»Neunzig?«, fragte Winnie-der-Pu. »Ist das mehr als sieben?«
»Ja, Pu«, sagte Känga geduldig. »Du bist neunzig Jahre alt, und das muss gefeiert werden.«
»Eine Feier?«, sagte I-Ah düster. »Gesang und Tanz? Ich nehme an, ich bin auch neunzig geworden. Aber kein Jubilieren und Tirilieren für I-Ah. Das sagt wohl alles …«
»Jubili-wie? Tirili-was?«, fragte Ferkel verwirrt. »Aber weißt du, I-Ah – Pu ist doch das Jubeltier.«
Hier sprang Tieger auf, woraufhin sich Ferkel hastig hinsetzte.
Tja, wisst ihr, jemand hatte gehört und jemand anderes hatte gesagt und wiederum jemand anderes hatte beschlossen, dass es höchste Zeit ist, euch ein paar neue Abenteuer von Winnie-dem-Pu zu erzählen. Weil es eine ganz große Sache ist, wenn man neunzig wird.
Also haben sich alle Tiere des Waldes versammelt, um die Geschichten mit eigenen Ohren zu hören. Pu hat in seiner Aufregung vergessen, worum es in manchen geht, und hofft, dass seine Freunde darin auftauchen und dass er eine gute Figur macht.
Aber Pus Sorgen sind überflüssig. In diesen Abenteuern begegnen wir mythischen Wesen, geheimnisvollen neuen Freunden (und Feinden) und einem ganz speziellen Mus … Es sind Abenteuer, wie sie im Hundertsechzig-Morgen-Wald eben so passieren.
Also macht es euch gemütlich und genießt vier neue Geschichten mit Winnie-dem-Pu, dem besten Bären der Welt, und all seinen Freunden.
Diese offizielle Weitererzählung wurde von den ursprünglichen Pu-der-Bär-Geschichten A.A. Milnes inspiriert und im Stil E.H. Shepards illustriert. Der Verlag möchte sich beim Pooh Properties Trust und beim Shepard Trust für die Mitarbeit bedanken, und bei Stephanie Thwaites von der Agentur Curtis Brown für ihre Begeisterung und ihre Ratschläge.
In welchem I-Ah argwöhnt, ein Anderer Esel habe es auf seine Disteln abgesehen
Von Jeanne Willis
Frühling lag in der Luft. Die Sonne schien, die Vögel bauten ihre Nester, und Winnie-der-Pu schlenderte leise summend am schlammigen Rand des Waldes entlang und bewunderte die Osterglocken, als er auf seinen alten Freund I-Ah stieß.
»Tra-la-la und Didel-dum-dei«, summte Pu. »Guten Morgen, I-Ah!«
»Tra-la-la?«, sagte I-Ah düster. »Ein guter Morgen? Nicht für mich, oh nein. Vor Kurzem war ich noch fröhlich wie ein Spatz. Ich hätte wissen müssen, dass es nicht lange anhält.«
Pu sah zum strahlend blauen Himmel hinauf.
»Ein herrlicher Tag«, sagte er.
»Nicht hier, an dieser Stelle«, erwiderte I-Ah.
»Dann stell dich doch mal neben mich«, meinte Pu. »Mit ein bisschen Didel-dum-dei.«
I-Ah stellte sich neben Pu, aber nach einer Weile schüttelte er den Kopf.
»Klappt nicht.« Er seufzte. »Für dich mag es schön sein, denn du strotzt nur so vor Frühlingsfröhlichkeit, aber was kann ich schon besingen, Pu?«
Pu kratzte sich am Kopf und überlegte. Es war noch etwas früh zum Nachdenken, aber dann bemerkte er am Teich eine Stelle, wo frische Disteln wuchsen. Es war genau die Art, die I-Ah am leckersten fand, und deshalb sagte Pu:
»Du könntest die Disteln besingen, I-Ah.«
»Und warum?«, fragte I-Ah.
»Es wäre eine mampfende Art von Lied, und Disteln machen dich glücklich«, sagte Pu.
I-Ah ließ den Kopf hängen.
»Nicht mehr«, stöhnte er. »Als ich die frischen Disteln entdeckt habe, sagte ich zu mir: ›Hurra, je mehr, desto besser!‹ Hätte ich geahnt, dass er es auf sie abgesehen hat, dann hätte ich mir niemals Hoffnungen gemacht.«
»Er? Wer?«, fragte Pu.
»Hih-Hah!«, sagte I-Ah. »Es gibt einen Anderen Esel. Ich befürchte, er hat es auf meine Disteln abgesehen, und er sah nicht aus wie die Sorte Esel, die gern teilt.«
Pu traute seinen Ohren nicht.
»Ein Anderer Esel?«, sagte er. »In diesem Wald?«
»Genau hier«, antwortete I-Ah. »Und sein Anblick gefällt mir überhaupt nicht.«
»Wie sah er denn aus?«, fragte Pu.
»So!«, sagte I-Ah und zog das Gesicht, das ein Esel zieht, wenn er drauf und dran ist, die Disteln eines Anderen Esels zu fressen. Pu erschrak so sehr, dass er auf sein Hinterteil fiel.
»Mir gefällt sein Anblick auch nicht!«, sagte er. »Und wo ist er jetzt?«
I-Ah zuckte betrübt mit den Schultern.
»Gute Frage, Pu. Ich habe gehofft, du wüsstest die Antwort.«
»Das habe ich auch gehofft«, sagte Pu.
»Ich würde ja losziehen und ihn suchen«, sagte I-Ah. »Aber wenn ich losziehe, kommt er bestimmt und frisst alle meine Disteln, und das ohne jedes Bitteschön oder Dankeschön.«
»So was macht er?«
»Aber sicher. Er ist ein Anderer Esel. So machen das Esel«, sagte I-Ah. »Wenn er Geschmack daran findet, lässt er mir nicht mal einen Stachel übrig. Dann werde ich zu einem Strich in der Landschaft abmagern. Mach’s gut, Pu. War schön, dich gekannt zu haben.«
Pu mochte ein Bär von sehr geringem Verstand sein, doch er wusste, wann er einen Freund in Nöten vor sich hatte.
»I-Ah«, erklärte er, »ich, Winnie-der-Pu, werde Irgendetwas tun, um dir zu helfen.«
»Und welches Irgendetwas?«, fragte I-Ah.
Pu hmmte und aahte und marschierte auf und ab, und dann sagte er triumphierend: »Ein sehr GROSSES Irgendetwas!«
»Viel Glück«, sagte I-Ah. »Ich bleibe derweil hier und sieche dahin …«
»Ich bin nicht lange weg«, sagte Pu.
»Wie lange?«, brummelte I-Ah. »Bis zum Nachmittagstee? Bis morgen? Bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag?«
»Nur ein bisschen länger, als es dauert, Ferkel zu holen«, sagte Pu. »Ich würde ja auch allein suchen, aber zu zweit findet man einen Anderen Esel schneller.«
Ferkel war gerade schwer mit Nichtstun beschäftigt, aber als Pu erschien und sich beiläufig erkundigte, ob es ihm helfen wolle, einen Anderen Esel aufzuspüren, der es auf I-Ahs Disteln abgesehen habe und ihm große Sorgen bereite, meinte Ferkel, das wolle es nur allzu gern tun, vorausgesetzt, der Andere Esel sehe nicht aus wie ein Heffalump.
»Das tut er nicht«, sagte Pu.
»Hat I-Ah gesagt, dass er böse ist?«, fragte Ferkel.
»Gesagt hat er das nicht«, meinte Pu. »Aber was er mir gezeigt hat, fand ich schlimm genug.«
»Und was hat er dir gezeigt, Pu?«, fragte Ferkel.
»Dies!«, sagte Pu und zog das Gesicht eines Anderen Esels, der nicht gern teilt. Ferkel quiekte erschrocken und plumpste hin. In diesem Augenblick kam Kaninchen vorbei und sah Ferkel im Gras liegen. »Was tust du da?«, fragte es.
»Ich bin beschäftigt«, sagte Ferkel.
»Beschäftigt womit?«, fragte Kaninchen.
»Ich bin mit dem beschäftigt, was klitzekleine Tiere tun, wenn man sie bittet, riesengroße Tiere aufzuspüren, deren Anblick ihnen gar nicht gefällt«, flüsterte Ferkel.
Kaninchen sah sich wachsam um.
»Und wie sieht dieses riesengroße Tier aus?«
»Zeig es ihm, Pu!«, sagte Ferkel und kniff die Augen zu.
Pu zog wieder die Grimasse, und Kaninchen sprang verdutzt zurück.
»Sieht aus wie I-Ah, nur lächelnd!«, meinte es.
»Ja, weil es ein Anderer Esel ist«, sagte Pu.
»Und er hat es auf I-Ahs Disteln abgesehen!«, ergänzte Ferkel. »Ziehst du immer noch die Grimasse, Pu?«
Pu verneinte, woraufhin Ferkel die Augen öffnete und dann ängstlich herumhüpfte, wobei es quiekte: »I-Ah ist in großer Not! Hilfe! Tu doch etwas, Kaninchen!«
»Ich?«, fragte Kaninchen. »Und was, Ferkel?«
»Und was, Pu?«, fragte Ferkel.
»Und was, Kaninchen?«, fragte Pu.
Kaninchen wusste es auch nicht, aber je länger sie überlegen würden, was zu tun sei, desto weniger Disteln wären für I-Ah übrig, und so zählte Kaninchen alle Anwesenden durch und sagte dann, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Ferkel nur halb so groß war wie Pu: »Zusammen sind wir zweieinhalb, und er ist nur einer. Wenn wir ihn also finden und ihm höflich sagen, er solle bitte teilen, dann müsste das kein Problem sein.«
»Und wenn er nicht nur einer ist?«, fragte Ferkel. »Wenn es noch einen anderen Anderen Esel gibt?«
»Da hat Ferkel recht …«, sagte Pu nachdenklich.
Kaninchen zog Bilanz und fasste dann einen Beschluss.
»Um auf Nummer sicher zu gehen, bitte ich alle meine Freunde und Verwandten, uns zu begleiten, und auch Känga und Tieger und …«
»Tieger?«, sagte Ferkel zweifelnd.