Beim ersten Mal, als ich den Schatten in der Dämmerung sah, dachte ich mir noch nichts Böses dabei. Es war sicher nur ein seltsam gewachsener Busch, der da auf der Anhöhe stand, wo kein Laternenlicht mehr hinreichte. Nichts, was mich ängstigen sollte, schließlich war ich kein kleines Kind mehr, sondern schon beinahe siebzehn Jahre alt – und in gefühlten Jahren sogar deutlich älter. Aber trotzdem überkam mich beim Anblick der dunklen Silhouette ein ungutes Gefühl.
Fröstelnd zog ich den Reißverschluss meiner zerschlissenen Jacke weiter nach oben, während der Herbstnebel die Häuser und Bäume von Brookville langsam, aber unaufhörlich verhüllte.
Obwohl ich mich nicht fürchten wollte, beschleunigten sich wie von allein meine Schritte, bis ich endlich die richtige Auffahrt erreichte. Ich versteckte mich hinter einem Baumstamm und wartete ab, ob mir jemand folgte. Aber da war niemand. Und dennoch ziepte es unruhig in meinem Magen.
Dass ich so schreckhaft war, lag bestimmt daran, dass morgen Halloween war und alle Leute schon eifrig ihre Häuser schmückten, um einander das Gruseln zu lehren. Ein bisschen freute ich mich sogar auf die beleuchteten Kürbisse, Skelette und Spinnennetze.
Eilig huschte ich durch das raschelnde Herbstlaub zur Hintertür.
»Kack, verdammter!«, fluchte ich, als ich auf den bröckeligen Steinstufen zur Veranda stolperte. Ohne Licht konnte man kaum etwas erkennen.
Mit Schwung warf ich mich gegen die unverschlossene Tür, von der die Farbe schon zum größten Teil abgeblättert war, bis sie sich mit einem lautstarken Knarzen öffnete. Ich schlüpfte hinein, drückte sie wieder zu und schob rasch den Riegel vor. Endlich zu Hause.
Sofern man diese verlassene Ruine ein Zuhause nennen konnte. Irgendeinen Erbschaftsstreit gab es da, hatte ich gehört, weshalb in dem Gebäude seit einigen Jahren niemand mehr wohnte – zumindest so lange, bis ich hier einfach eingezogen war.
Damit ganz sicher niemand hereinkommen konnte, schob ich zusätzlich einen gusseisernen Beistelltisch vor die Tür und ließ dann meinen Rucksack von der Schulter rutschen. Dabei fiel der dicke Wälzer aus der Bibliothek heraus, in dem ich draußen bis zum Einbruch der Dämmerung gelesen hatte. Geliehene Bücher kosteten zum Glück nichts.
Ich schlurfte in das ehemalige Wohnzimmer und zündete die Laterne an, die einen schwachen Lichtschein auf das Lager warf, das ich hier aufgeschlagen hatte. Viel besaß ich ja nicht. Dann schüttete ich mir den letzten Rest Cornflakes in eine Schüssel.
Es gab keine Milch dazu, aber das machte mir nichts aus. Auf Luxus konnte ich gut verzichten, solange ich nur nicht wieder zu meinem Vater zurückmusste. Nur … wie es weitergehen sollte, wenn der Winter kam, wusste ich nicht.
Nachdem ich auch den letzten Krümel aus der Schüssel geleckt hatte, nahm ich das Buch wieder zur Hand. Tauchte ein in eine andere Welt, eine Welt, die mir half durchzuhalten, die mir half, der Wirklichkeit zu entfliehen und die unheimlichen Geräusche des alten Hauses auszublenden.
Ich liebte Romane. Durch sie entstanden die wunderbarsten Geschichten, Gedanken und Bilder in meinem Kopf.
Erst als meine Augen vom Lesen bei Kerzenlicht tränten, legte ich das Buch beiseite, zog mein Nachthemd an und kroch in den Schlafsack. Dann löschte ich das Licht und machte mich auf eine weitere harte Nacht gefasst, denn eine Isomatte war auf Dauer kein Matratzenersatz und in der Dunkelheit ließen sich die quälenden Gedanken nicht mehr vertreiben.
Ich dachte an die Schule, die ich übernächstes Jahr unbedingt erfolgreich beenden musste, an meine Großeltern, bei denen ich aufgewachsen war, und an meinen unberechenbaren Vater, der mich vor drei Wochen beinahe erwürgt hätte.
Ich schüttelte mich, um all die Bilder aus meinem Kopf zu verbannen, und überlegte stattdessen, wie ich mir etwas zu essen beschaffen könnte.
Als mein Wecker in der Früh klingelte, kroch ich mühsam aus dem Schlafsack. Montag. Jeder Knochen tat mir weh.
Alles wie gehabt, dachte ich gequält.
Wenn ich auch nur ansatzweise geahnt hätte, dass sich am heutigen Tag mein ganzes Leben ändern sollte, wäre ich nicht zur Schule gegangen, sondern hätte so schnell wie möglich das Weite gesucht. Wäre in eine andere Stadt gezogen, in ein anderes Land. Oder besser gleich auf einen anderen Kontinent!
Der Morgen begann schon miserabel mit einem knurrenden Magen. Wenn ich hungrig war, war ich unausstehlich, aber zum Glück war niemand da, an dem ich meine schlechte Laune hätte auslassen können.
Das Wasser aus der Regentonne, mit dem ich mir die Zähne putzte und mich wusch, war eiskalt, und obendrein war seit gestern auch noch mein Deo aufgebraucht. Unglücklich schnupperte ich an meinem schwarzen Hoodie mit dem Aufdruck Darkness is my illumination, den ich nun schon den dritten Tag hintereinander anziehen musste. Außer Deo benötigte ich dringend Waschpulver und Shampoo.
Seufzend zog ich mich an, überdeckte meine Sommersprossen und Pickel mit jeder Menge blass machendem Make-up, trug sorgfältig den geliebten schwarzen Lippenstift auf und machte mich auf den Weg – die Zeit für das Frühstück sparte ich ja ein. Zum Glück war es nicht weit, denn die Hausruine lag auf meinem ehemaligen Schulweg.
Es war noch dunkel, und die Sträucher am Straßenrand warfen bizarre Schatten auf den Gehweg. Unwillkürlich schaute ich zu der Stelle, an der mir am Vortag der große menschenförmige Busch aufgefallen war.
Er war noch da, was dafür sprach, dass es tatsächlich eine Pflanze war. Aber … Ich kniff die Augen zusammen. … hatte sich der Schatten gestern nicht ein bisschen weiter rechts befunden, direkt am Weg? Ein Schauer lief mir über den Rücken.
Es muss eine optische Täuschung sein, beschloss ich tapfer und ging eilig weiter den Berg hinab.
Vielleicht war nicht nur Halloween schuld. Seit meine Großeltern vor einem Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren und ich zu meinem Vater hatte ziehen müssen, war ich viel zu ängstlich geworden.
Unbehelligt erreichte ich die Brookville Highschool, zog mir die Kapuze des Hoodies über die ungewaschenen Haare, holte meine Sachen aus dem Spind und schlich mit gesenktem Blick zum Klassenraum. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre unsichtbar. Das wäre cool! Dann könnte ich herkommen und lernen, ohne dass meine Mitschüler mich bemerken würden, oder ich könnte den Lehrern jede Menge Streiche spielen.
Aber leider war ich das nicht, stellte ich wieder einmal fest, als ich mich auf meinen Stuhl fallen ließ und mein Nebenmann Daniel mich lautstark mit »Iiiih! Ach, du bist’s nur« begrüßte.
Ich schnaubte genervt und holte meine Schulsachen aus der Tasche. Vielleicht ließ er mich ja in Ruhe, wenn ich ihn ignorierte.
Natürlich nicht. Daniel hatte heute wohl mal wieder extraschlechte Laune und brauchte ein Opfer. »Ey, Ella, warum nimmst du die Kapuze nicht mal ab, damit wir deine zauberhafte Visage bewundern können?«
Vereinzelt ertönte hämisches Gekicher, woraufhin ich meinen Kopf noch tiefer senkte und tat, als würden mich meine Aufzeichnungen vom letzten Mal brennend interessieren. Dabei huschte mein Blick, ohne dass ich es wollte, zu Lucas, dem Mädchenschwarm der Klasse, und mein Herz klopfte schneller. Er saß schräg vor mir und ließ sich von Annabell anhimmeln. Blond, langbeinig, Cheerleader – noch Fragen?
Ich hätte auch gerne diesen Bambi-Augenaufschlag draufgehabt, mit dem sie Lucas gerade bedachte, aber ich hatte keine Ahnung, wie man flirtete. Im Grunde wusste ich noch nicht einmal, wie man freundlich war.
»Will Ella sich den Tag versauen, muss sie nur in den Spiegel schauen!«, trompetete Daniel jetzt quer durch die Klasse.
»Gibt’s dich auch in witzig?«, entgegnete ich verletzt.
Leider hatte er recht. Ich war keine Schönheit. Meine normalerweise kastanienbraunen Haare trug ich seit einigen Wochen zum Zeichen der Rebellion pechschwarz getönt, meine Haut war pubertär unrein, mein Busen ein Witz. Dazu gesellten sich kleine Röllchen am Bauch.
Ich war im vergangenen Jahr bei meinem Vater etwas moppelig geworden. Süßigkeiten waren ein hervorragender Seelentröster. Aber zumindest das Speckproblem würde sich in den nächsten Tagen von ganz allein erledigen, wenn es mir nicht gelang, Essen zu beschaffen.
Nur meine kleine Nase, die mochte ich. Und meine Augen. Sie besaßen lange Wimpern und hatten einen warmen Braunton.
Einen Teufel würde ich tun und die Kapuze absetzen, damit Lucas auch noch meine fettigen Haare sah!
Sehnsüchtig wünschte ich mich an ein ruhiges Plätzchen, an dem ich mein Buch weiterlesen konnte, anstatt mich von Daniel ärgern zu lassen, der nun auch noch grinsend versuchte, meine Federtasche vom Tisch zu stoßen und mich dabei »Goth-Ella« nannte, was er so ähnlich wie »Godzilla« klingen ließ.
Meine Oma hatte immer gesagt, ich würde mich in meinen Büchern verkriechen. Vielleicht hatte sie recht gehabt. Aber was sollte ich sonst auch tun, wenn die Wirklichkeit einfach ätzend war?
In diesem Moment ließ mein Magen ein protestierendes Grummeln hören, dessen Lautstärke einen ausgewachsenen Bären in die Flucht getrieben hätte. Gott, hatte ich Hunger! Und natürlich hatte Daniel es gehört und lachte sich scheckig.
»Ich glaub, unsere Goth-Ella ist endlich auf Diät! Bestimmt hat sie Schiss, dass unser Abschlussfoto aus der Luft aufgenommen werden muss, damit ihr Hintern mit draufpasst!«
Beinahe wäre mir Dampf aus den Ohren gekommen. »Wenn ich deine Visage sehe, gefällt mir mein Arsch gleich viel besser!«, zischte ich zurück und hätte mich am liebsten mit ebenjenem auf ebenjene gesetzt. Wenn man mich in die Enge trieb, vergaß ich regelmäßig mein gutes Benehmen. Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb es Daniel so viel Freude bereitete, mich zu ärgern.
»Tja«, tönte nun Lucas, der sich zu uns umgedreht hatte, herablassend. »Wie man sich füttert, so wiegt man.«
Gekränkt senkte ich den Kopf. Warum, verdammt noch mal, war mir seine Meinung wichtig, wo ich doch genau wusste, dass er sich nichts aus mir machte – sich nie etwas aus mir machen würde? Leider hatte er mit seinen Worten auch noch recht, denn ich war nur durch all den Billigfraß und meine Sorgen so pummelig geworden. Schön für Lucas, dass er das wohl alles nicht kannte.
Ein Mädchen mit aschblondem Pixie Cut betrat den Raum und ließ sich auf den Platz neben mir fallen. Jenna.
»Hi, Ella«, begrüßte sie mich fröhlich und holte ihre Bücher hervor.
Jenna war meine beste Freundin. Doch seit dem Tod meiner Großeltern war unsere Freundschaft etwas abgekühlt, was meine Schuld war. Ich hatte mich zurückgezogen. Aber wie sollte ich auch mit ihr über meinen spielsüchtigen Vater reden? Etwa so: »He, Jenna, die grünblauen Abdrücke an meinem Hals … das meinte mein Dad nicht so. Er war nur ein bisschen aufgebracht, weil ich mein Sparbuch vor ihm versteckt habe.«
Nein. Darüber konnte ich nicht sprechen, obwohl mir klar war, dass Jenna mit ihrem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn sich heftig über ihn aufgeregt und mich sofort unterstützt hätte.
Doch die Scham war größer.
Ich log einfach, wenn Jenna fragte, wie es zu Hause lief. Wir verabredeten uns kaum noch, und wenn, dann nur bei ihr. Viel Zeit hatte ich nach der Schule ja nicht, denn mein Vater hing lieber im Spielkasino herum, als zu arbeiten oder sich um den Haushalt zu kümmern. So blieb alles an mir hängen, denn ich hatte es gerne ordentlich. Und dann war da noch die Schule. Ich lernte wie besessen, denn auf keinen Fall wollte ich so enden wie mein Vater, der fast unser gesamtes Geld verschleudert hatte. Da fehlte die Zeit für Freundschaften, schließlich benötigte ich für das College ein Stipendium.
»Hi«, antwortete ich Jenna mit gesenktem Blick. Ich mochte sie. Richtig gerne. Aber all die Lügen standen wie eine Mauer zwischen uns. Nicht einmal ihr hatte ich erzählt, dass ich von zu Hause abgehauen war.
Es war ein Schock gewesen, als ich bemerkt hatte, dass mein Vater das Sparbuch doch noch gefunden und alles verspielt hatte, was ich von meinen Großeltern geerbt und mit Ferienjobs und Zeitungsaustragen angespart hatte. Da war mir endgültig der Kragen geplatzt. Ich wollte unbedingt studieren, aber wovon sollte ich das nun bezahlen? Mit seiner beschissenen Spielsucht hatte er mir meine Zukunft versaut.
Ich konnte es bei ihm nicht länger ertragen. Also hatte ich meine Sachen gepackt und war abgehauen.
Jenna schnupperte in meine Richtung, und ich schloss gequält die Augen. »Äh, Ella … irgendwie müffelst du«, sagte sie leise. Jenna war nicht der Typ, der jemanden vor anderen bloßstellte.
Ich biss mir auf die Lippe. »Ja, tut mir echt leid, mein Deo war alle.«
Daniel hatte uns trotzdem gehört. »Boah! Ella, du Stinktier! Uäh!« Er stöhnte übertrieben laut, sodass auch der Letzte im Raum es mitbekam.
»Iiih! Puh! Würg!«, ertönte es von einigen Mitschülern.
Lucas lachte besonders laut. Ich ballte unter dem Tisch die Fäuste.
»He, Stinkerella! Soll ich dir mal ein Deo besorgen?«, grölte Daniel.
Ja, bitte! »Haha. Witzig. Hast wohl dein Clownskostüm grad in der Reinigung?«, murmelte ich und senkte den Kopf, damit niemand die heiße Röte bemerkte, die mein Gesicht überzog.
»Daniel, es ist nicht nett von dir, Ella zu ärgern«, schaltete Jenna sich ein. »Überleg doch mal, wie du dich dabei fühlen würdest!«
»Ach, lass den Blödmann nur«, winkte ich ab. »Das kratzt mich nicht.« Schließlich war ich ein cooler Goth!
Es war wirklich nett von Jenna, sich für mich in die Bresche zu werfen. Immer fand sie passende Worte. Leider ging mir Diplomatie vollständig ab, und bei Daniel hätte sie ja doch nichts genützt. Der war einfach von Kopf bis Fuß ein Kotzbrocken.
Zum Glück betrat in diesem Moment endlich Mr Brewster, unser Biolehrer, das Klassenzimmer, und die anderen ließen mich in Ruhe.
Als stinkender, wortkarger Streber mit Pickeln hatte man es hier nicht leicht. Nur noch die beiden letzten Jahre auf der Highschool beenden, dann habe ich meinen Abschluss und kann fort von hier, dachte ich und unterdrückte einen Anfall von Verzweiflung. Endlich fort aus Brookville, dem langweiligsten Ort des gesamten Staates Pennsylvania.
»Willst du nachher mein Deo benutzen?«, flüsterte Jenna mir zu. »Ich habe es in der Sporttasche.«
Dankbar schenkte ich ihr ein schwaches Lächeln. »Das wäre toll!«
Nur … viel helfen würde es nicht, denn es war wohl mittlerweile auch mein Pulli, der stank. Ich brauchte wirklich dringend neues Waschmittel.
»Ella Bowen, nimm bitte die Kopfbedeckung ab!«, befahl Mr Brewster, nachdem er uns begrüßt hatte. »Es regnet hier drinnen ausgesprochen selten.«
Missmutig zog ich die Kapuze herunter.
»Haha!«, lachte Daniel, als er meine fettigen Haare sah. »Du siehst aus wie mit ’nem Böller frisiert!«
»Habt ihr kein Klo zu Hause, oder warum lässt du deine ganze Scheiße hier ab?!«, zischte ich wütend zurück.
»Ruhe da hinten!«, unterbrach uns der Lehrer und begann, uns mit dem Thema ›Stoffwechsel‹ zu beglücken.
Ich unterdrückte ein Gähnen und bemühte mich, dem Unterricht zu folgen.
»Hast du Lust, heute Abend bei mir Halloween zu feiern?«, flüsterte Jenna mir zu, während Mr Brewster gerade den energetischen Verlauf einer Enzymreaktion an die Tafel zeichnete. »Heather, Vicky, Finley und Noah kommen auch!«
Es war wirklich nett von ihr, mich trotz allem einzuladen. Sofort wusste ich wieder, warum Jenna meine Freundin war. Aber obwohl ich echt Lust gehabt hätte, musste ich absagen.
»Oh Mann, sorry, Jenna, aber mein Dad zwingt mich, mit ihm zur Halloweenparty seines Kumpels zu gehen. Es tut mir leid, ich wäre tausendmal lieber zu dir gekommen!« Verlegen puhlte ich an dem Kreuz, das ich mir mit einem schwarzen Stoffband um den Hals gebunden hatte.
Dass mein Vater gar keine Freunde besaß, wusste Jenna zum Glück nicht.
Ich hätte so ziemlich alles dafür gegeben, mal wieder einfach nur ›Ella‹ zu sein und mit Freunden eine unbeschwerte Party feiern zu können. In Wahrheit besaß ich jedoch weder ein Kostüm noch konnte ich das allerkleinste Häppchen zum Büfett beisteuern.
»Ella Bowen, hättest du die Güte, dein Privatgespräch zu unterbrechen und mir stattdessen zu verraten, wo das Temperaturoptimum für die Wirkung von Enzymen beim menschlichen Organismus liegt?«, fuhr der Lehrer mich an.
Ich schenkte ihm ein freches Grinsen und flötete: »Aber gerne doch, Mr Brewster! Bei achtundneunzig Komma sechs Grad Fahrenheit. Sind die Temperaturen höher, verlieren die Enzyme ihre Aktivität aufgrund der für Eiweiße charakteristischen Zerstörung der Tertiärstruktur.«
Erstaunt nickte der Lehrer und knöpfte sich einen anderen Schüler vor.
Jenna warf mir einen bewundernden Seitenblick zu.
»Hab ich gestern noch im Biobuch gelesen«, flüsterte ich achselzuckend. Meistens reichte es, wenn ich mir eine Seite ein Mal ansah, um die Informationen zu speichern.
»Du bist zwar so fett, dass du ’ne eigene Postleitzahl brauchst, aber von Bio haste echt Ahnung!«, beehrte Daniel mich mit seinem zweifelhaften Lob.
»Ach, geh doch ein bisschen auf dem Highway spielen!«
Er war wirklich ein Arschloch. Gedanklich drosch ich ihm mehrmals in die blasierte Fresse. Zum Glück war Jenna an meiner Seite und ließ sich auch von meinem merkwürdigen Verhalten in letzter Zeit nicht vertreiben.
Als es endlich klingelte, sprangen Jenna und ich auf und verließen gemeinsam den Raum. Auf dem Weg zur nächsten Stunde gab sie mir von ihrem Brot ab, als ich log, dass ich mein Essen dummerweise vergessen hätte. Das besänftigte meinen schmerzenden Magen ein wenig. Irgendwann würde ihr auffallen, dass ich mein Essen seit Tagen ständig vergaß.
In der Mittagspause saßen wir, wie meistens, gemeinsam mit Victoria, Heather, Noah und Finley an einem Tisch in der Cafeteria.
Victoria flirtete heftig mit einem Jungen vom Nachbartisch, was wir großzügig ignorierten. Als die anderen ihr Mittagessen vertilgten, behauptete ich, nichts essen zu wollen, während ich verstohlen die Hand auf meinen Bauch presste und hoffte, dass er nicht wieder anfangen würde, laut zu knurren.
»Ich weiß gar nicht, wie ihr diesen Fraß herunterbekommt«, tönte ich schlecht gelaunt. »Die Nudeln sind ein einziger verkochter Klumpen! Da grille ich mir lieber heut Abend ein paar knusprige Käfer!« Betont lässig schaute ich in die Runde. Ich liebte es, mit dem Gothic-Image zu spielen. Lieber ein schräger Vogel, als bemitleidet zu werden.
»Bäh, Käfer!« Jenna rümpfte die Nase. Dann verzog sich ihr Gesicht zu einem schelmischen Grinsen, das mich besorgt auf meiner Unterlippe kauen ließ. »Was ist denn nun eigentlich mit dem Augenbrauenpiercing, das du dir schon so lange machen lassen willst, Ella?« Herausfordernd blickte sie mich an.
»Na ja, du weißt doch, dass mein Ohrläppchen sich gerade wieder entzündet hat!«, verteidigte ich mich halbherzig und errötete, denn in Wirklichkeit hatte ich höllische Angst vor Schmerzen und betrachtete Tattoos und Piercings lieber bei anderen. »Ich warte besser noch ein bisschen.«
Jenna war mein wandelndes Gewissen, die Freundin, die mein Wertesystem auf nette Art wieder zurechtrückte, wenn ich auf dumme Gedanken kam. Das ging so weit, dass ich meinte, ihre mahnende oder ermunternde Stimme zu hören, selbst wenn sie nicht in der Nähe war. Vermutlich kompensierte ich damit die fehlenden Eltern …
Mit wissendem Blick ließ Jenna das Thema auf sich beruhen und lenkte das Gespräch auf die bevorstehende Halloweenparty, während ich mich über die Reste ihrer Nudeln hermachte, die sie nicht geschafft hatte.
»Muss man ja nicht wegwerfen«, nuschelte ich auf die irritierten Blicke der anderen hin mit vollem Mund.
Nach der Schule entwickelten meine Beine ein Eigenleben und machten sich ganz von selbst auf den Weg zum Discounter – dabei hatte ich keinen müden Cent mehr in der Tasche. Vor allem das Regal mit den Backwaren zog mich magisch an. Es war niemand in der Nähe, der mich hätte sehen können. Schon wollte ich die Hand nach einem knusprig frischen Brötchen ausstrecken, als in meinem Kopf die andere Stimme erklang, die ich manchmal zu hören meinte: Die Stimme meiner Großmutter. »Ella, du bist ein gutes Kind. Du hast das Herz auf dem rechten Fleck. Du bist nicht wie dein Dad und wirst es auch nie sein.«
Das hatte sie stets gesagt, wenn mein Vater wieder einmal bei uns aufgetaucht war und um Geld gebettelt hatte. Ich hatte mich so für ihn geschämt.
Meine Mom war an Krebs verstorben, als ich noch sehr klein war, und weil mein Vater nicht mit mir zurechtkam, hatten meine Großeltern mich zu sich genommen. Es war allein ihr Verdienst gewesen, dass ich bisher nicht auf die schiefe Bahn geraten war und nur gute Noten nach Hause brachte.
Seufzend ließ ich die Klappe vor den Brötchen wieder zufallen. Es musste einen anderen Weg geben.
Schon seit Tagen suchte ich nach einem Job. Aber niemand wollte mir auf die Schnelle Arbeit geben, und um auf den Strich zu gehen, war ich nicht verzweifelt genug.
Während ich noch überlegte, wandte ich mich verunsichert um, denn es fühlte sich so an, als ob mich jemand beobachten würde. Aber da war niemand.
Hatte mich vielleicht der Kaufhausdetektiv im Visier? Er brauchte sich nicht zu sorgen, ich würde nicht stehlen. Stattdessen verließ ich mit hängendem Kopf den Laden.
In der Main Street war ein guter Platz, das wusste ich, weil ich dort schon Bettler gesehen hatte.
Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, hockte ich mich auf das Gehwegpflaster, beschriftete eine herausgerissene Heftseite mit ›ICH HABE HUNGER‹ und legte sie vor meinen Rucksack – in der Hoffnung, dass eine gute Seele mir etwas zuwerfen würde.
›Ich habe Hunger‹ klang gut, fand ich. Das erweckte Mitleid. So machten es die anderen Bettler doch auch. Besser noch wäre ›Mein Hund hat Hunger‹ gewesen. Das hatte ich letzte Woche vor dem Supermarkt bei einem Obdachlosen gesehen. Aber leider besaß ich keinen. Vielleicht sollte ich mir einen zulegen, wenn das Bettelgeschäft gut lief. Hunde waren toll! Als ich noch klein war, hatten meine Großeltern einen Terrier, der in meinem Bett schlafen durfte.
Voll Elan setzte ich meinen herzzerreißendsten Blick auf, mit dem Erfolg, dass ein Kind im Skelettkostüm seine Mutter fragte: »Warum guckt das Mädchen so komisch? Muss die mal Pipi?«
So weit zu meinem Welthungerhilfe-Blick. Ich stieß die Luft aus und ließ meine Brauen zurück in Normalposition rutschen.
Eine Stunde später hockte ich immer noch dort und musste den mitleiderregenden Blick nicht mehr spielen, als es begann, unangenehm kühl zu werden. Lauter lustig oder gruselig maskierte Gestalten zogen vorüber. Sicher unterwegs zu einer großartigen Halloweenparty, dachte ich neiderfüllt und unterdrückte das Zähneklappern.
Ich wagte nicht, darüber nachzudenken, was passieren würde, wenn zufällig einer meiner Mitschüler auf dem Weg zu einer Party vorbeikäme – womöglich sogar Lucas – und mich hier erkannte.
War da am Ende schon jemand? Zwar konnte ich kein bekanntes Gesicht entdecken, hatte jedoch nach wie vor das unbestimmte Gefühl, dass ich beobachtet wurde. Verstohlen linste ich unter der Kapuze hervor, aber da war nichts Auffälliges.
Ganz im Gegenteil. Es war, als wäre ich doch noch unsichtbar geworden. Keiner beachtete mich, und wenn doch, dann machten die Leute einen großen Bogen, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Hätte sich mein Selbstbewusstsein nicht längst irgendwo in unterirdischen Höhlen versteckt, wäre es mir spätestens jetzt abhandengekommen.
Nur selten einmal erbarmte sich jemand und warf ein paar Cent auf meinen Rucksack, aber das war nicht genug.
Traurig starrte ich auf den Gehweg.
»He, Püppchen, verschwinde hier!«, wurde ich auf einmal lautstark angepöbelt.
Erschrocken schaute ich hoch. Ein armselig gekleideter Kerl mit verhärmtem Gesicht und zugeschwollenen Augen stand direkt vor mir. Hastig rappelte ich mich auf, denn er sah nicht gerade danach aus, als wollte er nett zu mir sein.
»Das is’ mein Platz, verzieh dich, sonst setzt’s was!«, drohte er mit glasigem Blick.
»Oh! Ich wusste gar nicht, dass Ihnen das Kaufhaus gehört!«, zwitscherte ich liebenswürdig und schnappte mir meinen Rucksack mit dem kümmerlichen Häufchen Geld.
»Hä?«, fragte er irritiert. Ironie war wohl nicht so sein Ding. »Sieh zu, dass du hier wegkommst, sonst mach ich dir Beine!«
»Nein danke, die habe ich schon.« Ich wandte mich zum Gehen, denn noch mehr Ärger konnte ich wirklich nicht gebrauchen.
»He, du!«, rief er mir auf einmal unerwartet freundlich hinterher. »Nun sei nich’ gleich beleidigt! Willste auch was?« Er hielt mir ein winziges Tütchen mit Pulver darin entgegen. »Bin ja kein Unmensch.« Er lachte keuchend.
»Was ist das?« Argwöhnisch trat ich näher.
»Reine Glückseligkeit, meine Kleine«, behauptete er. »Das Ende aller Sorgen, die pure Freude. Ein paar Krümel hiervon und alles wird gut, das versprech ich dir.«
»Drogen!« Abwehrend hob ich die Hand. »So was nehme ich nicht!«
»Psst!«, zischte er und ließ die Tüte hastig wieder in seiner Tasche verschwinden. »Stell dich nich’ so an, du bescheuerte Göre! Was hast du denn gedacht, was es ist?«
»Lass man stecken«, erklärte ich ihm. »Es reicht, so auszusehen wie ich. Keine Lust, so auszusehen wie du!«
Dann machte ich, dass ich davonkam, bevor er begriff, dass ich ihn gerade beleidigt hatte.
Vielleicht war ich doch nicht für die Bettlerszene geeignet.
Vor einem anderen Geschäft fand ich einen neuen Platz, doch auch hier waren die Leute nicht freigiebiger.
Endlich, nach einer frustrierenden weiteren halben Stunde, war das Glück mir doch noch hold. Eine nett aussehende alte Dame kam auf mich zu. »Also wirklich, Mädchen!« Sie blieb stehen und schaute missbilligend auf mich herab. »Was sitzt du denn hier bei der Kälte auf dem Boden?«
Ich hob den Kopf und bemühte mich noch einmal um einen herzzerreißenden Blick, in der Hoffnung, dass ich wenigstens sie erweichen konnte.
»Aber, Kindchen, du bist ja noch blutjung! Wo sind denn deine Eltern, um Himmels willen?«
»Äh … tot?«, stotterte ich verlegen. »Jedenfalls zu fünfzig Prozent.«
Verwundert runzelte sie die Stirn. »Na, komm erst einmal mit. Hast du Hunger? Dumme Frage«, beantwortete sie es selbst, »das steht ja auf deinem Schild, und du bist keine Lügnerin, oder?«
Stumm schüttelte ich den Kopf und fühlte mich ein wenig schäbig, weil ich durchaus oft log. Vor allem in letzter Zeit.
»Was hältst du von einer Pizza? Da drüben gibt es Stücke auf die Hand.«
Ich rappelte mich auf. Für Pizza hätte ich töten können. »Oh ja!«, entfuhr es mir. Taumelnd kam ich zum Stehen, weil meine Glieder so steif gefroren waren.
»Hoppla! Langsam, Liebes.« Die alte Dame ging neben mir her zum Imbiss. »Bist du etwa von zu Hause ausgerissen? Hast du denn niemanden, der dich sucht?« Sie schaute mich so voll Mitleid an, dass ich den Blick abwenden musste.
Verlegen knetete ich den Gurt meines Rucksacks. Wer sollte mich schon vermissen? Mein Vater lebte in seiner eigenen Welt. Ihm war vermutlich noch nicht einmal aufgefallen, dass ich nicht mehr dafür sorgte, dass seine stinkenden Socken gewaschen wurden und eine warme Mahlzeit auf den Tisch kam.
»Du möchtest nicht darüber reden, oder?«, fragte sie und musterte mich prüfend.
»Lieber nicht«, gestand ich verlegen.
»In Ordnung. Was hättest du gerne auf deiner Pizza?«
Wir waren vor dem Imbiss angekommen, und der intensive Geruch nach frisch gebackenem, knusprigem Teig und italienischen Kräutern ließ mich fast in die Knie gehen.
Alles! »Salami bitte«, sagte ich, denn das war die günstigste Variante.
Sie bestellte die Pizza und eine Cola gleich dazu. Dann musterte sie mich. »Nimmst du Drogen?«
»Nein!«, stieß ich hervor. »So etwas würde ich niemals tun!« Schon das zweite Mal heute, dass jemand dachte, ich wäre ein Junkie! Sah ich wirklich so mies aus?
»Das ist gut, mein Kind.«
Der Verkäufer reichte mir das Pizzastück und die Cola.
»Gehst du zur Schule?« Lächelnd beobachtete meine Wohltäterin, wie ich das Essen in Sekundenschnelle verschlang und die Cola gierig hinterherschüttete.
Ich nickte als Antwort mit vollem Mund und musste ein Rülpsen unterdrücken. »Mhm!«, bestätigte ich.
Sie schien zufrieden. »Da hat aber jemand wirklich Hunger, nicht wahr? Noch ein Stück?«
Es gelang mir einfach nicht, der Höflichkeit halber ›Nein‹ zu sagen, und als ich mich nicht wehrte, bestellte sie kurzerhand das Gleiche noch einmal.
Schließlich leckte ich mir satt über die Lippen und grinste zufrieden. »Das war lecker! Danke!«
»Es war mir ein Vergnügen.« Sie lächelte gütig. »Weißt du, dass es Wohngruppen für Jugendliche gibt, die – egal aus welchen Gründen – nicht zu Hause bleiben können?«
»Nein!«, antwortete ich überrascht. Ich hatte gedacht, ich würde in ein Heim am anderen Ende Pennsylvanias gesteckt werden und müsste fort aus Brookville, wenn ich mich weigerte, bei meinem Vater zu leben. Das könnte die Lösung für mich sein! Dann würde ich sogar auf meiner Schule bleiben können.
»Meine Tochter arbeitet in solch einer Einrichtung, ich möchte dir gerne ihre Telefonnummer geben.« Die fremde Dame holte einen Kugelschreiber und einen alten Einkaufszettel aus ihrer Handtasche und notierte auf dessen Rückseite eine Nummer. »Versprich mir, dass du sie anrufen wirst!«, sagte sie und steckte mir, zusätzlich zu dem Zettel, noch einen Zehner zu.
»Ich werde anrufen!«, stieß ich hervor. »Danke!« Mehr konnte ich nicht sagen, weil meine Kehle plötzlich so eng war.
»Dann werde ich von dir hören, Kindchen. Bis bald und alles Gute!«
Sie winkte und ging davon, während ich begann, mein mühsam Erbetteltes zu zählen. Jetzt würde es für den Einkauf reichen. Zufrieden betrat ich den Discounter. Mittlerweile ging bereits die Sonne unter. Mir schauderte ein wenig bei dem Gedanken, gleich in das verfallene Haus zurückkehren zu müssen, denn ein paar der verkleideten Gestalten, die die Straßen immer zahlreicher bevölkerten, sahen wirklich gruselig aus.
Bedächtig legte ich Brot, Äpfel, Käse, Seife, Haarwaschmittel und Waschpulver in meinen Korb.
Als ich eben nach einem Deodorant griff, ließ mich eine tiefe Männerstimme direkt hinter mir zusammenzucken. »Da hatte ich also recht, dass du nichts stehlen würdest.«
Erschrocken fuhr ich herum und musterte den Fremden vor mir argwöhnisch.
Er war bestimmt einen ganzen Kopf größer als ich, sodass ich zu ihm aufsehen musste, und trug einen langen, dunklen Mantel und halbhohe Stiefel. Nachtschwarz glänzende Haare, die einen Hauch zu lang waren, umspielten seinen Kopf. Ich blinzelte nervös, denn er sah aus wie die etwas ältere Version des männlichen Hauptdarstellers eines Highschool-Liebesfilms.
Der Typ war heiß. Verdammt heiß! Er sah sogar noch besser aus als Lucas. Die Frauen mussten ihm zu Füßen liegen.
»Herzen kann man stehlen!«, entfuhr es mir zusammenhanglos.
Ella, reiß dich zusammen, ermahnte ich mich, aber ich konnte nicht anders als ihn anzustarren, denn er war die Sorte Mann, die einem nachts sehnsüchtige Träume bescherte …
Er war so perfekt, dass er seinen Lebensunterhalt problemlos als Model hätte verdienen können. In Gedanken sah ich ihn auf einem Zeitschriftencover nur mit Designerunterwäsche bekleidet. Ich schluckte und schüttelte den Kopf, um das Bild zu vertreiben.
Als Gott diesen Mann erschuf, hatte er angeben wollen, so viel stand fest.
Das Faszinierendste jedoch waren seine leuchtenden Augen, die von langen dunklen Wimpern gerahmt wurden. Sie mussten blau sein, aber es wirkte eher, als wären sie aus schimmerndem Eis.
Mir kam der Vampir aus einem meiner Romane in den Sinn. Der war auch überirdisch schön gewesen, und seine Augen hatten sogar die Farbe gewechselt.
Wie gebannt schaute ich den Mann an, bis mir klar wurde, dass er Halloween-Kontaktlinsen tragen musste. Niemand hatte solche Augen.
Der Fremde musterte mich abschätzig. »Herzen …«, echote er, als hielte er mich für schwachsinnig.
Und irgendwie kam ich mir auch so vor, während ich angesichts dieses Prachtexemplars um Worte rang.
»Äh, ich wollte sagen, dass ich noch nie in meinem Leben gestohlen habe!«, stotterte ich. War er etwa der Ladendetektiv und hatte mich vorhin schon beobachtet?
»Gut.« Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging.
Verwirrt blickte ich ihm hinterher. Warum hatte er mich angesprochen? Der Typ war echt unheimlich, und ich war froh, dass er weg war.
Auf dem Heimweg kamen mir in der Dunkelheit zwei Jugendliche entgegen, die sich als Vampir und Zombie verkleidet hatten. Der eine hatte eine klaffende Wunde im Gesicht, deren blutrote Farbe verblüffend echt wirkte. Sie rannten an mir vorbei, da es zu regnen begonnen hatte, und wünschten mir ein fröhliches Halloweenfest. Mit einem Anflug von Neid grüßte ich zurück und eilte weiter.
Nachdem die beiden in einem dunklen Hauseingang verschwunden waren, befand sich außer mir niemand mehr auf der Straße. Nur aus den hell erleuchteten Fenstern, die bizarre Lichtflecken auf den Gehweg warfen, drangen Gelächter und Musik heraus.
Obwohl weit und breit niemand zu sehen war, meinte ich, hinter mir Schritte zu hören. Doch jedes Mal, wenn ich stehen blieb und mich umschaute, verstummte das Geräusch. Wieder hatte ich das beklemmende Gefühl, beobachtet zu werden. Mit klopfendem Herzen stapfte ich schneller den Berg hinauf und wischte mir fahrig mit dem Ärmel über das regennasse Gesicht.
Als ich endlich die Auffahrt zu dem verlassenen Haus erreichte, bemerkte ich auf der Anhöhe wieder diesen eigenartigen Schatten, der wie eine menschliche Gestalt wirkte.
Es sind nur Büsche, beruhigte ich mich. Sei kein Angsthase, Ella Bowen! Wer würde sich zwei Tage hintereinander an den gleichen Platz stellen, noch dazu, wo es mittlerweile in Strömen goss?
Da – eben hatte sich etwas bewegt!
Mit vor Furcht rebellierendem Magen hetzte ich zum Haus. Erst als ich die Tür hinter mir geschlossen, verriegelt und den gusseisernen Tisch davorgeschoben hatte, beruhigte sich mein Herzschlag.
Nachdem ich die Laterne entzündet hatte, zog ich mein nasses Zeug bis auf die Sneakers aus, das Schlafshirt über und wusch erst einmal alle meine Oberteile in einem Eimer. Sie würden morgen noch feucht sein, also musste ich so früh wie möglich zur Schule gehen und den Händetrockner in der Toilette benutzen, um sie trocken zu föhnen.
Nach dem Unterricht würde ich gleich die Tochter der netten alten Dame anrufen. Vielleicht würde ich dann bald in eine fröhliche WG einziehen, in der es genug zu essen, fließend Wasser und eine Heizung gab, und konnte meinen Schulabschluss machen, ohne zurück zu meinem Vater zu müssen.
Draußen peitschte der Sturm den Regen gegen die Spanplatten, mit denen die Fenster vernagelt worden waren, und trieb feuchte Kälte in das marode Haus.
Als ich gerade gedankenversunken mein schwarzes Lieblingsshirt mit der Aufschrift Ach wie gut, dass niemand weiß, auf wen & was ich alles scheiß wusch, war auf einmal ein lautes Geräusch von der Tür her zu hören. Da war jemand! Entsetzt sprang ich auf und starrte zur Tür. Meine Beine zitterten.
Einen Augenblick lang war alles still. Dann dröhnte ein lautes Krachen durch das gesamte Haus.
Jemand rammte mit solcher Wucht gegen die Tür, dass der schwere Beistelltisch mit ohrenbetäubendem Knall auf der Seite landete und quer durch den Flur rutschte. Die Flamme der Laterne flackerte vom Luftzug, und im nächsten Moment füllte eine hochgewachsene Männergestalt den Türrahmen aus.
»Was wollen Sie?«, stieß ich mit bebender Stimme hervor, während mein Herzschlag wie ein Presslufthammer dröhnte.
Gehörte er zu den neuen Hausbesitzern und wollte einfach nur nach dem Rechten sehen? War er ebenfalls ein Obdachloser, der eine Bleibe benötigte? Oder … war er jemand, der ein wehrloses Opfer suchte? Ein Räuber? Vergewaltiger? Vielleicht sogar ein Mörder?!
Zitternd versuchte ich, im schwachen Laternenschein das Gesicht des Fremden zu erkennen.
»So allein in diesem Haus?«, fragte er mit gefährlich ruhiger Stimme, die mir ein Schaudern über den Rücken jagte.
»Quatsch, ich bin nicht allein!«, log ich verzweifelt. »Meine Freunde müssen jeden Moment zurückkommen. Wir wollten hier unsere Halloweenparty feiern, weil es so schön gruselig ist!«
»Freunde?« Er lachte gehässig. »Komisch, die habe ich hier noch nicht gesehen! Wo waren sie denn in den letzten Tagen?« Mit raubtierhafter Geschmeidigkeit trat er näher. »Nein. Niemand wird kommen, um dir zu helfen«, verkündete er mit grausamer Gelassenheit.
Er war es, der mich auf dem Heimweg beobachtet hatte! Es traf mich wie ein Blitzschlag.
Erfüllt von blankem Entsetzen wollte ich fliehen, doch ich kam nicht einmal bis zum Türrahmen, da hatte er mich bereits am Shirt gepackt. Ein schmerzhafter Ruck am Hals stoppte mich. Ich taumelte mit dem Rücken gegen seine massive Gestalt und wäre gestürzt, wenn er mich nicht immer noch festgehalten hätte. Ein ersticktes Schluchzen entfuhr mir, als mir klar wurde, dass ich gegen ihn keine Chance hatte.
Höhnisch lachend hob er die Hand und berührte mich mit den Fingern leicht an der Schläfe. Etwas, das sich wie ein elektrischer Schlag anfühlte, ließ mich erzittern. Und während mir noch durch den Kopf schoss, dass mir sein Duft bekannt vorkam, knickten meine Beine wie Strohhalme unter mir weg. Alles drehte sich vor meinen Augen, und es gelang mir nicht mehr, mit ihnen einen Punkt zu fixieren.
Weder mein Körper noch mein Kopf gehorchten mir.
Ich hörte Worte, die ich nicht verstand. »Ganz ruhig, ich werde dir nicht wehtun.«
Hände hielten mich unter den Achseln. Arme hoben mich hoch, als wäre ich leicht wie eine Feder.
Eine helle Stimme, die leise wimmerte. War das meine?
Ich wusste, dass ich mich wehren müsste, es wenigstens versuchen sollte, aber ich war wie gelähmt.
Wilde Muster rasten auf mich zu.
Dann wurde mir schwarz vor Augen.