Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.
Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.
Titelbild: Fotolia/beysim
1. Auflage 2018
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-032799-3
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-032800-6
epub: ISBN 978-3-17-032801-3
mobi: ISBN 978-3-17-032802-0
Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.
Haltungen der Ablehnung und Diskriminierung von bestimmten Menschen(-gruppierungen), wie sie Rechtsextremismus bzw. -populismus, Feindlichkeit gegenüber Geflüchteten, Islamismus u. a. m. beinhalten, sind zweifellos gravierende und hartnäckige gesellschaftliche Probleme. Wie ihre erfolgversprechende Bearbeitung langfristig und nachhaltig gelingen kann, ist jedoch bedauerlicherweise weiterhin eine weitgehend offene Frage. Insbesondere fehlt bislang vielfach eine aussichtsreiche Verbindung von Theorie und Empirie einerseits mit der Praxis von Sozialer Arbeit und Bildung andererseits.
Der vorliegende Band versucht, genau diesen Zusammenhang herzustellen, indem er zu insgesamt neun zentralen Problemfeldern von un- und antidemokratischen Haltungen jeweils gebündelt Perspektiven von empirisch grundierter Theorie und Praxisansätzen aufeinander bezieht.
In einem ersten Block geht es um grundlegende Forschungskonzepte und ihre praktischen Folgerungen; in einem zweiten Block werden relevante einzelne Problembereiche abgehandelt – ebenfalls in der Doppelperspektive von multidisziplinärer Wissenschaft und Praxis.
Zum ersten Block dieses Bandes und seinen drei großflächigen Themenfeldern: Themenfeld 1: Rechtextremismus und Hasskriminalität: Seit dem (Wieder-)Aufkommen des ›neuen‹ Rechtsextremismus in Deutschland Ende der 1980er Jahre hat sich die Forschung zu politischen Einstellungen und Sozialisationsprozessen vermehrt und intensiviert mit diesem Phänomen selbst wie auch mit damit in Verbindung stehenden Orientierungen und Verhaltensweisen beschäftigt. So haben sich – in mehr oder minder elaborierter Form – verschiedene Verständnisse von »Rechtsextremismus«, »rechtem Extremismus«, »Rassismus«, »Neonazismus«, »Neofaschismus«, »Neuer Rechter«, »Rechtspopulismus« u. ä. m. herauskristallisiert, und sie wurden in jeweils spezifischer Weise in Studien überführt. In dem Maße, wie speziell auch politisch konturierte Straftaten, insbesondere aber Gewaltaktionen aus Rechtsaußenpositionen heraus zunehmen und brutaler werden, schiebt sich daneben seit einiger Zeit ausgehend von angelsächsischen Ländern eine Auffassung ins Blickfeld der Forschung, die das Konzept der »Hasskriminalität« (»hate crime«) verfolgt – und teils auch gegenüber dem Rechtsextremismus-Begriff priorisiert. Der Beitrag von Matthias Quent diskutiert diese beiden Konzepte sowohl theoriebezogen als auch unter Nutzung empirischer Daten in Hinsicht auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Der sich anschließende Artikel von Frank Buchheit fokussiert vor diesem Hintergrund ein Praxisfeld, das für diese Konzepte als zentral angesehen werden kann: die Aussteigerprogramme für Rechtsextremist_innen.1 Er argumentiert dabei nicht allein mit Praxiserfahrungen, sondern auch mit theoretischen Überlegungen und empirischen Befunden der Rechtsextremismus- und speziell der darin eingelagerten Distanzierungsforschung, um abschließend politische und pädagogische Herausforderungen zu skizzieren.
In den letzten Jahren haben sich neben den im ersten Themenfeld vorgestellten konzeptuellen Verständnissen Forschungskonzepte entwickelt, die nicht nur auf einzelne Aspekte von extrem rechten Orientierungen und Aktivitäten bezogen sind, sondern den gesamten Komplex von Demokratieskepsis, Ablehnungshaltungen und Menschenverachtung in den Blick nehmen. Sie fokussieren dabei auch weniger stark als dies in ihrem Schwerpunkt die Konzepte »Rechtsextremismus« und »Hasskriminalität« tun auf evidenten politischen Aktionismus und strafrechtlich relevante Vergehen. Für solche Ansätze stehen das Konzept der »Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« (GMF) und das Konzept der »Pauschalisierenden Ablehnungskonstruktionen« (PAKOs). Der Band stellt in den Themenfelder 2 und 3 des ersten Blocks diese Konzepte vor und präsentiert zusätzlich praktische Folgerungen, die aus ihnen von sozialer und pädagogischer Arbeit gezogen werden.
Im zweiten Themenfeld des ersten Blocks – Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – klärt Andreas Zick darüber auf, wie menschenfeindliche Vorurteile aus sozialpsychologischer Perspektive und mit dem GMF-Konzept verstanden und erfasst werden. Er beschreibt ferner auf der Basis eigener Repräsentativerhebungen, wie sich ihr Ausmaß in der bundesdeutschen Bevölkerung aktuell darstellt und in den letzten Jahren entwickelt. Konkret geht es dabei um Einstellungen wie Rassismus, Sexismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Muslimfeindlichkeit, Abwertung von Sinti und Roma, Pochen auf Etabliertenvorrechte sowie Abwertungen von arbeitslosen Menschen, Menschen mit Behinderung, Asylsuchenden, Wohnungslosen und Homosexuellen. Aus der Auseinandersetzung mit Motiven und Ursachen solcher Einstellungen werden abschließend knapp Möglichkeiten der Prävention und Intervention abgeleitet. Danach zeigt Silke Baer auf, in welcher Weise mit konkreten Ansätzen von Jugendkulturarbeit Prävention von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus zu leisten ist. Sie stellt dazu Arbeitsbereiche und Ansätze des Vereins vor, als dessen pädagogische Leiterin sie fungiert und dessen Name Programm ist: cultures interactive.
Auf der Basis von Erfahrungen qualitativ-rekonstruktiver Forschung zum Themengebiet bietet im dritten Themenfeld des ersten Blocks der Aufsatz von Kurt Möller eine konstruktive Kritik des GMF-Ansatzes. Er schlägt in der Konsequenz einen sozialisationsforscherischen Untersuchungsansatz vor, der stärker prozessorientiert auf Pauschalisierende Ablehnungskonstruktionen (PAKOs) ausgelegt ist und präsentiert dazu empirische Befunde. Auf dieser Grundlage zieht er Schlussfolgerungen, die auf die Empfehlung hinauslaufen, gesamtgesellschaftlich, politisch, vor allem aber auch sozialarbeiterisch und pädagogisch eine KISSeS-Strategie zu verfolgen. Mit dieser akronymischen Formel ist gemeint, vor allem funktionale Äquivalente anzubieten für Kontrollerfahrungen, Integrationsempfindungen, Sinnliches Erleben, Sinnattribuierungen, erfahrungsstrukturierende Repräsentationen (dies sind verkürzt ausgedrückt: mentale Abbilder von Realität) und Selbst- und Sozialkompetenzentwicklungen, die in un- und antidemokratischen Szene- und Orientierungszusammenhängen offeriert werden und von dort aus Anziehungskraft entfalten. Wie dies konkret gehen kann, veranschaulichen Wiebke Aits, Jens Jakobs, Dennis Rosenbaum und André Taubert im darauffolgenden Beitrag am Beispiel verschiedener Herausforderungen und Aufgabenbereiche von aufsuchender Jugendarbeit. Sie gehen dabei u. a. auch auf die bislang außerhalb spezialisierter Beratungsansätze insgesamt in der Jugendarbeit noch wenig beachtete Problematik des religiös konturierten Extremismus (z. B. sog. ›Islamismus‹) ein und verweisen auf die Gewinne von Wissenschaft-Praxis-Kooperation für die Qualitätssicherung.
Zum zweiten Block und seinen sechs Themenfeldern:
In diesem weitaus umfangreicheren Teil des Bandes stehen sechs brisante und entsprechend viel diskutierte einzelne Problematiken im Mittelpunkt: Rechtspopulismus (1), die Ablehnung von Geflüchteten (2), antimuslimische Haltungen (3), Islamismus – dieser auch im Vergleich zu Rechtsextremismus – (4), Antisemitismus (5) sowie Sexismus und Homosexuellenablehnung (6). Auch sie werden jeweils aus einer wissenschaftlichen sowie einer praxiseingebundenen Sichtweise erörtert.
Zum Rechtspopulismus gibt zunächst Frank Decker aus politikwissenschaftlicher Sicht einen europaweiten Überblick. Er geht dabei auf verschiedene inhaltliche und organisatorische Varianten dieses gerade in jüngster Zeit rapide anwachsenden Phänomens ein, zeichnet seine Entwicklungen und Entstehungshintergründe nach, benennt Auswirkungen und schlägt schließlich Bekämpfungsstrategien vor. Im Folgeartikel dieses Themenfelds wird der Blick von einer Autorengruppe aus Florian Neuscheler, Lars Schäfer, Peter Anhalt, Alexander Brammann, Christopher Kieck und Guido Oldenburg auf Möglichkeiten der Arbeit mit rechtspopulistisch bzw. rechtsextrem orientierten Eltern gerichtet. Eine derartige Fokussierung erfolgt selten, ist aber insofern notwendig, als manifeste und – vielleicht mehr noch – latente intergenerationelle Tradierungen einschlägiger Haltungen nach wie vor erfolgen und ein Ansetzen nur bei der nachwachsenden Generation sie nicht zu unterbinden vermag. Da entsprechende Elternarbeit konzeptionell gesättigt und Erfolg versprechend nicht ›aus dem Bauch heraus‹ erfolgen kann, ist diesbezüglich zunächst eine Fachkräftequalifizierung anzustreben. Der Artikel beschreibt die Vorgehensweisen bei einer derartigen Qualifizierung und deren Evaluation.
Im zweiten Themenfeld dieses Blocks steht eine Problemlage im Mittelpunkt, die in den letzten Jahren nicht nur die Schlagzeilen zahlreicher Medien beherrschte (und weiterhin dominiert), sondern auch riesige Herausforderungen für die soziale und pädagogische Arbeit wie für die (nicht nur deutsche) Gesellschaft insgesamt birgt: die Ablehnung von Geflüchteten bzw. der Umgang mit der durch sie erfolgten Zuwanderung. Hierzu liefert in einem ersten Beitrag Albert Scherr relevante Daten. Vor allem aber diskutiert und bewertet er aus soziologischer Sicht die Zusammenhänge zwischen ablehnenden Einstellungen gegenüber Geflüchteten in der Bevölkerung und staatlich-politisch zu verantwortenden gesellschaftsstrukturellen (Diskriminierungs-)Kontexten. Er macht deutlich, dass es ein Spannungsfeld zwischen nationalen bzw. EU-weiten Eigeninteressen, rechtlichen Regelungen und alltagsmoralischen Überzeugungen gibt, dessen Grenzlinien zu solchen Ablehnungshaltungen gegenüber Geflüchteten, die unter Demokrat_innen gemeinhin als illegitim gelten, verschwommen sind. Der folgende Text von Teresa Ewen, Ulrike Kammerer und Felix Steinbrenner beleuchtet einen Teil dieses Spannungsfelds, indem er über einen darin betriebenen wichtigen und zudem innovativen politisch-bildnerischen Ansatz berichtet: sog. Kommunale Flüchtlingsdialoge, wie sie in Baden-Württemberg im Jahre 2016 ins Leben gerufen worden sind. Dargelegt wird, wie diese Dialoge installiert werden, welche Themen sie haben, wie sie ablaufen und welche Ergebnisse zu registrieren sind. Ferner werden die Grenzen, aber auch die Potenziale dieses Formats bilanziert.
Das dritte Themenfeld von Block 2 dieses Bandes ist der Auseinandersetzung mit antimuslimischen Haltungen gewidmet. Wolfgang Frindte und Nico Dietrich präsentieren nach einer Darstellung der wichtigsten aktuellen Befunde der Forschung zum Thema die Herangehensweise und die Resultate einer selbst durchgeführten Online-Befragung, die vor allem die Identifizierung soziodemografischer Einflussfaktoren auf Einstellungen gegenüber Muslimen und dem Islam unternahm, in diesem Zusammenhang Medienpräferenzen erhob und dabei die Auswirkungen autoritärer Haltungen und von Dominanzorientierungen sowie der Identifikation mit nationalen oder regionalen Eigengruppen auf sie untersuchte. Nach dieser Verbindung von individual- und sozialpsychologischer Analyse loten Ibrahim Ethem Ebrem und Ursula Adrienne Krieger Optionen der pädagogischen Bearbeitung von antimuslimischen Haltungen aus. Ausgehend von der Überzeugung, dass es sich hierbei um eine Form des kulturalisierenden Rassismus handelt, konzentrieren sie sich auf die Darstellung der Konzeption eines schulischen Projekttages und damit verbundener weiterer Anforderungen an eine Pädagogik, die die Dekonstruktion verfälschender Vorstellungsbilder betreibt und so Voraussetzungen für das Erlernen eines kompetenten Umgangs mit Komplexität und Heterogenität schafft.
Michaela Glaser, Joachim Langner und Nils Schuhmacher eröffnen mit ihrem Beitrag die Auseinandersetzung mit dem Themenfeld des religiös begründeten Extremismus in Gestalt von sog. ›Islamismus‹. Dabei stellen sie auf der Basis einer profunden Auswertung vorliegender Studien zur Rolle dieses Phänomens in der Jugendphase interessanterweise einen Vergleich mit dem Rechtsextremismus hinsichtlich der Zuwendungsmotive sowie der biografischen und sozialisatorischen Hintergründe an. Geleitet vor allem von dem Interesse, über eine solche Analyse praxisverwertbare Ansatzpunkte für pädagogisch-fachliches Handeln zu identifizieren, können als Fazit Konsequenzen für die pädagogische Praxis gezogen werden. Sie laufen auf die Forderung hinaus, in beiden Problemfeldern sich der Diversität von Attrahierungsprozessen bewusst zu sein und nicht über generalisierende Strategien der Bestimmung von Gefährdungsanzeichen und der vorschnellen Festschreibung von Risikogruppen analytischen Auslassungen, Fehldeutungen und unter Umständen sogar der Gefahr ungerechtfertigter Etikettierungen und Stigmatisierungen anheimzufallen. Um die Frage, wie Distanzierungen von religiös konnotiertem Extremismus in der Praxis bewirkt bzw. unterstützt werden können, kreist der anschließende Artikel von Thomas Mücke. Mit zahlreichen Verweisen auf reale Beratungsfälle aus dem Arbeitsfeld des Autors werden Möglichkeiten der sog. »Deradikalisierung« aufgezeigt. Diskutiert werden vor allem die Anforderungen, die an Fachkräfte diesbezüglich gestellt werden, die Prinzipien und die Verlaufslinien eines Vorgehens, das aussichtsreich erscheint, und die Bedingungen für eine zielführende Beratung.
Das Themenfeld Antisemitismus wird in der vorliegenden Publikation einerseits durch einen Beitrag des Sozial- und Politikwissenschaftlers Samuel Salzborn, andererseits durch einen Text von Jan Harig, Malte Holler, Anne Goldenbogen, Inva Kuhn und Ruth Fischer abgedeckt. Samuel Salzborn beklagt in seinem Essay in erster Linie die Gleichgültigkeit von Demokrat_innen gegenüber antisemitischen Vorkommnissen und Haltungen, die ihm angesichts der Konsolidierung und teilweisen Radikalisierung, die er in Deutschland ausmacht, höchst problematisch erscheint. Dies gilt für ihn umso mehr, als er neue Allianzen zwischen Rechtsextremen, Islamisten und dem antiimperialistischen Teil der linken Szene detektiert, aus denen er ein Amalgam entstehen sieht, das mit den klassischen Strategien des Anti-Antisemitismus kaum noch bearbeitbar ist. Für die damit postulierten innovativen Formen von Antisemitismuskritik steht hierzulande wie keine zweite die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA) e. V. Deren Mitarbeitende Jan Harig, Malte Holler, Anne Goldenbogen, Inva Kuhn und Ruth Fischer geben exemplarisch die Grundlagen und Ergebnisse ihrer mehrjährigen Praxiserfahrungen wider. Sie zeigen u. a. auf, wie Lernmotivation in Bezug auf das Themenfeld zielgruppengerecht aufzubauen ist, warum Antisemitismuskritik schwerpunktmäßig unbewusste Affekte aufzuarbeiten hat und daher mit bloßen Belehrungsstrategien nicht weiterkommt und dass es entscheidend ist, die Fähigkeit zur Toleranz von Mehrdeutigkeit zu entwickeln. Zur Konkretisierung und Plausibilisierung der Umsetzung werden beispielhaft zum sekundären Antisemitismus, zur Arbeit an Verschwörungsideologien und zur Bearbeitung des israelbezogenen Antisemitismus didaktische Ansätze unterbreitet.
Last but not least wird das Themenfeld Sexismus und Homosexuellenablehnung abgehandelt. Dabei handelt es sich um ein Themenfeld, das eine größere Variationsbreite von Ablehnungshaltungen im Kontext der hegemonialen Geschlechterordnung betrifft als sie gemeinhin unter einem solchen Rubrum angenommen wird. Einführend klärt Ulrich Klocke über Erscheinungsweisen, Ursachen und Interventionsmöglichkeiten von Homo- und Transfeindlichkeit auf. Ausgehend von einem Einblick in Diskriminierungserfahrungen von Menschen, die als Personifizierungen von Abweichungen von der hegemonialen Geschlechterordnung gelten, werden unter Einbezug höchst aktueller Daten empirische Befunde zu einschlägigen Wissensbeständen und Einstellungen in der Bevölkerung sowie zu Auskünften über eigenes oder bei anderen Personen beobachtetes Verhalten dargelegt. Im Anschluss an eine Erörterung der Ursachen dieser empirischen Erkenntnisse und mit Bezug auf sie werden Vorschläge zum Abbau entsprechender Einstellungen und Diskriminierung(sbereitschaft)en unterbreitet. Der letzte Beitrag dieses Bandes von Carina Utz berichtet aus der Bildungsarbeit zum LSBTIQ-Komplex, also zu den Bedarfs- und Problemlagen lesbischer, schwuler, bisexueller, transidentitärer, intergeschlechtlicher und queerer Personen(gruppierungen). Er stellt im Kern die Arbeit des 1996 gegründeten Vereins FLUSS e. V. (Freiburger Lesbisches und Schwules Schulprojekt) als Exempel für existierende Versuche der Prävention und Intervention von Ablehnungshaltungen gegenüber LSBTIQ-Personen vor. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Erläuterung des Konzepts mit seinen Inhalten, Zielen und Methoden, aber auch der Kontexte und Herausforderungen, in denen es zur Anwendung gelangt bzw. mit denen sich seine Durchführenden konfrontiert sehen.
Dieses Buch geht im Großteil der Beiträge auf eine öffentliche Vorlesungsreihe zurück, die im Wintersemester 2016/2017 unter der Leitung der Herausgeber an der Hochschule Esslingen im studium generale durchgeführt wurde. Der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, namentlich Felix Steinbrenner, sei für die jederzeit konstruktive Zusammenarbeit bei dieser Veranstaltung und ihre großzügige Kofinanzierung herzlich gedankt.
Nicht minder danken wir allen Beiträgern und Beiträgerinnen, zumal sie sich gezwungen sahen, aus Gründen der Sicherung von Aktualität in den hochdynamischen Themenfeldern, in denen sie sich bewegen, unter vergleichsweise großem Zeitdruck zu arbeiten. Besonders gilt dies für diejenigen, die die Praxisartikel erstellt haben, weil ihnen auferlegt war, vorab die jeweiligen themenbezogenen Theoriebeiträge zur Kenntnis zu nehmen, um sich auf sie beziehen zu können. Dank gilt nicht zuletzt auch Katharina Hildenbrand für die verlässliche Erledigung der mühsamen Aufgabe des Korrekturlesens und Formatierens.
Esslingen, im November 2017
Kurt Möller
Florian Neuscheler
Dem Konzept Hass (hate) kommt in der öffentlichen, juristischen und politischen Auseinandersetzung mit den in den letzten Jahren massiv angestiegenen Gewalttaten vor allem gegen Geflüchtete, Asylunterkünfte und Ehrenamtliche in der Flüchtlingshilfe eine wachsende Bedeutung zu. Die Journalistin und Rechtsextremismusexpertin Andrea Röpke schreibt beispielsweise in diesem Kontext im »Jahrbuch Rechte Gewalt 2017« über die »rechte Hassbewegung und ihre Facebook-Armee« (Röpke 2017: 35ff.). Volksverhetzende, beleidigende und verletzende Kommentare in sozialen Medien werden als Hasssprache (hate speech) bezeichnet und die Ausweitung repressiver Maßnahmen wird diskutiert (kritisch dazu: Amadeu Antonio Stiftung 2017). Insbesondere im englischsprachigen Raum und in der US-Debatte hat die kriminologische, zivilgesellschaftliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit hate crimes eine lange Tradition. Der englische Kriminologe Chakraborti stellt fest:
»Hate crime has become an increasingly familiar term in recent years as the harms associated with acts of bigotry and prejudice continue to pose complex challenges for societies across the world. It is rightly seen as a human rights issue that has wider social and political ramifications beyond simply identifying criminal justice ›solutions‹ and the culpability of individual offenders. However, whilst hate crimes are now afforded greater recognition throughout all levels of society – from law-makers, law-enforcers, academics, students, activists and from ›ordinary‹ members of the public – some significant challenges remain.« (Chakraborti 2015)
In den Einwanderungsgesellschaften der USA und Großbritanniens hat sich die Auseinandersetzung mit Hasskriminalität zu einem wichtigen Instrument im Kampf um die rechtliche und soziale Gleichstellung von Minderheiten entwickelt. Nicht zuletzt aufgrund des Drängens von EU-Institutionen ist davon auszugehen, dass auch in Deutschland das Konzept Hass in den nächsten Jahren weiter an Bedeutung gewinnt. Es existieren kaum systematische Auseinandersetzungen mit dem Konzept, mit der Übertragbarkeit und mit dem Verhältnis zum in Deutschland dominanten Rechtsextremismus-Konzept (Coester 2008). Nach dem öffentlichen Bekanntwerden des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) im November 2011 nimmt die Auseinandersetzung mit Hasskriminalität in Deutschland langsam an Fahrt auf – sowohl auf politischer Ebene als auch in Forschung und Zivilgesellschaft (zum NSU vgl. Quent 2016). Verstärkt haben sich in Deutschland in den vergangenen Jahren Aktivist_innen und Forscher_innen aus Einwandererfamilien dafür eingesetzt, der dominanten Täterfixierung der Rechtsextremismusforschung den Erfahrungsschatz »migrantischer Perspektiven« (Bozay u. a. 2016) entgegenzusetzen. Damit lassen sich unterschiedliche Ebenen (individuell, institutionell, strukturell) von rassistischer Diskriminierung sowie ihre Folgen in den Blick nehmen.
Vor diesem Hintergrund wird im vorliegenden Beitrag der Frage nachgegangen, inwieweit die ›hate crime‹-Perspektive für den deutschen Kontext geeignet ist, wo Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu Konzepten des Rechtsextremismus bestehen und welche zusätzlichen Erkenntnisgewinne und Vorteile von der Verwendung des Hass-Konzeptes zu erwarten sind. Es werden Begriffsdefinitionen des Rechtsextremismus sowie von Hassphänomenen dargestellt und unter Bezug auf die polizeiliche Kriminalstatistik 2016 empirische sowie paradigmatische Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Ansätze herausgearbeitet – insbesondere zwischen Täter- und Opferperspektive beziehungsweise zwischen Subjekt- und Objektbezug.
Im wissenschaftlichen sowie im behördlichen Verständnis ist der Begriff des Rechtsextremismus mehr oder weniger klar definiert und bezieht daraus seine Berechtigung im jeweiligen Arbeits- bzw. Handlungsfeld. Die »heillose Sprach- und Begriffsverwirrung« (Neureiter 1996: 13) hinsichtlich der Rechtsextremismus-Terminologie ist keine neue Beobachtung. Die Begriffsunterschiede verlaufen quer durch die wissenschaftlichen Disziplinen und praktischen Anwendungsfelder (vgl. auch Kiess/Decker 2012). In Tabelle 1 werden vier wichtige, unterschiedliche Definitionen wiedergegeben.
Frindte u. a. (2015) stellen auf Grundlage einer ausführlichen Rekonstruktion der Rechtsextremismusforschung heraus, dass für das Konzept Rechtsextremismus bestimmte politische Ideologien (z. B. Abschaffung des bürgerlichen Rechtsstaats), Einstellungen (z. B. Antisemitismus) und Verhaltensweisen (z. B. Gewalt) gemeinsam definierend sind (vgl. auch Geschke 2017: 177).
Tab. 1: Überblick Definitionen des Rechtsextremismus
Aufgrund der hohen sozialen Relevanz des Themenfeldes konkurrieren und kollidieren die unterschiedlichen Auslegungen im öffentlichen Diskursraum. Zivilgesellschaftliche und politische Akteure jeder Richtung, soziale Bewegungen und Medien nutzen Rechtsextremismus bisweilen als diffusen Kampfbegriff, der sich mit Rückgriff auf wissenschaftliche Denkschulen und Definitionen vielseitig besetzen und benutzen lässt. Dies ist keineswegs neu. Doch durch die Entwicklungen der letzten Jahre hat sich das Begriffs- und Vermittlungsproblem verdichtet: Zu diesen Entwicklungen gehören vor allem: das öffentliche Bekanntwerden des NSU, die Entstehung von Pegida und AfD sowie deren Rechtsradikalisierung, der in diesem Zusammenhang wachsende Einfluss der sogenannten Neuen Rechten (welche die Behörden »ratlos« lassen; Mascolo/Steinke 2017), die Aktivitäten der »Identitären Bewegung«, die massive Zunahme von Gewalttaten insbesondere gegen Geflüchtete sowie die Entstehung neuer rechtsterroristischer Gruppen (etwa die »Gruppe Freital«, deren mutmaßliche Mitglieder mehrheitlich zuvor nicht im Zusammenhang mit der extremen Rechten in Erscheinung getreten sind).
Unter anderem mit diesen Herausforderungen haben vor allem Initiativen und Projekte zu tun, die sich im öffentlichen Diskurs ›gegen Rechtsextremismus‹ einsetzen. Während die Wissenschaft die Komplexität und Unzulänglichkeit von sozialwissenschaftlichen Begriffen ausführlich diskutieren und beklagen kann, sind diejenigen, die sich alltäglich in der Praxis mit ›Rechtsextremismus‹ auseinandersetzen, darauf angewiesen, auch außerhalb ihrer Milieus verstanden zu werden. Vor diesem Hintergrund ist jedoch die tatsächliche Vermittlung wissenschaftlicher Konzepte des Rechtsextremismus sowie der »Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« in zivilgesellschaftliche Praxis alles andere als stringent. Erschwerend kommt hinzu: Unter dem Containerbegriff des Rechtspopulismus wird eine Auseinandersetzung mit dem Kern von Ungleichwertigkeitsideologien und mit Rassismus umgangen.
Weitreichende bundespolitische Reaktionen auf den NSU-Komplex waren zum einen das akteursorientierte und gescheiterte NPD-Verbotsverfahren des Bundesrates. Zum anderen reagierte die deutsche Bundesregierung mit der Verschärfung des § 46 StGB, um Straftaten schärfer zu sanktionieren, die aufgrund von Rassismus oder »sonstigen menschenverachtenden Beweggründen« begangen werden. Damit soll die Stellung von diskriminierten Gruppen gestärkt werden, die zum Opfer von vorurteilsmotivierter Gewalt werden. Das Nichterkennen des rassistischen NSU-Terrors und die institutionelle Diskriminierung der Hinterbliebenen, Geschädigten Angehörigen und von Menschen aus Einwandererfamilien, vor allem aus der Türkei, haben dazu geführt, dass unter Aktivist_innen und Wissenschaftler_innen Forderungen laut werden, stärker die Perspektiven der ›Betroffenen‹ in den Vordergrund zu stellen:
»[H]äufig fehlt der Blick der Betroffenen, die Perspektive derjenigen, die zu Opfern der rassistischen Mordserie gemacht worden sind. Migrantische Perspektiven auf den NSU standen im Diskurs um den NSU-Komplex eher im Hintergrund.« (Aslan 2017)
Diejenigen, die von rechtsextremen und rassistisch agierenden Subjekten (Individuen, Gruppen, Institutionen) zu Objekten des Hasses gemacht werden, wehren sich gegen diese Marginalisierung, um nicht nur als Opfer ernst genommen zu werden, sondern als selbst handelnde Entitäten. Dies stellt auch die der Subjekt-Objekt-Konstellation unterstellte Zufälligkeit der Abwertung infrage und verweist auf die gesellschaftsstrukturierende Dimension von Rassismus. In der Einwanderungsgesellschaft der Vereinigten Staaten haben vor allem die zivilgesellschaftlichen Bürgerrechtsbewegungen der People of Color sowie jüdische Verbände schon seit Jahrzehnten in diesem Sinne das Wort ergriffen und unter anderem eine flächendeckende Verankerung von Gesetzen gegen Hasskriminalität erwirkt.
Auch der Begriff der Hasskriminalität krankt an einer verwirrenden Doppeldeutung: Denn es geht dabei nicht um die Emotion Hass als mögliches Tatmotiv, sondern um die pauschalisierende Abwertung von sozialen Gruppen. Hassaktivitäten in diesem Sinne können ohne jede Gefühlsregung der Täter_innen geschehen. Bei Hassverbrechen geht es um Vorurteile – daher setzt die amerikanische Diskussion »hate crimes« und »bias motivated crimes« weitestgehend gleich. Zusammenfassend lassen sich Hassaktivitäten definieren als immer gruppenbezogen – in Bezug auf die Opfer – und als vorurteilsgeleitet. Die Bezeichnung »Hassaktivitäten« ist deshalb eigentlich irreführend. Das bestimmende Merkmal von Hassaktivitäten sind die Vorurteile, nicht das individuelle Empfinden von Hass. Zutreffender wären die Bezeichnungen »vorurteilsgeleitete Aktivitäten« oder »Vorurteilskriminalität« (Coester 2008: 30). Allerdings hat sich der Begriff »Hass« inzwischen in Gesellschaft und Forschung etabliert, sodass eine Durchsetzung der wissenschaftlich korrekteren Bezeichnungen unwahrscheinlich ist (Geschke 2017: 171). In einem Rechtsgutachten für die Antidiskriminierungsstelle des Bundes empfiehlt der Jurist Kugelmann:
»Aufgrund der Griffigkeit des Begriffs und seiner internationalen Anschlussfähigkeit sollte […] an der Bezeichnung als Hasskriminalität festgehalten werden.« (Kugelmann 2015: 10)
Die Definitionen in Tabelle 2 weisen darauf hin: Der »Hass«-Begriff ist eindeutiger als der »Rechtsextremismus«-Begriff, insofern »Hass« sich auf die Abwertung bestimmter historisch diskriminierter sozialer Gruppen bezieht.
Tab. 2: Übersicht zur Hass-Terminologie
Ein elementarer Unterschied der Konzepte liegt in der Blickrichtung: Der Hassansatz fragt danach, warum, d. h. aufgrund welcher sozialen, historischen, politischen und situativen Umstände jemand zum Opfer wurde – und nicht danach, warum und wie jemand zum Täter wurde oder potenziell bedrohliche Einstellungen entwickelt.
Hassverbrechen sind mit strukturellen und kulturellen Prozessen verknüpft, durch die Minderheiten für diese systematische Gewalt anfällig sind. Doch die Motivation von Täter_innen kann weitaus banaler sein, als die Durchsetzung von Unterordnung zu praktizieren – motivierend können auch Langeweile, Eifersucht oder fehlende Gewöhnung an Vielfalt sein, wie Chakrabort (2015) zusammenfassend feststellt: Politische, öffentliche und wissenschaftliche Reaktionen können demnach von der Tendenz geleitet werden, Hassverbrechen mit der Ideologie der organisierten Hassgruppen oder Rechtsextremen in Verbindung zu bringen. Doch internationale Untersuchungen deuten darauf hin: Viele Hassverbrechen werden im Kontext ihres »gewöhnlichen« Alltagslebens von relativ »gewöhnlichen« Menschen begangen. Das Vergehen ist nicht immer von einem Gefühl der verankerten Vorurteile oder des Hasses seitens der Täter_innen inspiriert. Hassaktivitäten sind immer auch Botschaftstaten – jedoch ergibt sich dies nicht zwingend aus der Intention der Täter_innen, sondern aus der Perspektive der Opfer:
»Die Auswahl gerade des Opfers, das bestimmte Merkmale aufweist, soll Wirkung in der Gesellschaft erzielen. Die Tat verfolgt regelmäßig eine übergeordnete Zielrichtung, weil unbeteiligte Dritte beeinflusst werden sollen. Der Unrechtsgehalt wird mitgeprägt oder gar gesteigert, wenn und soweit die Täterin oder der Täter das Opfer als gleichsam austauschbaren Vertreter einer Gruppe angreift.« (Kugelmann 2015: 10)
Der amerikanische Soziologe Oppenheimer (2005: 4ff.) betont, Hassaktivitäten richten sich gegen Minderheiten, die für ein tatsächliches oder imaginiertes Übel zum Sündenbock gemacht werden. ›Minderheiten‹ existieren nur in einem im Kontext zur ›Mehrheit‹, der geprägt ist durch einen differenzierten Zugang zu unterschiedlichen Ressourcen (bspw. Arbeitsplätze, Status, Prestige) – das heißt in einem Verhältnis von Über- und Unterordnung. Diese Ressourcen sind in Verbindung mit Wertvorstellung für Personen und Gruppen identitätsprägend. Verändern sich diese asymmetrischen Verhältnisse – etwa durch Migration oder wachsende Gleichberechtigung –, kann damit ein (subjektiver) Identitätsverlust einhergehen. Die daraus resultierende Verunsicherung von ›besorgten Bürgern‹ kann leicht in Vorurteile, d. h. in ›Hass‹, umschlagen. Menschen(-gruppen) entwickeln demnach Hass auf andere, wenn die Ressourcen knapp erscheinen und die hassenden Subjekte nicht anders in der Lage sind, Veränderungsprozesse zu verstehen, als dafür Sündenböcken die Schuld zu geben. Unterstützt wird diese Projektion durch Teile der Politik, der Medien und der ökonomischen Machtstruktur, für die die Manipulation der Verunsicherung nützlich ist (Oppenheimer 2005: 6).
Ein durchwachsenes Zeugnis hat die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (European Commission against Racism and Intolerance, ECRI), die wiederholt die Implementierung von hate crime-Statistiken angemahnt hat, im Februar 2017 der Bundesrepublik Deutschland ausgestellt: Einerseits begrüßte die Kommission die Maßnahmen der Polizeibehörden in den vergangenen Jahren, um rassistische, homophobe und transphobe Vorfälle besser zu erfassen; andererseits attestierte sie weiterhin signifikante Defizite. Die Kommission schloss sich der Kritik des UN Committee on the Elimination of Racial Discrimination (CERD), der Federal Anti-Discrimination Agency (ADS) sowie von Amnesty International (AI) an – sie alle bemängeln die Nutzung unkorrekter Begrifflichkeiten der deutschen Polizei. Sie lehnen die Bezeichnung »Politisch motivierte Kriminalität« (PMK) als Überbegriff für Hassverbrechen ab: Dieser sei unangemessen, da viele rassistische, homophobe und transphobe Übergriffe nicht politisch motiviert seien – dies gelte auch für religiös motivierte Hassverbrechen und Straftaten, die darunter subsumiert werden. Außerdem wird an der Praxis der deutschen Behörden beanstandet, die Geschlechtsidentität als Merkmal von Betroffenen nicht zu berücksichtigen. Nach Ansicht der ECRI kann die Begriffsnutzung Polizeibeamt_innen in die Irre führen, die mit rassistisch, homophob oder transphob motivierten Hassverbrechen befasst sind (European Commission against Racism and Intolerance 2017). Darüber hinaus bemängelt die Kommission, die deutschen Polizeibehörden würden eine übermäßig restriktive Definition von Hassverbrechen für ihre Statistik nutzen (siehe Definition der Bundesregierung in Tab. 2); dadurch würden viele Hassverbrechen gar nicht als solche erfasst. Stattdessen sollte die Polizei eine viel breitere Definition annehmen und einen rassistischen, homophoben oder transphobischen Hintergrund bei allen Vorfällen in Erwägung ziehen, die von den Opfern oder anderen Personen als solche empfunden werden. Nicht verwunderlich seien die großen Unterschiede zwischen den statistischen Daten zivilgesellschaftlicher Initiativen und von Opferberatungsstellen auf der einen Seite und behördlichen Angaben auf der anderen Seite aufgrund der restriktiven Begriffspraxis der Polizei (European Commission against Racism and Intolerance 2017).
Im April 2017 hat das Bundesinnenministerium im Rahmen der polizeilichen Kriminalstatistik differenzierte Zahlen zur Entwicklung von Hasskriminalität in Deutschland veröffentlicht ( Abb. 1); diese leiden jedoch nach wie vor unter den von der ECRI kritisierten Defiziten. Den Behördenangaben zufolge ist die Zahl der Hassverbrechen 2016 auf einen Höchstwert in der Erfassung von insgesamt 10.751 Vorfällen gestiegen – darunter 1.467 Fälle von Gewaltstraftaten. Auffällig ist der massive Anstieg von Hassverbrechen seit 2015 im Kontext des gestiegenen Zuzugs von Geflüchteten und einer äußerst polarisierten politischen Diskussion. Im Bereich »PMK rechts« hat sich die Zahl der Vorfälle fast verdoppelt.
Der mit Abstand größte Anteil von Hassverbrechen wird in der polizeilichen Kriminalstatistik dem Bereich politisch rechts motivierter Kriminalität zugezählt: 85% der Hassgewalt und 90% der Hasskriminalität insgesamt im Jahr 2016 entfallen darauf. Weniger als 1% der Gewalt- und Straftaten werden dem linken Bereich zugeordnet. Weniger als 4% der Hasskriminalität und knapp 9% der Hassgewalt ordnet die Polizei dem Kriminalitätsspektrum »Ausländer« und jeweils 5% aller Hassverbrechen dem Bereich »Sonstiges« zu. Diese Werte können als Beleg dafür interpretiert werden, dass Hassverbrechen über den Bereich des klassischen Rechtsextremismus hinausreichen. Die hohe Zuordnung zur »PMK rechts« zeigt aber auch: Hasskriminalität ist in der Praxis meist von rechten Tatmotiven begleitet oder wird zumindest von den aufnehmenden Polizist_innen als solche gedeutet. Vor dem Hintergrund der restriktiven Auslegung von Hassverbrechen ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer weitaus größer ist.
Statistische Angaben zu Hassverbrechen des Bundesinnenministeriums umfassen Angaben zu den Kategorien Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Religion, gesellschaftlicher Status, sexuelle Orientierung und Behinderung. Mit diesen
Abb. 1: Entwicklung von Hasskriminalität und politisch motivierter Kriminalität in der polizeilichen Kriminalstatistik 2001–2016 (eigene Darstellung auf Grundlage von: Bundesministerium des Inneren 2017)
sechs Kategorien (bzw. 5 Kategorien, insofern die Unterteilung zwischen fremdenfeindlich und rassistisch wenig überzeugend ist) der veröffentlichten offiziellen Daten wurde die Berichterstattung in Deutschland zwar in den vergangenen Jahren verbessert, die Bundesrepublik bleibt aber im europäischen Vergleich ein Entwicklungsland. Eine Gegenüberstellung der Agentur für Grundrechte der Europäischen Union zeigt auf Grundlage von Daten aus dem Jahr 2010, dass andere EU-Mitgliedsstaaten – allen voran die Niederlande – über ein deutlich sensibleres Instrumentarium verfügen. Dort werden Daten zu Hassverbrechen aus insgesamt zehn Beweggründen erfasst (FRA – Agentur der Europäischen Union für Grundrechte 2013: 40):
• Rassismus und Fremdenfeindlichkeit
• Antisemitismus
• sexuelle Ausrichtung
• Extremismus
• religiöse Intoleranz
• Islamfeindlichkeit
• Roma-Feindlichkeit
• Behinderung
• Geschlechtsidentität
• Sonstiges/nicht näher bestimmt
Abbildung 2 zeigt auf Grundlage der Daten der polizeilichen Kriminalstatistik die Entwicklung der erfassten Fallzahlen zur Hasskriminalität in Deutschland zwischen 2006 und 2016. Daraus geht hervor, dass ganz überwiegend Bereiche ins Hellfeld gestellt werden, die dem klassischen Verständnis von Rechtsextremismus entsprechen: allen voran Fremdenfeindlichkeit, gefolgt von Antisemitismus und Rassismus. Äußerst gering ist die Zahl der erfassten Fälle im Kontext von Behinderung und sexueller Orientierung sowie des sozialen Status (124 Straftaten). Nach Angaben der Bundesgemeinschaft Wohnungslosenhilfe sind jedoch allein im Jahr 2016 in Deutschland 17 Obdachlose durch Gewalttaten getötet worden; zudem gab es demnach mindestens 128 Fälle von Körperverletzungen, Vergewaltigungen, Raubüberfällen und bewaffneten Drohungen gegen wohnungslose Menschen. Sind die Täter nicht selbst wohnungslos, spielen dem Verband zufolge menschenverachtende und rechtsextreme Motive häufig eine zentrale Rolle.
»Dabei handele es sich nicht immer um organisierte Rechtsextreme. ›Vorurteile und Abwertungen gegenüber wohnungslosen Menschen kommen in breiten Schichten der Bevölkerung vor‹, erklärte die Bundesarbeitsgemeinschaft.« (Spiegel Online 2017, vgl. auch Quent 2017).
Abb. 2: Beweggründe für Hasskriminalität in der polizeilichen Kriminalstatistik 2006–2016 (eigene Darstellung auf Grundlage von: Bundesministerium des Inneren 2017)
Es muss – auch vor den Hintergrund internationaler Vergleichszahlen aus anderen westeuropäischen Staaten – davon ausgegangen werden: In diesen Bereichen ist die Dunkelfeldproblematik besonders massiv. Auch aufgrund der traditionell starken Fixierung auf den Rechtsextremismus bleiben viele Aspekte und Fälle von Vorurteilskriminalität in Deutschland systematisch unsichtbar.
Darüber hinaus bestehen auch bei den stärker in der Statistik ausgeprägten Beweggründen große Schwierigkeiten bei den offiziellen Daten, wie das Beispiel Antisemitismus zeigt (Unabhängiger Expertenkreises Antisemitismus 2017).
Die Ansätze »Rechtsextremismus« und »Hass« sind idealtypisch zu unterscheiden hinsichtlich ihres primären Bezugs in subjekt- und objektbezogene Perspektiven bzw. Täter- und Opferperspektiven. Ich bevorzuge die Begriffe »Subjekt- und Objektperspektiven«, weil diese nicht nur Viktimisierungskontexte einschließen, sondern auch die dahinterstehenden Vorurteils- und Gesellschaftsstrukturen. Subjektbezogene Paradigmen der Vorurteils- und Rechtsextremismusforschung wollen auf der Einstellungsebene erklären, wie es dazu kommt, dass Individuen oder Gruppen abwertende Einstellungen gegen andere Individuen und Gruppen ausbilden. Auf der Handlungsebene geht es darum zu erklären, warum und wie Individuen und Gruppen im sozialen und/oder politischen Bereich unterschiedliche Handlungsoptionen nutzen, um anderen Individuen und Gruppen zu schaden. Unter anderen aus diesen Einflüssen ergibt sich die Bedeutung subjektorientierter Ansätze für die soziale Arbeit und Demokratiepädagogik, um mittels präventiver Maßnahmen auf unterschiedlichen Ebenen die Entwicklung von Vorurteilen und deren Radikalisierung zur Gewalt zu verhindern. Im Rahmen tertiärer Prävention zählen auch die Aussteigerprogramme im Bund und in den Ländern dazu. Kritiker_innen bemängeln unter anderem die »Täterfixierung«, dominierend insbesondere in staatlichen Programmen gegen Rechtsextremismus in den 1990er Jahren. Der Migrationsforscher Terkessidis beanstandet die auch in der Forschung zu rechter Gewalt dominierende Täterfixierung und die »Vernachlässigung der Betroffenen«, weil sie dazu führen könne, »dass am Ende die spezifisch rassistische Ausrichtung der Gewalt völlig aus dem Blickfeld gerät und die Gewalt selbst zum letztlich erklärungsbedürftigen Phänomen wird« (Terkessidis 2004: 68). Seit dem »Aufstand der Anständigen« wird in staatlichen Programmen verstärkt auf eine zivilgesellschaftliche Orientierung gesetzt, um demokratische Gegenkräfte und die Betreuung von Opfern rechter Gewalt zu stärken (Lynen von Berg/Roth 2003). Beispielhaft dafür stehen die mobilen Beratungsstellen gegen Rechtsextremismus und die Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Vor allem in der empirischen Forschung fristet die Opferperspektive weiterhin weitgehend ein Schattendasein. Zwar werden in der Kriminologie und Viktimologie objekt- bzw. opferorientierte Perspektiven – also solche, die von spezifischen Opfergruppen und Tatumständen ausgehen – schon länger berücksichtigt. In der Debattenlandschaft der deutschen Rechtsextremismusforschung haben Untersuchungen zu Betroffenen von rechter Gewalt bzw. Hassgewalt jedoch Seltenheitswert (Böttger/Lobermeier/Plachta 2014; Willems/Steigleder 2003; Quent/Geschke/Peinelt 2014).
Ausschlaggebend für die paradigmatische Unterscheidung zwischen subjektbezogener und objektbezogener Rechtsextremismus- bzw. Vorurteilsforschung ist: Bei objektbezogenen Ansätzen wird nicht ausschließlich das Motiv bzw. die Einstellung von Täter_innen einbezogen, sondern es werden auch spezifische Tatumstände einschließlich der historischen und sozialen Intergruppenverhältnisse beachtet. Die Sozialwissenschaftler Perry und Olsson (2009: 181) führen aus, die Kontinuität von Hassverbrechen weise große Gemeinsamkeiten mit Menschenrechtsverletzungen auf – es handele sich um eine »systematische Verletzung der Menschenrechte« (Perry/Olsson 2009: 181); Hasskriminalität ist demnach nicht zufällig, denn die Opfer(-gruppen) werden gezielt ausgesucht. Zusätzliche Dringlichkeit besitzt die besondere Behandlung von Hasskriminalität – über menschenrechtsverletzende Folgen und Implikationen hinaus – durch die schwerwiegenden Folgen für die Gewaltopfer: Hassverbrechen schädigen mehr als ähnliche, aber anders motivierte Straftaten; das zeigen beispielsweise britische Untersuchungen (Iganski/Lagou 2009). Dies belegt die Notwendigkeit, mit Hassverbrechen sensibel und gesondert umzugehen. Für den Kontext der Strafverfolgung in Deutschland weist Kugelmann darauf hin: Für Hassverbrechen ist ausschlaggebend,
»dass der Tat eine über die persönliche Schädigung des Opfers hinausweisende Motivation zu Grunde liegt, die an bestimmte Merkmale des Opfers anknüpft. Die besonders gelagerte Strafbarkeit der Hasskriminalität findet ihren Grund nicht in der lediglich internen Gesinnung der Täterin oder des Täters, sondern in den objektiven Tatumständen, in denen seine Motivation ihren Ausdruck findet.« (Kugelmann 2015: 10)
Empirisch legen Polizeistatistiken (s. o.) einen engen Zusammenhang zwischen Hasskriminalität und Rechtsextremismus nahe, wobei die Validität der Daten aus den genannten Gründen äußerst zweifelhaft ist. Anders als in den USA fehlen in Deutschland bisher kontinuierliche Dunkelfeld- und Vikitimisierungsbefragungen zur Hasskriminalität, die jedoch notwendig sind zur Fortentwicklung des Konzeptes, zur empirischen Abgrenzung und für evidenzbasierte Präventionsprogramme (vgl. auch Coester 2015: 353ff.).