würden die Hände abgehackt werden.«
Zurück in der Kirche von St. Jakob bei St. Andrä im Lavanttal. Mittlerweile finde ich den indischen Pfarrer grandios. Er zeigt und beweist in einem kleinen beschaulichen Kärntner Dorf, wie bunt und groß die Welt ist. Und er bestärkt mich gerade in einer Idee, die schon länger in meinem Kopf rumschwirrt. Ich werde mich intensiv mit den fünf Weltreligionen auseinandersetzen, indem ich versuchen werde, ein Monat in jeder dieser Religionen zu leben, ganz nach ihren Regeln und Bräuchen. Ich möchte herausfinden, was jede Religion aus mir macht, wie sie mich verändert, wie ich sie am Anfang sehe und wie ich sie dann am Ende einschätze. Finde ich am Ende etwas, wenigstens mich selbst oder gar Gott?
Auf alle Fälle ist das mal ein etwas anderer Neujahrsvorsatz. Mit dem Rauchen aufhören brauche ich nicht, weil ich nie angefangen habe. Meine Sportbilanz passt auch und mein Alkoholkonsum hält sich ebenso in Grenzen.
Daher lautet mein Neujahrsvorsatz 2017: 5 Weltreligionen in 5 Monaten.
Als sich eine junge Mutter mit einem unruhigen Kind aus der Kirche schleicht, nutze ich diese Gelegenheit und schleiche mit ihr raus. Mein Kirchenbesuch hat sich mehr als bezahlt gemacht, und wenn ich jetzt gehe, erspare ich mir vielleicht auch eine schräge Stille-Nacht-Version auf der Geige. Außerdem habe ich versprochen, dass ich um 17 Uhr bei meiner Mama zum Weihnachtsessen bin, die traditionellen Schinkenrollen warten. Doch nicht nur die, auch meine Freundin Heidrun, unsere zehn Monate alte Tochter Ivy und eine Frage, die wir noch nicht geklärt haben: Sollen wir Ivy taufen lassen oder nicht?
Nach fünf Monaten werde ich mehr wissen. Möglicherweise habe ich das richtige für meine Tochter gefunden, oder ich kann ihr zumindest in ein paar Jahren beratend zur Seite stehen. Denn welcher Teufel mich auch immer geritten hat, ich werde tatsächlich alle Weltreligionen testen. Wenn mittlerweile ein Inder Pfarrer in St. Jakob sein kann, dann kann ich doch wohl locker für einen Monat lang Jude, Buddhist, Hindu, Muslim und auch wieder mal Katholik sein. So wahr mir Gott helfe!
»Sie wissen ja wirklich gar nichts.«
»Jetzt, wo ich Ihnen so zuhöre, haben Sie eigentlich vollkommen recht. Ich habe keine Ahnung.«
»Wenigstens sind Sie ehrlich. Ein ehrlicher Mensch. So wie der Mann mit dem Koffer. Es gibt eine Geschichte um den Mann mit dem Koffer im Judentum, kennen Sie die? Ein Jude kommt am Flughafen an, geht auf einen Mann zu und fragt ihn: Sind Sie Antisemit? Sagt der Mann entrüstet: Ich bin doch kein Antisemit! Dann geht er zu einem zweiten Mann und sagt: Dein Vater war ein Nazi. Sagt dieser: Mein Vater war sicher kein Nazi! Dann geht er zum dritten und sagt das Gleiche. Darauf sagt dieser: Ja, Sie haben recht, mein Vater war ein Nazi. Sagt der Jude, Sie sind ein ehrlicher Mensch. Passen Sie mir auf meinen Koffer auf, während ich auf die Toilette gehe.«
Der Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg sitzt im traditionellen Café Hawelka neben mir, vor uns auf dem Tisch steht ausgerechnet ein Christbaum, wir haben jeder eine Melange vor uns stehen. Ich versuche Paul Eisenberg, der bis Juni 2016 35 Jahre lang Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien war, als meinen jüdischen Meister Yoda zu gewinnen. Er soll mir die Tür ins Judentum öffnen, mir sagen, was ich machen darf und kann, und mir vor allem seinen Segen für mein Experiment geben.
»Was haben Sie eigentlich vor?«, fragt er mich.
»Es ist so, Herr Oberrabbiner, ich möchte alle Weltreligionen näher kennenlernen. Und gebe mir für jede Religion einen Monat lang Zeit. Was sagen Sie dazu?«
»Als Jude finde ich es ein bisschen peinlich. Wäre ich Buddhist, wäre es mir vielleicht wurscht.«
Doch der Oberrabbiner scheint mir wohlgesonnen zu sein, das habe ich schon am Telefon gemerkt, als wir unseren Termin vereinbarten. »Kommen Sie heute gleich um 17:30 Uhr zum Chanukka-Kerzenanzünden ins Jüdische Museum, dann bekommen Sie schon mal eine Einstimmung«, hatte er mir geraten. »Und danach gehen wir auf einen Kaffee. Ich habe genau eine Stunde Zeit für Sie persönlich.«
Mit den Comedy-Hirten, einer Kabarettgruppe, deren Mitglied ich bin, treten wir oft im Casanova Wien auf, ein Lokal im 1. Bezirk, nur ein paar Schritte entfernt vom Jüdischen Museum. Daher bin ich schon oft daran vorbeigekommen. Und oft habe ich mir gedacht: Geh doch mal rein und schau dir das an. Aber es ist doch immer das Gleiche: Kommt man oft an einem Ort vorbei, denkt man sich: Geh, das kannst beim nächsten Mal auch noch machen. Und dann macht man es nie. Kurz vor 17:30 Uhr öffne ich die Tür zum Jüdischen Museum und gehe den kleinen Gang hinein. Dort sehe ich ihn schon stehen und in einem Buch blättern. Oberrabbiner Paul Eisenberg ist etwas kleiner, als ich dachte, dafür ist sein Bauch auch etwas größer, als ich dachte. Dieser gibt dem 66-jährigen Mann mit weißem Bart und Brille eine gewisse Gemütlichkeit. Vom ersten Moment an strahlt der Oberrabbiner für mich Weisheit aus. Er spricht mit einer Bestimmtheit, die mich schon am Telefon beeindruckt hatte.
»Sie kommen gleich mit. Jetzt machen wir das Kerzenanzünden. Und dann warten Sie auf mich, dann gehen wir auf einen Kaffee«, wiederholt Eisenberg, was er bereits am Telefon gesagt hatte.
Ich bedanke mich und sage ihm, dass ich mich freue, Chanukka kennenlernen zu dürfen. Das ist mitunter ein Grund, warum ich das Judentum als erste Religion für mein Experiment ausgewählt habe. Seit 19 Jahren fällt Chanukka wieder mit unserem Weihnachtsfest zusammen. Der zweite Grund ist, dass das Judentum die älteste Buchreligion ist, wie man so schön sagt. Das Motto lautet also: zurück zum Ursprung.
Es ist 17:30 Uhr und die Zeremonie des Kerzenanzündens beginnt. Auch wenn hier im Inneren des Jüdischen Museums wohl eher die touristische Variante stattfindet, mit vielen Erklärungen, bin ich selig, bei Chanukka dabei sein zu dürfen. Der kaufmännische Direktor des Jüdischen Museums begrüßt die Gäste, während wir ein Infoblatt bekommen, auf dem die Geschichte des Festes erklärt wird.
Jüdische Kämpfer unter Führung der Makkabäer hatten sich erfolgreich gegen die syrisch-griechische Fremdherrschaft aufgelehnt und den Jerusalemer Tempel wieder in Besitz genommen. Um jedoch die Menora, den siebenarmigen Leuchter im Tempel, anzünden zu können, brauchten sie geweihtes Öl. Die Legende besagt, dass sie nur eine kleine Menge an Öl fanden, und dass diese Menge nur für einen Tag gereicht hätte. Wie durch ein Wunder brannte die Menora aber acht Tage. An diese Geschichte erinnert das Anzünden der Lichter. Die neunte Kerze dient zum Anzünden der anderen Lichter und heißt auf Hebräisch »Schamasch« (Diener).
Ich weiß jetzt, was Chanukka ist, innerlich berührt hat es mich ehrlich gesagt nicht wirklich. Dazu fehlt mir wohl der Bezug, ich bin nicht mit dieser Tradition aufgewachsen. Vielleicht ist es etwas respektlos, aber mir scheint, ein beleuchteter Christbaum ist eindrucksvoller als ein Kerzenständer.
Ich muss an das bevorstehende Gespräch mit dem Rabbiner denken und habe etwas Angst, dass er mich und meine verrückte Buchidee gleich abweisen könnte. Auch weiß ich nicht besonders viel über das Judentum. Von Chanukka habe ich natürlich schon gehört, ebenso von anderen jüdischen Festen wie zum Beispiel dem Pessachfest. Die genauen Hintergründe sind mir aber nicht bekannt. Auch die Bar Mizwa ist mir bekannt und ein paar jüdische Begriffe wie meschugge, Mischpoche oder Tacheles, aber was sie wirklich bedeuten, weiß ich nicht so recht. Gebetet wird in der Synagoge, die Tora ist die Heilige Schrift der Juden, den Talmud gibt es auch noch, Juden tragen eine Kippa, und einmal in der Woche ist Sabbat. Koscher ist noch so ein Wort, das ich gut kenne. Und Beschneidung und Schächten sind auch zwei Begriffe, die mir zum Judentum einfallen.
Dieses Vorwissen, besser gesagt dieses Nicht-Vorwissen, erzähle ich auch dem Oberrabbiner und wir einigen uns darauf, dass ich ins Judentum eintauchen möchte, und der Oberrabbiner wird versuchen, mich nicht einzutunken.
Es gibt drei Sachen, die ich im nächsten Monat als Jude beherzigen muss.
1. Die Tora studieren,
2. den Gottesdienst in der Synagoge besuchen und
3. gute Taten vollbringen, ein guter Mensch sein.
Wobei Eisenberg beim dritten Punkt hinzufügt, dieser sei selbstverständlich kein Alleinstellungsmerkmal des Judentums.
Darüber hinaus gibt es natürlich noch das koschere Leben und den Sabbat. Wobei der Oberrabbiner selbst sagt, dass nur etwa zwanzig Prozent der etwa 15.000 in Österreich lebenden Juden (die meisten davon sind in Wien zuhause) ganz koscher und völlig nach den Gesetzen des Sabbats leben.
»Hier gibt es natürlich auch eine Überschneidung«, führt der Oberrabbiner weiter aus. »Wenn ein Jude koscher lebt, wird er auch den Sabbat einhalten und umgekehrt.«
Im nächsten Monat möchte ich nicht nur die drei oben angeführten Punkte hochhalten, ich werde auch versuchen, zu diesen zwanzig Prozent zu gehören. Damit ich das darf, brauche ich am Ende unseres Gespräches den Segen vom Oberrabbiner.
»Soll das ein lustiges Buch werden oder nicht?«, fragt er mich mit eindringlichem Blick, der eine gewisse Skepsis verrät.
»Lustig? Ich würde es eher humorvoll nennen. Der Humor wird vor allem dadurch entstehen, dass ich mich blöd anstelle, und dann lacht man darüber. Denke ich.«
»Da werden wir Sie ordentlich auslachen. Obwohl, Auslachen gehört eigentlich nicht zum jüdischen Humor. Schauen Sie, wenn Sie sich nur lustig machen danach über uns, dann geht das natürlich nicht, wenn Sie sich aber mit Respekt anstellen und sich mit Respekt dem Judentum annähern, dann ist das für mich in Ordnung.«
Erleichtert, dass mein Experiment nicht schon bei der ersten Religion und beim ersten Gespräch gescheitert ist, bezahle ich unsere zwei Melange.
Danach begleite ich den Oberrabbiner vom Café Hawelka zum Stephansplatz, hier wird es um 19 Uhr eine weitere öffentliche Chanukka-Zeremonie geben. Am Stephansplatz wartet schon eine Frau, und Eisenberg sagt zu mir: »Sie müssen jetzt gehen. Es ist 18:50 Uhr, jetzt rede ich mit der Dame hier.« Das war alles andere als unhöflich, vielmehr bestimmt und beeindruckend. Hilfreicher als jedes Zeitmanagementseminar. Überhaupt ließ mich die Begegnung mit Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg nicht unbeeindruckt. Neben seinem Talent zur Show und Selbstdarstellung besitzt er auch einen schier unendlichen Schatz an Anekdoten. Er ist wohl einfach, soweit ich das beurteilen kann, ein intellektueller Riese, neben dem ich mir vor allem in den ersten Minuten wie ein Zwerg vorgekommen bin.
Ich mache mich auf den Weg zu einer Vorstellung, die ich heute im Casanova habe, und muss an Eisenbergs jüdischen Humor denken. Eine Errungenschaft, die ich sehr schätze. Nicht umsonst wird Folgendes behauptet:
Wenn man einem Bauern einen Witz erzählt, lacht er drei Mal. Das erste Mal, wenn er den Witz hört, das zweite Mal, wenn man ihm den Witz erklärt, das dritte Mal, wenn er den Witz versteht.
Der Gutsherr lacht zwei Mal: das erste Mal, wenn er den Witz hört, das zweite Mal, wenn man ihn erklärt. Verstehen wird er ihn nie.
Der Offizier lacht nur ein Mal, nämlich wenn man ihm den Witz erzählt. Denn erklären lässt er sich prinzipiell nichts, und verstehen wird er ohnehin nicht.
Erzählt man aber einem Juden einen Witz, so sagt er: »Den kenn ich schon!« und erzählt einen noch besseren.
Ob mir morgen bereits das Lachen vergeht, wird sich zeigen. Im Café Hawelka habe ich mit Paul Eisenberg bereits den nächsten Termin ausgemacht.
»Ich komme morgen zum Morgengebet in den Stadttempel. Ist das in Ordnung für Sie, Herr Oberrabbiner?«
»Ja, kommen Sie hin, um 7 Uhr geht’s los.«
»Herzlichen Dank, ich bin um 6:30 Uhr dort.«
»Was wollen Sie um 6:30 Uhr dort? Da ist kein Mensch, mitten in der Nacht, kommen Sie um 6:59 Uhr, das reicht vollkommen.«
»Sie halten das Ganze ja verkehrt. So rum.«
Peinlich berührt drehe ich unter Beobachtung des Oberrabbiners die Tora auf die richtige Seite. Hebräisch wird von rechts nach links geschrieben und gelesen, was ganz schön verwirrend sein kann.
Es ist 7 Uhr früh, ich befinde mich zum ersten Mal in einer Synagoge. Nicht mit einer Führung, nein, ich habe mich zum jüdischen Morgengebet im Wiener Stadttempel eingefunden. Dieser liegt wenige Schritte von der U-Bahn-Station Schwedenplatz entfernt, in der Seitenstettengasse. Hier befinden sich auf der einen Seite einige Fortgehlokale des sogenannten Bermuda-Dreiecks, in dem bis spät in der Nacht das Partyleben tobt. Auf der anderen Seite dieser Gasse steht die Hauptsynagoge Wiens. Für die jüdische Gemeinde ist sie jener Ort, an dem sie mit Gott den inneren Dialog sucht, betet und Ruhe und Stärke in ihrem Glauben findet. Obwohl, ganz ruhig ist es auch hier in der Synagoge nicht.
Die jüdische Gemeinde ist eine lebendige und aktive, das wird mir sehr bald klar. Kurz vor 7 Uhr stehe ich vor dem englischsprechenden Security, dem ich meinen Pass zeige. Der schaut noch etwas skeptisch, dann kommt auch schon der Oberrabbiner. Er spricht ein paar Worte mit dem Security auf Hebräisch, ich bekomme den Pass zurück und werde reingelassen. Es ist tatsächlich genau eine Minute vor 7 Uhr. Das Zeitmanagement von Paul Eisenberg ist beeindruckend. Ich folge dem Oberrabbiner, der flott vorangeht und gleich Anweisungen gibt wie: »So, da hängen Sie schnell Ihren Mantel auf«, und dabei deutet er auf die Garderobenständer, und dann: »Kommen Sie, es geht los.« Ich folge nicht nur dem Oberrabbiner, sondern auch den hebräischen Gebetslauten, die aus dem Inneren der Synagoge dringen. Nach dem Foyer biegen wir links ab und stehen im großen Tempel der Synagoge. Wenn ich in die Rundungen schaue, fühle ich mich fast wie in einem vergoldeten Theater oder kleinen Opernhaus. Die Bänke links und rechts vom Mittelgang sind wie in den katholischen oder evangelischen Kirchen aufgebaut und es gibt auch einen Altar, wo bereits der Vorbeter steht, mit dem Gesicht vor einem Schrein und mit dem Rücken zu den Leuten. Von ihm kommen also die Gebetslaute, die schon von draußen zu hören waren. Beeindruckt vom Ambiente hülle ich mich in ein weiß-blaues Tuch, dem sogenannten Tallit. Meine Kippa, die ich am Eingang der Synagoge bekommen habe, trage ich bereits auf dem Kopf.
Ich versuche, mich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Was natürlich nicht gelingt, da die jüdische Gemeinschaft eine sehr kleine ist und heute scheinbar nicht mehr als zwölf Juden zum Morgengebet erschienen sind. Auch wenn die meisten dieser zwölf bereits im Gebet versunken sind, werde ich sofort von ihnen wahrgenommen. Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde tragen ebenso dieses weiß-blaue Tuch, die meisten von ihnen haben auch noch ein schwarzes Lederband um den linken Arm gewickelt. Das müssen die Gebetsbänder sein, von denen der Oberrabbiner gestern gesprochen hat. Zusätzlich tragen alle noch etwas auf der Stirn. Was auch immer das ist, es sieht von meinem Platz aus wie eine GoPro-Kamera, aber es handelt sich dabei um einen Kopftefillin, wie ich später in Erfahrung bringe. Das schwarze Lederband gehört zum Handtefillin.
Tefillin bedeutet Gebetsriemen und setzt sich aus zwei kleinen Schachteln zusammen, die Pergamentstücke mit ausgewählten Texten aus der Tora enthalten. In der Tora gibt es vier Stellen, die darauf hinweisen, dass die Juden ein Symbol auf ihrer Hand und zwischen ihren Augen setzen sollen, das sie daran erinnert, dass Gott sie aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat. Die Tefilla vor der Stirn bedeutet geistige Loyalität, während die Tefilla in der Hand den Juden daran erinnert, dass er Gott mit aller Macht und Kraft dienen muss. Die kleinen Schachteln sind an ledernen Riemen befestigt, die natürlich von koscheren Tieren stammen. Bei Rechtshändern muss dieser Gebetsriemen siebenmal um den linken Arm gewickelt werden, bei Linkshändern eben um den rechten Arm, da der Psalmvers im Hebräischen aus sieben Wörtern besteht. Damit noch lange nicht genug, muss das Ende der Riemen noch dreimal um die Hand und dreimal um den Mittelfinger gewickelt werden, denn so entsteht die Form des hebräischen Wortes Schadai, was nichts anderes als Gott bedeutet.
Allein an den letzten Zeilen merkt man schon, dass es selbst für einen Juden schwer ist, Jude zu sein, also kann man sich ungefähr vorstellen, wie es mir gerade in der Synagoge geht. Ich fühle mich wie ein Kleinkind, das zum ersten Mal versucht zu stehen und dabei nicht umzufallen.
Ich beobachte die Gläubigen beim Ausführen ihrer Gebete. Mein Versuch, mich einfach still und heimlich in die letzte Reihe zu stellen und nicht aufzufallen, scheitert kläglich, als ein Mann hinter mir, der etwas später gekommen sein muss, sagt: »Da kannst du nicht sein. Dieser Platz ist für mich reserviert.« Ich bitte um Entschuldigung, gehe zwei Reihen weiter vor und etwas weiter nach links, drehe mich um und frage, ob das passt. Er nickt. Durch diese Szene sind alle auf mich aufmerksam geworden und ein Gemurmel hat begonnen. Jetzt bin ich nicht nur verunsichert, sondern auch ängstlich.
Der Mann hinter mir, dem ich seinen Platz weggenommen habe, fühlt sich auch dazu berufen, herauszufinden, was ich wirklich hier tue. Er kommt zu mir vor und fragt:
»Bist du ein Levi?«
Ich kenne Levi bisher nur als finnischen Austragungsort für einen Weltcup-Slalom. Das sage ich aber nicht, ansonsten könnte er noch meinen, ich spreche Shalom, das hebräische Wort für Frieden, falsch aus. In meiner Panik schüttle ich einfach nur den Kopf. Der Mann wendet sich von mir ab und geht wieder zurück an seinen Platz. Zum Glück habe ich in meiner Not nicht Ja gesagt, denn Levi bezieht sich in diesem Fall auf die Leviten, die auch als eigene Gruppe im religiösen Judentum existieren, und die haben beim Lesen der Tora Vortritt vor allen anderen Juden.
Noch nie in meinem Leben habe ich mich so deplatziert, so ahnungslos, so fremd gefühlt. Es ist eine ganz besondere Erfahrung, und die Flucht nach vorne, also sicheres Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit, ist hier fehl am Platz, weil ich sofort durchschaut werden würde, ja, schon längst durchschaut wurde. Der Oberrabbiner scheint meine Unsicherheit nicht nur zu spüren, er sieht sie wohl auch. Er kommt vom Altar herunter und sagt in die Runde: »Er wird heute unserem Morgengebet beiwohnen, und um 8 Uhr werden wir ihn dann beschneiden.«
Das erheitert alle bis auf mich, meine Verkrampfung löst sich nicht wirklich durch diesen Scherz. Zumindest bete ich, dass es ein Scherz war. Immerhin verändert sich durch das Einschreiten des Oberrabbiners etwas unter den Gläubigen, ein paar von ihnen beginnen mir plötzlich zu helfen, ich habe nun eine Tora vor mir, die eine deutsche Übersetzung hat, während auf der rechten Seite die fünf Bücher Mose in hebräischer Schrift abgedruckt sind. Das Ganze nützt mir aber nichts, weil auf Hebräisch gebetet wird. Hinter mir wird mir dauernd zugerufen, Seite 69, Seite 48, Seite 98, es wird sehr viel hin- und hergesprungen zwischen den Seiten, das ist das Einzige, was mir auffällt. Zusätzlich stehe ich einfach immer auf, wenn alle anderen aufstehen und setze mich wieder hin, wenn alle anderen sich auch hinsetzen. Das machen übrigens viele Katholiken in ihrer eigenen Kirche auch nicht anders. Als jemand beginnt, Opfergeld einzusammeln, erinnert mich das ebenfalls an den katholischen Gottesdienst. Das ist meine Chance, mich etwas beliebt zu machen, und ich spende zehn Euro. Den Mann zwei Reihen hinter mir beeindruckt das scheinbar gar nicht, er zückt einen grünen Schein und spendet hundert Euro. Dafür weiß er im Gegensatz zu mir wenigstens, für wen oder was er gespendet hat.
Ich will gerade in der Tora weiterlesen, als von der Seite schon wieder jemand ruft: »Seite 54 sind wir schon.« Der Oberrabbiner schreitet ein, gibt mir ein anderes Buch und sagt: »Nimm das, und lies einfach etwas darin.« Das mache ich, aber wenig später kommt der Mann hinter mir wieder und sagt: »Das ist das falsche Buch.« »Aber der Oberrabbiner hat es mir in die Hand gedrückt und gesagt, ich soll darin lesen«, versuche ich mich zu entschuldigen. Das Argument zählt: »Gut, wenn das der Oberrabbiner sagt, dann passt das. Der Oberrabbiner ist schlauer als alle anderen.« Dann geht er wieder zurück an seinen Platz. Überhaupt ist der jüdische Gottesdienst ein sehr lebendiger. Es wird ein paar Minuten lang innig gebetet, dann geht der eine zum anderen und bespricht etwas. Es geht nicht nur um die Auslegung der Tora, sondern auch um ganz banale Sachen wie darum, wer wo Silvester verbringt. Und dabei zieht man sich oft gegenseitig auf.
Plötzlich betritt ein orthodox aussehender Jude die Synagoge. Er ist ganz in Schwarz gehüllt, trägt einen schwarzen Hut und einen langen Bart, und beginnt, alle zu segnen. Ich kann von verschiedenen Seiten das Wort »meschugge« hören. Jetzt bin ich an der Reihe, ich werde auch gesegnet, aber es passiert nicht umsonst, er will Geld von mir. Ich weiß nicht, ob das ein bestimmtes Ritual ist oder nicht, auf jeden Fall bin ich jetzt meinen zweiten Zehner los.
Der Oberrabbiner kommt erneut vom Altar runter in den Gang. »Der kommt einmal im Monat in die Synagoge und segnet uns, das kostet fünf Euro. Ich sehe, du hast ihm zehn Euro gegeben, auch gut, kann er dich zwei Mal segnen.« Ich bekomme so meinen zweiten Segen und der Oberrabbiner sagt zu mir: »Vielleicht nützt es nichts, aber schaden tut es auch nicht.«
Ernster wird es dann wieder bei der wichtigsten Passage des Morgengebets. Die Tora wird ausgehoben. Sie scheint sehr schwer zu sein, denn beim Rausholen der Tora packen gleich drei Leute mit an.
Danach werden Gläubige eingeladen, die Tora zu berühren. Nachdem die Tora wieder in den Schrein gewandert ist, scheint das Morgengebet langsam sein Ende zu finden. Ich habe viele aufregende Momente hier erlebt und dabei das Gefühl für Zeit und Raum verloren. Es könnte auch schon Nachmittag sein, so viel ist passiert. Der Oberrabbiner packt jedoch seine Sachen zusammen und geht den Mittelgang in Richtung Ausgang, nicht ohne seinen Abgang mit seinem typischen Humor zu verfeinern. Er bleibt neben mir stehen und sagt: »So, du bist jetzt ein frommer Jude, du musst noch bleiben. Ich bin Oberrabbiner, ich darf schon gehen.« Wenig später sind aber auch die anderen am Weg nach draußen. Und dort wartet noch eine kleine Überraschung. Weil Chanukka ist, gibt es für jeden einen Krapfen und, zu meiner Verwunderung, auch einen Wodka. Und das um 8 Uhr früh. Langsam beginnt mir das Judentum richtig zu schmecken. Ob mir auch die Umstellung auf die koschere Ernährung gelingt, wird sich zeigen.
Ein paar Frankfurter mit einem Pita-Brot und einem Bier dazu, das ist mein heutiges Abendmenü. Und es ist durch und durch koscher. Die Frankfurter Würste sind nicht aus Schweinefleisch, sondern vom Truthahn und außerdem von einem koscheren Fleischer hergestellt. Das Pita-Brot, wie Brot und Gebäck im Allgemeinen, ist auch koscher. Außer es wird gerade Pessach gefeiert, jenes Fest im Judentum, das an den Auszug aus Ägypten, also die Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei erinnert. In dieser Zeit sind Buchweizen, Roggen, Weizen, Gerste und Hafer und logischerweise alle Produkte, die daraus gemacht werden, also zum Beispiel Bier, verboten. Die Israeliten waren beim Auszug aus Ägypten derart in Eile, dass keine Zeit mehr blieb, ungesäuertes Brot herzustellen.
Da ich meine Zeit als Jude nicht zu Pessach verbringe (im Übrigen bedeutet das so viel wie hinwegschreiten oder verschonen) ist dieses Thema für mich sozusagen gegessen. Dafür habe ich aber viele andere Fragen an den Oberrabbiner, die ich ihm bei einem unserer Treffen im Café Hawelka stelle.
»Brauche ich einen zweiten Kühlschrank?«
»Nein, den brauchen Sie nicht.« Nach meinem durchaus überraschten Blick führt Paul Eisenberg fort: »Sehen Sie, haben Sie schon wieder Geld gespart. Es reicht, wenn Sie das Fleisch in einer eigenen geschlossenen Box im Kühlschrank getrennt von den Milchprodukten aufbewahren.«
»Brauche ich ein eigenes Geschirr und ein eigenes Besteck für Milch- und Fleischprodukte?«
Der Oberrabbiner nickt. »Das brauchen Sie. Die Vermischung von Milch- und Fleischprodukten passiert erst so richtig durchs Kochen. Obst und Gemüse hingegen sind neutral, die können Sie immer essen.«
Beim ersten Mal Hören klingt das alles viel komplizierter, als es ist. Vereinfacht merke ich mir, Fleisch und Milch werden ganz getrennt, ob im Kühlschrank, beim Kochen, in den dazugehörigen Kochtöpfen oder auf den Tellern.
Warum aber das Ganze? Nun, die Antwort ist, wie immer im Judentum, in der Tora zu finden. Dreimal schreibt sie vor, ein Böcklein nicht in der Milch seiner Mutter zu kochen (Exodus 23,19; 34,26 sowie Deuteronomium 14,21).
Damit wieder zurück zum Oberrabbiner und meinen Fragen. »Ich habe im Internet eine Liste gefunden, in der unzählige koschere Produkte aufgezählt sind. Was hat es mit der auf sich?«
»In der Bibel gibt es eine ganze Liste. Aber wenn Sie koscher leben wollen, dann gehen Sie ganz einfach in die koschere Bäckerei, in die koschere Fleischerei, oder in Geschäfte, wo andere koschere Produkte sind. So gehen Sie auf Nummer sicher«, so der Oberrabbiner ganz pragmatisch. Damit sind meine Fragen zum koscheren Essen fürs Erste beantwortet. Ich wusste schon vor meiner Einführung durch Rabbi Eisenberg, dass Juden kein Schweinefleisch essen, also habe ich das mit Jahresbeginn sofort weggelassen. So gesehen hat zu Neujahr das Schwein nicht mir, sondern zur Abwechslung ich dem Schwein Glück gebracht. Blöderweise hatte ich ein paar Tage zuvor am Heiligen Abend von meiner Tante jede Menge an Speck und Salami geschenkt bekommen. Mit den Essensvorräten kann ich wenigstens eine gute Tat vollbringen, wie es Brauch ist für Juden am Beginn des Pessachfestes. Sie schenken dann Brot an Nicht-Juden. So erfreut sich in diesem Monat vor allem mein Nachbar daran, dass ich Jude geworden bin. Und das mit der guten Tat ist ebenso erledigt.
Warum darf ein Jude kein Schwein essen? Ich schlage wieder in der Tora nach. Im Kapitel 11 des Buches Leviticus finden sich genaue Anweisungen, welche Tiere gegessen werden dürfen und welche nicht. »Alles, was behuft ist und gespaltene Klauen hat und wiederkäuend ist unter den Vierfüßigen, das dürft ihr essen.« Und im 3. Buch Mose, Kapitel 11, Vers 3 und 4, steht weiter ausgeführt: »Und ein Schwein spaltet wohl die Klauen, aber es wiederkäut nicht, darum soll’s euch unrein sein.«
Als unrein gelten ebenso Pferd und Esel, das Kamel, der Hase und alle fleischfressenden Tiere. Bleibt noch das Geflügel. Hier gibt es auch Verbote in der Tora, erlaubt ist in jedem Fall Huhn, Ente, Gans, Taube und Truthahn. Also Adler, Falken und Uhus muss ich in diesem Monat von der Speisekarte streichen. Zu den Meerestieren finden wir im Buch des Leviticus im Kapitel 11 die Anweisung, dass man alles essen kann, »was Flossen und Schuppen hat«. Hummer, Krabben, Tintenfische, Austern und Muscheln sind auf keinen Fall koscher. Das heißt, die Pizza mit Meeresfrüchten fällt auch flach. Wie gesagt, Schweinefleisch habe ich gleich mal weggelassen und mich zur Sicherheit die ersten Tage im Jahr 2017 komplett vegetarisch ernährt.