Carmen-Francesca Banciu
Geschichten aus der Hauptstadt
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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ISBN: 978-3-941524-45-3 (E-Book)
ISBN: 978-3-941524-86-6 (Print)
Erstveröffentlichung 2002 im Ullstein Berlin Verlag
Taschenbuch Ausgabe, 1. Auflage 2007, Rotbuch Verlag, Berlin,
1. Auflage in englischer Übersetzung 2016, PalmArtPress, Berlin
ISBN 978-3-941524-66-8
Alle Rechte vorbehalten
© 2017 Carmen-Francesca Banciu
© PalmArtPress, Pfalzburger Str. 69, 10719 Berlin
Verlegerin: Catharine J. Nicely
Umschlagfoto Carmen-Francesca Banciu: Kerstin Ehmer
© 2017 Elena Mancini, Nachwort, Übersetzung: Clara-Luise Hildebrand
www.palmartpress.com
Hergestellt in Deutschland
Vorwort
Wintermärchen
Blumen zum Frühstück
Ein Koffer in Berlin
Für eine Hand voll Kleingeld
Bei Ed Kienholz traf sich die Welt
Frühlingsstimmen
Kindersprache
Zutaten für eine ideale Sprache
Idylle im Hinterhof
Berlin ist mein Paris
Milano auf der Insel
Andere Länder, andere Sitten
Der Doppelte: ein deutsch-deutsches Problem
Sale e Tabacchi
Detlef und Yolanda sollen Tango tanzen
Deutschland den Deutschen! Aber welchen?
Genuss ist ein Wort aus Deutschland
Babuschka maja
Der Zeitgeist ist in Berlin geboren
Wald in Progress
Gibt es Zufälle?
Als Berlin noch träumte
Guten Tag Herr Heckfisch
Welche Farbe hat der Frieden?
Heimweh?
Schmollmundrot
Politically incorrect
Verlierer an allen Ecken und Enden
In der Friedrichstraße ist wieder Licht
Geheime Botschaft
Happy Hour in Oranienburg City
McBride’s
Europa Mon Amour
Die wahren Berliner sind die Wahlberliner
Mutter, ist das auch meine Sprache?
Brief an Rita
Lesereisen sind eine Erzählung wert
Adler-Blick
Ein Lob auf alle Weltverbesserer
Hieb-und schussfest soll sie sein
Bildung à l’américaine
Der Radritter über den Wolken
Christmastime
Mit Lecker-Garantie
Dankesagung
Nachwort
Selbst-Neuerfindung und Neukonzipierung von Kosmopolitismus für ein neues Zeitalter
- Elena Mancini
Was, sagte der junge Mann, den mir die Deutsche Bahn in München zu Hilfe schickte. Sie kommen nach Bayern, um an einem Buch über Berlin zu schreiben? Er packte entsetzt meine Koffer und schwang sie auf sein Wägelchen. Warum schreiben Sie nicht über Bayern? Über unsere Berge. Über unsere schöne Landschaft!
Sie mögen die Berliner wohl gar nicht, fragte ich ihn. Die Berliner? Die Preiss. Na, die sind anders. Mir sehn sie doch, wenn sie hier am Bahnhof ankommen. Mir sehn gleich, dass die Berliner sind. Die sind so anders.
Wie anders, wollte ich wissen. Na so, anders. Die verstehen uns gar nicht. Die verstehen uns nicht, wenn wir reden. Und dann reden wir erst recht bayerisch. Damit die gua nix verstehen können.
Wir sind mehr so wie die Italiener, sagte mir auf einer Lesereise einmal ein älterer Herr aus Pfaffenhofen. Wir sind lebenslustig.
Und Frau Bertha, die die Zimmer in der Villa Waldberta mit Schwung und Gesang pflegt, sagte neulich zu mir: Mein Mann ist Italiener. Meine Kinder leben in Italien. Die Leit in Bayern sind mir zu ernst.
Was mich selbst betrifft: Ich habe in Deutschland die Lebenslust entdeckt. Ich sitze in der Villa Waldberta, um an meinem Buch über Berlin zu schreiben. Am Starnberger See. Wo es Millionäre geregnet hat. Die höchste Millionärsrate pro Quadratmeter, heißt es im Dorf.
Ich bin kurz vor Ostern in Bayern. Die gleiche Jahreszeit wie vor zehn Jahren, als ich mit Freunden zum ersten Mal in den Westen kam. Wir reisten mit dem Auto über Bayern ein. Es fing gerade an zu schneien. Und in kurzer Zeit sah die Landschaft wie ein Märchen aus. Ein Wintermärchen im Frühling.
Ich kann nur am Checkpoint Charlie anfangen. Es ist der Ort, der mich hypnotisch anzieht. Und obwohl ich Berlin als Ganzes betrachte und neugierig auf die Stadt bin, kann ich diesen Ort des Schreibens noch nicht verlassen. Ich sitze im Adler. Im Sale und anderen Cafés, schreibe meine Bücher und versuche zu verstehen. Checkpoint Charlie als Metapher der Absurdität. Als Ausdruck für die Teilung Deutschlands. Die Teilung der Welt. Erst hier wird sie für mich greifbar. Hier ist für mich der Anfang von allem. Und der Anfang von all dem, was mit mir und Berlin zu tun hat.
Man wird mir sagen, der Anfang war am Brandenburger Tor. Aber damals war ich noch nicht in Berlin. Und beobachtete das Tor und seine Öffnung von Bukarest aus. Ich hatte mich noch wenig mit deutscher Geschichte beschäftigt. Die Teilung Deutschlands betrachtete ich, genau wie meine Freunde, als historische Ungerechtigkeit. An diesem 9. November waren wir außer Atem. Die eigene Geschichte kam endlich ins Rollen. Und wir waren gefangen in ihren blutrünstigen Rädern. Wir wollten ihr gar nicht entfliehen. Aber als wir die Nachrichten hörten, haben wir einen Schrei ausgestoßen. Einen Schrei der Erleichterung und Freude. Und dieser Schrei war ein Kampfschrei. Auch wenn uns das nicht bewusst war. Er war nicht zu überhören. In uns selbst. Er mobilisierte unsere Kräfte, gab uns den Mut, uns Folgen vorzustellen. Unumkehrbare. Und plötzlich wussten wir, dass die Zeit gekommen war, die Wende zu vollziehen. Es war ein unreflektiertes Wissen. Eine Einheit von Handeln und Wissen, die aus dem Inneren kam.
Ich werde mich immer an diesen Tag erinnern. An die Aufregung. An die Angst. An das Glück. Es ist das Ende, haben wir damals gesagt. Und wir wussten nicht wirklich, was wir sagten. Meine Freunde und ich. Und die Leute um uns herum. Wir lebten von heute auf morgen, das Ohr ans Radio gefesselt. Radio Freies Europa. Die Nachrichten aus dem Land und die Nachrichten aus der Welt brachen über uns herein. Zwischen Radio und Telefon gab es kaum noch Platz für den Alltag. Vor allem gab es Temesvar mit seiner Explosion von Wut und Enttäuschung. Die widersprüchlichen Nachrichten darüber. Es gab den Geruch der aufgeladenen Luft. Und die Stimmung, die sie verbreitete, war die Stimmung des Aufbruchs. Wir hörten von grausamer Unterdrückung gegen Temesvar. Von ermordeten Kindern. Von Glasnost und Perestroika. Es waren Begriffe, die uns mit heimlicher Hoffnung und Freude erfüllten. Wir hörten von DDR-Bürgern, die in Ungarn die Botschaft der BRD stürmten. Und als das Brandenburger Tor fiel wie eine Redoute im Krieg, haben wir uns getroffen. Gejubelt und getanzt. Als würde uns das was angehen. Als wäre das unsere Geschichte. Und wir wussten noch gar nicht, wie sehr wir Recht hatten. Und wie sehr es auch zu unserer Geschichte werden sollte.
Wir waren berauscht von der Angst und vom Druck des Lebens, das sich bald Geschichte nennen durfte. Wir hatten keine Zeit, über Geschichte nachzudenken. Und darüber, ob die Geschichte auf uns Druck machte, vollzogen zu werden. Oder wir selbst Geschichte machten. Und ob wir die Gewalt der Veränderungen Revolution nennen sollten.
Ich sitze im Café und schreibe. Und die Zeit wird wieder wach. Und die Veränderungen werden mir bewusst. Ich wachse in diese Veränderungen hinein. Verändere mich mit ihnen. Ich sitze im Café Adler. Im Sale e Tabacchi. Ich sitze an Orten, die um den Checkpoint kreisen.
Dort, wo der amerikanische Sektor verlassen wird, sehen die kyrillischen Buchstaben bedrohlich aus auf dem Plakat, und der russische Soldat blickt mich martialisch an. Ob ich zurückdarf, frage ich mich.
Es ist kein Jahr, das Jahr 1990. Es sind mehrere Jahre in einem. Mehrere Leben in einem. Und schon im Frühling haben wir dieses Gefühl. Als hätte man in dieser kurzen Zeit seit dem Zusammenbruch die Ereignisse aus mehreren Jahren zusammengepresst. Der Sturz Ceausescus und der Zusammenbruch des Kommunismus fanden innerhalb von zwei Tagen statt. Zwei exemplarische Tage, die in komprimierter Form wie ein Samen den Lauf der Geschichte und die Entwicklung der Gesellschaft in sich tragen. Wie ein Exposé. Eine Inhaltsangabe für die Zukunft. Und wer das Exposésorgfältig studiert, gelesen und gelebt hat, braucht sich über die darauf folgende Zeit nicht zu wundern. Es ist ein subjektives Gefühl von Zeit. Und dieses Gefühl verfolgt mich jahrelang. Als gebe es in diesem einen Jahr mehr Erlebtes als in fünf Jahren zusammen. Und erst als die fünf Jahre wirklich vergangen sind, verschwindet diese Unstimmigkeit zwischen Zeit und Zeitgefühl. Es ist kein Jahr, das Jahr 1990. In diesem Jahr komme ich nach Berlin. Ich komme zum ersten Mal über die Grenze Rumäniens. Ich werde von Freunden mitgenommen. Mit dem Auto fahren wir durch mehrere Länder. Über sämtliche Grenzen. Keine kann mir das Gefühl vermitteln, dass hier eine Welt abrupt endet. Und eine andere anfängt. Und dass dazwischen eine offene Wunde liegt, die noch immer eitert. Bis ich am Checkpoint Charlie ankomme.
Im März 1990 ist die Welt nicht mehr in Ordnung. Oder sie ist erst auf dem Weg dahin. Ich darf Rumänien verlassen. Ich darf über die Grenze. Ich kann endlich meinen Literaturpreis entgegennehmen. Und Freunde besuchen. Dieter und Linde sind kurz in Bukarest und nehmen mich in ihrem Auto mit nach Deutschland. Ein paar Monate nach der Exekution der Ceausescus. Die Stimmung im Land ist geteilt und die Unsicherheit und die Angst haben die Oberhand, verdrängen die Freude der Wende. Wir fahren quer durch Rumänien, erst nach Tirgu Mures, wo man Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hat, um einen Bürgerkrieg zu provozieren. Was aber nicht gelingt. Rumänen und ungarische Mitbürger stehen einander gegenüber und spucken mit Gift.
Hasserfüllte Gesichter auf beiden Seiten. Ich sehe die ungebändigten Massen von außen. Diesen Massen fühle ich mich nicht verbunden. Der Hass ist ein klebriges Spinnennetz. Ich will nicht gefangen sein. Ich will weiter.
Von Rumänien nach Ungarn fahren wir über die Pusta. Über unendliche Flächen, die sich vom einen zum anderen Land kaum unterscheiden lassen. Ich halte inne. Und lausche in mich hinein. Ich beobachte mich. Nicht nur ich. Auch meine Freunde im Auto tun das. Wir lauschen. Und ich soll beschreiben, was in mir vorgeht, während wir die Grenze überschreiten. Aber so weit das Auge reicht, und das Auge reicht immer weiter über neue Flächen. So weit das Auge reicht, ist der Geist der Grenze nicht zu spüren. Die Wachposten. Der bekannte Stacheldraht. Nichts von alldem berührt mich.
Ich will nach Deutschland, um endlich das, was mir jahrelang verweigert wurde, in Empfang zu nehmen. Einen Literaturpreis für eine Kurzgeschichte. Ich will nach Deutschland und dann irgendwann weiter nach Paris.
Paris. Das ist der Traum eines jeden Rumänen. Eines jeden rumänischen Schriftstellers.
Dieter ist selbst Schriftsteller und will über mich schreiben. Über meine Erlebnisse auf dieser Reise. Den Moment der Grenze will er festhalten mit all seinen Emotionen. Ich aber spüre nichts. Oder will ihm meine Emotionen nicht preisgeben. Ich fühle mich stumm und gefühllos. Und manchmal abwesend. Ich erinnere mich nur noch an Teile dieser Reise. Ich erinnere mich an Budapest, als wäre es eine Stadt aus einem Traum. Und in dem Traum ist einiges passiert. Wir sind im Restaurant und auf dem Tisch dampft die Schüssel mit dem Hühnerpaprikás. Ich sitze mit Dieter und Linde zusammen. Wir haben vor wenigen Stunden die rumänische Grenze überquert. Und das scheint für Dieter in jenem Moment von größerer Bedeutung zu sein als für mich. Für ihn ist es eine mit Schmerz und Sehnsucht verbundene Reise in die Vergangenheit. Nach seiner Flucht in den Westen kehrt er seit vielen Jahren zum ersten Mal zurück. Seine Nostalgie überträgt er auf mich. Für ihn bin ich Rumänien. Ich bin das Opfer seiner Sehnsucht. Der Sehnsucht nach all dem, was Rumänien hätte sein können, wenn es den Kommunismus. Die Diktatur. Die Securitate nicht gegeben hätte. Rumänien bekommt einen Reiz, den es für ihn nie zuvor hatte. Den Reiz des Verlorenen. Ich komme aus der Hölle, die jetzt zum Paradies werden könnte. Das ist der Reiz. Und darüber geraten die beiden in Streit.
Am nächsten Morgen fahren wir weiter. Immer weiter. Nach Deutschland über Österreich.
In einem kleinen Ort in der Nähe von Wien trinken wir einen Kaffee. Überall werde ich eingeladen. Das gehört zu unserer Abmachung. Ich soll erzählen. Preisgeben. Und ich weiß gar nicht, dass ich meine Impressionen verkaufe. Dass ich bereits erste Übungen mache für das Leben in der Marktwirtschaft. Im Kapitalismus.
Es ist Sonntag und an diesem Tag sind Wahlen in Österreich. Vielleicht Kommunalwahlen. Es sind nicht meine Wahlen. Ich bin mit anderen Dingen beschäftigt. Ich muss aufpassen. Überall lauern kleine Geheimnisse und Fallen auf mich. Ich übe, wie man Türen öffnet, Wasserhähne betätigt und Klospülungen in Gang setzt. Lerne, auf welchen Knopf man drücken muss, um sich die Hände einzuseifen. Und wie man sie trocken kriegt. Eine Welt voller Knöpfe. Ein breites Band von Knöpfen. Und kaum hat man sich mit einer Sorte vertraut gemacht, begegnet man schon einer anderen. Es hilft nur: Sich nicht einschüchtern lassen. Und logisch denken.
Die Wahlen gehen an mir vorbei. Ich interessiere mich eher für die Plakate. Seit wir Rumänien verlassen haben, ist mir kein einziges aufgefallen, das zur Pflichterfüllung gegenüber der Partei, zur Liebe zum Vaterland auffordert und die Macht der Arbeiterklasse beschwört. Kein einziger Aufruf zum Kampf, eine neue sozialistische Welt aufzubauen. Dafür lese ich jede Menge Werbung und versuche ihre Bedeutung zu entziffern. Ihren ideologischen Stellenwert.
Als wir den Wiener Wald verlassen, fängt es plötzlich an zu schneien. Es ist ein frühlingshafter, ein wässeriger Schnee. Mein Gehirn ist wach und nimmt vieles auf. Von meinem Gefühl aber ist es abgeschnitten. Und so bleiben mir merkwürdige Erinnerungen an diese Zeit. Als stünde mein linker Fuß nicht am selben Ort wie der rechte. Als wäre ich zweigeteilt gewesen, und als kämen die Erinnerungen mal von der rechten und mal von der linken Seite. Wien. Der Name löst in mir ein Geräusch aus. Ein Geräusch wie das Lachen von Kindern. Wie Glockenspiel im Wind. Wien. Unsere Familiengeschichte ist damit verbunden. Meine Urgroßmutter hat hier Hebamme gelernt. Vor hundert Jahren. Zu einer Zeit, als man das als Frau nicht so ohne weiteres machen konnte. Es sei denn, man war unsagbar mutig. Unsagbar hartnäckig. Unsagbar unbequem. Irgendwann steht Linz auf einer Tafel. Und Mutter mit ihrer Linzertorte. Und Großmutter mit den Zwetschgenknödeln. Sie alle tauchen auf aus der Erinnerung. Verlassen den Ort, in den ich sie für immer eingegraben habe. Seit es sie nicht mehr gibt. Ich kann Mutter noch in Gedanken zuwinken und ihr sagen: Siehst du. Es ist doch noch soweit gekommen. Ich bin in Wien.
Und nach Paris werde ich auch noch kommen.
Ich bin bis an die Tore von Wien gelangt. Wie die Türken. Die Osmanen, meine ich. Aber ich will Wien nicht erobern. Mein Weg führt weiter. Die Tore des Balkans werden hin und her geschoben. Die Salzburger, sagt mir Dieter, behaupten, der Balkan fängt erst in Wien an. Und die Wiener behaupten, er hätte schon längst in Salzburg angefangen. Was ich begreife ist: Keiner will zum Balkan gehören. Und ich? Ich gehöre ja auch nicht dazu. Wir haben in der Schule gelernt, die Balkanhalbinsel fängt südlich von Rumänien an. Und der Balkan ist ein Pulverfass. Wir aber wären immer friedliche Menschen gewesen. Wir hätten nie Kriege geführt. Wir hätten uns nur verteidigt. Wie man sieht: Wir sind alle die besseren Menschen.
Zwischendurch scheint in Österreich immer wieder die Sonne. Geranien blühen in den Fenstern, als wäre plötzlich der Sommer ausgebrochen. Ich genieße die Luft. Sie riecht. Sie schmeckt anders.
Als wir in Bayern ankommen, ist der Winter wieder da. Auf die Landschaft fällt Schnee. Weiß tragen die Häuser am Abend. Nach und nach gehen die Lichter an. Ich erinnere mich an diese Wintermärchenstimmung.
Ich habe jedoch zwei Erinnerungen an die Ankunft in Deutschland. Und ich weiß nicht, wie das möglich ist. Vielleicht stand mein linker Fuß wieder ganz woanders. Und hat andere Erinnerungen. An das Leuchten einer Osterglocke und an etwas Sonne. Wir halten gerade an einer Autobahnraststätte, um die Batterien des Aufnahmegeräts aufzuladen. Meine Freunde wollen jetzt ihren Lohn. Meine Eindrücke. Meine Emotionen auf Band aufnehmen, bevor sie verblassen. Was spürt man, wenn man das erste Mal über die Grenze seines Landes geht und in den, ja, in den goldenen Westen kommt. Ich habe meine Freunde vermutlich enttäuscht. Enttäuscht heißt, ich hätte sie erst getäuscht und dann wurden sie enttäuscht. Oder sie haben sich selbst »getäuscht«, »enttäuscht« von meiner Täuschung. Ich habe aber gar nichts getan. Ich fühle mich nicht schuldig. Na ja, wie es auch sein mag, sie haben sich in mir getäuscht. Ihre Erwartungen habe ich nicht erfüllt, denn ich kann mich nicht erinnern, irgendetwas Außergewöhnliches gesagt zu haben.
Ich steige aus dem Auto und sehe mich um. Es ist eine Osterglocke, die mir in Deutschland zuerst begegnet. Mit einer Frische und Fröhlichkeit, die ich bisher nicht kannte. Und ich halte sie für ein Zeichen. Sie wächst anmutig am Wegrand, und ich bin die Einzige, die sie sieht. Sie überträgt ihre Frische auf mich. Ich begegne der Welt mit neuen Augen.
Erst als wir die deutsche Grenze passieren, lebe ich wirklich auf. Es ist ein Gefühl von Sicherheit, das ich spüre. Und ich werde es auch später behalten. Ein Gefühl, das ich jahrelang nur in Deutschland habe. Und jedes Mal, wenn ich außer Landes bin, fühle ich mich unsicher, und eine unerklärliche Unruhe überfällt mich. Wir überqueren die Grenze und als Erstes begegnet mir eine Blume strahlend im Winter. Ich halte sie für ein Zeichen. Niemand kann mir dieses Gefühl jemals nehmen, hier willkommen zu sein.
Der Morgen in Deutschland fängt mit Blumengießen an. Das Frühstück kommt an zweiter Stelle. In Lindes Elternhaus gibt es Blumen im Badezimmer. Blumen in der Küche. Blumen auf dem Fensterbrett. Blumen überall. Draußen vor dem Haus stehen die Mandelbäume in Blüte. Das habe ich schon am Abend zuvor bemerkt, als wir in Stuttgart ankamen. An einem einzigen Tag erlebten wir abwechselnd mehrere Jahreszeiten. An einem einzigen Tag habe ich eine Welt verlassen und eine andere betreten. Eine Welt, in der Blumengießen eine ernsthafte Arbeit ist. Eine Welt, in der Blumen bedeutend sind. Und das Leben scheint seine Schwere zu relativieren.
Dieter und Linde bleiben in Stuttgart. Unsere gemeinsame Reise ist zu Ende. Ich fahre weiter mit dem Zug. Auf dem Weg zum Bahnhof explodiert die Kraft des Frühlings in tausend Farben. Als wäre der Frühling in Deutschland bunter. Es ist nicht der Reichtum, der mich beeindruckt. Nicht der Überfluss. Es ist nicht der Glanz, den ich mit Freiheit übersetze. Der in mir dieses Gefühl von Weite entstehen lässt. Es sind die Blumen. Diese Blumen mit fleischigen Blättern. Mit kräftigen Stängeln. Als wären hier die Farben der Blumen klarer. Als wären die Blumen hier gesünder. Denn ich erinnere mich sonst nur an Grau. Es gehört zu meiner Biografie. Und es gehört auch zu meiner Biografie, es zu erwähnen. Dieses Grau, das inzwischen zum Cliché geworden ist.
Ich bin in Stuttgart am Bahnhof. Alleine. Ich bin in der Welt. Und die Welt ist für mich da. Die Tauben fliegen mir vor die Füße. Sie vertrauen mir. Ich bin in einem Land, wo es Tauben gibt, die nicht im Kochtopf enden. In einem Land, wo die Worte nicht hinter Gitter gesperrt werden. Ich fahre mit dem Zug nach Frankfurt. Und der Zug fährt zu langsam. Mein Rhythmus ist ein anderer. Der Zug kann ihn nicht einholen. Ich will alles sehen. Ich will alles wissen. Alles auf einmal. Ich spreche mit meinen Nachbarn im Abteil. Sie sind neugierig auf mich, auf das, was ich ihnen erzähle. Über Rumänien. Über die Revolution. Ich sage: Wir haben die Grenzen bezwungen. Die Welt ist unendlich weit geworden. Auch für mich.
Von Frankfurt fliege ich weiter nach Berlin. Ich habe Zeit, über Grenzen nachzudenken. Es gibt Sätze, die man millionenfach in seinem Leben ausspricht. Und trotzdem haben sie nichts von ihrer Bedeutung, von ihrem Gewicht verloren. Fünfunddreißig Jahre habe ich die Grenze Rumäniens niemals überquert. Das ist ein einfacher Satz. Doch sein Gewicht ist immens. Und für mich ist er noch nicht abgenutzt. Denn er enthält nicht nur meine Geschichte. Er enthält die Geschichte eines Landes. Eines Systems. Einer Zeit. Und solange ich mich auf der Spur dieser Geschichte befinde, solange diese Spur noch sichtbar ist, wird mich dieser Satz verfolgen. Man kann Menschen einsperren. Aber man kann ihre Neugier nicht zähmen. Ihren Geist nicht eingrenzen. Anketten. Ich bin aus meiner Stadt nach Bukarest gezogen. Aus der Provinz in die Großstadt. Ich bin aus der Enge geflüchtet. Aber die wirkliche Weite gab es nur in meinem Kopf. Denn das große Abenteuer fand im Kopf statt. Das ist ein gefährlicher Satz. Inzwischen will ich ihn korrigieren. Ihn seiner Radikalität berauben. Das große Abenteuer fängt im Kopf an. Doch wenn man sich auf den Kopf beschränkt, kommt man nicht mehr in Berührung mit dem Boden.
Ich fliege mit der Pan Am über die DDR in ein Stück Bundesrepublik.
Eigentlich stimmt das gar nicht. Aber das weiß ich noch nicht. Ich brauche Zeit, zu begreifen, was Berlin wirklich ist. Und das passiert erst sehr viel später. Erst, als ich dort lebe. Jetzt habe ich nur Angst vor Berlin. Und kann mir nicht vorstellen, jemals freiwillig dort zu leben. Berlin ist eine Insel. Ein unsicherer Ort. Der Kommunismus ist zusammengebrochen. Aber seine Zähne sind noch immer zu spüren. Manchmal habe ich Angst und frage mich, ob das alles wirklich passiert ist. Oder ob ich nicht einfach nur träume.
Meine Berliner Freunde sind keine Erfindung, keine neue Falle der Securitate. Es gibt sie in Wirklichkeit. Das wusste ich schon in Rumänien. Und bald werde ich sie kennen lernen.
In Berlin werde ich am Flughafen abgeholt. Meine Freunde und ich, wir haben uns noch nie gesehen. Wir mögen uns auf den ersten Blick. Es hätte auch anders sein können, sagen sie. Ich lerne sehr früh ihre Kompromisslosigkeit schätzen. Manchmal sogar fürchten. Wir kennen uns nur aus Briefen und Telefonaten. In der ersten Nacht kann ich nur bei Licht schlafen. Ich wache auf und zittere. Kalter Schweiß und Angst kriechen mir über den Rücken. Meine Freunde verstehen das. Ich aber nicht. Ich glaubte, ich wäre stark.
Am nächsten Morgen benutze ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Stadtplan und mache mich auf den Weg, Berlin zu erkunden. Mittags gehe ich in ein Restaurant. Ein königliches Gefühl. Ich kann alles bestellen, was ich will. Ich will Wiener Schnitzel. Ich denke an meine Kinder. An meine Familie. An meine Mutter. Wiener Schnitzel gehörte einst zu unserer Familientradition. Doch Traditionen gab es in Rumänien schon lange nicht mehr. Und auch kein Fleisch. Die rumänischen Hühner waren seltsame Geschöpfe. Sie hatten unzählige Köpfe, Hälse und Füße. Die konnte man manchmal nach stundenlangem Schlange stehen in Kilopackungen ergattern und Suppe daraus machen. Das Huhn selbst war zum Export bestimmt. Um die Schulden des Landes zu bezahlen und den Palast des Volkes, die teuerste Baustelle Europas. Hier in Berlin gibt es Menschen, die jeden Tag Schnitzel essen können. Ihr Leben hat sich nicht verändert. Sie essen in Ruhe zu Mittag. Sie trinken ihren Kaffee. Sie stehen auf und gehen ihrem Alltag nach. Ich nehme diese Bilder der Normalität in mich auf. Atme sie ein. Ich sitze am Tisch. Ich kann mich nicht beherrschen und weine. Ich kann mich nicht mehr leiden. Seit ich hier bin, muss ich immer wieder weinen.
Meine Freunde vergöttern die Musik. Sie lieben Celibidache, bewundern Valentin und Dinu Lipatti und Clara Haskil. Ich bin froh, mit ihnen etwas lichtvolles und wertvolles aus meinem Land zu teilen. Gemeinsam verbringen wir einen Abend in der Philharmonie. Mit Claudio Abado und den Berliner Philharmonikern. Ich sehe und höre und atme ein. Ich will diese Stimmung. Diese Erfahrung für immer aufnehmen. Denn ich weiß noch nicht, ob ich jemals wieder nach Berlin kommen darf. Meine Freunde zeigen mir die Nationalgalerie. Aus irgendeinem Grund bleiben mir die Volksempfänger von Ed Kienholz im Gedächtnis. Wenn ich alleine durch die Stadt gehe, besuche ich keine Museen. Ich besuche die Kaufhäuser und Geschäfte. Ich schaue mir die Menschen an und das bunte Treiben auf der Straße. Ich bin gierig nach Leben. Das KaDeWe schaue ich mir wie eine Kunstausstellung an. Es hat für mich die Bedeutung der Nationalgalerie. Die Bedeutung einer wertvollen Sammlung exemplarischer Objekte aus dieser mir unbekannten Welt. Ich will gar nichts kaufen. Ich will sehen. Sehen, was es alles auf der Welt gibt. An der Lebensmittelabteilung kann ich mich gar nicht satt sehen. Es sind die Farben. Die Fische. Das Licht auf ihren glänzenden Schuppen, ein Regenbogen. Fische, die in einem Bassin schwimmen. Bekannte und mir unbekannte Fische. Bunte Fische. Garnelen. Hummer und Austern. Ich kaufe keine Austern. Aber ich denke an Hemingways Austern. Und wie sie ihm geschmeckt haben. Als er in den zwanziger Jahren, noch unbekannt und so jung wie das Jahrhundert, in den Cafés schrieb. Unbekannt und arm glaubt er sich. Aber er ist reich. Und er weiß es noch nicht. Er bestellt nur Portugaises. Denn er hat eine Erzählung zu Ende geschrieben. »Oben in Michigan.« Portugaises und eine Karaffe trockenen Weißwein.
Wenn ich eine Geschichte geschrieben hatte, war ich immer leer und beides, traurig und glücklich, wie nach einer Liebesnacht, und ich war sicher, dass es eine sehr gute Geschichte war, obgleich ich nicht genau wusste wie gut, ehe ich sie am nächsten Tag durchgelesen hatte. Während ich die Austern aß mit ihrem starken Meergeschmack und ihrem leicht metallischen Geschmack, den der kalte Weißwein wegspülte, sodass nur der Meergeschmack und ihre saftige Konsistenz blieben, und als ich die kalte Flüssigkeit aus jeder Muschel trank und sie mit dem frischen Geschmack des Weins hinunterspülte, verlor ich das leere Gefühl und fing an, glücklich zu sein und Pläne zu machen.
Hemingway ist reich. Und er weiß es noch nicht.
Und ich bin reich, weil ich Hemingway kenne. Weil ich diese und andere Zeilen fast auswendig kenne. Weil ich vieles über Paris weiß. Ich war noch nie in Paris. Aber ich wusste schon immer, so unmöglich es auch schien, dass ich eines Tages dorthin kommen würde. Und immer wenn ich in Rumänien den kleinsten Zweifel daran hatte, oder an meinen Fähigkeiten zweifelte, das Leben bewältigen zu können, las ich Paris – ein Fest fürs Leben. Ich wusste, dass ich nach Paris musste. Denn: Wenn du das Glück hattest, als junger Mensch in Paris zu leben, dann trägst du die Stadt für den Rest deines Lebens in dir, wohin du auch gehen magst, denn Paris ist ein Fest fürs Leben.