IMPRESSUM
books2read ist ein Imprint der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg, info@books2read.de
Geschäftsleitung: | Thomas Beckmann |
Redaktionsleitung: | Claudia Wuttke |
Copyright © 2018 by books2read in der
HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Umschlagmotiv: "shutterstock_psychocy"
Umschlaggestaltung: Deborah Kuschel
Veröffentlicht im ePub Format im 01/2018
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733711689
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
books2read Publikationen dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
www.books2read.de
Werden Sie Fan von books2read auf Facebook |
Langsam kam ich zu mir. Ein Infusionsschlauch steckte in meiner Hand, und Conny saß auf einem Stuhl neben meinem Bett. Ich sah mich suchend um. Augenblicklich raste mein Puls. Kurz dachte ich, nicht mehr atmen zu können, als hätte die Wahrheit nur darauf gewartet, mich mit einem harten Schlag auf die Brust aufzuwecken. Ich versuchte, meinen Oberkörper aufzurichten. »Carla«, schrie ich mehrmals.
Conny schnellte hoch und drückte mich sanft zurück in die Kissen. Mitfühlend sah sie mich an und streichelte meine Wange. »Sie werden Carla finden. Sicher war es nur eine verwirrte, harmlose Person. Die Polizei bringt dir dein Baby bestimmt zurück – noch heute Abend.« Sie nahm mich in ihre Arme, und unwillkürlich versteifte ich mich.
Ich verdiente die Fürsorge meiner Freundin nicht, denn ich war nicht einmal in der Lage gewesen, auf mein eigenes Kind aufzupassen.
Mühsam erinnerte ich mich daran, wie ich in unserem Wohnzimmer gestanden hatte. Um mich herum mehrere Polizisten, Hannes, Conny und ihr Mann Robert. Dann war mir schwindlig geworden, und alle hatten plötzlich auf mich eingeredet. Gesichter schauten von oben auf mich herab. Stimmen forderten mich dazu auf, etwas zu sagen.
Ja, was hätte ich sagen sollen?
Mein Baby war nicht mehr bei mir. Es gab nichts mehr zu sagen.
Dann hatte ich meine Umwelt ausgeblendet, hatte nichts mehr gefühlt – und das war eine Erleichterung gewesen. An meine Einlieferung in das Krankenhaus konnte ich mich nicht mehr erinnern.
»Wo ist Hannes?«, brachte ich heraus.
»Die Polizei hat ihn gebeten, zuhause zu warten, falls sich der Entführer meldet.« Conny griff meine Hand und drückte sie sanft. »Aber ich habe gerade mit ihm telefoniert und ihm gesagt, dass es dir besser geht.«
Es ging mir nicht besser. Aber ich wusste, dass sie meinen körperlichen Zustand meinte, und nickte.
Am nächsten Tag schickten mich die Ärzte nach Hause. Ich fürchtete mich. Ich wusste nicht, wie ich weiterleben sollte, aber gleichzeitig nahm mir aber vor, von nun an zu funktionieren. Für Hannes wollte ich das, aber vor allem für Jakob.
Erstaunlicherweise funktionierte ich in den Tagen darauf wirklich, selbst wenn jedes Erwachen mit dem gleichen dumpfen Schlag begann wie im Krankenhaus nach der Ohnmacht. Selbst wenn sich jeder Tag anfühlte wie eine endlose Wanderung im dichten Nebel.
Die Kriminalpolizei kontaktierte uns immer seltener. Meist war es Hannes, der den Kommissar anrief und sich nach den Neuigkeiten erkundigte. Manchmal meldete sich der Kommissar, der unseren Fall bearbeitete, aber auch tagsüber und stellte mir Fragen, bei denen ich mir sicher war, sie bereits mindestens zehn Mal beantwortet zu haben. Schattkowski hieß er und wurde von seinen engsten Kollegen Schatti genannt, wie ich zufällig mitbekommen hatte. Nach ein paar Tagen verstand ich seinen Spitznamen. Obwohl der Kommissar leise und zurückhaltend agierte, war er trotzdem irgendwie ständig präsent. Eben wie ein Schatten. Wie die meisten der Polizisten, die in den ersten Tagen zu ständigen Gästen in unserem Haus wurden, stellte er seine Fragen mitfühlend, vorsichtig und höflich. Dennoch hatte ich jedes Mal das Gefühl, entblößt zu werden, denn es gab nichts, was Hannes und ich nicht vor ihm ausbreiten mussten. Unsere Ehe, das Verhältnis zu unseren Eltern, unseren Freunden, und vor allem unsere Vergangenheit, die jeweils eigene sowie die gemeinsame. Er musste es tun – uns durchleuchten, denn die meisten Verbrechen an kleinen Kindern geschahen im familiären Umfeld.
Aber bei uns gab es keine Schatten, jedenfalls keine, die etwas mit Carla zu tun hatten. Es gab keinen Perversen, keinen Pädophilen, der bei uns verkehrte, keinen Hass untereinander. Hannes war Carla der liebevollste Vater, den ich mir hatte wünschen können. Nach anfänglichen Schwierigkeiten war er das jetzt auch für Jakob, obwohl er nicht sein biologischer Vater war.
Ich konnte dem Kommissar keine anderen Antworten liefern als ich ihm schon gegeben hatte. In meinem Kopf kreisen meine Erzählungen, wie sie der Kommissar und seine Kollegen schon so oft von mir gehört haben.
Es ist früher Vormittag und ich versorge meinen Haushalt, wasche Wäsche, putze … Zwischendurch spiele ich mit Jakob, denn es sind Osterferien und die Kita hat geschlossen. Carla schläft ruhig in ihrem Bettchen.
Plötzlich hören wir Eric, den Nachbarjungen, aufgeregt aus dem Garten rufen.
»Jakob, guck mal, was ich gefunden habe! Komm schnell! Ein Amselküken!«
Jakob sieht mich fragend an, und ich nicke ihm zu, dass er gehen könne. Eric wohnt in der Parallelstraße, und unsere Gärten grenzen aneinander. Er ist Jakobs bester Freund und ich wiederum bin mit seiner Mutter Conny befreundet.
Über das Babyfon höre ich schließlich, dass Carla wach geworden ist und laufe in ihr Zimmer. Ich nehme sie aus dem Bett und lege sie auf den Wickeltisch.
Nach dem Wickeln füttere ich Carla. Dann rufe ich Conny an, ob es okay wäre, wenn sie noch eine Weile auf die Jungs aufpasse, da ich noch gerne einkaufen würde. Wir vereinbaren, dass Jakob zum Abendessen wieder zuhause sein soll. Also spaziere ich mit Carla im Kinderwagen zum Supermarkt.
Gegen vierzehn Uhr treffe ich dort ein und, weil ich so dringend muss, eile ich zur Kundentoilette. Eine automatische Tür trennt einen langen Gang vom Einkaufsbereich. Dahinter befinden sich die Toilettenräume. Da der Vorraum zu den WC-Kabinen dort so winzig ist, lasse ich den Kinderwagen im Gang vor der Tür stehen und beeile mich.
Und nein, ich habe niemanden gehört. Nur das Klappen einer Tür. Da der Gang zu mehreren Räumen führt und auch eine Außentür besitzt, kann ich nicht sagen, welche Tür betätigt wurde.
Ich schreckte hoch. Wieder hatten mich die Erinnerungen an die vielen Verhöre fest im Griff gehabt. Mit dem gefüllten Wäschekorb auf meinem Schoß saß ich auf Jakobs Bett.
Wie lange sitze ich schon hier?
Noch vor kurzem bin ich im Salsa-Takt auf die Wäschespinne im Garten zugetänzelt, habe genau diesen Korb wie einen Tanzpartner an mich gedrückt. Ich hatte gelacht, mit Hannes herumgealbert, Jakob nach dem Aufwachen solange auf den nackten Bauch gepustet, bis er es vor Lachen nicht mehr ausgehalten hatte. Das alles kam mir vor, als läge es Jahrzehnte zurück. Ich konnte mir auch nicht einreden, dass es nur ein böser Traum war, der mein Leben vor drei Wochen aus der Bahn geworfen hatte.
Wo war Jakob? Hatte er eben nicht noch an seinem neuen Schreibtisch gesessen? Bis zu seiner Einschulung im September blieben nur noch rund vier Monate, und er war so stolz darauf, bald ein Großer zu sein. Noch stolzer war er eigentlich nur auf seine Schwester. Ich stand auf und suchte ihn.
Er kniete auf dem Fußboden im Carlas Zimmer. Mit einem Spielzeugauto fuhr er die bunten Kreise im Teppichmuster um sich herum ab. Den Kopf tief gebeugt. Mir kam es in letzter Zeit vor, als ob er schrumpfte, anstatt zu wachsen wie ein normaler Sechsjähriger es tat. Er spielte jetzt öfter im Zimmer seiner Schwester als in seinem eigenen. Diesen Anblick ertrug ich fast nicht.
Ich hatte befürchtet, Jakob könne nach Carlas Geburt eifersüchtig werden. Immerhin hatte die Kleine ihren Vater und ihre Mutter ständig um sich, während er seinen leiblichen Vater höchstens zwei Mal im Monat traf, und das nur, wenn es meinem Exmann zeitlich in den Kram passte. Doch das Gegenteil war eingetreten. Jakob hatte Carla vom ersten Moment an geliebt.
»Hallo, mein Spatz. Magst du mir beim Kochen helfen?«
Jakob hob den Kopf. »Darf ich jetzt Carla nie mehr wickeln, Mama?«
»Klar, darfst du das. Sobald sie wieder zuhause ist. Aber du weißt: nur wenn ich dabei bin. Kommst du?«
Er stand auf und folgte mir in die Küche. Bei der Zubereitung des Essens konnte ich seine traurige Seele schon immer am besten einfangen. Andere Kinder seines Alters saßen vor Zeichentrick- oder Tiersendungen, Jakob sah sich Kochshows an.
Wir schnitten Karotten und Zwiebeln. Danach setzte er sich auf die Arbeitsplatte neben den Herd und sah in den Topf, in dem ich das Gulasch anbriet. »Du musst ein bisschen Wasser zugeben«, stellte er fachmännisch fest.
»Was ist aus dem Amseljungen geworden, das Erik gefunden hat?«, fragte ich.
Er zuckte mit den Schultern. »Die Katze hat es gefressen. Erik hat nicht aufgepasst.«
Ein Stich ins Herz. Mein Magen verkrampfte sich, und der Geruch des schmorenden Gulaschs verursachte mir beinahe Übelkeit. Rasch wandte ich mich ab.
»Wollen wir noch einen süßen Nachtisch zubereiten?«
»Au ja, Milchreis oder Mandelpudding mit Kirschen.« Er hopste von der Arbeitsplatte, öffnete eine Schranktür und hielt mir erwartungsvoll einen Topf entgegen.
Während Jakob und ich noch werkelten, hörten wir die Haustür. Hannes kam aus der Schule, und Jakob lief in die Diele. Ich wartete am Küchentisch. Als Hannes eintrat, erschrak ich. Er sah schrecklich aus. Bleich, mit dunklen Ringen unter den Augen. Er hatte heute Morgen schon so ausgesehen und gestern und vorgestern. Aber ich erschrak trotzdem jedes Mal aufs Neue. Mein Mann. Schlank, dunkles volles Haar mit ein paar widerspenstigen Lockenansätzen, gut aussehend, ein bisschen kantig, manchmal zu wortkarg, aber mein persönlicher Märchenprinz. Mit seinen fast einen Meter neunzig konnte er mich von oben auf den Scheitel meiner glatten langen Haare küssen. Sein Anblick schmerzte mich ebenso wie vorhin der Jakobs auf dem bunten Teppich in Carlas verwaisten Zimmer.
Ich war schuld, hatte nicht aufgepasst.
Im Amtsdeutsch: Ich hatte meine Aufsichtspflicht verletzt.
Obwohl genau dieser Vorwurf sofort wieder fallengelassen wurde, wie uns der Anwalt mitgeteilt hatte. Eine Notdurft war eben eine Notdurft im wörtlichen Sinne. Wenn ich Carla vor der Tür hätte stehen lassen, um mir Schuhe zu kaufen, säße ich vermutlich bereits auf der Anklagebank.
Wir aßen wieder einmal schweigend. Als ob sich seit jenem Tag keiner von uns mehr traute, über normale Themen unseres Alltags zu sprechen, aus Angst, Carlas Schicksal damit zu verharmlosen. Jakob beobachtete uns abwechselnd, als suchte er nach einem Zeichen. Seine alten Ängste schienen wieder aufgebrochen. Bloß nicht den Stiefvater verärgern. Nur nichts tun, das mich und Hannes zu einem Streit verleiten könnte. Ein Streit um Belangloses. Ein Streit, der nur gezeigt hatte, dass Hannes mit seiner plötzlichen Verantwortung für einen Fünfjährigen heillos überfordert gewesen war, einem Jungen, der seine Mama nicht mit einem Fremden hatte teilen wollen. Erst mit der Hochzeit hatte Jakob sein trotziges Verhalten immer weiter aufgegeben. In seinen Augen hatte Hannes damit ein Band um sein und mein Leben gebunden, auch wenn es noch eine Weile gedauert hatte, bis er darauf vertraute, dass dieses Band auch hielt.
Ich lächelte Jakob aufmunternd zu und konnte es in seinem Gesicht ablesen: Mein Kleiner sorgte sich darum, dass er sich geirrt haben könnte. Ich verstand seine Sorge so gut. Denn seit Carla von einem auf den anderen Tag nicht mehr bei uns war, schien in unserem Leben nichts mehr sicher zu sein.
Als Jakob aufstand und in sein Zimmer verschwand, räusperte sich Hannes.
»Das Essen hat gut geschmeckt.«
»Jakob hat mir geholfen.« Ich lächelte ihn an.
»Ich habe noch mal nachgedacht. Nimmst du dir nicht etwas viel vor, wenn du jetzt schon wieder arbeiten gehst? In der ersten Klasse hat Jakob doch noch nicht so viele Stunden. Und danach müsste er in einen Hort gehen. Oder wie wolltest du das organisieren?«
»Ich habe schon nachgefragt. Es gibt noch freie Plätze. Außerdem will Conny mich unterstützen.«
Jakob kehrte zurück. Seine Mundwinkel zitterten.
»Ich will in keinen Hort. Du hast gesagt, dass du nie wieder arbeiten musst. Du hast es versprochen.«
Er war kurz davor, zu weinen, aber der Zorn hielt die Tränen offenbar noch zurück.
Hannes sah mich an. Ich kannte diesen Blick. Ich habe es dir doch gesagt. Aber dieses Mal stellte er sich auf Jakobs Seite, und die beiden warfen sich verschwörerische Blicke zu. Keinesfalls wollte ich die Eintracht der beiden zerstören.
»Vielleicht brauchen wir den Hort auch gar nicht. Ich könnte Frau Fiedler auch nur in der Zeit betreuen, in der du in der Schule bist.«
Damit trollte sich Jakob wieder. Nur Hannes hatte mich durchschaut.
»Ich will doch nur, dass du dich nicht übernimmst.«
»Du gehst auch in die Schule, sogar mit voller Stelle.« Klang es zu vorwurfsvoll? Jedenfalls stand er auf und begann, den Tisch abzuräumen.
Ich erhob mich sofort. »Das musst du nicht machen.« Ich versuchte, alle Fürsorge in meine Stimme zu legen, zu der ich im Moment fähig war. Er nickte müde. Im Hinausgehen streifte er mit der Hand meinen Rücken. Wie so oft in letzter Zeit, versteifte ich mich unwillkürlich, verstand selbst nicht warum und hoffte, er hätte es nicht bemerkt. Seit Claras Verschwinden fühlte es sich an, als hätten wir die körperliche Nähe zueinander verloren. Dabei sehnte ich mich wie nie zuvor danach, in seinen Armen zu liegen und mich von meinen zermürbenden Gedanken erholen zu können.
Ich ließ das Geschirr stehen und folgte Hannes ins Wohnzimmer, wo ich mich auf die Couch dicht neben ihn setzte. Ich streichelte über seinen Arm, drehte mit einem Finger sein Gesicht zu mir und fuhr sanft darüber. Er wirkte überrascht, aber er lächelte.
»Alles bis auf die Stifte vom Tisch. Ihr habt fünfundvierzig Minuten Zeit.«
Hannes verteilte die Aufgabenblätter der Klausur, bevor er seinen Schülern eine Minute später er das Zeichen gab, die Zettel mit den Mathematikaufgaben umzudrehen und loszulegen. Er selbst setzte sich an den Lehrertisch und griff nach dem Stapel der Klassenarbeiten aus der Fünften, um sie zu korrigieren. Leichte Kost.
Einerseits war er froh, dass keiner seiner Schüler wusste, in welchem Lebensdrama er sich gerade befand. Andererseits zerriss es ihn förmlich, jeden Tag so zu tun, als sei alles in Ordnung. Nichts durfte er vor den Kindern zeigen. Weder seine Wut auf die Polizei noch seine völlige Übermüdung. Im Moment war er so belastbar wie ein morsches Holzbrett. Mit dem Ende der Unterrichtsstunde hatte er noch nicht einmal ein Drittel der Korrekturen für die fünfte Klasse geschafft.
»Du siehst scheiße aus«, stellte Fabian in der großen Pause fest und grinste ihn unsicher von der Seite an. Sie teilten sich heute die Pausenaufsicht, und Fabian war der einzige Kollege, mit dem Hannes reden konnte oder besser gesagt, reden wollte.
»Danke.« Er grinste zurück. »Kein Wunder. Seit Carlas Entführung schlafe ich keine Nacht mehr als zwei oder drei Stunden am Stück.«
Das stimmte. Fast genauso lange lag er dann wach oder tigerte durchs Haus, bevor er sich wieder hinlegte, todmüde und gleichzeitig vom Schlaf so weit entfernt wie sein aktuelles Leben von seinem früheren. Nachts sah er sogar regelmäßig nach Jakob, als wartete da draußen jemand nur darauf, ihm ein Kind nach dem anderen zu rauben. Er war sich sicher, dass Leonie seine nächtliche Unruhe mitbekam, aber sie tat so, als schliefe sie. Im Gegensatz zu ihm litt sie eben leise und ohne Bewegung.
»Lass dich doch krankschreiben. Du hast allen Grund der Welt.«
»Ich will nicht zuhause herumsitzen, sondern Carla suchen. Jeder Tag, den sie in den Händen …« Er brach ab, weil er nicht wusste, in wessen Händen Carla war. Und er mochte es sich auch nicht vorstellen. Wenn er das tat, dann konnte er überhaupt nicht mehr klar denken. Die Polizei glaubte nicht mehr an eine Entführung, die gut ausgehen könnte. Vielleicht sei etwas schiefgelaufen, weshalb es keine Kontaktaufnahme gegeben hatte. Eine gescheiterte Entführung. Was das bedeutete, konnte sich jeder vorstellen. Selbst Fabian, der ihn jetzt mit schräggestelltem Kopf und diesem einfühlsam abwartenden Blick ansah, den er sich angewöhnt hatte, seit er neben Philosophie auch Ethik unterrichtete. Nur niemals eine Lebensweisheit herausposaunen. Bloß keinen Ratschlag geben. Nur vorsichtig hinterfragen. Sein Gegenüber alles selbst herausfinden lassen. Bisher war das kein Problem zwischen ihnen gewesen. Im Gegenteil: Sie hatten über ihre unterschiedlichen Denkweisen ihre Späßchen gemacht. Hannes fühlte sich in diesem Moment wie einer von Fabians Schülern.»Dann nimm Urlaub, notfalls eben unbezahlten. Ihr hättet Zeit, euer Leben wieder in den Griff zu bekommen«, schlug Fabian vor.
Hannes lachte kurz auf. »Super. Ich nehme Urlaub, und Leonie will gerade wieder arbeiten gehen.«
»Es geht ihr also besser«, stellte Fabian aufmunternd fest.
»Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Warum nicht?«
»Niemand sieht Leonie wirklich an, wie es ihr geht. Selbst ich nicht«, antwortete er. »An jenem schrecklichen Nachmittag, als Carla verschwand, hatte sich Leonie scheinbar besser im Griff als ich. Bis sie ohne jede Vorwarnung einfach umgekippt war. Ich konnte sehen, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich. Wenn unser Nachbar Robert nicht da gewesen wäre, er ist Arzt, wer weiß …« Wieder brach er ab, als könne er überhaupt keine Sätze mehr vernünftig zu Ende bringen. Aber diese Nacht war die Schrecklichste seines Lebens gewesen. Seine Kleine in den Händen von Verbrechern, Leonie mit einem Schock auf der Intensivstation und er und zwei Polizisten neben einem Telefon, das einfach nicht hatte klingeln wollen. Auch keine Mail, keine WhatsApp-Nachricht, keine SMS, kein Anruf auf dem Handy.
Eine Weile saßen Fabian und er schweigend nebeneinander auf einer Bank und beobachteten den lautstarken Trubel der Schüler.
»Es kann doch nicht sein, dass es auch nach vier Wochen noch immer keine Spur von Carla gibt«, sagte Hannes und war sich bewusst, wie zittrig seine Stimme gerade klang.
Fabian legte beruhigend seine Hand auf Hannes Oberarm.
Das war gut gemeint, und Hannes mochte Fabian. Aber verdammt noch mal, Fabian konnte nicht wissen, was jetzt gut für ihn war. Wie denn auch? Seine Tochter war nicht verschwunden. Fabian hatte noch nicht einmal ein Kind.
Ein Klingeln läutete das Ende der großen Pause ein. Ein kurzes Schulterklopfen, ehe Fabian im Inneren des Gebäudes verschwand. Hannes hätte ihm folgen sollen, um ins Lehrerzimmer gehen und den Unterricht nach der Freistunde, die er gerade hatte, vorzubereiten. Stattdessen blieb er auf der Bank sitzen und starrte auf den leeren Schulhof.
Fuck you, teacher hatte jemand mit Edding auf einer der Holzplanken der Sitzfläche geschrieben. Fuck you too hätte Hannes am liebsten dazu geschrieben.
Schließlich stand er auf. Doch anstatt ins Lehrerzimmer zu gehen, klopfte er an die Tür zum Sekretariat.
»Ich möchte unbezahlten Urlaub beantragen. Was muss ich dafür tun?«, fragte er die Schulsekretärin.
»Herr Meister, warum lassen Sie sich nicht krankschreiben? Das gesamte Kollegium steht hinter Ihnen und Ihrer Frau. Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie …«
»Ich bin nicht krank«, unterbrach er sie. »Meine Prioritäten haben sich nur gerade erheblich verschoben.«
Er konnte ihren mitleidigen Blick kaum ertragen. Sie sah ihn an, wie es alle Personen in seinem direkten Umfeld seit vier Wochen taten. Aber er brauchte kein Mitleid. Er wollte handeln, und zwar sobald wie möglich. Anderenfalls würde ihn die Ungewissheit um Carlas Schicksal mit der Zeit zerfressen.
Der Fernseher blieb seit jenem Tag ausgeschaltet. Stattdessen hatten wir uns angewöhnt, nach dem Abendessen eine halbe Stunde gemeinsam auf der Couch im Wohnzimmer zu sitzen. Es tat mir gut. Anschließend kehrte ich in die Küche zurück und räumte auf. Danach kontrollierte ich, ob Jakob sich richtig die Zähne putzte, ehe wir gemeinsam die Spielsachen vom Fußboden sammelten. Sobald er im Bett lag, las ich ihm vor.
Im Moment hatte er zwei Lieblingsbücher. Steinsuppe hieß das eine. Unterschiedliche Tiere des Waldes kochten gemeinsam mit dem bösen Wolf. Kochen, das war Jakobs Thema. Schon bevor er seine Wahl traf, wusste ich, dass er an diesem Tag die andere Geschichte Viel Geschrei um ein geklautes Ei in die Hand nehmen würde. Die kleine Maus, die half, ein großes Hühnerei auszubrüten, hatte es ihm angetan. Und jeden Abend war ich erleichtert, dass er nicht Wer wohnt denn da in Mamas Bauch? auswählte, sein Lieblingsbuch des vergangenen Jahres.
Ich nahm mir vor, dieses Buch heimlich verschwinden zu lassen. Wir würden es beide nicht ertragen, jetzt daraus vorzulesen.
Hannes gesellte sich dazu, setzte sich mir gegenüber auf die andere Bettkante und wartete, bis ich zu Ende gelesen hatte. Vor einem Jahr wäre das noch undenkbar gewesen.
Jakob kuschelte sich in seine Kissen und strahlte uns abwechselnd an. Sichtlich genoss er die Bettzeremonie zu dritt, genau wie ich zuvor die Zweisamkeit mit Hannes.
»Die Hühner sind der Maus dankbar, nicht wahr, Mama?«
Seit Carlas Verschwinden stellte er immer diese Frage, und ich nickte kräftig.
»Sie hilft ihnen, obwohl sie so viel kleiner ist«, antwortete ich.
»Genau. So ist es. Die Hühnermama hat jetzt viel mehr Zeit für sich und kann in Ruhe Körner picken gehen. Sie weiß ja, dass die Maus ihr Ei gut beschützt«, erklärte er weiter.
Ich musste aufpassen, dass mir keine Tränen hochstiegen. Und ein zweites Mal musste ich sie unterdrücken, als Hannes und ich Jakobs Zimmer verließen, dem gegenüber Carlas Kinderzimmer lag. Irgendwann in den ersten Tagen hatte ich die Tür geschlossen, aber Hannes hatte sie immer wieder geöffnet. Jetzt trennten sich jeden Abend an dieser Stelle unsere Wege. Er betrat Carlas Zimmer und blieb minutenlang dort stehen, als hielte er eine innere Zwiesprache mit seiner Tochter. Anfangs hatte ich ihn dabei beobachtet und war versucht, es ihm gleichzutun, aber ich schaffte das nicht. Es kostete mich schon ungeheure Überwindung, überhaupt über die Schwelle zu treten. Musste ich tagsüber den Flur an der offenstehenden Tür passieren, beschleunigte sich mein Schritt wie von selbst und führte mich fort von diesem Ort.
»Ich habe heute unbezahlten Urlaub beantragt«, sagte Hannes, als er sich ein paar Minuten später neben mich setzte.
Ich erschrak über die Verbissenheit, die in seiner Stimme mitschwang. »Du könntest dich einfach krankschreiben lassen. Jeder hätte Verständnis.«
»Das reicht mir nicht. Ich brauche mehr Zeit. Ich will nach unserer Tochter suchen.«
Wie elektrisiert richtete ich mich auf.
»Aber die Polizei hat doch schon …«
»Wenn sie genug getan hätten, wäre Carla bereits wieder bei uns oder sie hätten sie … gefunden.«
Hannes stand auf und lief auf und ab. »Der Kommissar sagt selbst, dass er eine Entführung mit einer Geldforderung nahezu ausschließt. Und für einen kranken Mörder, der einfach so ein Baby aus dem Wagen hebt, gibt es auch keine Hinweise. Und ein Sexualstraftäter bei einem fünf Monate alten Baby? Ich weiß, so etwas Entsetzliches gibt es tatsächlich. Aber das sind meist perverse Familienmitglieder und nicht Menschen, die dafür extra ein fremdes Baby klauen müssen. Nein, es bleibt nur eine verwirrte oder eine eiskalt berechnende Person als Täter übrig. Oder eine Frau, die keine Kinder bekommen kann. Vielleicht eine, die ihres verloren hat und traumatisiert durch die Gegend läuft.«
»Und einfach nur verzweifelt ist«, fügte ich leise hinzu und beobachtete Hannes, wie er durch unser Wohnzimmer tigerte. Rastlos war er seit jenem Tag ständig.
»Genau. Aber wenn es sich um eine solche Frau handelt, dann wird sie unserer Carla nichts Böses antun, sondern sie wie ihr eigenes Baby versorgen. Aber eines Tages wird sie zu einem Kinderarzt gehen müssen. Dafür braucht sie Papiere, einen Impfpass, irgendetwas. Ganz zu schweigen von späteren Reisen und der Einschulung.«
»Der Kommissar hat gesagt, dass sie genau deshalb bei Kinderärzten und Standesämtern ermittelt haben.«
Hannes ignorierte meinen Einwurf und redete weiter. Er war aufgeregt und ungeduldig, aber er bemühte sich, nicht laut zu werden.
»Ich habe recherchiert. Wusstest du, dass es in einigen Ländern nicht vorgeschrieben ist, als deutsche Staatsbürgerin, die dort entbunden hat, die Geburt des Kindes irgendwo anzuzeigen?«
Ich verstand nicht, was er mir damit sagen wollte. Was gingen uns Frauen an, die irgendwo auf der Welt ihr Kind bekamen?
Ich zuckte mit den Schultern. Hannes blieb stehen und starrte mich an, das Kinn vorgestreckt.
»Verstehst du nicht? Die Frau, die uns möglicherweise Carla weggenommen hat, könnte mit ihr in eines dieser Länder reisen und behaupten, es dort geboren zu haben. Dann muss sie nur noch zur dortigen deutschen Botschaft gehen und die Geburt nachträglich anmelden, und schon erhält sie bei ihrer Rückkehr nach Deutschland offizielle Papiere.«
Er sah mich erwartungsvoll an, und ich hatte das Gefühl, etwas zu seiner Idee beisteuern zu müssen. Aber das alles klang so konstruiert. Oder lag diese Lösung womöglich auf der Hand? Nur warum war dann die Polizei noch nicht auf diese Idee gekommen?
»Das Problem ist nur …«, sprach Hannes jetzt deutlich leiser, und es schien mir, als entwiche gerade eine Menge Energie aus seinem Körper. Er stand mit einem Mal gebeugt und wirkte kleiner als sonst. »Es könnten Monate vergehen, bevor die Frau irgendwelche Papiere braucht und diesen Schritt tun muss.«
»Müsste sie nicht auch im Ausland die Geburt irgendwie beweisen? Oder wenigstens ihren langen Aufenthalt in dem Land?«
Hannes sah mich ratlos an.
»Und um welche Länder handelt es sich überhaupt?«
»Das muss ich noch herausfinden. Wahrscheinlich wird es genau aus diesem Grund sowieso nur in einem Land funktionieren, in dem man entweder die Botschaftsangehörigen oder die Ärzte und Hebammen bestechen kann, um eine Bestätigung der Geburt zu erhalten.«
Hannes schwieg eine Weile, dann richtete er sich auf und sah mir direkt in die Augen. »Aber ich verspreche dir: Ich werde es herausfinden.«
In diesem Haus gab es keine Sekunde ohne Carla. Ich wollte nicht wirklich wieder arbeiten. Da hatte Hannes recht. Aber eine Arbeit würde mich ablenken. Und vielleicht würde es mir auch guttun, für eine alte demente Dame zu sorgen, und sich nicht nur mit mir selbst und den Gedanken um Carla zu beschäftigen.
Hannes hatte tatsächlich unbezahlten Urlaub genommen. Sechs Wochen zunächst. Den ganzen Tag blieb er im Haus. Auch deshalb sehnte ich mich ein bisschen nach dem Tag, an dem ich bei Frau Fiedler beginnen würde. Nicht, dass Hannes mich störte. Wie könnte er? Ich liebte ihn wie am ersten Tag. Es tat nur so weh, ihn stundenlang vor seinem Laptop sitzen zu sehen. Der Rücken wurde immer runder und die Abstände, in denen er sich die Augen rieb, kürzer. Ich versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen, putzte, räumte den Keller auf, stellte das Bügelbrett in die Waschküche und nicht wie früher ins Wohnzimmer. Aber er nahm mir meinen Rückzug übel. Ich zeige nicht genug Interesse an seinen Recherchen, hielt er mir vor. Wie denn auch? Was sollte er herausfinden können, was eine große Sonderkommission der Polizei nicht gefunden hatte?
Bald fiel mir nur noch ein Grund ein, das Wohnzimmer zu meiden, wo Hannes gerade wieder am Laptop saß und seinen Recherchen nachging. »Ich geh kurz zu Conny rüber. Bevor ich den Vertrag unterschreibe, wollen Conny und ich darüber sprechen, in welchem Umfang sie auf Jakob aufpassen könnte«, rief ich Hannes zu, der nur geistesabwesend nickte, ohne den Blick vom Monitor zu nehmen.
Ich verließ das Haus durch die Küchentür. Connys und Roberts Haus lag in der Parallelstraße, aber wir hatten für Jakob und Eric eine Tür in den Zaun zwischen den Gärten eingebaut, sodass sie sich besuchen konnten. Im kommenden September würden die Jungs gemeinsam eingeschult werden, und Conny hatte angeboten, Jakob mit zu betreuen, sollte die Pflege für Frau Fiedler einmal länger dauern.
Schon stand ich an der Terrassentür unserer Freunde und sah in ihr Wohnzimmer. Robert saß in einem Sessel und las in der Tageszeitung, während sich Conny mit einem Buch in die Couchecke zurückgezogen hatte. Beide bemerkten mich nicht. Bis vor kurzem war ich Teil einer ähnlichen Familienharmonie gewesen. Es fiel mir schwer, die beiden darin zu stören und wollte nach Hause zurückkehren. Aber Conny hatte mich entdeckt und sprang auf.
Wir saßen eine Weile beisammen. Conny goss mir ein Glas Wein ein, aber die erhoffte Ruhe stellte sich bei mir nicht ein. Es lag nicht an Conny. Sie versuchte alles, um mich abzulenken, schmiedete Pläne, wie wir unsere Jungs am besten auf die Schule vorbereiten konnten, was sie von anderen Müttern bisher über die Schule und die Lehrer gehört hatte. Und ob man sich nicht gleich zu Beginn an in die Elternvertretung wählen lassen sollte.
Es lag auch nicht an Robert, der zwar weiter in seiner Zeitung las, aber mehrmals hochsah und mir durch ein Lächeln zeigte, dass ich auch zu dieser späten Stunde in seinem Haus willkommen war.
Nein, die Unruhe lag in mir. Tief und beharrlich. Sie hatte mich ergriffen in dem Moment, in dem der Schockzustand der ersten Tage vorüber gewesen war. Seither fühlte ich mich nicht mehr leer, sondern gehetzt, ohne auch nur eine Ahnung zu haben, mit welchem Ziel. Und so sehr mich Hannes Verbissenheit auch verängstigte, bestimmte er wenigstens die Richtung, in die er sich treiben ließ. Er wollte unsere Tochter auf eigene Faust suchen, ich dagegen wollte mich am liebsten verkriechen, denn ich war mir sicher, dass die Zukunft nur Schreckliches bringen konnte.
Als ich nach über einer Stunde durch unsere inzwischen dunklen Gärten zurückkehrte, war Hannes bereits zu Bett gegangen. Ich sah noch einmal in Jakobs Zimmer. Er schlief fest. Ohne Licht zu machen, entkleidete ich mich neben meinem Bett und legte mich hinein. In der Hoffnung, Hannes nicht geweckt zu haben, lag ich still und wartete auf eine weitere schlaflose Nacht.
Sechs Uhr dreißig. Hannes neben mir schlief noch. Ich stand auf. Auch aus Jakobs Zimmer hörte ich noch keinen Laut. Aber Carla hatte niemals länger geschlafen.
Ich holte die Zeitung aus unserem Briefkasten. Nachdem ich den Kaffee aufgesetzt hatte, blätterte ich sie durch. Ich erwartete nicht, etwas Neues über unseren Fall zu erfahren. Nach nur wenigen Wochen hatte die Bevölkerung meine Carla vergessen. Die Sonderkommission war inzwischen aufgelöst. Irgendwie konnte ich es sogar verstehen, denn kein Staat konnte es sich leisten, so viel Geld für eine einzige Familie zu bezahlen. Nur Kommissar Schattkowski fühlte sich dem Fall Carla Meister noch immer verpflichtet und verbrachte einen Großteil seines Arbeitstages damit, sich damit zu beschäftigen. Hannes und er waren fast schon Freunde geworfen. Sie duzten sich sogar und sprachen stundenlang über mögliche neue Ermittlungsansätze. Zwei Hoffende, die sich gegenseitig motivierten.
Doch ich hatte mich geirrt. Die Medien hatten Carla wohl doch noch nicht vergessen. Noch immer keine Spur des geraubten Babys, las ich eine Überschrift. Darunter ein Foto und ein kleiner Text, der so oder so ähnlich bereits in vielen Presseorganen gestanden hatte. Ich betrachtete das Foto. Das Bild einer glücklichen Familie. Sympathieträger. Mitleidsträger: Der gut aussehende, bei allen Schülern und Kollegen beliebte Lehrer für Mathematik und Physik, der liebevoll den Arm um seine viel kleinere Frau legt, während seine andere Hand auf der Schulter des vor ihnen stehenden sechsjährigen Stiefsohnes ruht. Ich kannte das Foto. Es war beim letzten Tag der offenen Tür in Hannes Schule aufgenommen worden.
Ich legte die Zeitung aus den Händen. Dieses Abbild einer glücklichen Familie war eine Lüge, denn das pausbäckige Baby auf dem Arm fehlte. Es war herausretuschiert worden. Ausradiert. Ausgeschnitten aus dem Leben unserer glücklichen Familie.
Ja, wir waren eine glückliche Familie gewesen.
Hannes und ich hatten uns vor vier Jahren getroffen. Ich arbeitete als Altenpflegerin, meinem erlernten Beruf. Damals war ich für eine Einrichtung tätig, in der Hannes’ Großmutter gelegen hatte, auf Station 3 – der Siechenstation, wie man sie früher nannte. Obwohl dieser pietätlose Begriff spätestens seit den 1970er Jahren nicht mehr gebräuchlich war, traf er den Zustand der Patienten dort sehr genau. Hier lagen Bettlägerige, die nie wieder aufstehen würden und so lange litten, bis ein gnädiger Tod sie erlösen würde. Die meisten von ihnen wussten nicht mehr, wo sie sich befanden, und erkannten ihre Besucher nicht mehr. Damit waren sie vermutlich noch die Glücklicheren unter den Patienten dieser Station. Denn die anderen erlebten bei vollem Bewusstsein, wie ihr Körper langsam verfiel. Die Verwandten dieser beiden Gruppen hatten etwas gemeinsam: Sie kamen selten.
Hannes war eine Ausnahme. Und das, obwohl er nur der Enkel war. Auch Marianne und Günther, meine späteren Schwiegereltern, besuchten sie ab und an, aber Hannes kam jeden Mittwoch. Geduldig setzte er sich an das Bett seiner Oma, las ihr vor, oder sie schwiegen miteinander, während er ihre Hand in seiner hielt. Ich war beeindruckt von seiner Ruhe und Liebe, die sich in seiner Gegenwart auf mich zu übertragen schien und die ich zu jener Zeit dringend nötig hatte. Meine Flucht ins Frauenhaus, die Scheidung und der Sorgerechtsprozess lagen hinter mir. Nun war ich eine alleinerziehende und berufstätige Mutter.
Hannes kam immer pünktlich – ich hätte die Uhr danach stellen können – und blieb jedes Mal exakt eine Stunde. Doch unmerklich verschob sich der Anteil an dieser Stunde, den er am Bett seiner Oma verbrachte und dem, in welchem er meine Gegenwart suchte. Doch Männer waren das Letzte, das mich in dieser Zeit interessiert hatte.
Trotzdem begann ich irgendwann, mich auf seinen Besuch zu freuen. Hannes blieb höflich und zurückhaltend, aber deutlich interessiert an meiner Person. Eine ungewohnte, aber schöne Erfahrung für mich. Anfangs unterhielten wir uns über Pflegedinge und Belange der Einrichtung, später überwog Persönliches. Jedenfalls von seiner Seite. Bald schon kannte ich seine wichtigsten Lebensdaten. Als Einzelkind war er in einem gebildeten Elternhaus groß geworden. Sein Vater war Banker gewesen, seine Mutter Lehrerin, und nach Aussage Hannes waren sie bis heute glücklich verheiratet. Reisen, Literatur, Theater und Musik hatten seine Kindheit begleitet.
Hannes hatte mich mehrmals auch nach meiner Lebensgeschichte gefragt, dann aber verstanden, dass ich ihm nichts von mir erzählen wollte. Er ließ mir Zeit, bis ich irgendwann so weit war, über mich zu sprechen. Viel später erfuhr ich, welche große Herausforderung das für ihn darstellte. Denn seine Beziehungen davor waren daran gescheitert, dass Hannes sie überstürzte. Bei mir nun übte er das erste Mal, es langsam angehen zu lassen.
Ich begann, ihm die einfachen Dinge aus meinem Leben zu erzählen. Wahrscheinlich habe ich Hannes bis heute noch nicht alles erzählt. Denn all das, was sein Leben ausgemacht hatte, war mir fremd gewesen.
Meine Eltern hatten kein Geld zum Reisen gehabt. Statt guter Literatur hatten haufenweise Heftchenromane im Wohnzimmer gelegen, und mein Vater hatte erst gar nicht begonnen, etwas zu lesen, nicht einmal die Zeitung. Die einzige Musik hatte aus dem ständig laufenden Fernseher gedröhnt, seitdem mein Vater als Lkw-Fahrer arbeitslos geworden war. Wir hatten von Sozialhilfe gelebt, weil meine Mutter keine neue Anstellung als Verkäuferin gefunden hatte. Das Geld hatte niemals für alles gereicht, schon gar nicht für den Alkohol, den beide in Mengen konsumiert hatten. Ein Einzelkind wie Hannes war ich zwar nicht, aber es hatte sich so angefühlt, denn ich war die Letztgeborene, deren plötzliche Existenz eher mit Überraschung als mit Freude aufgenommen wurde. Ein Kind, das eher im Weg gestanden hatte, weil man mit meinen drei Geschwistern doch bereits aus dem Gröbsten heraus gewesen war und sich anderen Dingen hätten widmen können. Ich habe nie erfahren, was genau meine Eltern in ihrem Leben angestrebt hatten. Vielleicht wäre das Drama zwischen ihnen ja tatsächlich ausgeblieben, wenn es mich nicht gegeben hätte.
Jedenfalls war ich mir damals sicher gewesen, dass sich Hannes sofort zurückziehen würde, hätte ich ihm noch mehr aus meinem Leben erzählt.
Wie sehr man sich täuschen kann.
Erneut nahm ich die Zeitung in die Hand und betrachtete lange das Bild. Ich wollte alles dafür geben, die drei auf dem Foto wieder zu einer glücklichen Familie zu machen. Ich fand nur noch keine Lösung, zu sehr schmerzte die Tragödie um Carla.
Ich schreckte hoch, denn es klingelte an der Haustür. Ausgerechnet jetzt, wo Hannes bereits das Haus verlassen hatte, um, wie er sagte, ein paar Termine zu erledigen. Welche, hatte er mir nicht verraten, und ich hatte ihn nicht gefragt.
Ich öffnete die Haustür einen Spalt breit, und Kommissar Schattkowski lächelte mich freundlich an.
»Es tut mir leid. Sie haben ihn gerade verpasst«, klärte ich den Kommissar auf.
»Guten Morgen, Frau Meister. Das macht nichts. Ich wollte zu Ihnen.«
Vor Schreck wäre ich beinahe die Eingangsstufen hinabgestürzt. Lieber wollte ich mir die Knie und die Schienbeine verletzen, mir ein Bein brechen, egal was. Hauptsache, er hätte keine Gelegenheit, mir etwas Schlechtes zu berichten. Aber der Kommissar war bereits eingetreten und sah mich erwartungsvoll an.
»Kaffee … möchten Sie … oder«, erinnerte ich mich stotternd an meine Gastgeberpflichten.
»Einen Kaffee. Sehr gerne.«
Ich betrat vor ihm die Küche und machte mich an dem Kaffeeautomaten zu schaffen.
»Gibt es Neuigkeiten oder weshalb wollen Sie heute mich sprechen?«
Das automatische Mahlwerk übertönte mein Herzklopfen.
»Leider nichts von Ihrer Kleinen. Aber …«
Er zog das aber in die Länge, als wartete er darauf, dass ich mich zu ihm umdrehte. Ich wischte um die Maschine herum und reinigte ihre Oberfläche und dann auch noch die Dose mit den Kaffeebohnen daneben.
»Aber?«, fragte ich, während ich seine Blicke auf meinem Rücken brennen spürte.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als weiterzusprechen.
»Aber es gibt eine neue Zeugenaussage.«
Ich holte tief Luft. Kein grausamer Fund also. Nur eine Zeugenaussage. Nur? Ich drehte ich mich endlich zu ihm um.
»Wer? Und bringt uns diese Aussage bei der Suche weiter?«
»Wir haben den Kreis der zu befragenden Nachbarn noch einmal erweitert. Kennen Sie Frau Ebert aus dem Eichenweg?«
Ich war nie gut im Namenmerken. Gesichter ja, aber mit Namen erging es mir wie mit Vokabeln einer Fremdsprache. Nutzte ich sie eine Weile nicht, waren sie aus meinem Kopf verschwunden, als hätte ich sie niemals gebüffelt. Was könnte eine Zeugin, deren Namen ich nicht einmal wusste, schon Wichtiges über mein Kind aussagen?
Ich schüttelte den Kopf. Stumm schob ich Schattkowski die gefüllte Tasse entgegen.
»Sie hat eine bemerkenswert präzise Aussage zum Tag von Carlas Verschwinden gemacht.«
»Warum erst jetzt?« Mein Misstrauen war erwacht. Mit Grauen dachte ich an die vielen Zeugenaussagen der ersten Tage zurück, und wie es besonders Hannes ergangen war. Die Hoffnung, die ihn jedes Mal aufbaute und zu Höhenflügen bewegte, kraftvoll wie ein Drachen im Herbstwind, um ihn dann plötzlich wie einen Stein auf den Boden niederfallen zu lassen.
»Frau Ebert sieht jeden Tag um die gleiche Zeit eine Serie im Fernsehen, ihre Lieblingsserie. Daher kann sie sich so genau an die Uhrzeit erinnern, in der Sie mit dem Kinderwagen an ihrem Haus vorbeiliefen. Denn die Sendung hatte gerade begonnen, die Sonne blendete sie, und sie stand auf, um die Vorhänge zu schließen.«
»Gut. Die Frau hat mich mit dem Kinderwagen gesehen. Das haben einige, wie Sie wissen.«
»Wenn man von hier aus zum Supermarkt möchte, nimmt man die erste Querstraße links, um aus der Siedlung heraus und zur Hauptstraße zu kommen. Aber der Eichenweg liegt vier Querstraßen weiter. Außerdem handelt es sich um eine Sackgasse, wie fast alle Straßen hier in der Siedlung. Sie mussten also am Ende des Weges umkehren, drei Querstraßen zurücklaufen, um dann richtig abzubiegen. Warum?«
Das stimmt nicht, wollte ich gerade widersprechen, denn über einen Trampelpfad könnte man weiterlaufen und würde nach kurzer Zeit den Kastanienweg erreichen, eine der längsten Straßen hier, die entlang des Waldes führte. Aber den Trampelpfad mit einem Kinderwagen zu passieren, war schwierig.