Das Buch
Paul ist faul. Und stolz darauf, dass er trotzdem irgendwie durchs Gymnasium kommt. Aber jetzt steht das Schnupperpraktikum in der Förderschule an. Den ganzen Tag Sabberlätzchen wechseln und Hintern abwischen? Nicht mit Paul! Als er für den neuen Schüler Per gehalten wird, beschließt er spontan, diese Rolle anzunehmen. Schließlich stehen Chillen im Whirlpool und Videospiele auf dem Stundenplan. Sogar mit seinen neuen »Mitschülern« kommt Paul gut klar. Doch was, wenn er auffliegt? Auch auf der Förderschule gibt es keine Eins fürs Scheißebauen, oder?
Der Autor
© Privat
Tobias Steinfeld wurde 1983 in Osnabrück geboren. Während seines Studiums jobbte er als Inklusionshelfer an einer Förderschule. Heute leitet er Schreibwerkstätten für Jugendliche und schreibt selbst Geschichten. Als sein erstes Stück auf die Bühne kam, rief seine ehemalige Grundschullehrerin ungläubig und stolz bei seiner Mutter an: »Ist das wirklich von Tobias?«.
»Scheiße bauen: sehr gut« ist sein Romandebüt und wurde unter anderem mit dem Mannheimer Feuergriffel-Stipendium ausgezeichnet. Tobias Steinfeld lebt derzeit in Düsseldorf.
Tobias Steinfeld auf Facebook: www.facebook.com/Tobias.Steinfeld
Der Verlag
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Viel Spaß beim Lesen!
Für alle
1. Hochexplosives Gasgemisch
Letzte Woche war ich noch ein ganz normaler Achtklässler am Gymnasium St. Ignatius im Stadtteil Oberbach. »Paul kommt unentschuldigt zu spät zum Unterricht«, hat Frau Kesselmann immer ins Klassenbuch geschrieben. Ich an ihrer Stelle hätte mir wenigstens einen Stempel mit diesem Satz machen lassen. Den hätte sie dann jeden Tag ins Klassenbuch drücken können. Ich denke oft darüber nach, wie man sich Arbeit sparen kann. Ich bin eher faul. Letzte Nacht habe ich geträumt, dass mir Frau Kesselmann eine Raketenstation geschenkt hat. Zwar bloß eine Styroporrakete und eigentlich ein Wecker, aber immerhin. Zur Weckzeit schießt die Rakete mit ordentlich Getöse quer durch den Raum und landet irgendwo auf dem Boden zwischen stinkenden Socken und zerfledderten Unterwasserzeitschriften. Der Lärm stoppt erst, wenn man aufsteht und sie wieder auf die Station stellt. Zum Glück war es nur ein Traum. In Wirklichkeit hätte ich die Rakete niemals benutzt. Das wäre Selbstfolter. Außerdem würde Frau Kesselmann mir nie im Leben ein Geschenk machen.
Heute ist der erste Tag vom Schnupperpraktikum. Blöderweise habe ich es verrafft, mich um einen Platz zu kümmern, also bekam ich einen zugewiesen. Während meine Mitschüler Kanzlei-, Praxis-, Agentur- oder Sparkassenluft schnuppern, muss ich in die Förderschule nach Röhrbach. Das ist am anderen Ende der Stadt. Da, wo die Brautläden sind, und die Shishabars und die Waffenshops und die Läden, in denen die Glatzköpfe diese Lonsdale-Pullover kaufen.
An meinem ersten Tag komme ich wie üblich eine Viertelstunde zu spät. Das Schulgebäude ist ein gelb-grauer Kasten. Ich wette, dass auf dem Dach Kieselsteine liegen. Auf solchen Dächern liegen immer Kieselsteine: wie auf unserer Garage oder der alten Turnhalle von Ignatius.
Der Hausmeister schleicht vor dem Eingang herum und sammelt mit der Greifzange Monster-Dosen und YumYum-Packungen auf. Ich denke zumindest, dass es der Hausmeister ist, weil er so einen Kittel anhat. Jetzt hat er mich entdeckt. Er kommt auf mich zu und bleibt vor mir stehen. Der Hausmeister kneift seine Augen zusammen. Er glotzt mich an, als ob ich ein Außerirdischer wäre. »Wer bist du denn?«, fragt er.
»Paul«, sage ich.
»Soso. Paul.«
Ich nicke.
Seine Augen sind immer noch zusammengekniffen. »Und was willst du hier?«
Gute Frage, denke ich. Eigentlich will ich gar nichts hier. Außer weg. Das ist schwer möglich, weil das Schnupperpraktikum Pflicht ist. Also will ich, wenn ich schon hier sein muss, am liebsten meine Ruhe haben. Aber das kann ich diesem Hausmeistertypen ja schlecht am Montagmorgen in sein spitzes Gesicht sagen.
Wir stehen direkt neben den Müllcontainern. Der Hausmeister bückt sich und zieht eine Leuchtröhre aus einem langen Pappkarton, der auf dem Boden liegt. Er drückt sie mir in die Hand. »Dann mach dich wenigstens nützlich!«
Er verschwindet hinter den Müllcontainern.
Ich stehe also da, habe eine Leuchtröhre in der Hand und warte darauf, dass der Hausmeister zurückkommt und sie mir wieder abnimmt, aber er kommt nicht. Ist wahrscheinlich durch irgendeinen Hintereingang ins Gebäude und hat vergessen, dass ich hier noch rumstehe. Am besten, ich gehe auch rein.
Drinnen weiß ich nicht, ob nach rechts oder links. Also gehe ich geradeaus durch den Flur und nehme dann die Treppe nach oben. Hier ist auch niemand. Es riecht nach Spüllappen und ein bisschen nach Omasalbe. Nivea oder Penaten. Irgendwann werde ich sowieso irgendwo reinmüssen. Außerdem habe ich keinen Bock, ewig mit diesem bescheuerten Ding rumzulaufen. Also beschließe ich, durch die nächstbeste Tür in irgendeinen Raum zu gehen. Ich drücke die Klinke runter und öffne die Tür. Ich glaube, ich bin in einer Klasse. Mittendrin steht ein Mann mit schneeweißem, fast schulterlangem Haar und einem Bierbauch, wie ihn die meisten Männer bei uns in Oberbach auch haben. Bei den Frauen ist dafür der Hintern größer. Die ziehen dann schwarze Hosen an oder binden ein Tuch drum, um das zu vertuschen.
Ich stehe jedenfalls mit der Leuchtröhre da und sage erst mal nichts und der Mann sagt: »Dann musst du Per sein.« Die ganzen schiefen Gestalten, die im Stuhlkreis sitzen, jubeln wie Wahnsinnige und klatschen und schreien meinen falschen Namen: »Peeeeer!«
Ein dicker Junge mit Schweißperlen auf Stirn und Oberlippe springt plötzlich auf und rennt auf mich zu wie ein wilder Stier. Er küsst mich voll auf den Mund. Eigentlich muss ich kotzen, aber ich kann ja schlecht am ersten Tag vom Schnupperpraktikum in die Schule göbeln. Der Junge reißt mir die Leuchtröhre aus der Hand, grinst mich an und pfeffert das Teil auf den Boden. Das knallt wie ein fetter D-Böller.
Als er wieder auf seinen Platz stolpert, kann man seine Arschritze sehen. Alle kreischen.
Der mit dem Bierbauch heißt Dieter und redet, als ob mich ein schweres Schicksal getroffen hätte. »Der Name Per kommt aus dem Dänischen. Ein ganz alter Kriegername, der seinem Ursprung nach ›Speerspitze‹ bedeutet.«
Sein warmer Atem kriecht unter meinen Pullover wie ein Fluch. Ich bin nicht Per, aber eins ist klar: Was Dieter sagt, stimmt. Jedenfalls tun alle so, als ob. Also mache ich das auch.
Dieter bringt mich dann in eine andere Klasse. Die Wände im Flur sind voll mit Jacken und Rucksäcken. Wie im Kindergarten. Fehlt nur noch, dass jeder sein eigenes Garderobenbildchen hat.
In der nächsten Klasse werde ich wieder gefeiert wie Rihanna und Katy Perry zusammen. Die Schüler hocken an Tischen, die zu einer Art eckigem O zusammengeschoben sind. Der Lehrer sitzt hinterm Laptop. Unter dem Pult sehe ich Sandalen und Wollsocken. Er winkt mir zu und stellt sich auch mit dem Vornamen vor.
»Bodo.«
Eigentlich müsste ich jetzt meinen richtigen Namen sagen, aber Dieter steht immer noch hinter mir und ich glaube, eine Diskussion mit ihm ist ziemlich anstrengend. Ich wäre froh, wenn er so schnell wie möglich seine Hände von meiner Schulter nehmen, sich umdrehen und verschwinden würde. Dass ich Paul bin, kann ich ja später in Ruhe erklären. »Ich heiße Per«, sage ich.
Dieter verschwindet und ich setze mich auf einen freien Platz.
Bodo schlägt vor, dass wir erst mal eine Vorstellungsrunde machen.
Einige von denen scheinen nur so halbbehindert zu sein. Jonas’ Kopf ist zwar nicht viel kleiner als eine Wassermelone und seine Stimme klingt, als ob er sich gerade einen frischen Helium-Ballon reingezogen hätte, aber sonst: Bayernfan und Klassensprecher.
Eva kichert die ganze Zeit. »Ich bin eine Leseratte«, sagt sie. »Am liebsten Twilight.« Eva möchte Schriftstellerin werden. Für Mädchengeschichten.
Fatih daneben brüllt: »Ich raste gleich aus hier! Der is doch voll behindert, der Mädchen!«
»Das Mädchen«, sagt Eva.
Fatih springt auf. »Is mir scheiß egal, wie das heißt. Ich mach alles kaputt hier. Guck dir das Behinderte doch an!«
Bodo wirft einen Schwamm Richtung Fatih. »Benimm dich mal! Was soll denn Per von dir halten?«
Alle lachen. Außer Fatih.
Die nehmen sich hier echt eine Stunde Zeit, um sich vorzustellen. Wenn auf Ignatius ein Neuer kommt, muss nur der sich vorstellen.
Jetzt bin ich dran. Ich glaube, die halten mich auch für einen Behinderten. Ich muss die Sache aufklären. Aber was, wenn mir keiner glaubt? Dann müsste ich mich ausweisen. Mit meiner Busfahrkarte zum Beispiel. Das wäre peinlich. Und anstrengend. Außerdem: Vielleicht ist das ja meine Chance. Als Per werde ich vielleicht in Ruhe gelassen. Und drei Wochen sind ja auch schnell rum. »Ich bin Per. Ich bin 14. Ich bin Bayern-Fan.«
Ich rede wie immer, nur etwas leiser und langsamer und Bayern hasse ich eigentlich. Sie kaufen mir die Nummer voll ab. Mein Ausschlag ist dabei wahrscheinlich ganz hilfreich. Vorhin, als ich mit Dieter rüber bin, hab ich gemerkt, dass es anfing zu jucken, und hab schon geahnt, dass es gleich losgeht. Ohne in irgendeinen Spiegel zu gucken, weiß ich, wie meine Backen jetzt aussehen. Erst juckt’s, dann wird es rot, dann kommen die Quaddeln. Als ob man sich eine Brennnessel durchs Gesicht gezogen hätte. Deshalb heißt das auch Nesselsucht. Und nach ein paar Stunden ist alles wieder weg. Mama hat das immer, wenn sie Stress hat, sagt sie. Ich dachte immer, das ist Quatsch, aber jetzt bin ich mir ganz sicher, dass mein Ausschlag daher kommt, weil der Typ mit den Schweißperlen mich auf den Mund geküsst hat.
Die Vorstellungsrunde ist immer noch nicht vorbei. Einer sitzt einfach da, hat überall Wunden im Gesicht und Torwarthandschuhe an den Händen. Eine sitzt im Rollstuhl, knirscht mit den Zähnen und sabbert. Neben mir sitzt einer im Spongebob-Schlafanzug, wippt vor und zurück und singt irgendwas Arabisches.
»Das ist Ibrahim«, sagt Eva.
Fatih sagt: »Der kann dich kaputt schlagen. Du darfst den nich anschreien und nich festhalten, dann is der korrekt.«
Bei uns in Oberbach gab es auch mal einen Behinderten. Das waren schöne Zeiten. Ich musste bloß den Rasenmäher aus dem Schuppen holen, den Motor anschmeißen und im Liegestuhl warten, bis er angerannt kam. Großzügig wie ich bin, habe ich ihm dann erlaubt, den Rasen zu mähen. Das nennt man Win-win-Situation. Irgendwann musste der Behinderte weg aus Oberbach. Die Nachbarn hatten Angst, dass er Kinder belästigt, und ich musste wieder selber mähen.
Fast hätte meine eigene Familie sogar Behindertennachwuchs bekommen. Das Baby hatte den Rücken offen. Deshalb haben sie es weggemacht. Mama ist dann in ein Kloster nach Nepal. Da wohnt sie jetzt seit vier Monaten. Spätestens Weihnachten will sie aber wieder da sein. Von den Nachbarn weiß das keiner und Papa tut alles dafür, damit das so bleibt: Beim Bäcker holt er Brötchen für drei und beim Edeka wirft er immer Unmengen Tampons aufs Band. Dann sagt der Sachen wie: »Ein Verschleiß in letzter Zeit! Mann, Mann, Mann!« Ich finde es etwas zu auffällig, aber er fragt mich ja nicht. Wenn mich jemand fragt, wo Mama ist, sage ich: »Sie hat viel zu tun.« Das bringt die Leute zum Nicken.
Fatih steht auf und schnuppert an der Sabbernden im Rollstuhl. »Bäh, stinkt voll nach Scheiße der Mädchen!«
Jetzt riech ich’s auch. Die ganze Klasse stinkt nach Scheiße.
Bodo schaut sich um. »Wo ist denn Birgit?« Für einen Moment sehe ich den goldenen Knopf in seinem Ohr funkeln und den geflochtenen Minizopf im Nacken baumeln.
Es klopft und ein Mädchen kommt rein. Ungefähr so alt wie die, die auf Ignatius gerade Abi machen. Sie hat lockiges braunes Haar und rote Lippen und so eine Bernsteinkette über der Brust. Sie lächelt und schaut mir direkt in die Augen. »Wir haben Zuwachs? Wie schön! Ich bin Birgit. Die Inklusionshelferin von Alicia-Sophie.«
Birgit wischt Alicia-Sophie mit einem Tuch den Sabber vom Mund, streicht ihr die Strähnen aus der Stirn und schiebt sie aus der Klasse. Ich bin froh, kein Schnupperpraktikant zu sein. Das könnte Frau Kesselmann so passen, dass ich hier Ärsche abwische.
Als sie wieder reinkommen, sieht das Mädchen im Rollstuhl gar nicht mehr grimmig aus und knirscht auch nicht mehr mit den Zähnen. Vorhin hat es noch nach Scheiße gestunken und jetzt riecht es hier frisch nach Lavendelseife. Die benutzt Mama auch immer.
Es klingelt. Eine Durchsage: »Wo is der Bengel, dem ich vorhin die Röhre gegeben habe? Wenn die in zehn Minuten nicht in meinem Büro ist, gibt das Ärger! Over!«
Das war der Hausmeister.
Die Tür geht wieder auf und Dieter aus der anderen Klasse steht mit seinem Bierbauch und dem wild gewordenen Küsser an der Hand in der Tür. Der Küsser winkt mir zu: »Na Per? Röhre putt?«
Der soll doch die Fresse halten. Wahrscheinlich werden die mich jetzt ins Kreuzverhör nehmen und ich werde komplett auffliegen und muss dann ab morgen auch Ärsche abwischen. Ich hoffe schon mal, dass der mit den Torwarthandschuhen am Arsch nicht so viele Wunden hat wie im Gesicht.
Dieter kratzt sich den Schnurrbart und faselt irgendwas von »Leuchtröhren« und »hochexplosiven Gasgemischen«. Mit dem gelben Türrahmen sieht das jetzt so aus, als hätte er einen Heiligenschein. Er starrt mich an. »Am besten, ihr fragt euren neuen Mitschüler Per, welches Geräusch eine Leuchtröhre beim Zerschellen macht.«
Fatih lacht. »Geil! Erster Tag und sofort Stress mit Hausmeister!«
»Der hat die runtergeschmissen!« Ich zeige auf den Wilden an Dieters Hand.
»Benjamin macht nichts kaputt. In meiner Klasse bemühen wir uns, die Dinge heile zu lassen«, sagt Dieter.
Der Küsser heißt also Benjamin, und frisst gerade einen dicken Popel, den er in Schwerstarbeit herausgebohrt hat. Meine Backen jucken wie Sau.
Die beiden verschwinden wieder.
»In Dieters Klasse bemüht sich überhaupt keiner, die Dinge heile zu lassen«, sagt Bodo.
»Voll die Opfers sind das!«, sagt Fatih.
Dann schrauben Bodo, Jonas und Eva in Zusammenarbeit eine Leuchtröhre aus der Lampe an der Decke und ich bring die zum Hausmeister. Zum Glück ist der nicht da. Ich lege sie auf seinen Schreibtisch und gehe in die Klasse zurück.
2. Ich bin Per!
Dieses eckige Tisch-O ist zwar eigentlich ein Rechteck, aber ich vermute, dass das Ganze pädagogische Gründe hat, und pädagogisch gesehen ist das hier ein Kreis. Das weiß ich von den Pfadfindern. Da saßen wir auch immer im Kreis. Wichtig war, immer außenrum zu gehen und nie durch den Kreis.
Mir hat es ganz gut gefallen da. Wir haben Spiegeleier auf dem Spaten gebrutzelt und Speere mit dem Taschenmesser geschnitzt. Das Einzige, was wir nicht machen durften, war, durch den Kreis gehen.
Birgit will wissen, wer Tischdeckdienst hat.
Alle schweigen, also steht Birgit auf und schaut auf den Plan, der hinter ihr an der Wand hängt.
»Wieso sagst du nichts, Fatih?«, will Birgit wissen.
Fatih zuckt mit den Schultern. »Wieso soll ich?«
»Weil du Dienst hast!«
Fatih verzieht sein Gesicht. »Immer alleine. Weil diese blöde Tussi dickgeschossen is!«
»Elly ist krank«, sagt Bodo.
»Elly is schwanger«, sagt Fatih.
»So ein Quatsch«, sagt Birgit.
»Isso«, sagt Fatih.
»Vielleicht magst du Per fragen, ob er dir hilft?«, fragt Bodo.
Fatih starrt mich an. Ich versuche woanders hinzusehen. Das klappt nicht und Fatih fragt: »Was glotzt du so?«
Eigentlich müsste ich ihn das fragen, aber bevor er ausrastet, sage ich besser nichts.
Fatih ist aufgestanden. »Dann los!« Er nickt in meine Richtung.
Ich springe auf und stolpere Richtung Klassentür. Fatih zeigt mir mit einer Kopfbewegung, dass es meine Aufgabe ist, die Tür zu öffnen. Ich halte sie ihm auf.
Fatih geht vor. Ich hinterher.
»Wie alt?«, fragt er.
»Was meinst du?«
»Wie alt du bist?«
»14.«
Er bleibt stehen und mustert mich. Ich komm mir vor wie sein persönlicher Schnupperpraktikant.
Fatih rümpft die Nase. »Hätte älter gedacht.«
Vielleicht bin ich das ja auch, denke ich.
»Wie alt bist du denn?«
»16.«
»Krass.«
Fatih bleibt wieder stehen. Wir stehen kurz Kopf an Kopf da, aber dann sieht er meinen Ausschlag und geht einen Schritt zurück.
»Wieso krass?«
»Keine Ahnung«, sage ich.
In Wirklichkeit find ich krass, dass der zwei Jahre älter ist als ich. Weil der mir jetzt ja irgendwie überlegen ist.
»A oder B?«, fragt Fatih.
Ich weiß nicht, was er von mir will und was das überhaupt für ein komischer Typ ist. Zwei Jahre älter, einen Kopf kleiner, behindert und macht einen auf dicke Hose.
»A oder B? Du hast drei Sekunden: 1, 2 …«
»B.«
»So einer bist du also!« Fatih guckt mich an, als ob er gerade die Erkenntnis überhaupt gewonnen hätte. Dann zieht er einen Schlüssel aus seiner Hosentasche. Daran hängt eine rote Minibillardkugel.
Fatih schließt den Fahrstuhl auf.
Hätt ich mal A gesagt, dann wäre ich nicht »so einer« und wir hätten wahrscheinlich die Treppe genommen. Auch wenn es nur eine Station ins Erdgeschoss ist: Ich will nicht mit diesem Irren alleine im Aufzug sein. Was, wenn der auf STOPP drückt?
Abgesehen davon muss man im Fahrstuhl immer was sagen. Aber was sagt denn so ein Behinderter? Ich weiß ja auch gar nicht, welche Behinderung ich überhaupt habe. Bin ich eher ’n Totalschaden oder einfach so ’n zurückgebliebener Typ? Früher hatte ich mal einen Zwinkertick. Vielleicht würde das gut kommen. Ich könnte auch immer nicken. Wie Tauben das machen. Oder ab und zu den Mund, so weit es geht, aufreißen. Aber was, wenn das überhaupt nicht zu Per passt und ich auffliege? Dann gibt es richtig Ärger mit Frau Kesselmann. Und was machen die Behinderten wohl mit einem Schnupperpraktikanten, der einen auf behindert macht, um sich vor Arbeit zu drücken? Ist wohl besser, wenn ich mir das nicht vorstelle. Umso wichtiger ist es, dass ich mir eine Taktik überlege. Am besten, ich mache einen auf langsam. Das kommt mir eh entgegen und dann tue ich so, als würde ich nichts raffen. Zumindest den Erwachsenen gegenüber. Die Schüler merken das eh nicht. Nur bei Fatih bin ich vorsichtiger. Man weiß ja nie.
»Wo fahren wir hin?«, frage ich und versuche dabei, möglichst hohl zu klingen.
Fatih nuschelt vor sich hin. Ich glaube, er sagt: »Küchenfrauen. Tee und so.«
Er steckt vorsichtig seinen Kopf aus dem Aufzug, hebt seine rechte Faust und schaut mir wieder so in die Augen. Seine sind fast schwarz.
»Du sagst keinem, dass wir Aufzug waren!«
»Ne, Quatsch.«
Wir gehen den Flur entlang. Eben gerade hat er mir noch mit der Faust gedroht und jetzt legt der plötzlich seine Hand auf meinen Rücken und erzählt mir, dass hier die Unterstufe ist. Der umarmt mich richtig. »Die sind zwischen fünf und zehn«, sagt er. »Dann gibt’s noch Mittelstufe, die sind auch oben. Wir sind Oberstufe. Ibrahim ist 22.«
Ich habe ein bisschen die Orientierung verloren. Nicht nur, was Fatih betrifft, sondern sonst auch, aber ich glaube, die Schulküche ist am anderen Ende als der Eingang. Die Tür daneben müsste dann der Hinterausgang sein.
Als wir reinkommen, sitzen die Küchenfrauen in ihren ärmellosen Kitteln am Tisch und qualmen. »Haste ’nen neuen Kollegen, Fatih?«
Fatih schüttelt den Kopf. »Das is Per.« Er sagt das ein bisschen so, als ob ich der Märchenprinz von Dornröschen wäre, auf den alle hier seit hundert Jahren warten würden.
Die eine Küchenfrau will wissen, ob es schon ein Foto von mir gibt, und noch bevor ich geantwortet habe, hat sie ihre Kippe im Mundwinkel, die Augen zusammengekniffen, die Kamera gezückt, »Spaghetti« gerufen und mich geknipst. Ich habe zwar noch nie zuvor eine Küchenfrau getroffen, aber diese Küchenfrau ist ziemlich sicher eine der schnellsten Küchenfrauen der Welt.
Die andere schiebt uns einen Rollwagen zu. »Ich geh eben mit und schließ euch den Fahrstuhl auf.« Fatih zwinkert mir zu. Ich zwinker übertrieben zwinkertickmäßig zurück.
»Bist du behindert?«, fragt er.
Der Rollwagen ist silber. Teller und Tassen stehen darauf. Und Teekannen aus Metall. Wie im Krankenhaus. So riecht’s auch. Nach Fenchel und Pfefferminz. Ich mag Krankenhäuser und dieses breiige Essen da nicht so besonders. Beim letzten Mal lag ich mit einem auf dem Zimmer, der war Geschäftsführer, aber das war egal, weil er einen künstlichen Darmausgang hatte. Immer wenn der geleert wurde, hat es so gestunken wie vorhin bei dem Mädchen, das, glaube ich, Alicia-Sophie heißt. Der Geschäftsführer hat dann mit seinem Armani-Fläschchen rumgesprüht, um den Gestank zu vernebeln, was die ganze Sache noch schlimmer gemacht hat. Das hätte ihm natürlich jemand sagen können. Eine Krankenschwester oder ein Arzt. Hat aber keiner gemacht, also musste ich notgedrungen die meiste Zeit mit dem Kopf unter der Bettdecke verbringen.
»Wir frühstücken Klasse«, sagt Fatih, als er den Metallwagen durch den gelben Türrahmen schiebt. »Jeder sein eigenes aber alle auf einmal.«
Das pädagogische Rechteck hat eine kleine Lücke zur Tafelseite. Bestimmt, damit man besser die Tische decken kann. Ich darf das Rechteck also betreten. Das ist wichtig zu wissen.
Fatih soll mir erklären, wie die Tische zu decken sind, aber er sagt kein Wort und ich gucke umso genauer hin, damit ich das dann auch so machen kann und nicht gegen irgendwelche Regeln verstoße. Das mit dem Tischdecken scheint hier nämlich ’ne wichtige Sache zu sein. Also: abwischen. Erst nass, dann trocken. Dann Teller hinstellen.
Auf Ignatius frühstücken wir vor Weihnachten auch immer in der Klasse. Da gibt’s aber keine Teller. Nur Tee und Plätzchen mit vertrockneter Marmelade in der Mitte, die keiner isst. Wer will schon Plätzchen essen, die Ochsenauge heißen?
»Gibt’s immer Teller?«
»Ohne Teller – Sauerei«, sagt Fatih, und hinter ihm sehe ich Bodo nickend am Pult sitzen.
Ich stelle mir Fatih bei McDonald’s vor. Als den Typen, der mit Head-Set um den Kopf im McDrive arbeitet: »Bestellung bitte!« Und dann schüttet er mit der kleinen Metallschaufel Pommes in die Papiertüten. Den Frauen zwinkert er mit einem Auge zu, wenn sie vorfahren und die Männer fragt er Sachen, wie: »Hast du voll Hunger?«
Da würde kein Mensch auf die Idee kommen, dass der ein Behinderter ist. Vielleicht ist der ja auch so was wie ein Schnupperpraktikant. Halt nicht vom Gymnasium, sondern ’ner anderen Schule. Wobei, ich glaube, dass es den bescheuerten Begriff »Schnupperpraktikant« ausschließlich auf meiner behinderten Schule gibt. Und Frau Kesselmann hat das Patent darauf.
Der Junge, dem ich gerade den Teller hingestellt habe, ist aufgesprungen und schreit: »Ich bin Per!« Immer wieder. Und in einer Tonhöhe, dass ich Angst habe, mein Trommelfell könnte platzen. Schon der zweite hier mit einer seltsamen Stimme. Der Typ hat dichte, dunkelbraune Locken, vor allem aber ist er mindestens zwei Meter groß und hat einen ziemlich irren Schielblick drauf. Ich bin froh, dass der Tisch zwischen uns steht. Er schreit und schreit.
Und was machen die anderen? Fatih deckt weiter den Tisch. Jonas geht auf Toilette. Birgit holt eine Brotbox aus Alicia-Sophies Rucksack. Wofür braucht die eigentlich einen Rucksack? Die hat doch immer ’ne Lehne am Rücken. Bodo daddelt am Laptop. Ibrahim zeichnet mit dem Zeigefinger die Rille zwischen den Tischen nach. Nur der mit den Torwarthandschuhen hält sich die Ohren zu.
Vorhin tun die noch so, als ob alles in Ordnung wäre, und helfen mir mit dem Hausmeister. Bodo, Eva, Jonas. Fatih hat mich sogar den Küchenfrauen vorgestellt. Und dabei wissen die scheinbar schon längst, dass nicht ich Per bin, sondern dieser Riese mit der Zwergenstimme. Und jetzt ignorieren die mich. Ich stehe immer noch vor Per. Ob ich wegrennen soll? Oder ich sage einfach: Ich bin Per. Das tue ich.
»Ich bin Per«, sage ich. Das kann gar nicht gutgehen.
Sein riesiger Mund zieht sich wütend zusammen. »Nein! Ich bin Per!« Der mit den Torwarthandschuhen linst mich für eine Sekunde flehend aus dem Augenwinkel an. Als wollte er sagen: Jetzt gib’s doch endlich zu, Mann!
Es gibt eh keinen Ausweg mehr. Ich habe verloren. »Du bist Per«, sage ich zu Per.
Pers Gesicht entspannt sich. Er hat aufgehört zu schreien und setzt sich. »Und du bist ich«, sagt er jetzt. Ich verstehe gar nichts mehr.
Birgit lächelt ihn an. »Du bist Freddy«, sagt sie zu ihm. Und zu mir: »Freddy tauscht gern die Rollen. Da muss jeder Neue durch.«
»Das ist gar nicht Per?«, rutscht es mir raus.
Birgit lacht. »Du bist doch Per. Das ist Freddy.«
Das war knapp.
3. Wie Bruce Willis
Einen Per stelle ich mir sowieso ganz anders vor als Freddy: kleiner und blond und mit tieferer Stimme.
Bei mir ist das mit dem Stimmbruch ganz schnell gegangen. Auf dem Weg zur Schule, im Bus, muss ich meine alte Stimme verloren haben. Ich kam in die Klasse. Keiner hat mich angeschaut. »Und? Woran lag es diesmal?«, fragte Frau Kesselmann genervt und dabei hat sie aus dem Fenster ge-sehen, einem Eichhörnchen hinterher, das gerade dabei war, den Baum hochzuflitzen. »Mal wieder der Bus?«
»Kette abgesprungen«, habe ich gesagt. Aber ich hörte mich gar nicht an wie ich selber, sondern eher wie Bruce Willis. Plötzlich starrten mich alle an. Ich glaube sogar, das Eichhörnchen hat kurz angehalten.
Frau Kesselmann hat die Situation gerettet und gesagt: »Du hast diese Woche Tafeldienst! Geh Kreide holen!«
Ich bin wieder raus und stand dann draußen vor der Tür und war ganz zufrieden, weil es die richtige Entscheidung war, mir nicht die Mühe zu machen, extra Kettenöl auf die Hände zu schmieren.
Das mit dem Kreideholen war auch totaler Quatsch. Auf Ignatius musste noch nie jemand Kreide holen. Kreide ist einfach da.
Ich schätze, Frau Kesselmann ist wegen meiner neuen Stimme auf diese Kreidesache gekommen. Wegen der Sieben Geißlein. Der Wolf frisst schließlich auch Kreide, um seine Stimme zu besänftigen, damit er die Geißlein fressen kann.
Ich find meine Stimme jedenfalls ganz o. k. Besser, als zwei Meter groß zu sein, wie Freddy, und dann so rumzupiepsen.
Ob Mama meine Stimme gefällt? Die kennt die ja noch gar nicht. Und Papa hat die, glaube ich, noch gar nicht bemerkt.
4. Moslem
Playmobilfiguren haben meistens einen schwarzen Haarhelm auf dem Kopf. Ibrahim würde eine Eins-a-Playmobilfigur abgeben. Abgesehen von den rechtlichen Problemen. Die könnte es vielleicht geben, wenn eine Playmobilfigur einen Spongebob-Schlafanzug trägt. Außerdem wäre es schwierig, einer Plastikfigur einen solchen Wackelmechanismus in die Augen zu bauen. Und wenn die eine Brille mit so dicken Gläsern wie Ibrahim aufhätte, würde sie ständig nach vorne kippen. Als Hände haben die Figuren bloß kleine Plastikgreifer. Da kann man dann eine Axt reinklemmen oder einen Feuerwehrschlauch oder eine Polizeikelle. Je nachdem.
Ibrahim hat echte Hände mit schwarzem Dreck unter den Nägeln. Deshalb badet er momentan neben mir seine Finger in einer kleinen Tupperbox mit lauwarmem Wasser und Spüli: Schmutz einweichen.
Ich schiele auf meine Nägel. Die müssten dringend mal geschnitten werden. Sauber sind die auch nicht. Deshalb versteck ich die mal lieber unauffällig unter dem Tisch, bevor ich gleich auch ein Fingerbad nehmen muss.
Birgit lächelt mich an. Die hat anscheinend meine Gedanken gelesen. »Du hast noch Welpenschutz«, sagt sie. »Aber morgen ist Kontrolle.«
Eva lacht sich schrott. »Welpenschutz. Der ist doch kein Hund.«
Freddy bellt. »Ich bin ein Hund!«
Heute Nachmittag werde ich mir die Nägel schneiden. Da wird Birgit sich morgen freuen. Wobei Birgit ja sowieso die ganze Zeit lächelt. Und wenn ich das Nägelschneiden vergessen sollte, zieh ich mir eben Torwarthandschuhe an.
Die anderen gehen in den Flur und holen ihr Frühstück aus den Rucksäcken. Ibrahim fleht am Waschbecken Allah oder sonst wen an und schrubbt mit der Bürste die Nägel. Dann setzt er sich wieder zu mir.
»Ibrahim hat schon wieder kein Frühstück dabei«, sagt Eva.
Bodo fragt: »Hast du was zu essen dabei, Per?«
Ich schüttel den Kopf. So wenig reden wie möglich.
Bodo holt eine Tüte mit Brot und ein Glas Marmelade aus dem Schrank und stellt beides auf meinen Platz. Ibrahim nimmt das Glas und drückt es gegen seine Stirn, dann nimmt er seine Brille ab und presst das Glas gegen die Augen. Mit beiden Händen. Als wolle der sich die Marmelade in den Schädel schieben. Er setzt die Brille wieder auf, rutscht zu mir rüber und schnuppert an meiner Backe. Ich hab Schiss, dass er zubeißt. Seine Augen wackeln die ganze Zeit hin und her. Ibrahim riecht extrem nach Waschpulver.
»Ist das Moslem?«, fragt er.
Ich hätte echt mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass der ganz normal Deutsch spricht.
»Bitte?«, frage ich.
»Was schreist du so?«
»Ich hab nich–«
»Schrei mich nich so an, klar?«
Er hat einen Zeigefinger gehoben. Der Nagel ist immer noch dreckig.
»Klar«, sage ich, so leise ich kann.
Er hält mir die Marmelade unter die Nase. »Ist das Moslem?«
»Ich bin katholisch.«
»Bodo, was ist katholisch?«, fragt Ibrahim.
»Katholisch ist eine Religion. So wie der Islam«, erklärt Bodo. Auf seinem braunen Wollpulli sind Rentiere und Tannenbäume drauf, obwohl Weihnachten erst in ungefähr drei Monaten ist.
Ibrahim zeigt auf die Marmelade und hält sie mir wieder hin. »Und das? Ist das Moslem?«
»Das ist Erdbeermarmelade«, sage ich.
»Lecker.«
Ibrahim dreht den Deckel ab und schüttet das Glas auf seinem Teller aus.
Eva gackert. Dabei zieht sie ihre Schultern ziemlich weit nach oben. Ihren Hals sieht man gar nicht.
Ibrahim schaut über seine Brillengläser, wobei es eher so aussieht, als würde er mit den Augen hören.
»Lachst du über mich oder was?«
Eva hat aufgehört zu lachen und zupft an ihrer Brille herum. »Nein.«
»Du Hässliche!«, nuschelt er, legt seine Hand auf meine. »Wie heißt du?«
»Per.«
Der ist plötzlich ganz zahm. »Kannst du mir helfen, Per?«
Ich schmiere Ibrahim ein Marmeladenbrot. Das kann sicher nicht schaden. Vielleicht wird er sich mal daran erinnern, wenn er mich gerade kaputt schlagen will, und lässt es dann bleiben.
5. Berni der Einundsiebzigste
Es ist Pause.
»Hey Per!«
»Hallo Per!«
»Hi Per!«
»Per, wie geht’s?«
»Schlag ein, Per!«
Die meisten rennen wie wild über die Flure. Einige jagen sich. Alle kennen mich und alle wollen mich abklatschen.
Birgit redet mit einem Jungen, der nicht behindert ist, da bin ich mir sicher, weil er einen Motorradhelm in der Hand hält. Der kennt mich auch schon. »Na, Per, wie gefällt’s dir hier?«
Ich zwinkere zweimal, so fest ich kann, und nicke dann ganz leicht.
Birgit fährt sich durch die Locken. »Per ist ein richtiges Goldstück, hat Ibrahim vorhin ein Brot geschmiert.«
Fatih kommt aus der Klasse. »Was will der Penner hier?«, fragt er. »Sieh zu, dass du dich verpisst!«
»Tschau, Birgit«, sagt der Typ und verschwindet.
Birgit schaut Fatih böse an.
»Ist doch wahr«, sagt Fatih. »Was traut der sich hier hin?«
»Fatih, er und Elly sind überhaupt –«
»Du brauchst dich gar nich einmischen. Meine Sache. Ich sag nix. Ich sag nur, der soll nich auftauchen.« Fatih scheint diesen Typen nicht besonders zu mögen.
Ich gehe jetzt eine andere Treppe runter als heute Morgen hoch und kann mich nicht erinnern, jemals an einem Ort gewesen zu sein, an dem so viel Bewegung war. Abgesehen von einem Ameisenhaufen. Aber Ameisen tun sinnvolle Dinge, wie zum Beispiel Tannennadeln tragen oder Gänge bauen.
Bio ist eigentlich das einzige Fach, für das ich mich interessiere. Besonders für alles, was unter Wasser lebt. Wie zum Beispiel die Rotbauch-Seefledermaus. Die gehört zu den Fühlerfischen und kann sogar auf dem Meeresgrund kriechen. Ich hab trotzdem ’ne Vier in Bio, weil ich mich zu selten melde. Und die, die sich die ganze Zeit melden, kriegen ’ne Zwei, obwohl die nicht mal wüssten, dass es Seefledermäuse gibt oder der Busch vor der Schule hier Rhododendron heißt oder Ameisen nach dem Arbeitsteilungsprinzip vorgehen. Ich glaube, ich würde eine ziemlich schlechte Ameise abgeben. Den Tisch muss ich zum Glück nicht wieder decken. Freddy wird ab dem Mittagessen für mich übernehmen. Weil er so gerne Per spielt, darf er die ganze Woche vor und nach den Mahlzeiten immer zehn Minuten Per sein, den Tisch decken und wieder abräumen.
Jemand rammt mir voll seinen Ellbogen in die Rippen. Mir schießen Tränen in die Augen. Benjamin, der Küsser, stolpert an mir vorbei. Jetzt bloß nicht heulen, nachher gibt es hier eine Krankenstation, auf der ich untersucht werde, und die merken, dass ich in Wirklichkeit ganz normal bin. Ich halte mich am Geländer fest. Der hat so reingehauen, dass ich Sterne sehe.
Vielleicht gibt das hier auch alles einen Sinn, aber ich bin nicht in der Lage, den zu erkennen. Die meisten auf Ignatius wissen ja auch nicht, warum eine Ameise eine Tannennadel schleppt. Ich muss die Behindertenschule so anschauen wie einen Ameisenhaufen. Auch wenn sie wahrscheinlich das Gegenteil davon ist, nämlich ein planloses Getümmel. Aber vielleicht sieht das unter der Lupe oder dem Mikroskop anders aus. Und wenn ich genau weiß, wie ein Behinderter sich in welcher Situation verhält, kann ich das haargenau so machen und werde nicht auffliegen. Zumindest, solange der echte Per nicht auftaucht. Wo steckt der überhaupt? Oder gibt’s den gar nicht? Das wäre natürlich am allerbesten.
Jonas, der Klassensprecher, steht mit seinem Riesenschädel neben mir und fasst mir vorsichtig in die Seite. »Hast du dir wehgetan?«, fragt er mickymausig.
Ich zwinkere.
»Hast du was im Auge? Zeig mal!« Jonas will mir ins Auge fassen.
»Ich hab nix im Auge.«
»Komm. Ich zeig dir alles.« Er legt einen Arm auf meine Schultern. Ich schiebe ihn wieder runter.
Alles, was er mir erzählt, hat Fatih mir auch schon erzählt. Als ob die Stadtführer oder Museumsmitarbeiter wären, die jeden Tag ihr Programm abspulen.
»Ibrahim ist …«
»… 22«, sage ich.
»Woher weißt du das?«, fragt er. »Kannst du hellsehen?«
»Ja«, sage ich. Und will, dass er das wirklich glaubt.
Hinter der Schule ist ein ziemlich großer Hof. Rechts ist ein kleines Hühnergehege und links weiden eingezäunt ein paar Ziegen. Dazwischen werden wir gerade fast von einem älteren Jungen auf einem Riesenkettcar platt gefahren. Er hat einen Motorradhelm auf, ist aber nicht der, mit dem Birgit vorhin geredet hat.
Hinter der Ziegenweide ist ein Sportplatz mit Toren, Basketballkörben und Tischtennisplatte. Gräser und Brennnesseln wachsen aus der roten Asche.
»Warum spielt hier keiner?«, frage ich.
»Wenn du Hellseher bist, dann weißt du das doch selber.«
Jonas glaubt das echt.
»Hier spielt keiner, weil Sport scheiße ist«, sagt er dann.
»Und warum?«
Jonas winkt ab. »Wirste noch sehen.«
Zwischen Bolzplatz und Turnhalle ist ein großer Spielplatz mit Schaukel, Klettergerüst, Sandkasten, Wippe und so weiter. Hier sind viele von den Jüngeren. Es riecht nach frisch gemähtem Rasen.
Dieter steht mitten auf der Wiese und schlürft aus seiner Kaffeetasse. Er redet auf eine Lehrerin ein, die ständig auf ihre Armbanduhr schaut. Die einzigen Wörter, die ich höre, sind »multifunktional« und »stressresistent« und »Lotuseffekt«. Keins davon verstehe ich so richtig. Außer »multifunktional«. Solange ich noch nicht weiß, welche Behinderung ich genau habe, muss ich mir alle Richtungen offenlassen. Zurzeit bin ich eine Art Multifunktionsbehinderter mit viel offenem Mund und sollte ich bald mal eine Aufgabe gestellt bekommen, werde ich sie so langsam wie möglich erledigen.
Dieter zeigt auf das Emblem an seinem Jackenärmel. »Schweizer Flagge«, sagt er. Er trägt eine Wellensteyn-Jacke, auf die er gerade offensichtlich ein Loblied singt. Mir fällt unser Pastor ein. Der hat nämlich auch so eine Jacke. Einmal, das ist ungefähr zwei Jahre her, haben meine Eltern den sogar zu uns nach Hause eingeladen. Sie waren nämlich plötzlich so verliebt ineinander, dass sie ihr Eheversprechen erneuern mussten. Und dazu brauchten sie den Pastor, auch, wenn sie überhaupt nicht an Gott glauben. Meine Eltern haben extra für den Besuch ein Kreuz an die Wand genagelt und einen Kalender mit Bibelsprüchen danebengehängt, damit der Pastor keinen Verdacht schöpft. Der Besuch verlief richtig scheiße: Der Pastor hat mitbekommen, dass ich bei den Pfadfindern war. Er hat dann erzählt, dass die Kirche zusammen mit der Schützenjugend auch ein Zeltlager anbietet. Für meine Eltern die Gelegenheit, ihre Gottestreue zu untermauern. Meine Pfadfinderzeit war damit vorbei und ich musste ins Zeltlager der Jungschützen fahren. Jeden Morgen um sieben gab es Frühstück. Wer zu spät kam, wurde in die Waschrinne geschmissen und mit kaltem Wasser abgeschreckt. Wie ein gekochtes Ei. Da lag ich am ersten Morgen direkt drin. Nach dem Frühstück riefen die Leiter »Zeltappell!« und die Kinder haben gejubelt und ich hab mich auch gefreut. Es konnte ja nur besser werden. Aber Pustekuchen. Wir mussten die Zelte aufräumen. Inklusive Fegen. Das hätte mal einer den Pfadfindern erzählen sollen. Die hätten ihr Halstuch in die Ecke geschmissen und wären abgehauen. Auf dem kürzesten Weg, auch wenn das bedeutet hätte, durch den Kreis gehen zu müssen.
Wir standen dann in Reih und Glied vor dem Zelt. Ich hab am ganzen Körper gezittert, weil ich ja kurz vorher noch in der Waschrinne lag. Die Leiter haben unter die Luftmatratzen geguckt und bei mir lag noch ’ne Unterhose drunter und in meinen Koffer waren die Klamotten bloß reingestopft. Nicht gefaltet. Wir bekamen Punktabzüge und ich hab Zeltprügel gekriegt. Ich hab dann gesagt, dass ich Durchfall hätte, was ich natürlich nicht hatte, und hab ein Einzelzelt bekommen oder wie die das nannten: »Quarantäne«. Und die ganze Scheiße bloß, weil meine Eltern noch mal heiraten mussten.
Über seine Wellensteyn-Jacke hat der Pastor übrigens einen Satz gesagt, den ich wahrscheinlich nie vergessen werde: »Diese Jacke hält so lange wie eine gute Ehe!«
Die Lehrerin und Dieter stehen mit dem Rücken zum Drehkarussell, das zwei kräftige Schüler mit roten Köpfen und nass geschwitzten Igelschnitten anschieben. Die Jungs haben ihre Jacken schon ausgezogen, so sehr legen sie sich ins Zeug. Mir wird schon vom Zuschauen schwindlig. Sie schreien: »Vollgas!« und trinken gierig aus ihren Monster-Dosen, die neben ihnen im Gras stehen. Und mitten auf der Drehscheibe, im Schneidersitz, sitzt, ganz alleine, mein Sitznachbar Ibrahim, der in ein Selbstgespräch vertieft ist.
»Wird dem gar nicht schlecht?«, frage ich Jonas, der mir ja eigentlich gerade eine Schulhofführung gibt. Ich zucke zusammen. Neben mir steht nicht mehr Jonas, sondern ein anderer Junge. Er hat die Hände in den Hosentaschen und nickt zustimmend, so wie das zum Beispiel alte Männer tun, die sich auch ohne Worte verstehen.
»Kennst du Berni?«, fragt er.
Ich habe echt keine Lust mit dem zu reden.
»Ich kenne Berni.« Er nickt wieder wie ein Rentner, der sowieso jeden kennt.
Ich nicke mit ihm um die Wette. Was soll ich auch sonst machen?
»Du bist Per«, sagt er jetzt.
Wir nicken weiter.
»Berni ist jetzt da.« Er zeigt nach oben.
»Das tut mir leid«, sage ich, obwohl mir das scheißegal ist.
»Ich hab schon einen Neuen.« Wieder nickt der Freak. »’nen Grünen. Der heißt auch Berni. Berni der Zweiundsiebzigste.«
Der Typ ist total spooky. Der hat sich nicht nur so angeschlichen, sondern sieht auch aus wie ein Geist. Weißer Pullover, weiße Hose, weiße Slipper. Blonde, dünne Haare. Er deutet noch mal nach oben. »Guck, Per, guck! Da oben ist er.«
»Stimmt«, sage ich.
»Du guckst gar nicht, Per.«
Ich schau hoch und sehe ganz oben in den Ästen der Kastanie etwas Gelbes.
»Das ist Berni der Einundsiebzigste. Mein einundsiebzigster kanadischer Vogel. Mein ehemaliger kanadischer Vogel.«
»Du meinst wohl Kanarienvogel«, sage ich.
Jetzt legt auch er seinen Arm auf meine Schultern. »Wir fahren jedes Jahr nach Gran Canaria in den Urlaub«, sagt er. »Einmal hat mein Vater versucht, Berni die Toilette runterzuspülen. Das war Berni der Dreiundvierzigste.«
Dieter ruft: »Kommando anhalten!«
Ich kriege Gänsehaut. Dieters Militärton erinnert mich ans Zeltlager.
Das Karussell stoppt. Ibrahim steht auf und geht, wie an der Schnur gezogen, am Tiergehege vorbei ins Schulgebäude. Ich gehe hinterher, wobei ich ein bisschen wanke.
Im Erdgeschoss steht ein Kicker, den keiner benutzt, weil die offensichtlich alle lieber durch die Gegend rennen. Fatih steht alleine da, hat die Arme verschränkt und guckt lässig aus der Wäsche. Ich drehe mich schnell weg und stehe mit dem Gesicht zur Wand. Zum Glück hängt direkt vor mir ein Glaskasten. Also tue ich so, als würde ich da reinglotzen.
»Mach ma was drauf! Sieht widerlich aus!« Fatih drückt mir etwas kleines Weißes in die Hand. »Beste Salbe gegen Ausschlag. Vorher Hände waschen. Viel Dreck hier!«
»Wo hast du denn jetzt so schnell die Salbe –«
»A oder B?«
»B.«
»Vom LKW gefallen.«
Ob der jetzt an der Straße stand und da ist zufällig eine Salbe gegen Nesselsucht vom LKW gefallen? Oder spinnt der komplett?
Fatih deutet mit dem Zeigefinger Richtung Glaskasten. »Guck! Auf Bild sieht man, wie rot Backen sind!« Dann haut er ab.
Im Glaskasten ist ein Foto von mir. Ein bisschen vernebelt, weil die Küchenfrauen so viel qualmen. Unter dem Bild steht dick und fett: PER. Daher kennen mich alle.
Rechts daneben ist ein leerer Rahmen und darunter steht: PAUL.
Mein Gesicht spiegelt sich im Glaskasten. Genau über meinem echten Namen. Ich gehe schnell einen Schritt zur Seite, damit ich mein Spiegelbild nicht mehr sehen muss und stoße gegen den Geist mit den weißen Slippern. Genau wie eben, unter der Kastanie, steht er urplötzlich neben mir.
»Hast du schon Paul gesehen, Per?«, fragt er.
»Eben gerade«, sage ich. »Ganz kurz.«