Über den Autor
Abseits vom Blitzlichtgewitter, jenseits des roten Teppichs, fängt das wahre Leben erst an. Für Ulrich Scheele, Jahrgang 1946, waren Glanz und Glamour der Medienwelt das Leitmotiv in einem intensiven Lebenslauf, der von Schicksalsschlägen nicht verschont blieb. Mit diesem Buch gibt Scheele offene Einblicke in sein Privatleben. Er erzählt von seiner glücklichen Kindheit und der späteren problematischen Konstellation in der Familie. Er spart seine unrühmliche Schulzeit nicht aus, die dennoch zum Abitur und zum Hochschulstudium führte, während er mit 24 schon junger Vater wurde. Er schildert ehrlich seine Versagensängste, die ihn jahrelang begleiteten, zunächst im Bertelsmann-Konzern, der ihn vor die Tür setzte, und auch danach noch, während er als selbstständiger Medienunternehmer erfolgreich seinen eigenen Verlag aufbaute – den er am Ende an Bertelsmann verkaufte. Zunächst profilierte sich Ulrich Scheele als profunder Kenner und gefragter Berater beim Aufbau der Videobranche; später deckte seine Firma Entertainment Media mit bis zu 150 Mitarbeitern alle Bereiche der Entertainmentbranche ab und galt auf ihrem Gebiet als führender Fachverlag im deutschen Sprachraum. Bundesweite Beachtung fand auch die von Scheele gegründete Preisgala „Diva – Deutscher Entertainment Preis“. Sie führte zu vielen prominenten Begegnungen „jenseits des roten Teppichs“. Von einigen davon ist in diesem Buch zu lesen.
Für Katja, Sylvia und Irmela, für Laura und Karen
Für Carlota, Malena, Luca und Sophia
Meine Biografie zwischen Business und Boulevard
Vorwort von Barbara Dickmann
© 2017 Ulrich Scheele
Lektorat, Korrektorat: Manfred Gillig-Degrave
Fotos: Schneider-Press, brauerphotos, People Image, barbiradpicture, Privat
Umschlagfoto: Tinnefeld
Bildbearbeitung:
Digital Picture – Repro & Medienservice (Albert Schweiger)
ISBN
Paperback 978-3-7439-5648-3
Hardcover 978-3-7439-5649-0
e-Book 978-3-7439-5650-6
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40 – 44, 22359 Hamburg
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„Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen.“
Gabriel Garcia Marques
Roter Teppich, Limousinen fahren vor, Blitzlichtgewitter – die Fotografen drängeln sich am Rand, rufen Namen. „Hierher, Mrs. Bacall – zu mir schauen, Roger Moore – bitte in meine Kamera, Zucchero.“
Viele internationale Stars schritten über den roten Teppich der DIVA. Sie alle waren stolz, dass sie diese Auszeichnung für ihre schauspielerische Leistung, ihre herausragende Regie, ihre Drehbücher oder ihre Produktionen in Film, Fernsehen und Musik erhielten.
Der Mann, der diesen begehrten Filmpreis ins Leben gerufen hat, ist Ulrich Scheele. Der Münchner Verleger hat das unmöglich erscheinende geschafft: die DIVA ranggleich mit dem Bambi oder der Goldenen Kamera in den Film-Event-Kalendern zu platzieren.
Der bekannte deutsche Bestsellerautor und Moderator Roger Willemsen sagte einmal über Ulrich Scheele, dass er „in jede seiner Preisverleihungen seine gesamte Körpermasse schmeißt, der wie Ben Hur zwölfspännig durch die Show-Welt reitet und immer noch zittert wie Gwyneth Paltrow bei der Entgegennahme des Oscars, ängstlich, es könnte mal nicht klappen“.
Doch der Weg zu Erfolg, Respekt und Anerkennung in der Filmbranche und in der Öffentlichkeit war lang und von manchen bitteren Niederlagen begleitet. Ulrich Scheeles Motto schien zu lauten: „Nie aufgeben!“
Geprägt durch einen dominanten Vater, der von ihm und seinen Geschwistern Disziplin und Gehorsam einforderte, lernte Ulrich schon sehr früh, sich durchzusetzen. Vater Hans Scheele, Oberkreisdirektor im ostwestfälischen Gütersloh, war ein hoch angesehener Beamter, er gehörte später zu den Gründungsvätern des ZDF. Er konnte seiner Familie und seinen sechs Kindern ein sorgenfreies Leben und eine gute Ausbildung ermöglichen. Das Fundament des späteren Erfolges auch für Sohn Ulrich.
Das allein aber wäre nicht genug, um das Phänomen „Ulrich Scheele“ zu erklären. Und etwas „Phänomenales“ hat dieser Lebensweg wirklich. „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ ist nicht ganz richtig, aber der Aufstieg vom Kabelschlepper zu einem der großen Medienverleger kommt dieser Gleichung schon sehr nahe. Immer neuen Herausforderungen stellte sich der Verleger, und er entwickelte sich damit zu einem der wichtigsten und oft genug unverzichtbaren Ratgeber auch für die Giganten der Medienbranche.
Und wieder war es Roger Willemsen, der die richtigen Worte fand: Ulrich Scheele beherrsche die hohe Schule der Diplomatie, als sei sie ein seltenes, fernöstliches Zeremoniell, und er könne zwischen dem ehemaligen bayerischen Finanzminister Erwin Huber und dessen anglo-bajuwarischem Idiom und Peter Ustinovs kosmopolitischem Geist Brücken schlagen. Das beschreibt ziemlich genau das Rüstzeug des Erfolgsmenschen Ulrich Scheele.
Ulrich Scheele hat einen Lebensweg voller Überraschungen hinter sich. Seine Biographie lichtet eine besondere Nachkriegskarriere ab, eine Karriere wie aus dem Bilderbuch. Mit erstaunlicher Offenheit, spannend, enthüllend und voller Emotionen. Ein Nachschlagewerk – nicht nur für die Medienbranche.
Barbara Dickmann,
Fernsehjournalistin
Es war der 28. Februar 2008 kurz vor Mitternacht. In wenigen Minuten würde meine Zeit im Verlag vorbei sein, der fast dreißig Jahre lang mein Leben gewesen war. Ich trat hinaus in die nächtlich frische Winterluft am Frankfurter Ring in München. Ich war 62 Jahre alt. War ich jetzt befreit oder nur frei? Wie würde es weitergehen? Irgendwie, mit vagen Plänen und Hoffnungen.
Endlich hatte ich die letzten Wochen hinter mir. Viel war über mich hereingestürzt und jetzt auf einmal einfach vorbei. Aber ich hatte es ja so gewollt. Mich befiel weder Traurigkeit noch Freude, vielleicht ein wenig Trotz, obwohl mein Kopf leer war.
Meinen Verlag hatte ich verkauft an den Konzern, mit dem ich seit 1974 verbunden gewesen war und der mir 1979 den Stuhl vor die Tür gesetzt hatte: Bertelsmann.
Der Rauswurf war bitter und doch ein Glücksfall. Er war der Anfang meiner spannenden Karriere. Es war ein Leben, das ich so nicht geplant hatte, auch nicht planen konnte.
Die Kisten mit meinen persönlichen Erinnerungsstücken waren gepackt, beschriftet und auf dem Weg vom Verlagsgebäude in Dornach bei München zu mir nach Ottobrunn. Mein Büro war aufgeräumt, die Schlüssel übergeben. Noch eine letzte Tasse Kaffee. Das war’s dann. Von meinen fast 140 Mitarbeitern hatte ich mich bereits offiziell verabschiedet. Die „Langjährigen“ hatte ich am Vorabend in das Spiegelzelt „Witzigmann & Roncalli“ am Frankfurter Ring in München eingeladen. Es waren nahezu achtzig, die länger als fünf Jahre meinem Verlag angehörten. Und sie waren alle gekommen.
Bei Witzigmann war für erlesene Speisen, Getränke und Unterhaltung gesorgt, und das hatte zudem den Vorteil, dass auch ich abgelenkt war und mit niemandem lange Gespräche führen musste. Reden wollte ich nicht, wusste auch gar nicht, was ich hätte sagen sollen. Einige Mitarbeiter hatten Geschenke dabei, und beim mitternächtlichen Abschied im Foyer kam dezenter Beifall auf. Auch ein paar Augen wurden feucht, nicht nur bei mir.
Ja, ich war ein erfolgreicher Unternehmer geworden und hatte im Rahmen meiner Karriere – auch als Veranstalter wie zum Beispiel von „DIVA – Deutscher Entertainmentpreis“ oder „DVD-Night“ – das Privileg, vielen außerordentlichen Menschen zu begegnen, unter anderen Astrid Lindgren, Alain Delon, Roger Willemsen, Roy Disney, Leo Kirch und Arnold Schwarzenegger, dem ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger und dem US-Präsidentschaftskandidaten John McCain, Angelina Jolie, Vicco von Bülow alias Loriot, Herbert Grönemeyer, Rea Garvey und auch Michael Douglas.
Michail Gorbatschow durfte ich interviewen, und mit Rudi Carrell habe ich gern und oft Golf gespielt. Peter Schamoni, Gottfried John und Sascha Hehn wurden meine Freunde. Und was auch nicht zu erwarten gewesen war: Finanzielle Probleme kannte ich nicht, und so kann mich heute sogar zu den eher Wohlhabenden in diesem Lande zählen.
„Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen.“ So schreibt der große Schriftsteller Gabriel Garcia Marquez. Dieses Buch sind meine Erinnerungen an mein Leben. Es hat mir Spaß gemacht, alles aufzuschreiben, was mich in diesem Leben bewegt hat. Wie kam das alles? Durch Zufall? Gottgewollt? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall war es spannend, und es ging nicht immer ohne Kämpfe ab. Niederlagen haben mich stärker gemacht. Aufgeben gab es für mich nicht. Woher kam die Kraft, der Wille, sich nicht unterkriegen zu lassen? Dieses Buch ist der Versuch einer Antwort auf die Frage, wie ich wurde, was ich heute bin.
Eine Karriereplanung hat es nie gegeben. Viele Entscheidungen traf ich intuitiv, aus dem Bauch heraus. Und dennoch sieht es so aus, als würde sich eine bestimmte Melodie wie ein roter Faden durch mein Leben ziehen: Es hat mir stets Spaß gemacht, andere Menschen, Mitarbeiter und Geschäftspartner im Konsens auf immer neue Ideen und Projekte einzuschwören.
Mein Dank gilt meinen Mitarbeitern, die mich nicht nur begleitet haben, sondern auch aushalten mussten. Ich war kein einfacher Chef. Ich war ein Antreiber und Perfektionist. Das war für viele meiner Mitmenschen nicht immer einfach. Ich galt zudem noch als cholerisch. Aber ich war einer, dem man abnahm, dass seine Ideen erfolgreich umsetzbar waren. Nur mit meinen Mitarbeitern zusammen war der berufliche Erfolg in diesem Ausmaß möglich. Ich danke meiner Familie, meinen drei Töchtern und meinen beiden Ehepartnerinnen. Sie waren immer für mich da, haben zu mir gehalten, haben an mich geglaubt und mir den nötigen Rückhalt gegeben, um das alles zu erreichen. Ich danke dem Leben für die vielen Sonnenseiten.
Nein, ich bereue (fast) nichts.
Meine letzte Begegnung mit ihm war die wohl schmerzlichste, drei Monate vor seinem Tod.
Er war bereits schwer von seiner Krankheit gezeichnet. Ich verabschiedete mich von ihm am Morgen des 28. März 2006 bei strahlendem Wetter, blauem Himmel und Temperaturen von fast zwanzig Grad. Es war im Hotel Winkler in der oberbayerischen Gemeinde Aschau.
Am Abend zuvor hatten wir im kleinen Kreis mit Freunden wie Gottfried John, Klaus Doldinger, Ralph Siegel, Max Schautzer, Suzanne von Borsody und Peter Schamoni und natürlich mit meinen Kindern meinen 60. Geburtstag gefeiert.
Es war Rudi Carrells letzte große Reise von Bremen nach Bayern. Er war mit dem Zug angereist. Allein. Simone, seine Frau, fuhr mit dem Auto. Es war sein ausdrücklicher Wunsch gewesen. Dass er mein Gast sein würde, hatte ich angesichts seines gesundheitlichen Zustands kaum für möglich gehalten. Er konnte kaum noch sprechen, war fürchterlich abgemagert, hatte aber seinen Humor nicht verloren.
Als Suzanne von Borsody beim Geburtstagsdessert ein Kindergedicht rezitierte und Peter Schamoni danach auch eines zum Besten gab, erhob sich Rudi spontan. Mit seiner von der Krankheit schwer gezeichneten piepsigen Stimme trug er auf Holländisch ebenfalls ein Kindergedicht vor. Jeder wusste, dass wir bald für immer voneinander Abschied nehmen mussten.
Warum nur hatte er diese lange, anstrengende Reise von Syke bei Bremen bis nach Aschau auf sich genommen? Gewiss, wir waren gute Bekannte, hatten viele lustige Runden auf Golfplätzen verbracht, viele gemeinsame Abendessen genossen, und nicht selten war er mit Simone Gast meiner Veranstaltungen gewesen. Ich glaube aber, Rudi hat meinen Geburtstag zum Anlass genommen, um sich zu verabschieden. Er wollte sich von Bayern verabschieden. Nicht nur von seinen Freunden. Er wollte noch einmal Oberbayern sehen, mit seinen Bergen, seinen Seen, seiner Landschaft.
Er kam gern nach Bayern, er liebte Bayern.
„Golf ist keine Frage von Leben oder Tod. Golf ist wichtiger.“
Warum nur ging mir diese typische „Golfer-Weisheit“ nicht aus dem Kopf? Ob Rudi Carrell diesen Spruch wohl auch gekannt hat?
Rudi liebte Golf, Bayern und schöne Frauen. Und weil ich diese Vorlieben mit ihm teilte, hatte ich gute Chancen, ihm nicht nur zu begegnen, sondern ihn auch etwas näher kennenzulernen. Rudi war einer der wenigen Stars, die sich bedanken konnten. So wie er es nach seinem ersten Besuch der DIVA tat, die im Jahr 2000 im Kaisersaal der Residenz stattfand.
Er schrieb mir danach:
„Von all den Preisverleihungen, die ich in den vergangenen fünfunddreißig Jahren erlebt habe, war es die beste und schönste! Dass ich nicht auf der anschließenden Party war, kam durch Johannes Heesters. Er wollte nicht nach Hause, sondern sich mit mir unterhalten. Und so wurde es halb drei.“
Rudi hatte ich erst Ende der neunziger Jahre kennengelernt. Wir wurden in Norddeutschland bei einem Golfturnier, veranstaltet von Universal Music, aufgrund unseres ähnlichen Handicaps in einen Flight gesetzt. Typisch für Rudi Carrell: Er hatte sein eigenes Elektrocart – sein „Rudimobil“ – in einem Anhänger mitgebracht: ein Dreiradmobil mit Zigaretten- und Getränkehalter! Nur für ihn. Allein unter Freunden, war mein Eindruck.
So habe ich ihn auch später erlebt. Persönliche Nähe kam für ihn eher nicht in Frage. Von sich hat er kaum etwas preisgegeben. Im Golfcart erlebte ich ihn fast immer einsilbig. Er hasste Umarmungen mit Bussi, wie es in der Branche üblich ist. Es sei denn, es handelte sich um schöne Frauen …
Er liebte seine Fans, auf die er begeistert zuging, wenn „Rudi, Rudi“-Rufe ertönten. Gern zockte er beim Golfen. Da ging es dann um ein Pfund Kaffee oder ein Paar Golfschuhe, selten um Geld.
Er ließ sich nicht korrumpieren, nicht vereinnahmen. Er ließ sich nicht einladen, wurde fast wütend, wenn man die Bewirtungsrechnung schon übernommen hatte.
Nie werde ich einen Vorfall im Restaurant „Rocamar“ in Puerto d’Andratx auf Mallorca vergessen. Ich hatte zu einem kleinen MGM-Golfturnier (Medien-Golfer-München) eingeladen. Ich habe zwar diese Turniere wie immer organisiert, bezahlen allerdings musste jeder selbst.
Am Vorabend trafen wir uns in eben jenem Fischlokal. Es war ein lustiger entspannter Abend. Wir waren so an die fünfzehn Personen, unter anderem waren dabei Sascha Hehn, das Volksmusikduo Marianne und Michael, der TV-Moderator Werner Schulze-Erdel, der Produzent Peter Schamoni, die BMG-Bosse Albert Czapski und Christoph Schmidt sowie Rudi Carrell mit Simone.
Irgendwann habe ich dann gedacht, zum Auftakt des Turniers zahle ich entgegenkommenderweise die abendliche Zeche. Ich ging also zum Wirt, doch ehe ich alles begleichen konnte, stand Rudi neben mir.
„Das kommt gar nicht in Frage, dass du alles bezahlst“, sagte er.
Nach anfänglichem Widerstand beugte ich mich Rudis Wunsch, ging zurück an meinen Platz und ließ ihn bezahlen.
Als wir aufbrachen, wurde klar: Rudi hatte nur für sich selbst bezahlt. Später konnte ich das häufiger bei ihm beobachten: Er bezahlte als Erster, aber nur für sich selbst. Das war kein Geiz. Das war sein Prinzip.
Drei Monate nach meinem Geburtstag starb der große Showmaster. Den damaligen Abschied von ihm werde ich nie vergessen. Wie verabschiedet man sich von einem Todgeweihten? Mir fehlten die Worte. Er tat mir so unendlich leid. Und Rudi? Er tat so, als würden wir uns morgen wiedersehen. Rudi war einer meiner vielen Begegnungen jenseits des roten Teppichs. Viele sollten folgen. An einige dieser Begegnungen erinnere ich mich besonders gut. Ich habe sie in dieses Buch eingestreut.
Doch welcher Lebensweg hat mich dahin geführt? Davon will ich erzählen.
Liebte Golf, Bayern und schöne Frauen: Rudi Carrell in Beuerberg
„Herr Scheele – Kabine 5, bitte!“
Vom Wartebereich den Gang entlang zur Umkleidekabine im Klinikum München Großhadern waren es nur wenige Schritte. Es war im November 2013. Schon dreißigmal hatte ich diese Tortur täglich hinter mir: morgens viel trinken, damit die Blase voll ist und bei der Bestrahlung auch die richtige Stelle getroffen werden konnte.
Alle waren sehr nett zu mir.
Die Prozedur dauerte nicht lange, höchstens drei Minuten. Dann hatte ich meine tägliche Dosis Radioaktivität, die verhindern sollte, dass der Krebs zurückkommt.
Noch im März hatte ich auf dem Peloponnes in Griechenland eine wunderschöne Golfwoche mit meiner Frau Karen erlebt. Eine wilde, sandige Küste bei strahlendem Sonnenschein und Temperaturen so um die 20 Grad, die gerade für einen Golfer ideal sind. Ich verspürte hin und wieder Schmerzen beim Sitzen – und das schon seit ein paar Wochen. Hämorrhoiden?
Ich suchte meinen mit mir befreundeten Hausarzt auf. Er fragte: „Wann warst du zum letzten Mal beim Urologen?“
Das war erst ein halbes Jahr her. Seit mehr als zehn Jahren ging ich jährlich zur Prostatavorsorge.
„Also kann da eigentlich nichts sein“, stellte der Arzt fest.
Dieses „eigentlich“ hat mich irgendwie gestört. Ich war unsicher, irritiert und schon am nächsten Tag zur Untersuchung in der Nähe vom Wiener Platz. Im Ultraschall wurde etwas sichtbar, was da nicht hingehörte.
„Moment, was haben wir denn da?“, so der Urologe.
„Krebs?“, kam es aus meinem trockenen Mund heraus.
„Ja, es sieht nach Prostatakrebs aus. Wir müssen eine Biopsie machen, um den Verdacht auszuschließen. Sollte er sich bestätigen, werden Sie im Klinikum rechts der Isar operiert. Vorher fertigen wir in der Augustenstraße noch ein Knochenszintigramm an. Ich organisiere das schon mal. Die Biopsie können wir allerdings erst in zehn Tagen durch meinen Sohn machen lassen. Ich bin ab übermorgen leider für vier Wochen verreist.“ Bis dahin sollte ich meine Ängste und mögliche Schlafprobleme mit Beruhigungsmitteln behandeln, empfahl er noch und unterschrieb ein Rezept. Dann war er weg.
Seltsamerweise war mir nicht zum Heulen zumute, als ich nach Hause fuhr. Ich war irgendwie gelähmt. Ich konnte nicht fassen und nicht glauben, was mir da eben offenbart wurde. Das kann es noch nicht gewesen sein!
Nur eines ahnte ich: Es war nicht nur ein Verdacht.
Ready for the world: der Autor im Alter von zwei Jahren
Als ich am 27. März 1946 in Neumünster in Schleswig-Holstein geboren wurde, war der Zweite Weltkrieg zehn Monate vorbei. Deutschland lag zwar in Trümmern, aber mir ging’s prächtig! Meine Mutter beschrieb Jahre später in einem mir gewidmeten Fotoalbum meine damalige Ankunft:
„Der Dritte im Bunde, Ulrich genannt, kam mit neun Pfund hier ins Erdenland. Der Krieg war aus, die Zeiten schwer, das Brot war teuer, die Kassen leer. Doch Uli war kräftig, gesund und heiter. Wir dankten dem Herrgott. Er half auch weiter.“
Tat er das wirklich? Ich bin mir nicht ganz sicher, ob er mir geholfen hat oder ich mir selbst, ob es die Umstände waren, oder ob ich einfach nur Glück gehabt habe.
Eines ist gewiss: Eine lange Zeit in meinem Leben hatte ich das Gefühl, dass mir keiner geholfen hat, dass keiner an mich geglaubt hat. Das klingt vielleicht ein wenig bitter, aber es war wirklich nicht immer einfach. Mein Leben verlief viele Jahre lang wie auf einer Achterbahn. Mal hinauf, öfter aber doch hin–unter. Ich fühlte mich lange Zeit als Versager. Mein Tagebuch, das ich mit fünfzehn Jahren begann, trug die Überschrift „Aus dem Leben eines Taugenichts“. Trotzdem hatte ich immer ein unerschütterliches Urvertrauen in mir. Ob es Optimismus war oder nur kämpferischer Trotz, der mich nie aufgeben ließ, weiß ich bis heute nicht. Jedenfalls schrieb meine Mutter weiter: „Sein ausgeprägter zäher Wille bot täglich aufs Neue eine harte Pille.“
Keine Frage: Meine Mutter hat an mich geglaubt und mir die Fähigkeit vermittelt, auch selbst an mich zu glauben. „Du schaffst das schon“, höre ich sie noch heute liebevoll sagen.
Schon immer vermochte ich, mich auf den schlimmsten Fall aller Fälle einzustellen. Ich beschloss also, den Krebs zu besiegen und den besten Arzt und die beste Methode zu finden. Dazu brauchte ich schnellstmöglich Informationen aus dem Netz und von Betroffenen, die ich kannte. Mir fiel ein befreundeter holländischer Filmproduzent ein, der mir ein paar Jahre vorher einmal angeboten hatte: „Uli, wenn du mal Probleme hast, ruf mich an. Ich habe das alles hinter mir.“
Ich rief ihn an und war gerührt, wie er mir Mut zusprach und mir dringend riet, umgehend die Biopsie machen zu lassen.
Das tat ich dann auch und kündigte umgehend meinem langjährigen Urologen, der es nicht für nötig befunden hatte, mich selbst zu biopsieren. Denn eine Biopsie dauert nicht länger als gerade mal eine Viertelstunde.
Ich war zornig auf diesen Arzt, der nichts weiter im Sinn hatte, als seinem Sohn, ebenfalls Urologe, das dann fällige Honorar zuzuschustern.
Das Ergebnis der Biopsie zeigte schnell die Schwere meiner Erkrankung. Von zehn Biopsiestanzen war die Hälfte positiv – ein Befund, der weder den Oberarzt rechts der Isar noch den Professor Dr. Stief im Klinikum Großhadern zuversichtlich stimmte. Ohne Operation hätte ich noch maximal zwei Jahre. Man riet mir dringend zu einer Entfernung der Prostata. Wenigstens waren alle anderen radiologischen Befunde negativ und auch die Knochen frei von Metastasen.
Ein paar Tage später lag ich in Großhadern auf dem OP-Tisch.
Ich soll ein lieber kleiner Kerl gewesen sein, zumindest in den ersten zwei Lebensjahren.
Da gab es bereits meine Geschwister Brigitte, sieben Jahre alt, und Hans-Eberhard, vier Jahre alt. Nach mir kamen 1948 die Zwillinge Marianne und Michael auf die Welt. Das war wohl für mich die erste bittere Pille, die ich schlucken musste. Denn auf die bis dahin fast ungeteilte Aufmerksamkeit meiner Mutter musste ich jetzt verzichten. Ab diesem Zeitpunkt war ich für meine Eltern, vor allem für meine Mutter, wohl kein „lieber kleiner Kerl“ mehr. Ich war trotzig, widerborstig und lehnte mich auf, wo es ging. Ich suchte Aufmerksamkeit, wo immer es ging. Und die Suche danach hat mich zeitlebens nicht verlassen.
Meine schulischen Leistungen waren alles andere als zufriedenstellend. Sieben verschiedene Schulen auf vier verschiedenen Internaten lassen erahnen, was ich meinen Eltern zugemutet habe. Und wenn ich dann in den Ferien zu Hause war, gab es nur Ärger. Ich war „frech und ungehorsam“, wie mir mein Vater häufig attestierte.
Dabei wollte ich das gar nicht sein. Ich wollte Aufmerksamkeit. Im Innersten hatte ich einen weichen Kern, war eher auf Harmonie ausgerichtet. Wenn ich allerdings das Gefühl bekam, zu kurz zu kommen, wurde ich renitent und wollte meine Position unbedingt durchsetzen. Meine Eltern wollten mir das jedoch nicht gestatten.
Sie glaubten, meinen Willen brechen zu müssen. Vor allem mein Vater, dessen oberste Maxime in der Erziehung die Gehorsamkeit war. Und so setzte es viele Male Ohrfeigen, Haus- und Stubenarrest, was meine Bockigkeit häufig noch verstärkte. Und solche Sanktionen trafen mich viel häufiger als meine Brüder. Das war jedenfalls mein Eindruck.
Eine Woche nach der Operation wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Ich war zuversichtlich, dass alles gutgehen würde. Doch ich hatte Angst. Würden die Nachuntersuchungen bestätigen, dass wirklich alles raus ist?
Um sicherzugehen, solle ich mich bestrahlen lassen, riet man mir im Klinikum rechts der Isar – allerdings ohne mir viel Hoffnung zu machen, dass damit das Problem gelöst, der Krebs also besiegt sei. Mein Operateur Professor Dr. Stief bezweifelte sogar den Sinn der Bestrahlung.
Nach etlichen schlaflosen Nächten entschloss ich mich dazu, die Prozedur einer Radiatio über mich ergehen zu lassen. Immerhin lebte ich noch, und Metastasen wurden auch keine gesichtet.
Ursprünglich waren wir sechs Geschwister. Heute sind wir nur noch zu fünft. Brigitte (1939), Hans-Eberhard (1942), Andrea (1959) und ich, Jahrgang 1946. Von den Zwillingen, Jahrgang 1948, lebt nur noch Michael. Marianne nahm sich mit 24 Jahren das Leben. Sie war manisch-depressiv, lesbisch und hatte in ihrem kurzen Leben auch in Schule und Ausbildung nur Pech, sie entsprach also in keinerlei Weise den Vorstellungen ihres Vaters. Im Alter von dreizehn Jahren wurde sie vergewaltigt.
Zu meinen Geschwistern habe ich heute kaum Kontakt. Mit meiner ältesten Schwester Brigitte tausche ich mich sporadisch aus. Das Verhältnis zu ihr ist mehr freundschaftlich als geschwisterlich. Wir sehen uns selten, telefonieren aber alle paar Monate. Mit meinem Bruder Michael spiele ich hin und wieder eine Runde Golf nach langen Jahren des Schweigens und der Entfremdung.
Ich bin der „Dritte im Bunde“ der Geschwister, gefühlt habe ich mich aber fast immer wie ein Einzelkind. Brigitte und Eberhard waren mir in meiner Kindheit altersmäßig weit voraus und die jüngeren Zwillinge eher mit sich selbst beschäftigt. Als ich dreizehn Jahre alt war, kam noch eine weitere Schwester zur Welt: Andrea. Auch ein Einzelkind.
Noch heute höre ich meine Eltern sagen: „Und wenn wir einmal nicht mehr da sind, ist unser größter Wunsch, dass ihr alle zusammenhaltet.“
Leider kam es anders. Nicht alle für einen, wie meine Eltern es sich gewünscht hatten, sondern alle gegen einen. Zum Beispiel gegen mich. Nein, jeder gegen jeden mit wechselnden Fronten.
Viele Jahre lang war ich nur Zuschauer in der geschwisterlichen Runde. Keiner wollte mehr mit mir „spielen“. Wie so oft in meiner Kindheit.
Eberhard war immer der Gute, der Gehorsame. „Nimm dir ein Vorbild an Eberhard“, hörte ich häufig. In der Schule und daheim war mein älterer Bruder so, wie ich nicht sein konnte. Er entsprach den Erwartungen und Hoffnungen meiner Eltern, besonders mit seinen schulischen Leistungen. Das war eine gute Voraussetzung, den immensen Leistungsanforderungen unseres Vaters gerecht zu werden.
Vater Hans kannte das nicht anders, machte er doch schon mit siebzehn Jahren sein Abitur, wurde früh Offizier und erhielt Anerkennung durch seine sehr erfolgreiche Arbeit als Chef der kommunalen Verwaltung des Landkreises Wiedenbrück, später Gütersloh. Er hatte immer recht, wusste es immer besser – und wenn nicht, was selten vorkam, war er nicht zu sprechen, hatte Wichtigeres zu tun. Eine Diskussion, schon gar nicht auf Augenhöhe mit seinen Kindern oder auch seiner Frau, fand kaum statt. Und wenn, dann hatte das fast immer etwas Belehrendes.
Erst in seinen letzten Lebensjahren habe ich bei ihm eine gewisse Altersmilde gespürt. Erst da wurde er fähig zuzuhören und stellte hin und wieder auch eine Frage nach dem persönlichen Wohlergehen und wie es beruflich so geht.
Unsere Mutter war das wohltuende Gegenteil. Sie zeigte sich liebevoll, nachsichtig und verständnisvoll, jedenfalls mir gegenüber, was mit mir nicht immer einfach war. Sie konnte zwar auch aufbrausend bis jähzornig sein, aber sie konnte auch lachen. Sie konnte umarmen, trösten, in den Arm nehmen, streicheln, mitfühlen. Mein Vater konnte das nicht.
Die Zukunft von gestern ist tot
Gestern war das Heute ohne Bedeutung
Und auch das Morgen hatte keinen wirklichen Sinn
Seit heute ist gestern vorbei
Denn jetzt ist das Heute wie morgen
und das Gestern ist wieder wie heute
Gestern, heute, morgen ist Zukunft
mit neuer Vergangenheit.
Palazzuolo, 1990
Als ich dieses Gedicht vor fünfundzwanzig Jahren schrieb, konnte ich nicht ahnen, dass mich diese Zeilen einmal beim Lesen mehr bewegen würden als damals, als ich sie erdachte. Doch zurück zu meiner Kindheit.
1948 wohnten wir in Höxter an der Weser. Vater Hans, Studienrat für Mathematik, Physik und Erdkunde, hatte anderes vor, als Schülern den Pythagoras einzubläuen. Schon während des Studiums in München und Marburg hatte er sich in seiner Heimatstadt Bielefeld in den Semesterferien ein abgerundetes Wissen um die Basisarbeit der Kommunalverwaltung verschafft.
Als Major war er im Juni 1945 aus dem Krieg zurückgekehrt, der ihn nach Russland bis in den Kaukasus geführt hatte, und er wollte wohl, so mein Eindruck heute, mit seinem Organisationstalent und seiner Führungserfahrung in der Verwaltung Karriere machen.
Nach einer Turbo-Verwaltungslehre als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter in Löhne/Westfalen bewarb er sich als Stadtdirektor in Höxter, wurde von der britischen Militärverwaltung als entnazifiziert eingestuft und erhielt den Job.
Wir wohnten zunächst am Ziegenberg/Wilhelmshöhe mit herrlichem Blick über die alte Fachwerkstadt am Rande der Weser. Das Wort „Weser“ war auch das erste Wort, das ich sprechen oder eher lispeln konnte.
Woran ich mich erinnere? Ich war wasserscheu, wollte nicht in der Zinkwanne gebadet werden und habe mich wohl heftig gewehrt. Bruder Eberhard musste auf Geheiß meiner Mutter von draußen mit einem Stock ans Fenster schlagen, damit ich gefügig wurde. Zitternd vor Angst ließ ich die Prozedur über mich ergehen. Das ist die allererste Erinnerung in meinem Leben. Ich glaube, ich war nicht einmal drei Jahre alt.
Meine Mutter hatte nur dann Ruhe, wenn ich mit meinem Vater unterwegs war. Er war inzwischen Amtsdirektor geworden und unter anderem für ein paar kleine Gemeinden dafür zuständig, nach den kriegsbedingten Schäden staatliche Leistungen der Daseinsvorsorge wiederaufzubauen wie zum Beispiel Wasser- und Stromversorgung, Krankenhaus und Feuerwehr.
So erinnere ich mich, wie ich dann in seinem klapprigen, ungeheiztem Dienst-Volkswagen mit 35 PS auf dem Rücksitz saß, strohblond mit blauen Augen und einem Scheitel, der dank der Haarspange, die mir Mutter verpasst hatte, immer korrekt saß. Ich erfuhr als Knirps an der Hand meines Vaters hautnah, dass er wichtig und bedeutend war. Auf jeden Fall stand er immer im Mittelpunkt. Und ich durfte stolz danebenstehen, auch wenn ich natürlich nicht verstand, was da besprochen wurde.
Es war auch die Zeit, in der ich langsam verstehen lernte, dass ich nur einer von fünf Geschwistern war. Mein Vater hatte sechs Schwestern, meine Mutter zwei Geschwister. Sie war schon mit vierzehn Jahren Halbwaise und hat sehr unter ihrer Stiefmutter gelitten. Bis auf Oma Scheele lebten meine Großeltern nicht mehr.
So feierten wir alle zusammen in Höxter als Großfamilie am 31. Dezember in das Jahr 1952 hinein.
1952 war ein wichtiges Jahr für die Familie Scheele und ein neuer Anfang, der es in sich hatte. Vater Hans war nämlich kurz zuvor in geheimer Abstimmung vom Kreistag des Landkreises Wiedenbrück für zwölf Jahre zum Oberkreisdirektor gewählt worden und sollte sein Amt am 1. Februar antreten.
Ich erinnere mich an einen Möbelwagen, vollgepackt mit unseren Möbeln – nicht viele – aus der Dienstwohnung im Amt Höxter-Land. Es war in der Karwoche vor Ostern im März 1952. Auf der mehrstündigen Fahrt nach Wiedenbrück durfte ich im Fahrerhäuschen neben meiner großen Schwester Brigitte sitzen. Der Rest der Familie war bereits in Wiedenbrück, um den Umzug vorzubereiten. Vater Hans war schon in Amt und Würden.
Was da alles um meinen sechsten Geburtstag herum geschah, habe ich natürlich nicht verstanden. Alles war neu und aufregend. Es war der Einzug in ein Paradies. Und ich bekam meine erste Lederhose. Und die Stadt Wiedenbrück feierte mit einem großen Festzug ihr tausendjähriges Bestehen.
Auf einem ehemaligen Burgareal (zum ersten Mal datiert um das Jahr 1250) mit sechs Hektar Größe, umgeben von einer Umflut mit einem riesigen Fischteich und ungezählten Laub- und Nadelbäumen lag das Amt Reckenberg, das Landratsamt samt Dienstwohnung in einem zweigeschossigen Gebäude mit barockem Walmdach, neun Fensterachsen, Freitreppen und Portalen, errichtet um 1730.
Gegründet wurde der Landkreis 1816, und als erster Landrat fungierte ein gewisser Ludwig von Schele (!).
Und hier würden wir wohnen.
Mutter Maria erwartete uns mit einem glücklich strahlenden Gesicht an der Eingangsfreitreppe und lud uns zur ersten Führung ein. Es roch überall nach frischer Farbe.
In einigen Zimmern waren noch Maler und Schreiner mit kleineren Arbeiten beschäftigt. Parkettleger schlossen die letzten Lücken im Wohnzimmer, während schon die ersten Möbel auch in unsere Kinderzimmer getragen wurden.
Alles war einfach groß und überwältigend.
In jedem Zimmer gab es eine Klingel mit Verbindung zur riesigen, fast herrschaftlichen Küche mit zentralem Kohleherd und Zugang zur Speisekammer. Die Deckenhöhe der Zimmer machte mich kleinen Knirps noch kleiner, und beim vorsichtigen, ängstlichen Entdecken des Kellers mit seinen dicken Mauergewölben erschauderte ich: kaum Licht, Feuchtigkeit, der Geruch von Moder, dazu tropfende Wasserleitungen und eine große Waschküche mit Auffangbecken für Regenwasser, denn Waschmaschinen gab es damals noch nicht. Unheimlich. Es war wie in einem unterirdischen Verlies.
Welch befreiendes Aufatmen dann beim Gang nach draußen in den schier unendlich großen parkähnlichen Garten. Unser neues Zuhause! Genannt: der Reckenberg.
Unsere Familie bewohnte die linke Hälfte des Gebäudes, für das Landratsamt war die rechte Hälfte reserviert. In dieser Umgebung konnten wir Kinder uns richtig austoben.
Viele Nachmittage verbrachte ich mit unserem Gärtner Venhaus, der für den Park verantwortlich war. Er muss wohl schon damals weit über sechzig Jahre alt gewesen sein, hatte ein Glasauge, sprach plattdeutsch, was ich natürlich nicht verstand, und sein ständiger Begleiter war sein weißer Hund „Spitz“. Gärtner Venhaus verrichtete schon seit mehreren Jahrzehnten seinen Dienst auf dem Reckenberg. Und es hieß, er habe als junger Mann noch bis zum Krieg den früheren Landräten das Essen in Livree in weißen Handschuhen serviert.
Wie in vielen katholischen Gemeinden gab es auch in Wiedenbrück die jährliche Fronleichnamsprozession. Das war auch für mich ein ganz besonderes Ereignis, denn eine der Prozessionsstationen befand sich auf der ehemaligen Festungsbrücke zum Reckenberg. Schon Wochen davor begannen die Vorbereitungen für den Altaraufbau. Die einzelnen Teile wurden aus dem Keller des Landratsamts geholt, neu gestrichen und dann am Tag zuvor zu einem Ganzen hergerichtet. Geschmückt wurde alles mit einem Meer aus frischen Pfingstrosen und Unmengen von frisch geschnittenem, gehäckseltem Schilf aus dem Reckenbergteich. Am Prozessionstag selbst durfte ich oberhalb des Altars in einem Baum sitzen und eine kleine Glocke läuten, sobald der Prozessionszug in Sicht war. Ich war mächtig stolz!
Als ich vor ein paar Jahren einmal wieder den Reckenberg besuchte, entdeckte ich noch verschiedene kleine Holzleisten und Nägel in meinem ehemaligen Kinderhochsitz.
Auch bei den vielfältigen Gartenarbeiten war ich ein neugieriger, hilfsbereiter Begleiter unseres Gärtners. Ich hatte einen kleinen, grün gestrichenen Bollerwagen, in den ich frisch gemähtes Gras, gejätetes Unkraut oder geschnittene Buchsbaumreste für den Abtransport zum riesigen Komposthang deponierte.
Zu den Privilegien des Hausherrn auf dem Reckenberg, in diesem Fall war das mein Vater als Oberkreisdirektor, gehörten auch die Fisch- und Angelrechte in der „Tiefe“, wie der fast fußballplatzgroße Teich hinter unserem Haus genannt wurde. Dort tummelten sich Karpfen, Hechte und Aale. Und so mancher davon landete bei uns auf dem Tisch.
Mein älterer Bruder Eberhard baute im Sommer mit seinen Freunden ein kleines Floß, getragen von Wasserkanistern. So schipperten wir dann quer über die „Tiefe“, nicht ohne hin und wieder im brackigen Wasser ein Bad zu nehmen.
Im Winter war die „Tiefe“ sehr oft zugefroren. Wenn das Eis dick genug war, traf sich hier die halbe Jugend der Stadt zum Schlittschuhlaufen oder Eishockeyspielen, bis es dunkel wurde. Es war eine Zeit, in der es in Wiedenbrück in einigen Straßen noch Gaslaternen gab, die bei Einbruch der Dunkelheit manuell angezündet wurden.
Es gab noch keine Kühlschränke. Das Kühleis wurde ebenso wie die Kohle per Pferdewagen gebracht.
Es war eine unbeschwerte, glückliche Zeit.
„Was willst du denn einmal werden, Ulrich?“
Kein Wunder, dass ich als Kind auf diese Frage wie aus der Pistole geschossen antwortete: „Oberkreisdirektor!“ Denn auf dem Reckenberg war ja alles da, was ein Jungenherz schneller schlagen ließ: Rasen zum Fußballspielen, Bäume zum Klettern, kleine Baum- und Buschgruppen, um Räuber und Gendarm zu spielen, die Umflut und die Ems in der Nähe zum Schwimmen, und häufig im Winter Schnee in Hülle und Fülle, um Schneeburgen und Schneemänner zu bauen.
Und ich erinnere mich noch an den 4. Juli 1954. Es war mein Namenstag. Da fand das Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft statt. An der Hand meines Vaters stand ich mit vielleicht hundert weiteren Gästen im Gasthof Zur Glocke und versuchte im dichten Gedränge ein Bild vom winzigen Fernseher in weiter Entfernung zu erhaschen. Wir konnten nur ahnen, wie die Tore fielen. Und der Jubel war grenzenlos, als der Schlusspfiff ertönte.
Es war eine glückliche Kindheit, in die auch mein erster Hubschrauberflug fiel. Ich war knapp zehn Jahre alt. Von der Firma Persil wurden mehrere Rundflüge verlost, und ich weiß nicht, wie und warum: Jedenfalls saß ich auf einmal mit Fräulein Kösters, der Sekretärin meines Vaters, an einem Sonntagnachmittag in einem Hubschrauber und durfte einen Rundflug über die Stadt machen. Was für ein Anblick, was für ein Erlebnis!
Nach dem Rundflug über Wiedenbrück mit dem Hubschrauber, 1955
Wenn Vater Hans da war, war er der dominante Mittelpunkt der Familie. Aber er war so in seine neuen Aufgaben vertieft, dass wir seine Präsenz eher selten spürten, obwohl sein Büro ja gleich nebenan lag.
Unsere Mutter war das eigentliche Zentrum der Familie. Sie war für alles zuständig. Sie hörte uns zu, tröstete und munterte uns auf. Ob sie selbst diese Zeit als eine besonders schöne empfunden hat? Ich wage es zu bezweifeln.
Nur zu deutlich erinnere ich mich, wie sie mit einem gepackten Koffer weinend in der Dunkelheit auf der großen Freitreppe stand. Sie wollte uns verlassen, weil sie sich mit der Erziehung ihrer fünf Kinder überfordert und von ihrem Mann völlig allein gelassen fühlte. Damals war ich zu jung, um alles zu verstehen, was zwischen meinen Eltern ablief. Aber ich ahnte, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste. Weinend und bibbernd vor Kälte stand ich im Schlafanzug zusammen mit meinen älteren Geschwistern draußen, und wir versuchten Mutti davon abzuhalten zu gehen.
Für meinen Vater gab es nur seine Arbeit, der er mit Fleiß, Pflichtgefühl, Hingabe, Ehrgeiz, aber auch mit Rigorosität gegenüber seiner Familie nachging. Erst kam der Job und dann lange, lange nichts. Die Familie empfand er eher als störend. So jedenfalls nahm ich es damals wahr.
Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater mich als Kind jemals in den Arm genommen hat. Habe ich jemals auf seinem Schoß gesessen? Falls ja, dann weiß ich es nicht mehr. Hat er jemals versucht, uns Kindern etwas beizubringen? Das konnte er nicht, denn er hatte selbst keine Hobbies. Sein Beruf war für ihn alles. Er forderte von sich Leistung, und von allen anderen auch – vor allem von seinen Söhnen. Was er gern tat? Wenn wir jüngeren Kinder im Bett lagen und das Licht erloschen war, kam er manchmal, um uns vom Krieg, von seiner Verwundung und von seiner langen Flucht aus Russland zurück nach Bielefeld zu erzählen.
Mit fünf Kindern hatte meine Mutter damals alle Hände voll zu tun. Dennoch gab es fast immer ein liebevolles Nachtritual nach dem Zähneputzen, wenn der Schlafanzug angezogen war. Das Licht erlosch. Nur die Tür stand einen Spalt weit offen …
Ich liege in meinem Kinderbett. Mutti deckt mich zu. Und sie beginnt wie fast jeden Abend mit dem Abendgebet: „Müde bin ich, geh zur Ruh’, schließe beide Äuglein zu … Und nun schlaf schön und träum süß!“
Meine Mutter pflegte besonders die katholischen Feiertage: Weihnachten, Ostern, Pfingsten, Fastenzeit und die Geburts- und Namenstage. In der Osternacht wurde im Garten das traditionelle Osterfeuer entfacht. Äste und Braken hatte Gärtner Venhaus im Laufe des Winters zu einem mehrere Meter hohen turmähnlichen Gebäude zusammengestellt.
Nachbarn kamen hinzu, man wärmte sich am Feuer bei noch wenig frühlingshaften Temperaturen. Um Mitternacht läuteten die Glocken von St. Ägidius das Osterfest ein, und kurze Zeit später kam der örtliche Männergesangsverein vor unsere Haustür, um das Auferstehungslied zu singen. Zur Belohnung gab es dann einen „Kurzen“ aus der Schnapsflasche.
In der Adventszeit saßen wir kleineren Kinder vor dem verschlossenen Wohnzimmer und sangen Adventslieder in aufgeregter Erwartung auf das Christkind und natürlich vieler Geschenke. Und am Heiligen Abend wurde vor der Bescherung ein Krippenspiel inszeniert. Natürlich gehörte auch Hausmusik dazu. Brigitte spielte Geige, Eberhard Cello und Mutti begleitete auf dem Klavier. Später habe auch ich ein wenig Cello gelernt, aber leider nie die richtige Disziplin zum Üben aufgebracht. Das galt auch für vergebliche Versuche, Trompete zu spielen. Immerhin entdeckte ich dadurch meine Leidenschaft für klassische Musik. Und die Liebe zur klassischen Musik gehörte zu den wesentlichen Geschenken, die mir meine Eltern mit auf meinen Lebensweg gaben. Dafür bin ich ihnen auch heute noch dankbar.