Die Große Höhle

Hauptquartier der Königlichen Kaninchen

 

Hopster

Großes, starkes, schlaues Kaninchen

 

Königliche Klopfer

Kaninchen einer militärischen Spezialeinheit

 

Marschall der Klopfer

Chef der Spezialeinheit

 

Jack-Kaninchen

Amerikanisches Kaninchen

 

Haushofmeisterin

Ohne sie läuft in der Großen Höhle gar nichts

 

Generalissimo

Oberhaupt der Königlichen Kaninchen

Sechs Wochen waren vergangen, seit Shylo Tawny-Tail sein Zuhause – die Höhle in der Nähe des kleinen Bauernhofs – verlassen hatte, um die Königlichen Kaninchen von London zu suchen. Sechs lange Wochen. In seiner Heimat auf dem Land vermissten ihn zwei Kaninchen ganz besonders. Mit ein bisschen Glück würden die beiden sich vielleicht begegnen …

 

Horatio, das alte, weise Kaninchen, saß in seinem zerschlissenen Ohrensessel und las eine Zeitung, die er sich aus der Mülltonne vor Bauer Pflügers Cottage »geliehen« hatte. In seiner Höhle war es angenehm warm, denn es war Sommer, und der süße Duft von frischem Gras und Pinien strömte vom Wald her zu ihm herein.

Doch Horatio fühlte sich einsam. In Momenten wie diesen dachte er an Shylo, der ihn oft besucht hatte, um etwas über die Geschichte der Kaninchen zu erfahren. Hier, in dieser Höhle, hatte Shylo alles über das Große Kaninchen-Reich wissen wollen, das es früher gegeben hatte – und über den Geheimbund der Königlichen Kaninchen, die immer noch unter dem Buckingham-Palast lebten und die königliche Familie beschützten. Es hatte Horatio große Freude gemacht, Shylo davon zu erzählen.

Aber dann hatte Shylo im Wald zufällig eine Verschwörung belauscht:

Obwohl Shylo nur ein kleines, schwächliches Landkaninchen mit einer Augenklappe war, hatte Horatio schon lange geahnt, dass er ein mutiges Herz besaß. Und tatsächlich hatte Shylo dann später in London bewiesen, was für ein großer Held er war – genau wie Horatio es erwartet hatte.

Das alte Kaninchen seufzte und versuchte, sich auf seine Zeitung zu konzentrieren, aber ohne die Aussicht auf einen Besuch von Shylo fühlte es sich niedergeschlagen und seltsam rastlos.

In diesem Moment hörte Horatio das leise Getrappel von Pfoten, die zögernd durch den Tunnel auf seine Höhle zukamen. Er ließ die Zeitung sinken und kniff die Augen zusammen.

»Wer ist da?«, fragte Horatio. Dabei stützte er sich auf seinen Stock und zog den Degen heraus, der darin verborgen war.

Horatio war früher ein Königliches Kaninchen gewesen und war dem »Pack«, dem Rudel zähnefletschender Corgis, nur knapp entkommen. Auf der Flucht hatte er ein halbes Ohr verloren und viele Narben davongetragen. Selbst jetzt, auf dem ruhigen Bauernhof weit weg von London, war er darum immer auf der Hut.

Er reckte seine Nase in die Luft und schnupperte. Aber es roch nicht nach Hunden, sondern nach Kaninchen. Das Pfotengetrappel wurde lauter und stoppte kurz vor Horatios Höhleneingang. Plötzlich hörte er ein leises, pochendes Geräusch, denn Kaninchen klopfen immer höflich mit ihrer Hinterpfote auf den Boden, wenn sie irgendwo ankommen.

Horatio ließ den Degen wieder zurück in den Spazierstock gleiten und musterte das braune Kaninchen neugierig. Es hatte große gelbbraune Augen, eine lange, elegante Nase und riesige Ohren. Solche Ohren hatte Horatio schon einmal gesehen.

»Sie müssen Shylos Mutter sein«, sagte er.

Als Mrs Tawny-Tail Horatio sah, wurden ihre Augen noch größer. Horatio war ein riesiges Kaninchen und ganz anders als die Landkaninchen, die sie sonst kannte. Eines seiner Ohren schien abgebissen worden zu sein. Außerdem fehlte ihm eine Hinterpfote, und um seine linke Vorderpfote trug er einen Verband. Ihre Anführer behaupteten, Horatio sei verrückt und gefährlich, und Mrs Tawny-Tail konnte verstehen, warum einige Angst vor ihm hatten. Aber sie hatte keine Angst vor Horatio. Denn wenn er wirklich ein Freund von Shylo war, gab es keinen Grund, sich vor ihm zu fürchten.

»Bitte setzen Sie sich doch«, sagte Horatio, und seine Stimme klang wie ein sanftes Schnurren. »Jetzt weiß ich auch, von wem Shylo seinen Mut hat. Wer sich auf meine Seite des Waldes traut, muss ein mutiges Kaninchen sein.« Er grinste, und seine Augen funkelten hinter seiner Brille.

Mrs Tawny-Tail hoppelte quer durch das Zimmer zu dem Ohrensessel und setzte sich.

»Shylo ist nicht besonders mutig«, sagte sie und lächelte bei dem Gedanken an ihren ungeschickten Kleinen. »Ich dachte erst, die Ratten hätten ihn erwischt, aber dann erhielt ich eine kurze Nachricht von ihm – und das hier.« Sie fasste mit der Pfote in die Tasche ihrer Strickjacke und zog eine Medaille heraus. Die goldene Scheibe glänzte hell im Schein der Lampe.

»Ich habe Shylos Tagebuch unter seiner Matratze entdeckt. Daher wusste ich, wo ich Sie finde.« Sie blickte das alte Kaninchen schüchtern an. »Mein Sohn scheint Sie sehr zu mögen.«

Horatio streckte seine Pfote aus und nahm die Medaille. Er betrachtete sie ganz genau.

»Ich hatte gehofft, Sie könnten mir erklären, was das zu bedeuten hat.« Mrs Tawny-Tail blickte ihn fragend an.

Horatio nahm seine Brille ab. Als er sich wieder Shylos Mutter zuwandte, sah er die Hoffnung in ihren großen, traurigen Augen. »Meine liebe Mrs Tawny-Tail«, sagte er freundlich. »Dies ist der Orden der Königlichen Kaninchen von London.«

Mrs Tawny-Tail schnappte nach Luft. Sie hatte von den legendären Königlichen Kaninchen gehört, doch sie war davon ausgegangen, dass es sie schon lange nicht mehr gab. »Aber wie kann das sein?«

»Shylo ist ein mutiges und schlaues Kaninchen«, sagte Horatio. »Ich habe ihn nach London geschickt, um die Königlichen Kaninchen vor einer Verschwörung gegen die Königin zu warnen. Und Shylo ist etwas gelungen, das viele andere nicht geschafft hätten: Er hat nicht nur dazu beigetragen, das Komplott zu vereiteln, sondern er wurde auch in den Geheimbund der Königlichen Kaninchen aufgenommen. Sie haben allen Grund, sehr stolz auf Ihren Sohn zu sein.«

»Mein Shylo? Ein Königliches Kaninchen?«, wiederholte sie erstaunt.

»Genau so ist es.« Horatio gab ihr die Medaille zurück, und sein Gesicht wurde ernst. »Aber das müssen Sie unbedingt für sich behalten!«

»Shylo liebte es, Sie zu besuchen und Geschichten über das Große Kaninchen-Reich zu hören«, sagte sie leise. »Er hat sich schon immer sehr dafür interessiert, was in der Welt vor sich geht. Während meine anderen Kinder herumgetobt und gespielt haben, wollte Shylo lieber lesen oder etwas lernen.« Ihr Blick wanderte zu den Bücherregalen. »Kein Wunder, dass er so gerne hier war.«

»Es hat mir große Freude bereitet, Shylo zu unterrichten. Er war wirklich ein dankbarer Schüler«, meinte Horatio nachdenklich.

»Könnten Sie mir wohl auch ein wenig über das Große Kaninchen-Reich und die Königlichen Kaninchen von London erzählen? Das würde mir sicher helfen, besser zu verstehen, was Shylo in London macht«, sagte Mrs Tawny-Tail, »und ich würde ihn vielleicht ein kleines bisschen weniger vermissen.«

»Mit Vergnügen!« Horatio drückte sich aus seinem Stuhl hoch, und plötzlich spürte er eine Energie, die er seit Shylos letztem Besuch nicht mehr gehabt hatte. Er hoppelte zum Bücherregal und nahm ein großes Buch heraus. »Hier steht alles drin«, sagte er, und seine Nase zuckte zufrieden, als er den Geruch von altem Papier und Leder wahrnahm. »Ich werde mein Wissen gern mit Ihnen teilen, so, wie ich es mit Shylo geteilt habe.«

Horatio setzte sich wieder hin und öffnete das Buch auf seinen Knien. Dann lächelte er Mrs Tawny-Tail an. Es war ein Lächeln, das nicht nur die Freude am Lesen und die Begeisterung für Geschichte ausdrückte, sondern auch das Glücksgefühl, endlich wieder Gesellschaft zu haben.

Hoch oben über den Dächern von London, im obersten Stockwerk des berühmten Wolkenkratzers »Shard«, der wie eine riesige Scherbe aussieht, hatten sich die Ratzis versammelt. Es waren Hunderte. Ein Meer von schmierigen Rücken, rosafarbenen Schwänzen, schwarzen Krallen und gelben Zähnen. Und der Gestank war einfach abscheulich: Es müffelte nach schimmeligen Hamburgern, saurer Milch, fauligen Eier und den stinkigsten Pupsen der Welt.

Der Shard überragt alle anderen Gebäude und sticht wie ein leuchtender, gläserner Dolch in den Londoner Himmel. Er ist in der Tat so spitz und so hoch, dass er eigentlich Wolkenstecher und nicht Wolkenkratzer genannt werden müsste! Dort oben ist der perfekte Platz für Büros, und die sind eigentlich viel zu schade für normale Ratten. Aber Ratzis sind keine normalen Ratten. Sie sind cleverer und listiger. Und anstatt wie gewöhnliche Ratten im Müll zu wühlen und durch die Kanalisation zu kriechen, durchforsten sie das Internet und weben Netze aus Lügen und Hass. Man könnte die Ratzis auch als »digitale Nager« bezeichnen.

Der Raum, in dem sie sich nun versammelt hatten, war weiß gestrichen und bestand ansonsten aus Glas und Marmor. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick auf London. Die Ratzis konnten die St.-Pauls-Kathedrale

Die Menschen, die unten in der Stadt ihren Geschäften nachgingen, hatten keinen blassen Schimmer, dass über ihnen eine bedrohliche Kolonie von Super-Ratten lebte, die darauf aus war, eine Verschwörung anzuzetteln und die Welt ins Chaos zu stürzen.

Jetzt setzten sich die Ratten hin und starrten auf die gigantisch großen Bildschirme, auf denen man alle Sender schauen konnte, die Papa Ratzi gehörten. Sie warteten. Um ihre Hälse hingen Kameras mit riesigen Objektiven, sie trugen Kopfhörer, und jede von ihnen besaß das allerneueste Smartphone-Modell oder Tablet. Ihr Job war es, Fotos zu machen und Filme zu drehen, um den endlosen Hunger des Internets nach den Herzen und Seelen von Menschen zu füttern – von berühmten und weniger berühmten Menschen und natürlich von den berühmtesten überhaupt: der königlichen Familie. Jedes Mal, wenn es den Ratzis gelang, etwas Privates zu fotografieren oder zu filmen, stahlen sie damit auch einen Teil der Seele dieses Menschen. Und dadurch wurden die Ratten immer mächtiger. Die Ratzis waren gierig nach Glück – dem Glück anderer Menschen. Je mehr Unglück sie in die Welt brachten, desto wichtiger fühlten sie sich und desto zufriedener war Papa Ratzi mit ihnen. (Papas Glück war das einzige Glück, das sie gelten ließen.)

Die Ratzis versuchten, sich gut zu benehmen, als sie nervös auf die Befehle ihres Furcht einflößenden Meisters warteten. Aber sich anständig zu

Keiner von ihnen hatte Papa Ratzi je zu Gesicht bekommen. Er war ein gefährlicher Unbekannter. Einige stellten ihn sich als alte graue Ratte mit borstigem Fell vor, andere als jungen König. Wie dem auch sei, Papa Ratzi regierte ein Reich, das Smartphones und Suchmaschinen, Satelliten und Bildschirme auf der ganzen Welt unter Kontrolle hatte.

Aber eine Sache gab es doch, die die Ratzis über ihn wussten: nämlich, dass er grausam war. Wenn man sich die versammelten Ratten genauer ansah, wusste man auch, warum. Jeder Ratte fehlte nämlich etwas. Einige hatten ein Auge verloren, ihre Schwanzspitze oder eine Kralle. Andere hatten nur noch ein halbes Ohr und die ganz Unglücklichen nur noch drei Pfoten. Keine von ihnen war unversehrt.

Die kleinste, dünnste und schwächste Ratte unter ihnen trug einen blütenweißen Kittel und war dafür verantwortlich, Papa Ratzis Grausamkeiten auszuführen. Niemand kannte ihren Namen; man nannte sie einfach den »Doktor«. Wenn Papa mit einem Ratzi unzufrieden war, schnitt der Doktor dem Ratzi ein Ohr oder eine Pfote ab … Heute waren die Ratten besonders ängstlich, weil ein kleines Kaninchen vom Land namens Shylo sie alle an der Nase herumgeführt hatte.

Jahrhundertelang hatten die Königlichen Kaninchen gegen Feinde der königlichen Familie gekämpft und für ihre Sicherheit gesorgt. Doch dann begann das 21. Jahrhundert, und mit ihm kamen das Internet, Laptops und Smartphones. Und Papa Ratzi hatte zusammen mit seiner Armee von superdigitalen Mega-Ratten beschlossen, sich diese neuen Technologien

Der Erfolg der Königlichen Kaninchen hatte Papa Ratzi sehr wütend gemacht. Man kann es Zufall, Schicksal oder Glück nennen, aber unser unscheinbarer Held – dieses kleine, ängstliche Kaninchen mit der roten Augenklappe und den Schlappohren, das noch nie ein Smartphone gesehen hatte und dachte, ein iPhone wäre eine Pferderasse – hatte es irgendwie geschafft, die Situation zu retten.

Da unterbrach eine liebliche Melodie die Stille. Es war das Lied »Schlaf, Kindlein, schlaf«. Sofort hörte das Kratzen und Pupsen auf. Die Ratzis fröstelten und blickten sich um. War Papa hier? Oder war er in Mumbai oder L.A.? Wie würde er sich ihnen zeigen?

Plötzlich wurden auf der Wand riesige Wörter sichtbar, als ob jemand ein Hologramm daraufwerfen würde. Es war mucksmäuschenstill, bis auf das Tippen von Papas Fingern auf einer weit entfernten, unsichtbaren Tastatur und das Flüstern der Ratzis, als sie die Worte laut vorlasen:

Ihr wollt Ratzis sein? Ratzis lassen sich nicht von einem kleinen Landhäschen austricksen. Ratzis lassen sich ihre Pläne nicht von einem schwächlichen Kümmerling durchkreuzen und sich von ihm in den Zwinger und damit in den Tod führen. Ich mag meine Ratzis, und es würde mir sehr leidtun, wenn ich für

Die Ratzis schnappten nach Luft und blickten ängstlich zu der Ratte im weißen Kittel hinüber, in deren Brusttasche eine Schere glitzerte.

Nun müsst ihr mir beweisen, dass ihr es verdient, »Ratzis« genannt zu werden. Ich habe einen wichtigen Auftrag für euch.

Einer der dicksten und schmierigsten Ratzis ließ einen lauten Pups los. Die anderen starrten ihn entsetzt an.