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Edgar Wallace

nacherzählt von

Alex Barclay

Das Silberne Dreieck
und
Der Mann der zweimal starb

Krimi

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(Alle London-Krimis von Edgar Wallace und Alex Barclay sind von Mr. Barclay für den ARAVAIPA-Verlag neu überarbeitet worden.)

eISBN 978-3-03864-907-6
Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form, einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien, der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung und der Aufnahme in Datenbanken, ausdrücklich vorbehalten.
Lektorat: Horst und Fritz Eibl (A)
Umschlaggestaltung: Agentur flin
Copyright © 2017 by ARAVAIPA–Verlag,
Egg bei Zürich, Freudenstadt, Tucson

ARAVAIPA im Internet: www.aravaipa.ch

Inhalt

1. Der Totentanz

2. Der Mann mit dem bösen Gesicht

3. Scotland Yard im Einsatz

4. Der Schatten

5. Warten auf Rodney

6. Dearborn gibt nicht auf

7. Clinkenbeard & Co.

8. Das Todesurteil

1. Kapitel
Der Totentanz

Henry Winfield führte seine Touristengruppe zum Albert Memorial. Im Moment brauchte er den Leuten, die ihm kreuz und quer durch die riesigen Parkanlagen gefolgt waren, nicht viel zu sagen. Vielleicht waren keine Studierten unter ihnen, aber sie gehörten der gehobener Schicht ihrer Länder an, aus denen sie kamen, und so wussten sie die Bedeutung der Sehenswürdigkeiten, die ihnen London für Momente ihres Lebens schenkte, sehr zu schätzen. Die Kensington Gardens präsentierten sich an diesem herrlichen Montagnachmittag in buntester Herbstpracht. Henry Winfield ließ den Leuten Zeit, die wunderbare und geruhsame Atmosphäre zu genießen. Aufmerksam wie immer half er einer älteren Dame mit einer brandneuen Kodak-Brownie, einen frischen Film einzulegen, ließ sich selbst mit einem Ehepaar aus Dänemark fotografieren und zierte ein hübsches dunkelhaariges Mädchen aus Österreich mit einem blutroten Ahornblatt, das er im Vorbeigehen vom Rand eines Blumenbeetes aufgehoben hatte. Das Mädchen, Dagmar hieß es, errötete leicht, schlug die Augen nieder und hielt das Blatt beinahe verschämt gegen ihre Wange. Ein wunderschönes Portrait würde es werden, frohlockte die Dame und machte mit ihrer Kamera ein Foto von dem Mädchen, und da sie fast alle mit diesen neuen Rollfilmkameras ausgestattet waren, fotografierten die meisten von ihnen das Mädchen mit dem glänzend schwarzen Haar und dem blutroten Blatt. Jemand in der Gruppe lachte, hakte sich bei dem Mädchen ein und tanzte mit ihm einige Schritte über den Parkweg, und das Mädchen überließ das Blatt dem sanften Novemberwind. Ja, es war einer dieser herrlichen Tage in einem Herbst, den einer der Touristen aus Kansas City „Indianersommer“ nannte.

Henry Winfield war wieder einmal glücklich, hier zu sein, mit fröhlichen Leuten zusammen, die den Alltag irgendwo auf dem Kontinent und auf der anderen Seite des großen Teiches zurückgelassen hatten, um in London ein paar Tage Urlaub zu verbringen.

Und London hatte ihnen als Metropole viele kulturelle Schätze zu bieten.

Zu ihnen gehörten auch die wundervollen Kensington Gardens, die sich an diesem Tag in besonderer Pracht präsentierten, als ein Teil des Hydeparks, der größten Parkanlage Londons. Henry kannte die Geschichte des Parks wie kein Zweiter. Tausendmal oder mehr hatte er sie schon erzählt. Immer und immer wieder, und manchmal schweifte er in Gedanken beim Erzählen von der Geschichte ab, dachte an ganz andere Dinge, und dann war ihm jeweils, als wäre nicht er es, der erzählte, sondern ein Unsichtbarer an seiner Stelle. Trotzdem verhedderte er sich nie, denn der Park war für ihn eine Herzensangelegenheit und nicht nur eine Kopfsache.

Ursprünglich, so erzählte er es auch an diesem Tag, war der Park im Besitz der Westminster Abtei gewesen. Im Jahre 1536 wurde er von Henry VIII. in einen königlichen Wildpark umgewandelt, und hundert Jahre später öffnete ihn Charles I. seinem Volk. Fast die ganze Geschichte Londons war gleichzeitig die Geschichte des Königshauses. Wer sie nicht kannte, konnte sich gar nicht vorstellen, warum heute alles so war, wie es war, auch wenn momentan der alte Glanz der Krone durch die Ungewissheit, was aus dem Königreich in der Moderne werden würde, etwas matt schien.

Henry liebte Geschichte, wobei er sich nie so richtig klar darüber war, ob er tatsächlich Geschichte liebte oder doch nur Geschichten aus der Geschichte. Wer wusste denn schon, was sich früher tatsächlich abgespielt hatte, und je nachdem von welchem Standpunkt aus Geschichte betrachtet worden war und heute betrachtet wurde, veränderte sich die Perspektive. Wenn Henry jedoch durch den Hyde Park spazierte, wurden die Leute wieder lebendig, die zweihundert Jahre zuvor dieselben Pfade entlang gegangen waren, Caroline von Ansbach zum Beispiel, die Gemahlin von George dem Zweiten. Sie war es gewesen, die den großen Serpentinenteich hatte anlegen lassen, der heute der Tummelplatz vieler Wasservögel war und ein beliebter Ort zum Baden, Rudern und Segeln.

Dort, wo sich der Flower Walk mit dem Lancaster Walk kreuzte, versammelte Henry Winfield die kleine Gruppe um sich und wies mit ausgestrecktem Arm zum Albert Memorial hinüber, das in den Jahren 1863-1876 für Prinz Albert von Sachsen-Coburg-Gotha erbaut worden war. Das Denkmal stand am Ende des Lancaster Walks, eines breiten Fußweges mit Parkbänken zu beiden Seiten, im Schatten mächtiger alter Bäume.

Henry erzählte vom Bau des Denkmals, von Prinz Albert, dem Gemahl von Königin Victoria, und vom Erbauer, Sir Gilbert Scott. Er konnte fesselnd erzählen. Die Geschichte wurde vor den Augen der Leute lebendig, und sie erlebten einen König und seine Gemahlin aus der Sicht Henrys, schmunzelten über seine Ausführung zum Verhältnis des Königs zu seiner Mätresse Amalie Sophie von Wallmoden, die zum Preis von 1000 Dukaten von ihrem ersten Gatten freigekauft worden war. Ob der, unter Hämorrhoiden leidende König danach besser gelaunt war, wusste zwar nicht, aber Albert zeugte mit Sophie einen unehelichen Sohn und erlaubte es seiner Frau Caroline vielleicht zum Trost, diesen herrlich schönen Park anzulegen, wo sie sich und ihre Gedanken von Wasservögeln verzaubern lassen konnte. Die Touristen hingen an seinen Lippen, während er sie näher an das Denkmal heranführte, so dass sie die Bronzefigur des Prinzen erkennen konnten, der unter dem reichgeschmückten 58 m hohen gotischen Baldachin auf einem mächtigen Sockel sitzt. In seiner Hand hält er den Katalog der Weltausstellung. Auf dem Postament zeigen Marmorreliefs 178 berühmte Persönlichkeiten der Kunst und Wissenschaft aus allen Zeitepochen. Henry Winfield war gerade dabei, die Figurengruppen an den Ecken des Monuments zu erklären, als plötzlich ein Mann hinter dem Postament hervorkam und auf die Freitreppe taumelte.

Henry erkannte den Mann sofort, er hatte sein Bild schon mehrere Male in den Zeitungen gesehen. Dort oben, schwankend wie ein Betrunkener, stand John Didsworth, der bekannte Theaterschauspieler. Er trug einen Hut und einen Regenmantel. Wahrscheinlich war er der einzige Mensch in London, der an diesem schönen Herbstnachmittag einen Regenmantel und weiße Gamaschen trug.

Henry schmunzelte. Geborene Künstler sind eben verrückte Leute, die meisten von ihnen egozentrisch, dünnhäutig und unberechenbar, dachte er und bemerkte gleichzeitig, wie die Leute um ihn herum dichter an ihn herandrängten, als suchten sie in seiner Nähe Schutz. Er lachte. Für die Leute vom Festland musste der Mann auf der Freitreppe ein beängstigendes Bild abgeben. Besonders, als er jetzt einen großen alten Revolver aus dem Mantel zog und mit ihm herumzufuchteln begann. Drüben auf dem Festland hatte man wohl noch nichts von John Didsworth gehört, diesem jungen, erfolgreichen Bühnenschauspieler, der mit seiner Rolle als Romeo die Herzen aller Londoner im Sturm erobert hatte.

Für Henry aber war das Erscheinen dieses Mannes nichts als ein außergewöhnliches Erlebnis, glaubte er doch, John Didsworth hätte sich diese Touristenattraktion ausgewählt, um sich auch Menschen aus anderen Ländern bekannt zu machen. Strahlend vor Freude, als wäre er selbst der Direktor dieses Theaterspektakels trat er vor seine Gruppe und wies mit ausgestrecktem Arm und einer einladenden Verbeugung zur Treppe des Monuments hinüber. »Ladies und Gentlemen, darf ich Ihnen ein einmaliges Gastspiel präsentieren! Mr. John Didsworth - der große Schauspieler!«

Das Mädchen aus Österreich mochte ihm nicht glauben. »Ist er wirklich ein Schauspieler?«, zweifelte es.

»Der beste, der zur Zeit in London auf den Brettern steht«, verkündete Henry. »Er ist der feurigste und romantischste Geliebte, den Julia jemals hatte. Shakespeare würde sich einen Balkonsitz reservieren lassen, solange Mr. Didsworth am National Theater für die Rolle des Romeo engagiert ist.«

»Ich glaube eher, es handelt sich bei diesem Herrn um einen Betrunkenen«, widersprach ihm ein Mann aus Deutschland, der ziemlich gut Englisch sprach. »Oder vielleicht ist er ein Verrückter.«

Henry wollte gerade sagen, dass alle Künstler auf die eine oder andere Art verrückt waren, als John Didsworth die Treppe hinauf lief, plötzlich stehenblieb und in einer theatralischen Weise beide Arme hob. Mit einem einzelnen roten Ahornblatt, das für einen Moment vor dem Monument herumtanzte, wehte der Wind die Worte des berühmten Schauspielers durch den Park.

»Feuer in meiner Seele!«, schrie er. »Rasender Schmerz! Komm und erlöse mich, oh Julia!«

Henry blieb das Lachen im Hals stecken, als John Didsworth den Revolver auf die kleine Touristengruppe richtete. Krachend löste sich der Schuss. Mit einem erstickten Schrei sank neben Henry das Mädchen mit den dunklen Haaren in die Knie. Niemand reagierte. Vor Entsetzen gelähmt, starrten sie alle zur Treppe des Denkmals hinüber. Dort oben stand John Didsworth mit wehendem Haar, denn der Hut war ihm bei der Schussabgabe vom Kopf gefallen. Sein Mantel umwallte ihn. Eine Strähne seines lockigen Haars hing ihm über das hagere blasse Gesicht mit dem schmalen Mund und den glitzernden Augen, die in tiefen dunklen Höhlen lagen. Er lachte in das Echo des Schusses hinein, und während die Leute unten nun in panischer Angst die Flucht ergriffen, hob der junge Schauspieler den Revolver an seine Stirn.

Nur Henry war regungslos am Fuße der Treppe stehen geblieben und starrte gebannt auf das Schauspiel, das sich seinen ungläubig aufgerissenen Augen bot. Das kreischende Gelächter, das Geschrei der fliehenden Menschen, die Hilferufe des Mädchens, das zu seinen Füßen am Boden lag, hörte Henry wie Geräusche und Laute, die aus weiter Ferne an sein Ohr drangen. Als wäre es nichts als ein schrecklicher Alptraum, ein Theaterstück, das der Teufel geschrieben hatte, spielte sich vor seinen Augen eine Szene ab, die er im Leben nie mehr vergessen würde.

John Didsworth begann auf der Freitreppe zu tanzen, taumelte über die Stufen herunter, wiegte sich in seinem eigenen Gelächter und drückte schließlich den Revolver ab.

Jetzt schloss Henry Winfield wie geblendet die Augen. Er versuchte sich in diesen Sekunden des Schreckens einzureden, dass dies alles nicht wahr war: der schöne Herbsttag, die bunten Blätter, die im Wind tanzten, das hübsche Mädchen, das Julia hätte sein können, John Didsworth auf der Treppe des Albert Memorial. Aber als er die Augen wieder öffnete, war alles noch da. Und Polizeipfeifen wurden laut und machten ihm bewusst, dass er der brutalen Realität, in der er gefangen war, nicht entfliehen konnte.

Auf den untersten Stufen der Treppe lag John Didsworth mit ausgestreckten Armen und Beinen. Nur seine blonden Locken bewegten sich noch leicht im Wind.

Henry bemerkte erst jetzt, dass sich das Mädchen zu seinen Füßen halb aufgerichtet hatte. Er kniete nieder. Die Augen des Mädchens waren groß und voller Angst. Es klammerte sich an seiner Hose fest. Sein Atem ging keuchend. Schweiß lief ihm über das vor Entsetzen entstellte Gesicht.

»Bitte helfen Sie mir«, keuchte das Mädchen gepresst. »Bitte, ich will nicht sterben. Helfen Sie mir!«

Henry legte seinen Arm um das Mädchen und drückte es sanft an sich, ohne zu merken, wie ihm die Tränen kamen und über die Wangen liefen.

Die Pause zwischen dem ersten und zweiten Akt war ungewöhnlich lang. Die drei Herren, die in einer der Logen saßen, waren sich einig, dass es sich bei dem Theaterstück, das sie sich ansahen, um ein ziemlich gewöhnliches Detektiv- und Verbrecherstück handelte. Jeder von ihnen hatte das »Geheimnis« des Mordes bereits enträtselt, bevor der Vorhang nach dem ersten Akt fiel. Alle drei hatten ohne große geistige Anstrengung die richtige Lösung gefunden, und eigentlich war dies nicht verwunderlich, denn es handelte sich bei den drei Herren Ober-Kriminalinspektor Philander Dearborn von Scotland Yard und um zwei Mitglieder des Silbernen Dreiecks, nämlich um den gutaussehenden, sportlichen George Manfred in einem mausgrauen Anzug mit schwarzem Samtkragen und Leon Gonsalez in einem schwarzen Frack und einem blütenweißen Hemd mit Stehkragen, Londonern bekannt als ein Mann von unglaublichem Kombinationstalent und unfehlbarer Menschenkenntnis.

Die drei hatten schon zusammen in Charing Cross zu Abend gespeist, und zwar auf Einladung des Kriminalinspektors, der sich zu Tisch großmütig und gut gelaunt gab, bis sich das Gespräch um den Selbstmord des Schauspielers John Didsworth zu drehen begann. Kein Wunder, ganz London sprach vom letzten öffentlichen Auftritt des jungen Mannes und seinem tragischen Tod, den selbst ein so wirkungsvoll auf der Treppe des Albert Memorials vor einer ausländischen Touristengruppe inszeniert hatte, als wäre es die größte Rolle seines Lebens. Bis zu diesem Zeitpunkt schien der OberKriminalkommissar in bester Laune gewesen zu sein, doch dies änderte sich schnell, als ihm Leon Gonsalez und George Manfred versicherten, dass sie nichts über den Selbstmord wussten und Scotland Yard nicht weiterhelfen konnten. Von dem Moment an schien Dearborn im wahrsten Sinne des Wortes ziemlich verschnupft, und das lag nicht nur an seiner chronisch verstopften Nase.

Jetzt saßen sie also etwas betreten nebeneinander in den bequemen Polsterstühlen und warteten darauf, dass sich der Vorhang wieder öffnen würde. Dabei fiel Leon Gonsalez auf, dass die Stirn des Inspektors noch immer umwölkt schien, so als ob er sich auch jetzt noch widerwillig mit unangenehmen Gedanken beschäftigte, die sich vermutlich um den Fall Didsworth drehten.

Leon lachte leise. Dearborn wandte ihm den Kopf zu und begegnete dem belustigten Blick Leons, der sich etwas vorgebeugt hatte, mit einem Stirnrunzeln.

»Warum lachen Sie?«, fragte der Inspektor, der sich von der Fröhlichkeit seines Gegenübers nicht anstecken ließ.

»Ihre Gedanken belustigen mich«, gab Leon zurück.

»Sie wollen meine Gedanken kennen?«, zweifelte der Inspektor.

»Ja, Sie dachten doch eben an die Vergangenheit des Silbernen Dreiecks.«

Für einen Augenblick sah es danach aus, als wollte der Inspektor dies vehement bestreiten. Er hatte schon eine verneinende Erwiderung auf der Zunge, hütete sich aber im letzten Moment, sie auszusprechen. Gonsalez und Manfred hätten sich von ihm bestimmt nicht täuschen lassen, und ehe er sich an diesem Abend auf seine Kosten ihrem Gespött preisgab, biss er sich lieber auf die Zunge.

»Seltsam, wie leicht es Leon oft fällt, die Gedanken eines anderen zu erraten, nicht wahr, Inspektor?«, sagte George Manfred lächelnd. »Selbst uns, damit meine ich Raymond Poiccart und mich, überrascht er oft genug mit seinen Fähigkeiten.«

»Eine besondere Begabung«, nickte Dearborn anerkennend. »War das nun Gedankenübertragung oder habe ich mich durch irgendwas, was ich getan habe, verdächtig gemacht?«

Leon Gonzales schüttelte den Kopf.

Manfred schaute unterdessen wieder interessiert hinunter ins Parkett, wahrscheinlich in der Hoffnung, mit seinen feurigen Blicken die Aufmerksamkeit einer der hübschen jungen Damen auf sich zu lenken.

»Nein, das war keine Telepathie im Sinn von Frederic W. H. Myers, Inspektor, und es hat auch nichts mit dem Spiritismus als Überbleibsel des Viktorianischen Zeitalters zu tun«, erklärte Leon. »Ich konnte Ihre Gedanken Ihrem Gesicht ablesen, mein Lieber.«

Dearborn holte ein Taschentuch aus seinem Jackett und schnäuzte so dezent wie möglich hinein. »Ein verspäteter Heuschnupfen«, erklärte er halblaut und sogar etwas verlegen, als eine Dame in der vorderen Reihe kurz den Kopf drehte. Das war jedoch eine glatte Lüge, da Dearborn der einzige Mensch in Großbritannien gewesen wäre, der zu dieser Jahreszeit unter einem Heuschnupfen litt.

Er steckte das Taschentuch ein. »Nun sagen Sie mir doch, wie Sie darauf gekommen sind, dass ich an Sie und Ihre beiden Partner gedacht habe. Ich möchte aber sogleich gestehen, dass es nicht die allerbesten Gedanken waren.«

»Was ich Ihnen keineswegs übelnehme«, lächelte Leon. »Der Gesichtsausdruck, besonders der Ausdruck der Erregung gehört in die Kategorie der primitiven Instinkte - sie sind nämlich nicht gewollt, nicht beabsichtigt.« Leon war nun bei seinem Lieblingsthema, und er wünschte nur, er hätte Signore Mantegazzas Buch über die Gesichtsforschung dabeigehabt, um Philander Dearborn zu verdeutlichen, wie leicht Menschen ihr tiefstes Innenleben durch ihren Gesichtsausdruck verrieten.

»Wahrscheinlich wurden Sie von den letzten Worten des Aktes, den wir soeben gesehen haben, auf Ihre Gedanken über die Vergangenheit des Silbernen Dreiecks gebracht. Die Worte wurden im Theater von einem Geistlichen gesprochen, nicht wahr?«

»Ja, natürlich.«

»Entsinnen Sie sich auch noch, was er gesagt hat?« »Hm, ich muss gestehen, dass ich nicht in der Lage wäre, die Sätze wortwörtlich zu wiederholen.«

Leon hob die Brauen. Er beugte sich zu Dearborn hinüber und ahmte leise die Stimme des Schauspielers nach. »Gerechtigkeit! Es gibt eine Gerechtigkeit, die über dem Gesetz steht, besonders dann, wenn das Gesetz nicht ausreicht, einen Schuldigen für seine Tat zu bestrafen.«

Dearborn nickte. »Das stimmt«, murmelte er dabei ergeben.

Leon lehnte sich zurück. »Na sehen Sie, jetzt geht Ihnen ein Licht auf. Und das sieht man Ihrem Gesicht so deutlich an, als hätten Sie einen Schalter unter der Nase, wenn Sie mir diesen etwas drastischen Vergleich verzeihen wollen.«

»Nun, die Worte haben mich tatsächlich auf den Gedanken gebracht, Ihnen und Ihren beiden Gefährten die Detektivlizenz gerichtlich entziehen zu lassen, wenn das Silberne Dreieck seine Methoden nicht dem allgemein geltenden Recht anpasst.«

»Ein ziemlich verwegener Gedanke, Verehrtester«, lachte Leon verhalten, wohlwissend wie sehr sich der Inspektor ärgerte, wenn er ihn „Verehrtester“ nannte. »Glauben Sie im Ernst, es gäbe in London einen Richter, der uns verbieten würde, Verbrecher der gerechten Strafe zuzuführen?«

»Wahrscheinlich nicht«, gab der Inspektor zu. »Eure Methoden sind ja auch oft Scotland Yard und der Gerichtbarkeit von großem Nutzen. Immerhin gelang es uns, mehrere Verbrechen aufzudecken, mit denen wir zu lange ergebnislos beschäftigt waren.«

»Dank unserer so verrufenen Methoden, Verehrtester!«

»Ich dachte, dies soll ein vergnüglicher Abend werden«, raunte Manfred den beiden zu. »Man wird in der Loge vis-à-vis bereits auf euch zwei Streithähne aufmerksam.«

»Vis-à-vis«, knurrte Dearborn. »Warum gewöhnen Sie sich nicht endlich eine Sprache an, die hier in London heimisch ist? Außerdem haben wir uns schon lange nicht mehr so nett unterhalten, Manfred. Fehlt nur noch die Bereitschaft des Silbernen Dreiecks, im Fall Didsworth mit uns zusammenzuarbeiten.«

Manfred nickte, erwiderte aber nichts darauf, weil unten im Parkett eine hübsche junge Dame, in Begleitung eines älteren Herrn mit graumelierten Schläfen, ihre blonden Locken schüttelte, bevor sie einen verstohlenen Blick zur Loge hinauf warf.