Herausgegeben von Daniel Schenkel und Mario Weiß
Der fast ein Jahrhundert alte, in den letzten Jahren sehr dünn gewordene Mann ließ sich langsam, dabei umständlich seine sehnigen Beine sortierend, auf einem der Baumstümpfe nieder. Unten herum, etwa bis zur Höhe des Bauchnabels, war alles schon ein wenig schwach. Das Gehen, das Hinsetzen, das unausweichliche Wieder-Aufstehen: anstrengende, würdelose Angelegenheiten. Und bei den Kniebeugen, die er ab und an noch versuchte, knarzten die Gelenke wie totes Geäst.
Oben aber, oberhalb des 96-jährigen Bauchnabels – ein interessanter Gedanke, fand er: Mein Nabel ist ein klein wenig jünger als ich – da war noch Saft und Kraft. Fünf Klimmzüge gingen noch, und vor ein paar Jahren hatte er sogar noch Liegestütze fertiggebracht.
„Dann lass dir die untere Hälfte halt absägen“, hatte eine seiner drei Töchter einmal zu ihm gesagt, „dann kannst du dich mit den Händen durch die Gegend hangeln … magst ja gern Kinder erschrecken.“
Als der alte Mann endlich eine erträgliche Sitzposition gefunden hatte – auch das Hinterteil war knochiger als früher, fast musste man ihm ein Kissen umbinden – schaute er einen Moment ins Feuer, genoss die Wärme und lauschte dem Knacken und Prasseln. Dann gab er ein tiefes, kehliges Geräusch von sich.
…
Völlige Stille, sogar die Flammen schienen sich zu beherrschen. Langsam beugte sich der alte Mann nach vorne.
„Habt ihr dieses Brummen gehört?“, fragte er die um das Feuer versammelten Kinder. Einige nickten, andere linsten leise kichernd zu ihren Nachbarn hinüber.
„Ich befürchte, es sind Brummbären in der Nähe“, fuhr der alte Mann fort. „Wir müssen alle ein wenig näher an das Feuer rücken, wollen wir nicht von ihnen gefressen werden.“
Die Kinder rückten mit ihren Hockern und Decken ein wenig näher heran, spürten nun noch deutlicher die Hitze.
„Na, mich würden sie ja nicht fressen!“, sagte der alte Mann. „An mir ist nichts mehr dran. Aber euch saftigen, wohlgenährten Kindern, euch würden sie eins-zwei-drei den Garaus machen!“
Als er dies sagte, da vermied er es, einen seiner Urenkel anzusehen, der tatsächlich ein wenig sehr saftig, ein wenig sehr wohlgenährt war. Wieder Kichern, wieder wurden Blicke getauscht.
„Erzähl uns eine Geschichte“, sagte einer der Jungen.
Der Kopf des Alten fuhr herum, sein Hals war faltig wie der einer Riesenschildkröte. „Waaas? Eine Geschichte? Wer hat das gesagt?“ Mit weit aufgerissenen Augen fixierte der Alte seinen Urenkel. „Wer wagt es, eine Geschichte zu verlangen?“
„Ich“, sagte der Junge mit breitem Grinsen im Gesicht.
„Du?“ Der alte Mann reckte das Kinn und rollte die Augen. „Bist du nicht derjenige, der geweint hat, als ich das letzte Mal eine meiner Geschichten-“
„Das war nur ein einziges Mal“, protestierte der Siebenjährige. „Nur ein einziges Mal“, äffte der Alte den Jungen nach. „Nur ein einziges Mal. Wie spät ist es?“
Eines der größeren Kinder – das Mädchen war elfeinhalb Jahre alt und trug bereits stolz einen BH – zog ein Handy aus der Tasche.
„Halb acht.“
„Oh, halb acht schon, das blinkende Wunderding sagt, dass es halb acht ist! Dann müssen einige von euch ja bald ins Bett!“
Sofort brach ein Sturm … nun ja, ein Wind, ein nicht sehr kräftiger Wind des Protestes los. Den ganzen Tag hatten die Kinder draußen gespielt, die Aussicht aufs Bett war gar nicht sooo schlecht.
„Aber wisst ihr was?“ Der Alte machte eine Pause, grinste in die Runde. „Ich werde ausnahmsweise zwei Geschichten erzählen. Eine für alle und eine für … die groooßen Kinder. Und die, die ich für die groooßen Kinder erzählen werde, die ist so grauenerregend, dass sie selbst einem alten Affen wie mir den Schlaf raubt.“
Er sah sich um. Drei der sieben Kinder blickten auf den Boden, die anderen starrten ins Feuer.
„Was? Ihr glaubt mir nicht? Na, dann passt mal auf, ihr kleinen Angsthasen. Die Geschichte heißt: Die Helf- …“ Im letzten Moment erinnerte er sich an sein Vorhaben, erst eine Geschichte für alle zu erzählen. Sein altes Hirn kriegte die Kurve und er sagte: „Das Mädchen und der Elefant.“
In der nächsten halben Stunde verballhornte der Greis den Inhalt eines Buches, das er als junger Vater seiner Tochter vorgelesen hatte: Ein Kind geht im Wald verloren, wird von einem wilden Tier gefunden und die beiden schließen Freundschaft. Irgendwann kommen die bösen Menschen, um das gute Tier zu töten und das Kind heimzuholen. Das Kind hilft daraufhin dem Tier … und so weiter und so fort, bla-bla-bla.
Der Alte fand seine Version der Geschichte überhaupt nicht gelungen, die Kinder aber waren zufrieden. Pünktlich zum letzten Satz (der Junge drehte sich noch einmal um, und da sah er eine große, graue Gestalt, die, verdeckt von Blättern und Ästen, ihren großen, grauen Rüssel hob … als würde sie ihm zum Abschied winken.) kam die Mutter von drei der sieben Kinder den schmalen Weg hinunter, der zum Gästehaus führte.
„So, es ist Schlafenszeit. Julian, Laura und Thomas, genug für heute. Opa Franz erzählt seine Geschichte morgen weiter.“
Sofort der obligatorische Protest … und natürlich die Schadenfreude derer, die noch nicht ins Bett mussten. Aber die 40-jährige Frau, die übrigens die Enkelin des Alten war, blieb hart: „Nichts da, keine Widerrede, morgen ist auch noch ein Tag!“
Als sie die Kinder Richtung Haus geschickt hatte, zischte sie ihren Großvater an: „Keine Gruselgeschichten heute. Mach den Kleinen keine Angst.“
„Nein nein, natürlich nicht.“ Er sagte es und grinste in das, was von der Runde noch übrig war. Wie schön doch das Feuer brannte.
„Ist sie weg?“, fragte er nach etwa einer halben Minute. „Oder beobachtet sie uns mit ihren großen gelben Hexenaugen?“
„Sie ist weg“, sagte eines der Kinder. „Ja, sie ist weg“, bestätigte flüsternd ein anderes.
„Gut, dann mal Butter bei die Fische. Die Geschichte, die euch den Schlaf rauben wird, heißt:
Die Helfgott-Anni und der Tod
Und jetzt geht sie auch schon los.
…
Ihr glaubt vielleicht, dass ich nie im Leben Angst gehabt habe, wie? Aber auch ich bin einmal ein kleiner Bub gewesen und als kleiner Bub, da ist es ganz gesund, wenn man ab und zu tüchtig Angst hat! Ein Kind, das nie Angst gehabt hat, wird zu einem Erwachsenen, der nicht auszuhalten ist – glaubt ihr mir das? Herrgott noch mal, ich hatte manchmal solche Angst, dass ich an beiden Enden geheult habe. Wisst ihr, was ich meine? Oben kam es salzig und unten warm, in die Hosen habe ich mir gemacht vor Angst!
Wie dem auch sei, damals war eine ganz andere Zeit als heute, kaum einmal haben wir ein Auto, ein Flugzeug oder einen dieser wunderlichen Stadtmenschen gesehen. Und meine Großmutter, die hat bis zu ihrem Lebensende geglaubt, es gäbe überhaupt nichts außerhalb des Dorfes. Die dachte tatsächlich, das Tal, in das sie der Herrgott gesetzt hatte, sei die ganze Welt! Und wenn man zu weit über die Felder hinaus ginge, dann würde man von der Kante der Welt in einen dunklen, mit schreienden Seelen bevölkerten Abgrund stürzen.
Damals wohnten wir – meine zwei Schwestern, meine beiden Großmütter, meine Eltern und ich – in einem Bauernhaus von der Art, wie es sie heute nur noch auf Postkarten gibt. Und hundert Meter weiter, über die Straße, über einen aus grobem Holz zusammengehauenen Zaun und einen Streifen Feld hinweg, stand ein noch viel größeres Haus, ein wahrer Koloss, auf den man im Laufe der Jahre, wie bei einer Hochzeitstorte, Stockwerk um Stockwerk gepflanzt hatte. Der Maierhof – so hieß er nämlich – war das stattlichste und schönste Gebäude im Umkreis von fünfzig Kilometern, ein weithin sichtbarer Riese, der so schwer an seiner Fülle trug, dass er mit einer Seite bereits in den Boden sank. Hätte sich ein vorwitziges Kind in das große Haus hineingewagt, um dort mit Murmeln zu spielen, sie wären ihm wie von Geisterhand weggerollt, so schief stand das Haus in der Landschaft.
Aber natürlich hätte sich nie ein Kind in den Maierhof getraut … kein noch so vorwitziges und kein noch so dummes. Nein, nie und nimmer! Nicht in den Maierhof!
Als ich Anfang der Zwanziger das Licht der Welt erblickte, stand der Maierhof noch in voller Blüte. In den Ställen blökte und muhte, grunzte und krähte, schiss und brunste gesundes, wohlgenährtes Vieh, auf den Feldern wuchs Getreide, auf das man nur neidisch sein konnte … und natürlich auch war! Giftig funkelte den Nachbarn der grüne Neid aus den Augen. Obwohl sie spendabel und hilfsbereit waren, obwohl sie sich nichts zuschulden kommen ließen und immer zügig alle Rechnungen beglichen, fanden die Nachbarn keine guten Worte für die Maier-Bauern. Stattdessen hieß es: Auf dem Maierhof geht es nicht mit rechten Dingen zu! Und: Das ist nicht recht, dass die Maier-Bauern Jahr für Jahr solch stattliche Ernte einfahren, dass auf ihren Feldern doppelt so viel wie auf unseren wächst, dass sie Kartoffeln so fett wie Kürbisse aus der Erde graben, dass sie Jahrzehnte schon von Missernten verschont bleiben und ihre Ackerpferde so rund und wohlgenährt sind, als würde sie der Leibhaftige selbst mit Hafer und zerstoßenem Mais mästen. Herrje, sogar das Gras war grüner auf den ausgedehnten Weiden der Maier-Bauern. Grüner, höher, saftiger, es roch sogar frischer! Immer wieder ging das Gerücht, die Maier-Bauern hätten einen Pakt mit üblen Mächten geschlossen, hätten vor Generationen für ein Übermaß an irdischen Gütern ihre Seelen verkauft. Da konnten sie noch so inbrünstig die alten Kirchenlieder singen! Da konnten sie noch so unschuldige Gesichter machen! Da konnten sie noch so freigiebig in den Klingelbeutel geben! Mit den Maier-Bauern stimmte etwas nicht, ganz und gar nicht! Diese Kartoffeln, wirklich, groß wie Kürbisse waren die! Das konnte und konnte und konnte nicht mit rechten Dingen zugehen!
*
Ich war fünf, als der Maierhof brannte und das Unheil seinen Lauf nahm. Ein verteufelt stürmischer Tag war das damals, Blitze durchzuckten den grau und schwer über die Tannenwipfel kriechenden Himmel, in den Ställen schrie das Vieh und meine Großmütter brabbelten mit vor Schreck geweiteten Augen Gebet um Gebet gen Himmel. Alle Heiligen, alle Engel und Märtyrer, der Herrgott und sein Sohn, die Heilige Jungfrau Maria und der Heilige Geist, alle bekamen reichlich, niemand ging leer aus.
Und dann, als der Gewittersturm gerade gen Westen abziehen wollte – zu den Franzen, wie mein Vater sagte –, wurde es ganz warm und seltsam hell in unserer großen Stube. Rotes Licht drang durch die kleinen Fenster, das Vieh tobte noch wüster und uns allen war, als sei ein gewaltiger Ofen angesteckt worden. Meinem Vater, Gott hab’ ihn selig, trat gar der Schweiß auf die Stirn und er griff, dabei Worte des Erstaunens und Erschreckens murmelnd, zu dem rotweiß karierten Taschentuch, das er stets bei sich trug.
Auf einmal rüttelte es an der Tür. Jemand brüllte, wir sollten aufmachen.
„Der Leibhaftige!“, verkündete eine meiner Großmütter. „D-D-Der wilde Jäger mit dem T-T-Totenheer“, stotterte die andere. Beide sahen aus, als würde sie gleich der Schlag treffen. Schon war mein Vater aufgesprungen, drängte sich an uns vorbei zur Tür. Und ich hinterher, geschickt dem Griff meiner Mutter ausweichend.
Es war der Maier-Bauer. Ihm standen die Haare zu Berge.
„Der Hof brennt! Helft uns! Mein Gott, helft uns doch!“
Mein Vater war einen Moment wie erstarrt. „Feuer“, hörte ich ihn murmeln. „Mein Gott, Feuer“. Schon läutete stürmisch die Kirchenglocke. Im nächsten Moment stürzte er aus der Tür, dem Maier-Bauern hinterher. Und dem Dreikäsehoch, der ich damals war, bot sich ein Anblick, der mich teils mit Grauen, teils mit Ehrfurcht erfüllte.
Der Maierhof brannte nicht einfach, er war vom Feuer umschlossen. Bis übers Dach hinaus züngelten die gewaltigen Flammen.
„Erna! Roswitha! Haltet die Kinder in der Stube!“, fuhr meine Mutter die Alten an. Dann stürzte sie, dabei ihre vielen Röcke raffend, meinem Vater hinterher. „Schnell! Zum Löschteich!“, hörte ich einen der Nachbarbauern brüllen. „Eine Kette bilden!“ Und da packte mich Großmutter Erna grob am Arm, wollte mich zurück ins Haus zerren, weg vom Spektakel. Aber ich kämpfte aus Leibeskräften, wand mich wie ein glitschiger, nur aus Muskeln bestehender Fisch, musste dieses Wunder sehen, diesen gewaltigen Scheiterhaufen, musste die Hitze spüren und das Tosen hören. Nie zuvor hatte mich etwas dermaßen beeindruckt.
Letztendlich waren es nicht die kleinen, heiser ihre Befehle bellenden Menschen, die das Feuer löschten. Was konnten sie schon ausrichten mit ihren ledernen Eimern, ihren nassen Lappen und der alten, eilig herbeigeschafften Druckspritze, in die man das Wasser oben hineinkippen musste und die nur mit schwachem Strahl schoss? Was dem Brand den Garaus machte, war ein gewaltiger, urplötzlich über das Tal hereinbrechender Regen, eine wahre Sintflut. „Gott hilf uns“, murmelten die Frauen, während die Männer nur kopfschüttelnd in das vom Himmel stürzende Wasser schauten. Die Eimer mussten nicht mehr gefüllt werden, sie füllten sich von alleine.
Nach gut einer Stunde, als der Himmel sich seiner Last entledigt hatte, brach die Abendsonne hervor. Goldenes Licht flutete das Tal und schwarz glänzte der verbrannte Hof.
Ein Moment völliger Stille, Erwachsene und Kinder, Frauen wie Männer sahen gebannt zum Himmel empor. Als wäre der Allmächtige selbst in den Wolken erschienen.
Und dann war da plötzlich dieses Rufen. Und die Leute waren wieder da, wie aus einem wunderlichen Traum erwacht. Verwirrt schüttelten sie die Köpfe und schauten, wer da solchen Lärm veranstaltet.
„WO IST DIE ANNI?“, brüllte der Maier-Bauer, dabei wie ein Wahnsinniger von Mann zu Mann und von Frau zu Frau laufend. „HAT JEMAND MEINE ANNI GESEHEN?“
*
Nein, niemand hatte sie gesehen. Die drei Kinder waren in Sicherheit, ebenso die übrige Verwandtschaft, die beiden Mägde, der Knecht und sogar das Vieh. Aber die Anni, was war mit der Anni? Wie ein Irrer suchte der Maier-Bauer nach seiner Frau … bis ihn einer der anderen Männer grob an den Schultern packte und ihm sagte, er solle endlich „zur Besinnung“ kommen.
Und der Maier-Bauer hielt tatsächlich inne, schien sich zu beruhigen. Aber im nächsten Moment riss er sich schnaubend los, stürzte auf das verbrannte Haus zu. „Sie muss noch drin sein!“, rief er. „Kommt mit! Helft mir die Anni suchen! Kommt doch!“
Zunächst rührte sich niemand. Selbst mein Vater, der zeit seines Lebens ein mutiger Mann gewesen war, der selbst auf dem Sterbebett noch seine Scherze mit dem Tod getrieben und mehrmals so getan hatte, als sei er schon hinüber, war wie zur Salzsäule erstarrt. Bedrohlich, wie ein dampfendes, atmendes Untier lag der Maierhof da, pechschwarzer Rauch stieg auf, vermischt mit hellem, sich im Licht der Abendsonne windendem Nebel. Warum, so fragte sich ein jeder insgeheim, war der Koloss nicht in sich zusammengestürzt? Ganz und gar hatte das gewaltige Haus in Flammen gestanden … und nun war nicht einmal das Dach eingebrochen. Erst als eine alte, schon ganz zahnlose Frau „Nun geht schon, ihr Schlappschwänze!“ keifte, setzten sich die Männer in Bewegung.
Man fand die Maier-Anni lebend. Sie hatte sich in den großen Küchenschrank geflüchtet, hatte nasse Decken und Laken über sich gebreitet und sich ganz klein gemacht. Trotzdem war ihr Haar versengt und rund eine Stunde vermochte niemand, die arme Frau aus ihrer Besinnungslosigkeit zu holen.
„Aber sie atmet doch“, wiederholte ihr Mann. „Schaut! Sie atmet doch. Schaut doch, wie sich die Brust hebt!“
Und als endlich der Doktor da war und – nachdem er ihr Überleben offiziell gemacht hatte – die immer noch ganz erhitzte Bäuerin mit Riechsalz und feuchten Tüchern traktierte, da fiel der Maier-Bauer auf die Knie und dankte dem Allmächtigen für die Rettung seiner Anni.
„Pah!“, hörte ich meine Großmutter hinter mir zischen. Wir standen etwa sechs Meter von der Szene entfernt. „Dem Allmächtigen dankt er, der Unmensch! Die gerechte Strafe hat sie ereilt, ich sage es euch. Gottes Strafe ist über die Anni gekommen. Endlich!“
Meine Mutter drehte sich zu meiner Großmutter um.
„Erna.“
„Hä?“
„Halt dein Schandmaul oder ich stopf’s dir zu.“
„Wa-Was?“
„Du hast mich schon verstanden, Erna.“
Meine Großmutter hielt tatsächlich – aber nur ausnahmsweise – ihr Schandmaul. Fast drei Stunden lang hielt sie es. Leise vor sich hin grummelnd, mürrisch, sich wie ein beleidigter Käfer über ihre Schüssel beugend, nahm sie die abendliche Mahlzeit ein.
„Nun sei wieder gut“, sagte mein Vater über den Tisch hinweg zu ihr. „Wer austeilt, muss auch einstecken. Du hast doch sonst kein so dünnes Fell, Erna.“
Als Antwort bekam er nichts als ein „Pah!“ und einen giftigen Blick. Als sie aufgegessen hatte, verzog sich meine Großmutter in ihre Stube und beklagte sich beim Herrgott über das ihr geschehene Unrecht.
Es war kurz nach acht, für mich fast schon Schlafenszeit, als ich an meinen Schwestern vorbei zu dem kleinen, vieräugigen Fenster schlich, das in Richtung des Maierhofs ging. Ich zog den Schemel heran, stieg hinauf und erreichte den Griff. Und als ich das Fenster endlich offen hatte, da nahm ich zum ersten Mal diesen durchdringenden Geruch wahr, dieses Mischmasch aus süß und bitter, ölig und verkohlt. Der vom Feuer geschwärzte Maierhof stank ganz fürchterlich, als käme er direkt aus der Hölle und sei eben erst durch die Erdkruste gebrochen.
Eine Weile betrachtete ich das gewaltige, schwarz glänzende Gebäude, dann lief es mir kalt den Rücken hinunter und ich stürzte zu meinem Bett. Unter Decken vergraben hörte ich, wie jemand, sicher eine meiner Schwestern, das Fenster schloss und den Schemel beiseitestellte.
*
In den Monaten nach dem großen Brand ging es fürchterlich abwärts mit dem einst so stolzen Hof. Auf den Feldern stank die faulende Frucht, Massen an Ungeziefer suchten die Obstbäume heim, zwei der stattlichen Pferde starben mit aufgeblähten Bäuchen und die Kühe gaben – das behaupteten zumindest meine beiden Großmütter – braune Milch, die nach eiternden Wunden stank und lediglich zum Vergiften der Ratten taugte.
Der Maier-Bauer tat sein Bestes, um den Hof wieder herzurichten. Bis in die Nachtstunden hinein war ein beständiges Sägen und Hämmern zu hören, oft sah man ihn zusammen mit dem Knecht auf dem ausladenden Dach herum steigen, die Holzschindeln zum Ausbessern schafften sie auf Schubkarren heran. Sie versuchten sogar, die geschwärzte Fassade zu streichen. Aber anscheinend wollte das Haus mit Gewalt sein schwarzes Trauerkleid behalten, in großen Fetzen fiel die Farbe herab.
Den Mann und die Kinder bekam ich immer wieder einmal zu Gesicht, ebenso die Großeltern und den Knecht. Die beiden Mägde – auch das wusste ich von meinen Großmüttern – hatten gekündigt, nachdem sie im schwarzen Haus dem Teufel begegnet waren. Und verschwunden war auch die Maier-Anni, das Wunder aus dem Küchenschrank, die Frau, die unter Decken und Tüchern das Höllenfeuer überlebt hatte. Es hieß – diese Ansicht vertrat unter anderem mein Vater – die Anni sei in der Schweiz bei einem Lungenarzt, der ihr mit teuren, hierzulande gänzlich unbekannten Apparaten den reichlich eingeatmeten Rauch aus den Lungen pumpe. Eine andere Geschichte sagte, die Maier-Anni sei verrückt geworden und über die Felder weggerannt. Jetzt lebe sie nackt und schmutzig in den Wäldern, grabe nach Engerlingen und fresse Eier aus Vogelnestern.
Tatsächlich war – das erfuhr ich aber erst später – die Maier-Anni für einen Monat in ein teures Sanatorium an der Nordsee gefahren, anschließend hatte sie drei Wochen bei ihrer Schwester verbracht, nur vier Dörfer weiter.
Als die Bäuerin eines trüben Nachmittags zurückkehrte, da standen meine beiden Großmütter hinterm Fenster, murmelten Gebete und bekreuzigten sich. „Schießbudenfiguren“ nannte mein Vater die beiden, in zahllose Lagen Stoff gewickelten Frauen. Auf mich wirkten sie wie fette, auf Beute lauernde Spinnen.
*
Der Abstieg war unaufhaltsam. Abwärts, immer weiter abwärts ging es mit dem Maierhof. Ein halbes Jahr nach dem Brand hatte auch der Knecht das Weite gesucht, die vier überlebenden Pferde waren verkauft worden und selbst von den Kühen, früher der Stolz des Hofes, waren nicht mehr viele übrig. Nachts, wenn der Wind nicht zu arg durchs Tal rauschte, hörte man das Schreien und Weinen der Kinder und die wilden Streitereien der Eltern. In den Ställen brüllte das Vieh und einige Male war mein Vater kurz davor, die große Holzaxt aus dem Schuppen zu holen und die Rindviecher von ihren Qualen zu erlösen.
„Es ist eine Schande“, sagte er zu meiner Mutter. „Ich weiß nicht, was dort drüben vor sich geht, aber dass sie die Tiere so leiden lassen, das ist eine erbärmliche Schande.“
Nur mit beträchtlichem Körpereinsatz konnte sie ihn davon abbringen, in seine Stiefel zu schlüpfen.
*
Ein Jahr verging, ich feierte meinen sechsten Geburtstag und bekam neue Schuhe sowie eine kurze Hose aus Schweinsleder. Solche Sachen bekam man damals zum Geburtstag … und man hat sich gefreut darüber!
Der schwarze Maierhof war mittlerweile ein Ort der Aussätzigen geworden, kaum einmal wagte sich jemand in die Nähe des großen, verwahrlosten Hauses. Und wenn die Maier-Bauern in die Kirche gingen, dann hatten sie eine ganze Reihe für sich. Selbst der Pfarrer schien sich zu scheuen, den Unglücklichen die Hand zu reichen. Beim Mann und bei den Großeltern, da ging es ja noch, da brachte er sogar ein paar freundliche Worte heraus, vor der Maier-Anni aber schreckte er regelrecht zurück, bekam Tränen in die Augen und stotterte so arg, dass man ihm schon zur Hilfe eilen und das Weib von ihm wegzerren wollte. Natürlich war das Verhalten unseres allgemein respektierten Pfarrers Wasser auf die großen, sich seit Menschengedenken drehenden Mühlen des Tratsches: Die Anni ist mit dem Teufel im Bunde! Wisst ihr noch, wie die Maier-Bauern doppelt so viel geerntet haben wie wir anderen? Der Teufel ist bei ihnen im Haus, legt sich jede Nacht zwischen sie ins Ehebett! Gottes Strafe hat sie ereilt! Der Teufel fordert zurück, was er gegeben hat! Sie haben ihn nämlich betrogen, den Teufel! Sie haben Gott betrogen! Sie werden Unglück über das ganze Dorf bringen!
So ging das Geschwätz, die Leute zerrissen sich die Mäuler. Hätte Tratsch Ausdehnung und Gewicht, das gesamte Tal wäre unter ihm begraben worden.
*
Und dann kam der Tag, an den ich mich erinnere, als sei er erst gestern gewesen. Schon am Freitag und ärger noch am Samstag hatte ich einen rauen Hals gehabt, am Sonntagmorgen waren Fieber und Schüttelfrost dazugekommen.
Meine Mutter wollte nach dem Arzt schicken lassen, aber mein Vater lachte sie aus. Wegen einer Verkühlung den Arzt rufen? Blödsinn, Weiberangst! Von so einem Scheißdreck stirbt man nicht, das härtet nur ab.
Also wurde ich ins Bett gesteckt und Großmutter Roswitha machte mir Wadenwickel. Meine andere Großmutter, die mit dem Schandmaul, öffnete das Fenster … damit die Krankheit hinauskönne, sagte sie immer wieder. Die Krankheit sei ein hässlicher Vogel, der es nirgendwo lange aushielt. Nach ein paar Tagen würde er einfach davonfliegen.
Kurz nach zehn Uhr vormittags, als meine Eltern und meine Schwestern zur Kirche gegangen waren, hörte ich ein Pochen vom Fenster her. Erst glaubte ich, der Krankheitsvogel schlage mit seinen Flügeln an den Fensterrahmen, doch dann machte es psst … pssst … und als ich mich Richtung Rahmen drehte, sah ich das blasse Gesicht eines der Maier-Jungen. Johannes war sein Name, ein wenig jünger war er, ein wenig kleiner und schmächtiger als ich. Vor dem großen Brand hatten wir oft zusammen Verstecken oder Räuber und Gendarm gespielt. Ich hatte ihn immer gerne gemocht, den Johannes, auch wenn er zu den Maier-Bauern gehörte.
„He“, sagte der Junge. Mein Fenster lag im zweiten Stock, wenn ihm keine Flügel gewachsen waren, dann musste er auf einer Leiter stehen.
„Was ist?“, zischte ich. Meine Großmütter waren polternd und tratschend in der Wohnküche zugange, nur rund zehn Meter von mir entfernt.
„Kommst du raus, spielen?“
…
„Nein, ich kann nicht.“
„Warum?“
„Ich muss im Bett bleiben“, antwortete ich. „Ich hab’ nämlich den Schnupfen und die Mutter hat’s gesagt.“
Einen Moment sah er mich nur schweigend an. Ich senkte den Blick und dachte an die große Holzleiter, die mein Vater nahm, wenn neue Schindeln aufs Dach mussten. Aber die war doch viel zu schwer für einen schmächtigen Jungen, nie und nimmer hätte der Johannes die alleine …
„Warum wollt ihr nie mit uns spielen?“, fragte der Junge am Fenster.
„Die Eltern haben es verboten“, antwortete ich. In dem Moment, in dem ich die Worte sprach, nahm ich den schmierigen, bitteren Geruch wahr, der vom Maierhof herüberwehte. „Sie sagen, dass es bei euch nicht mit rechten Dingen zugeht. Die Großmutter sagt es auch immer. Sie meint, dass ihr mit dem Satan im Bunde seid.“
Johannes schien zu überlegen, dann sagte er ganz leise, ohne jede Betonung:
„Bei uns ist alles tot.“
Ich musste husten, hielt mir mit beiden Händen den Mund zu, brachte ein wenig Schleim herauf und schluckte ihn gleich wieder hinunter.
„Auch die Hühner?“, wollte ich wissen. „Und die Kühe?“
„Ja, alles. Und der Vater ist fortgerannt. Kommst du jetzt raus spielen?“
„Lieber nicht. Es regnet doch.“
„Aber ich bin morgen nicht mehr da. Ich muss weg.“
„Für … für immer?“
„Ja, wir gehen alle fort von hier.“
Ich überlegte.
„Na gut, dann komm ich raus. Aber nur ganz kurz.“
„Fein, ich warte auf dich.“
Johannes’ Kopf verschwand aus dem Fensterrahmen. Ich schlüpfte in meine Galoschen, zog mir ein zweites Nachthemd über und schlich mich, leise wie ein Gespenst, an der Küchentür vorbei. Der Duft warmen Apfelkuchens stieg mir in die Nase und ich sah den dicken Hintern meiner Großmutter Roswitha. Sie rollte Eierteig aus und legte dabei ihr ganzes Gewicht auf das Holz. Rhythmisch wippte ihre Kehrseite auf und ab.
Schon war ich an der Tür.
Und dann, schnell-schnell, leise-leise, die Treppe hinunter.
Ein kurzes Innehalten und Lauschen. Mein Ausbüchsen war unbemerkt geblieben, munteres Gepolter drang aus der Küche.
Aber wo war Johannes? Ich hatte gedacht, er würde mich hier unten erwarten, versteckt hinter den Büschen, im Stalleingang … oder beim großen, braunes Holzwasser schwitzenden Regenfass. Aber der Junge war nirgends zu sehen und ich traute mich nicht, nach ihm zu rufen. Als ich um das Haus herum schlich – dabei den Blick wie immer vom schwarzen Maierhof abwendend –, fragte ich mich, warum Johannes nicht in der Kirche war. Die Leute vom Maierhof gingen doch sonntags immer hin, auch wenn sie dort ganz alleine sitzen mussten und keiner mit ihnen reden wollte. Und was hatte der Johannes von seinem Vater gesagt? Weggerannt? Aber wohin denn? Und wo würden die anderen …
„Hier“.
Er hatte das Wort mehr gezischt als gesprochen. Johannes’ blasses Gesicht lugte aus dem nur einen Spalt geöffneten Scheunentor.
„Kommst du spielen?“, flüsterte er.
„Ist gut, ich komme. Sei leise.“
Als ich die langgezogene Scheune betrat, war der Junge, den ich fast seit meiner Geburt kannte, schon wieder verschwunden.
„Johannes … wo bist du?“
„Hier oben.“
Ich hob den Kopf und sah dieses furchtbar blasse und schmale Gesicht, rund zwei Meter über mir. Die Leiter zum Heuboden lag flach auf dem Boden, er musste tatsächlich Flügel bekommen haben.
„Wie bist du denn da hochgekommen?“, wollte ich wissen. Mir war schummrig, ich hatte Schweiß auf der Stirn. Und alle paar Sekunden war mir, als würde ich gepackt und geschüttelt. Er war noch längst nicht heraus, der hässliche Krankheitsvogel.
„Ich weiß nicht.“
Was war mit seinem Mund? Warum war der so schief? Das ganze Gesicht war schief. Als hätte man innen drin, am Kiefer, ein großes Stück abgebrochen und zur Seite geschoben.
„Ich hab’ einen schönen Apfel“, sagte Johannes plötzlich. Er zeigte mir die rot glänzende Frucht, oben waren noch zwei frische Blätter dran. „Willst du ihn haben?“
„Ich … ich weiß nicht … warum isst du ihn denn nicht selbst, den Apfel?“
Wieder sah er mich einen Moment nur an. Wieder schien er zu überlegen.
„Ich hab’ ja vorne keine Zähne mehr. Ich kann ja nicht gut beißen.“
Und da öffnete Johannes den Mund. Alle Schneide- und Eckzähne fehlten. Alle ausgebrochen. Dort, wo sie hätten sein müssen, war dickes, schwarzes Blut. Mit Schrecken erkannte ich, dass Johannes’ Oberlippe eingerissen war, bis hoch zur Nase ging der Spalt. Und das Kinn, das war ganz verschmiert, da war ihm Blut aus dem Mund gelaufen.
Ich wich vor dem Anblick zurück, hielt mir die Hand vor den Mund. Vorhin, als ich Johannes am Fenster gesehen hatte, da war sein Gesicht doch noch heil gewesen … ganz sicher war ich! Er musste sich gerade erst verletzt haben. Vor zwei Minuten noch hatte er doch ganz …
„Ich kann ja nicht beißen“, sagte Johannes wieder. Und wieder hielt er mir den Apfel hin.
„Tut das nicht arg weh?“, fragte ich ihn.
„Nein, kein bisschen“, antwortete er. Ich glaubte, auf seinem Gesicht den Anflug eines Lächelns zu erkennen.
„Kommst du jetzt hoch zu mir?“
Auf einmal hatte ich fürchterliche Angst. Nicht vor Johannes selbst, nicht vor dem Jungen, mit dem ich so oft Verstecken und Fangen gespielt hatte … auch wenn er kaum noch wie ein Mensch aussah und ich keinen Schimmer hatte, wie er auf den Heuboden gekommen war. Es war die Situation selbst, die mich zutiefst verstörte. Was war mit Johannes’ Gesicht geschehen? Wohin war sein Vater gerannt? Warum sagte er, dass alles tot sei?
„Nein, i- ich kann nicht“, brachte ich stockend hervor. „Ich muss … ich muss ins Bett.“
Er starrte zu mir hinunter. Dick und schwarz klebte ihm das Blut auf dem Kinn. Wieder verzog sich sein blutverschmierter Mund zu einem Lächeln, wieder hielt er mir den Apfel hin.
„Da, nimm! Ich kann ihn ja doch nicht essen. Ich hab’ ja vorne keine Zähne mehr.“
Ich brachte nichts mehr heraus, fuhr herum und rannte Richtung Tor. Nichts wie zurück ins Haus. Ich wollte mich an Großmutter Roswitha drücken, warm und weich würde sich das anfühlen, schimpfen würde sie, aber nur ein bisschen … und dann würde sie doch ihre dicken Arme um mich legen und leise eines ihrer Lieder singen.
Stattdessen rannte ich direkt in meine Eltern hinein.
*
Zwei oder drei Schläge setzte es bestimmt aus, mein kleines, unschuldiges Herz. Von den Knien bis zum Kragen seines Hemdes war mein Vater mit Blut besudelt, in der Rechten hielt er das kleine, braune Gesangsbuch, in der Linken einen zerknitterten Lappen, mit dem er sich, während er mich wortlos anstarrte, immer wieder die schwitzige Stirn tupfte.
Ich war zu Tode erschrocken, meinte, mein Vater sei schwer verwundet und würde im nächsten Moment zusammenbrechen, mitten auf dem Weg, wie eine Marionette, der man die Fäden zerschnitten hat. Aber er drückte meiner Mutter sein Gesangbuch in die Hand, ging festen Schrittes auf mich zu und packte mich am Arm.
„Komm!“
Dann zog er mich grob ins Haus, verfrachtete mich in meine Kammer und wartete, bis ich ins Bett gekrochen war.
„Da bleibst du jetzt. Kapiert?“
„Ja, Vater.“
„Keinen Mucks will ich hören.“
„Ja, Vater.“
Meine Mutter setzte währenddessen Wasser auf. Das Blut musste aus den Klamotten. Leise hörte ich Großmutter Erna jammern: „Ruiniert! Der gute Sonntagsanzug! Das wusste man doch, Blut ging nicht mehr heraus!“ Ich lauschte wie ein Luchs, bekam aber nicht mit, was denn nun eigentlich passiert war.
Aber natürlich erfuhr ich es dann doch. Wie ein Puzzle, das man Stück für Stück, mal falsch und dann wieder richtig, zusammensetzt, fügten sich die aufgeregten Erzählungen der anderen Kinder und das Tuscheln der Erwachsenen zu einem düsteren, verstörenden Bild: Mitten im Gottesdienst, als der Pfarrer gerade zum „Lasset uns beten“ ansetzte, war der Maier-Bauer in die Kirche gestürzt, mit einem Beil in der Hand und einem Ausdruck größter Verwirrung auf dem Gesicht. „TOT!“, hatte er gebrüllt, so laut, dass es von den hohen Wänden widerhallte und in den Ohren schmerzte. „ALLE SIND SIE TOT!“
Bevor einer der verdutzten Männer hatte eingreifen können, war der Maier nach vorne gestürmt, zum Pfarrer hin. Und der hatte sich mit wehendem Gewand hinter den Altar geflüchtet und eine der großen, knüppelartigen Kerzen gepackt. „WEG MIT DIR, MAIER!“ hatte der verschreckte Pfaffe gerufen. „BLEIB MIR VOM LEIB, UNMENSCH!“ Dazu hatte er mit seiner Kerze gefuchtelt und ein Gesicht gemacht, als habe ihn der Höllenfürst persönlich am Wickel.
Aber der Maier-Bauer hatte es nicht auf den Pfarrer abgesehen gehabt. Als er beim Altar war, drehte er sich zur Gemeinde – mittlerweile waren die ersten aufgesprungen, einige stürmten Richtung Altar, andere flüchteten zum Ausgang –, und hackte sich das Beil in die Brust, mitten hinein, durch den Rippenkasten hindurch ins Weiche. Noch einmal brüllte er „ALLE SIND SIE TOT!“, dann krümmte er sich und kippte, blutend wie ein abgestochenes Schwein, vornüber auf die Stufen. Mein Vater hatte noch versucht, ihn aufzufangen.
Doch damit war der Schrecken keineswegs zu Ende.
„Was meint er denn mit ‚alle tot‘?“, fragten ängstlich die Frauen. Und weil aus dem sterbenden Bauern nichts mehr herauszubekommen war – nur das Blut, das quoll reichlich hervor, dick und schmierig bedeckte es den geweihten Boden – eilten die Mutigen zum verfluchten Maierhof, schlugen die Tür ein und fanden die Maier-Anni auf dem Küchenboden, völlig zerschlagen, mit gebrochenen Knochen und umgeben von ausgerissenem Haar. Erst glaubte man, sie sei hinüber, aber dann rührte sich das misshandelte Geschöpf und gab ein leises, erst ganz unverständliches, dann deutlicher und deutlicher werdendes Murmeln von sich: „Helf Gott“, sagte die Anni. „Helf Gott, Helf Gott, Helf Gott“. So seltsam, so falsch und grausig erschien einigen der Anwesenden dieses Gemurmel – grundböse war es, hörte ich meinen Vater einmal sagen, falsch und böse und spöttisch –, dass sie fluchtartig das Haus verließen.
Die Mutigeren aber machten sich auf die Suche nach der Verwandtschaft und fanden die Großeltern tot in ihren Betten. Da ihre Leichen völlig unversehrt waren, mussten sie erstickt oder vergiftet worden sein, stellte der aus dem Nachbardorf herbeigerufene Arzt einige Stunden später fest. Er war kein besonders fähiger Arzt, meist machte er nur offiziell, was sich sowieso schon jeder gedacht hatte. Einmal, als ein Knecht im Stall gefunden worden war, besinnungslos im Mist liegend, hatte der Herr Doktor nach eingehender Untersuchung wichtigtuerisch verkündet, der junge Mann habe wohl einen Tritt vom Pferd abbekommen. Dafür musste der Arzt eine Menge Spott einstecken, deutlich war am Schädel des Burschen der Abdruck des Hufeisens zu erkennen gewesen. Selbst ein Blinder hätte ihn noch ertasten können, diesen Abdruck.
Die Kinder fand man nicht so schnell.
Vielleicht, so die fadenscheinige Hoffnung, waren sie ja weggelaufen. Ihre Kleidung und ihre wenigen Spielsachen waren da, die Betten waren gemacht. Aber in der Stube, in der die Kinder schliefen – Herrgott, dieser Gestank! Wie hatte es die Maier-Familie nur in diesem völlig verkommenen Haus aushalten können? –, waren dunkle Flecken auf dem Boden und die Tür hing schief in den Angeln, halb herausgerissen. Aus der Mutter war nichts herauszubekommen, immerzu brabbelte sie nur dieses seltsame „Helf Gott, Helf Gott“, bei dem es einem Angst und Bange werden konnte. Ganz rot war die Anni im Gesicht, als sei ihr Kopf eine mit Blut gefüllte Blase. „Helf Gott, Helf Gott, Helf Gott.“ Die Frauen blieben zitternd bei der Unglücklichen, die Männer durchsuchten das Haus nach den Kindern.
Und fanden sie.
Oben in der Räucherkammer. Über dem Kamin. Totgeschlagen. Mit Haken in den weit aufgerissenen Mündern, aufgehängt wie Schlachtvieh. Der Johannes, der sah am grässlichsten aus, um ihn herum die herausgebrochenen Zähne, der Kiefer war zertrümmert und die Oberlippe gerissen. Wie seine beiden Schwestern trug er ein Nachthemd und so konnten die bis ins Mark erschütterten Männer zumindest annehmen, die Kinder seien im Schlaf erschlagen worden – eben noch im Reich der Träume, im nächsten Moment tot. Keine Angst und kein Flehen, kein vergebliches Weglaufen vor dem wahnsinnig gewordenen Vater und keine Schmerzen.
Es waren mein Vater und einer der Nachbarbauern, ein besonnener Mann namens Wilfried Erb, die die Kinder abhängten und nach unten trugen. Erb sammelte anschließend sogar Johannes’ Zähne ein. Ein Toter müsse schließlich komplett sein, sagte er.
In den Tagen nach dem grausigen Fund war mein Vater ein anderer Mann. Als habe ihm etwas alle Kraft aus dem Leib gequetscht, wirkte er auf mich, als sitze ihm etwas in der Seele und ersticke jeden Funken Freude.
„Ich kann es einfach nicht verstehen“, hörte ich ihn in den folgenden Tagen und Wochen immer wieder zu meiner Mutter sagen. „Ich kann es einfach nicht verstehen, wie der Allmächtige so etwas zulassen kann. Erklär’s mir doch, Anna. Erklär’s mir doch bitte.“
Die Beerdigung der Großeltern fand zwei Tage nach der Tragödie statt, die der drei Kinder nur einen Tag später. Alle bekamen sie ihren rechtmäßigen Platz auf dem Friedhof und der Pfarrer gab sich große Mühe mit seiner Ansprache. Nicht wenige der Anwesenden hatten Tränen in den Augen. Selbst Großmutter Erna hörte ich schluchzen: „Die armen Würmer, die armen, kleinen Würmchen … haben doch keinem je etwas zuleide getan.“
Der Maier-Bauer wurde in die Stadt gefahren, ins Klinikum. Dort vegetierte er noch ein paar Tage zwischen Leben und Tod, murmelte unverständliches Zeug und rollte die Augen.
Als sein Leichnam schließlich zurück ins Dorf gebracht wurde, wusste niemand so recht, wie man nun verfahren sollte mit dem Schlächter und Selbstmörder. Wohin mit ihm? Auf den Friedhof? Zur Familie? Nein, gewiss nicht!
Letztlich verscharrte man den Unglücklichen bei Nacht und Nebel außerhalb des Dorfes, stellte ein schlichtes Holzkreuz auf und besprengte die Erde mit Weihwasser. Auf dass der Unmensch nicht zurückkommen und weiteren Schaden anrichten möge.
Und nein, er kam nicht zurück. Still und friedlich blieb der Maier-Bauer in seinem Loch und wurde zu Staub.
*
Doch auch damit war die Geschichte nicht zu Ende. Bald schon, erst nur unter vorgehaltener Hand, dann ganz offen, wurde im Dorf und auf den umliegenden Höfen der Verdacht geäußert, nicht der Maier-Bauer habe seine Kinder und die Alten ermordet. Vielmehr habe er selbst – so reimte man sich das eben zusammen – am frühen Morgen die Toten entdeckt! Daraufhin sei er mit bloßen Fäusten auf seine Frau – die wahre Mörderin! Die elende Satanshure! – losgegangen und anschließend, als er dachte, das grundschlechte Weib sei hinüber, wahnsinnig vor Schmerz und Schrecken in die Kirche gelaufen.
Von meiner Begegnung mit dem Maier-Johannes erzählte ich weder meinen Eltern, noch meinen Schwestern, noch meinen Spielkameraden. Manchmal, wenn ich im Bett lag und der Schlaf nicht kam, schielte ich hinüber zum Fenster und wartete auf dieses blasse, magere Gesicht. Wenn er auftauchte, so überlegte ich, würde ich ihn ganz schnell fragen, wer es denn nun gewesen sei, der Vater oder die Mutter.
Aber Johannes tauchte nicht wieder auf. Auch er blieb still und friedlich in seinem Loch. Vielleicht gab es ja Äpfel im Himmel. Vielleicht hatte er wieder seine Zähne, Bauer Erb hatte sie doch eingesammelt.
*
Die Maier-Anni, die letzte, die noch übrig war von der einstmals stolzen Hofgemeinschaft, lebte nun, nachdem sie sich zwei Monate bei ihrer Schwester verkrochen hatte, mutterseelenallein in dem großen, vom Höllenfeuer – so sagten meine Großmütter, wie hätte ich ihnen nicht glauben können? – geschwärzten Haus.
Jeden Freitag kam der Schwager aus dem Nachbardorf und brachte ihr Vorräte. Er war es auch, der das restliche Vieh verkaufte und die Felder verpachtete. Anfangs wollte sie ja keiner haben, die ehemals so begehrten Maier-Felder, niemand wollte sich den Fluch ins Haus holen, der auf dem Hof lastete. Aber als der Schwager dann immer weiter mit dem Preis hinunterging, da griffen sie doch zu, die tüchtigen Schwarzwaldbauern. Es war ja gutes Land! Fruchtbares Land! Und wenn der Pfarrer die Wiesen und Äcker nur anständig segnete und ein paar fromme Gebete sprach … und wenn man der Kirche ihren gerechten Teil gab … nun ja, dann würde schon nichts Grausiges geschehen. Frisch an die Arbeit also! Kartoffeln groß wie Kürbisse waren in diesem Grund schon gewachsen!
Oft sah man die Maier-Anni nicht auf den Wegen und Straßen, meist geisterte sie allein in ihrem mehr und mehr zerfallenden Haus herum … und wer an einem der schmutzigen Fenster dieses rote, zur grausigen Maske erstarrte Gesicht erkannte, der wendete hastig den Blick ab, spuckte aus und ging seiner Wege.
Das von aller Welt verlassene Weib sah immer noch genauso aus wie an dem Tag, an dem man es mit gebrochenen Armen und völlig zerschlagen gefunden hatte. Dieses Gesicht … wie mit Blut gefüllt. „Die Teufelsfratze“, sagte meine Großmutter, „ich sage es euch, die Fratze des Höllenfürsten! Nicht hinsehen, Kinder! Auf keinen Fall hinsehen! Wer zu lange hinschaut, in den fährt er hinein und frisst ihm das Herz!“
Erna liebte es, Kindern Angst einzujagen … und sie liebte es, sich in ihren eigenen Ängsten zu suhlen. Meine Großmutter mütterlicherseits, Gott hab’ sie selig, kannte nicht nur all die gruseligen Sagen, die rund um meinen Geburtsort erzählt wurden, sie wusste auch genau, wo sie die Heilige Schrift aufschlagen musste, wo die blutrünstigen Stellen waren.
Wenn die Maier-Anni doch einmal das Haus verließ, dann humpele sie mit vorgestrecktem Kopf und weit aufgerissenen Augen, dabei ständig ihr „Helf Gott, Helf Gott“ murmelnd und alle paar Minuten in ein irres Kichern und Schnattern ausbrechend, hinüber zu ihren ehemaligen Feldern. Dort blieb sie stehen, starrte übers Land und wischte dabei mit den Händen über ihre löchrige, von dunklen Flecken übersäte Küchenschürze … als wolle sie Ungeziefer vertreiben, das unsichtbar an ihrem Leib hinaufkroch. Anni Maier war damals noch nicht einmal vierzig, man hätte sie aber für siebzig oder achtzig halten können. Ihr fast vollständig ergrautes Haar stand in alle Richtungen vom Schädel ab, ihre Gesichtszüge waren ins Unmenschliche verzerrt und ihr Gemurmel klang, als käme es aus einem tiefen Schacht heraus … hohl, blechern, tot. Bald schon wurde die Maier-Bäuerin nur noch „Helfgott-Anni“ oder kürzer „Die Helfgott“ genannt. Wer konnte, der ging ihr aus dem Weg. Und wer ihr doch begegnete, der beeilte sich, das Kreuz zu schlagen und ein Gebet gen Himmel zu schicken. Nicht wenige behaupteten gar, „Die Helfgott“ sei lange schon tot und was da aus den schmierigen Fenstern des alten Maierhofes starre, das sei nur noch ein von bösem Zauber aufrechterhaltener Kadaver.
*
Es war ein warmer, sonniger Tag, als die Helfgott-Anni das erste Mal (meine Großmütter meinten: zum zweiten Mal) starb. Der Knecht des Lehner-Hofes fand sie neben einem ihrer ehemaligen Felder, mit dem Oberkörper im Graben liegend, die Beine grotesk gen Himmel gestreckt. Da er es nicht wagte, den Leichnam zu berühren oder gar auf den Weg zu ziehen, rannte er ins Dorf und suchte – nachdem er in der Wirtschaft eiligst drei Schnäpse gekippt hatte – ein paar teils tapfere, teils nur neugierige Männer zusammen. Zu siebt holten sie die Anni aus dem Graben, legten sie anschließend auf einen Pferdewagen und brachten sie ins Nachbardorf.
Der Doktor stellte fest, der Blitz habe die Frau erschlagen, man sehe sich nur die versengten Haare und die geschwärzte Kopfhaut an. Seltsam nur, dass an diesem Tag nicht eine einzige Wolke übers Tal gezogen war. Auch hatte niemand es donnern gehört.