Die Tyrannei des Schmetterlings

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Inhaltsverzeichnis

Mein Schwarm. Mein Schmetterling. Mein Alles.

(Nach Irving John Good)

Die durchweichte Zeit.

Von April bis Oktober verflüssigt sich die Luft. Wie schwarzblaue Planeten hängen die Regenfronten dann über den Bergen und treiben Richtung Savanne, belebt von geheimnisvollem Leuchten. Windgeister fegen durch einen postatomar gelben Himmel, Vorboten der baldigen Flut. Die Wasserplaneten rücken träge nach, verschlucken Horizonte und Blicke, saugen den Tag in sich auf, bis sie zu einem einzigen, alles umschließenden Schwarz verschmolzen sind.

Ein Grollen wird durch die Wolke gereicht.

Es zieht von Osten nach Westen, als gäben titanische Wesen Kommandos aneinander weiter, die Jenseitigen, Nhialic selbst vielleicht, nun in der Gestalt Dengs. Vereinbarte Zeichen, mit der Reinwaschung der Welt zu beginnen, doch der erste Guss bewirkt wenig. Der rissig gebackene Boden scheint nicht fähig, die Tropfen zu schlucken. Dick und zitternd balancieren sie im Staub, entformen sich jäh und hinterlassen schnell verblassende Flecken auf dem lehmigen Krakelee. Ein eher armseliges Schauspiel angesichts der imposanten Drohkulisse, dann endet der kurze Schauer so plötzlich, wie er eingesetzt hat.

Jedes Geräusch erstirbt.

Es folgt die Stille vor der völligen Auslöschung.

 

Binnen Minuten verwandeln sich unbefestigte Straßen in Schluchten, als sei das Land aufgeplatzt und kehre sein Innerstes nach außen. Tonnen zähen, roten Schlamms quellen hervor, blasig vom Dauergeprassel. Aus Wiesen und Viehgründen drängen Seen, ausufernde, brodelnde Flächen, auf denen Spritzwasserblüten sprießen, dicht an dicht. Was Teil fester Landschaft war, wird zur Insel. In den Elementen wütet jetzt Mascardit, der Große Schwarze, der Tod und Fruchtbarkeit bringt, niemals das eine ohne das andere. Gleich einem rasenden Organismus schießt und windet sich die Flut zwischen Gehölzen und Trockenwäldern hindurch, alles Verdorrte mit sich reißend. Dem Verfall preisgegeben, wird die alte Welt hinweggespült, jede vertraute Struktur aufgelöst, jede Gewissheit getilgt, bis zum Moment spontaner Neuordnung.

Manchmal regnet es tagelang ohne Unterlass.

Dann plötzlich klafft das triefende Wolkengebräu auseinander, so wie jetzt, da makelloses Blau den Himmel zurückerobert. Ein Blau von solcher Tiefe und Intensität, dass die Männer im Schlamm sich unwillkürlich ducken und an ihre Heckler & Koch Gewehre klammern, als könne das Blau sie einsaugen und in die jenseitige Dimension speien.

In Nhialics Reich.

Nhialic, den Menschen entrückt, nachdem Urgöttin Abuk den Himmel von der Erde trennte und niedere Gottheiten ermächtigte, die Geschicke der Dinka zu leiten – man könnte auch sagen, sie hat die Gewalt des Hochgottes unterlaufen, indem sie ihn bestahl, um den Menschen mehr zu geben, als er ihnen zugedacht hatte. Womit sie ihn beschämte und Nhialic beleidigt von dannen zog, aber als Regengott Deng mischt er sich immer noch ein, zum Segen und Verderben aller.

Fast könnte man die Geschichten glauben.

 

Major Joshua Agok ist Anglikaner und glaubt an Jesus, was nach westeuropäischem und amerikanischem Verständnis akute

Verschwindet eine Kuh, wenn man eine Kuh hinzukauft?

Agok zwingt sich, den Blick aus der blauen Kuppel zu lösen.

Wir verlieren uns in Mythen, denkt er.

Und warum? Weil wir uns selber nicht mehr glauben können. Aber an irgendetwas muss man glauben. Es steht viel Gutes in der Bibel, und wer würde widersprechen, dass die Natur von Geistern belebt ist, die Seelen der Verstorbenen in ihr wirken, dass tatsächlich alles, was geschaffen wurde, materieller Ausdruck einer Welt von Geistern ist, die solcherart in unsere Dimension wechseln. Nur, was immer uns Verstand gegeben hat – es kann nicht gewollt haben, dass wir ihn nicht benutzen, um endlich diesen unseligen Bürgerkrieg zu beenden. Andernfalls wäre alles umsonst gewesen. Was wir erlitten und an Leid zugefügt haben, um unsere Vorstellungen von Freiheit durchzusetzen.

Ebendiese Vorstellungen sind jetzt das Problem.

Agok schaut hinter sich.

Kreaturen aus Lehm, blitzende Augen in Schlammgesichtern. Als habe die Erde selbst sich erhoben. Die Legende vom Golem, daran muss er denken, als er seine kleine Streitmacht überschaut. Einhundertzwanzig Golems, bis an die Zähne bewaffnet. Verschwindend wenige gegen Olonys Miliz, die das Gebiet kontrolliert, doch die Besten, die sich finden ließen. Ein Volk, dem man Gewehre in die Hand gedrückt hat, um für seine

Eine kurze Atempause, denkt Agok.

Nicht eingeplant, nicht unwillkommen.

Dann werden sie den Wald verlassen und auf Olonys Stellungen vorrücken.

 

Der Moment, dem sie entgegenfiebern, seit die Helikopter sie vor zwei Tagen abgesetzt haben, mitten im Niemandsland.

Zu Fuß haben sie sich durch den lichten, unterholzreichen Wald bis hierher durchgeschlagen. Abseits der Lehmstraßen, die ohnehin unpassierbar sind um diese Jahreszeit. So hoch oben, im Grenzgebiet zum Norden, hat der Regen die Menschen fast vollständig isoliert. Auf dem Landweg werden die Ortschaften und Gehöfte während der kommenden Monate nicht zu erreichen sein. Im ganzen Staatsgebiet gibt es nur rund fünfzig Kilometer asphaltierte Straße, vornehmlich dazu dienend, der fernen Hauptstadt ein bisschen urbanes Flair zu verleihen. Als sie vor sechs Jahren dort die Unabhängigkeit feierten, galt der von Hütten umstandene, lärmige, bunte Marktflecken mit seinen planlos hineingewürfelten Repräsentationsbauten plötzlich als Hotspot. Ein Staat wurde geboren, und jeder wollte Geburtshelfer spielen. Im Sahara Resort Hotel, der einzig repräsentablen Adresse am Platz, drängten sich Diplomaten, Ölmagnaten, Waffenhändler,

Was für eine Chance wir hatten!, denkt Agok.

Und dann haben wir es vermasselt.

 

Er lugt um den Stamm der Akazie, die ihm Deckung gibt. Vor ihnen erstreckt sich die Savanne. Ein karg bewachsener Rapport aus Buschwerk und einzeln stehenden Bäumen, durchsetzt von strohgedeckten Rundhütten, die den nomadisierenden Viehhirten für die Dauer der Regenmonate als Behausung dienen. Noch letzten Monat sah es hier aus wie auf dem Mars, jetzt treiben leuchtend grüne Matten aus den vollgesogenen Böden, die Baumwipfel belauben sich im Zeitraffertempo, Blüten explodieren in vielfarbiger Pracht, eine Travestie der Schöpfung. Der Geruch frischen Regens zieht heran. Über den Bergen haben sich neue Wolkenungeheuer aufgetürmt und jagen Vogelschwärme vor sich her.

Agok genießt diesen Moment, in dem die Luft von einer Reinheit ist, wie man sie während der Trockenzeiten nie erlebt. Fast

Der Dunst und der Regen werden sie verbergen. Ihre einzige Chance auf offener Fläche.

Die trennt sie noch vom eigentlichen Einsatz. Fünf Kilometer liegen zwischen ihnen und der Stadt, die Olonys Kämpfer besetzt halten, einer Agglomeration von Baracken und Containern am Rand einer riesigen Ölförderanlage, die in der Ebene haftet wie aus einer anderen Welt hineintransplantiert. Der Fluss, den sie auf dem Weg dorthin überqueren müssen, dürfte seit Kurzem auf mehrfache Breite angeschwollen sein, wuchernde Randbewaldung verwehrt den Blick auf das Ölfeld dahinter. Alles, was Agok sieht, sind lose verteilte Viehherden und einzelne Wildtiere, die in Erwartung des nächsten Gusses Baumgruppen ansteuern, ein paar Antilopen, ein Elefantenpaar samt Jungen, die es sich im Schatten eines Baobabs gemütlich gemacht haben und mit den Stoßzähnen an der Rinde kratzen.

Von den paar Satellitenfotos, die ihnen die Amerikaner zur Verfügung gestellt haben, wissen sie in etwa, wie der Warlord seine Leute verteilt hat. Gerade genug Information, um den Typen aus dem Weg zu gehen. Sie offen zu bekämpfen, wäre glatter Selbstmord, ebenso gut könnten sie sich hier gegenseitig an die Bäume knüpfen und stürben mit Sicherheit einen gnadenvolleren Tod. Selbst für das Empfinden hartgesottener Söldner ist Olony ein Teufel, dessen Leute Ortschaften überfallen, Frauen schänden, foltern und verstümmeln, ihre Babys in brennende Häuser werfen und die älteren Kinder in militärische Ausbildungscamps verschleppen. Dort bringt man ihnen bei, allem und jedem mit

Wir müssen dem ein Ende machen, denkt Agok.

Wie konnten wir nur so verrohen?

 

Buschtrommeln zu Glockengeläut, Hupkonzerte, überall Musik. In den Straßen wurde getanzt und der Name des ersten frei gewählten Präsidenten skandiert, ein Charismatiker, listenreich, studiert und weltgewandt. Seinen Stetson, den George W. Bush höchstpersönlich ihm geschenkt hat, trägt er wie eine zweite Hirnschale. Die Straßenlaternen sind mit der neuen Nationalflagge geschmückt, Fassaden verschwinden unter Plakaten der Regierungspartei, die eben noch eine Rebellenarmee war. Plastikblumen säumen den Weg zum Flughafen, wo stündlich Gäste eintreffen, Repräsentanten Chinas, der EU, Amerikas, der Afrikanischen Union, der Arabischen Liga. Dreißig Staatschefs haben sich angesagt, Ban Ki Moon entsteigt seiner Maschine und lacht in die Kameras. Dem Kreisverkehr im Stadtzentrum entwächst ein Pfahl, schwarz lackiert und gekrönt von Leuchtbuchstaben: »Wir waren gemeinsam unterdrückt, jetzt sind wir gemeinsam frei. Fröhliche Unabhängigkeit für alle!«

Nie wird Agok den Tag vergessen.

Fröhliche Unabhängigkeit, denkt er jetzt bitter. Aufbruch! Ein so wunderbares, großes Wort. Oder ein von der Kette gelassener Hund. In Afrika die Chiffre dafür, alte Rechnungen zu begleichen. Stoß uns das Tor zur Zukunft auf, und wir schaffen es, beim Hindurchgehen in der finstersten Vergangenheit zu landen. In den Köpfen gärt der Sündenfall. Es geht um verletzten Stolz und Viehdiebstähle, um Weidegründe, Wanderwege, abgewetzte Mythen. Nhialic hatte zwei Söhne, Dinka und Nuer. Beiden

Die alte Frage, wer angefangen hat.

Keiner, und da liegt der Hund begraben. In unserer dumpfen Erinnerung waren wir immer nur Opfer.

 

Olony einen Dämpfer zu verpassen, wird den Bürgerkrieg nicht beenden. Er ist ein Schlächter unter vielen, doch eine erfolgreiche Offensive würde signalisieren: Wir können vielleicht nicht gewinnen – ihr aber auch nicht.

Also macht endlich Frieden!

Agoks Leute sind Saboteure. Ausgebildet von US-Militärstrategen, die ihnen gezeigt haben, wie man ein System infiltriert und von innen heraus zum Einsturz bringt. Mit Sprengstoff, Brunnenvergiftung, Desinformation. Mit der Waffe nur dann, wenn es unvermeidbar ist, also werden sie alles daransetzen, jeder direkten Konfrontation aus dem Wege zu gehen. Und natürlich wissen sie, dass es trotzdem dazu kommen wird und dass ihre Aussichten, den Einsatz zu überleben, alles andere als rosig sind.

Aber es gibt eine Chance.

Auf jeden Fall eine Chance, ordentlich Schaden anzurichten.

Geduldig sieht Agok zu, wie die Wolken heranrücken. Seine Männer sind jetzt dicht um ihn geschart, ein rot getünchter Organismus, der synchron atmet, bebt und wartet. Bei jeder Bewegung platzen kleine Krusten von ihren Kampfmonturen ab, wo die Sonne den Schlamm getrocknet hat. Dem Augenschein nach hocken sie im Matsch, tatsächlich schwimmen sie auf Öl. Der ganze Süden schwimmt auf Öl. Gründet auf Erzen, Diamanten, Gold

Vielleicht aber auch nur für sich selbst.

Wir sind alle aus dem Busch gekommen, denkt Agok, ohne Vorstellung, was uns von unseren Peinigern unterscheidet.

Jetzt immerhin wissen wir es.

Nichts.

Wir haben den Blutzoll für die Unabhängigkeit entrichtet, um zu erkennen, dass uns sonst keine gemeinsamen Werte einen. Wie auch, da sich Bündnisse aus Stämmen formieren, die historisch in Dauerfehde liegen. Dieser Kontinent gebiert die Rebellion mit der Zwangsläufigkeit, mit der Sonnenlicht Schatten produziert, als könnten wir nur in ewiger Opposition Selbstwertgefühl entwickeln, und nie wird irgendetwas spürbar besser. Na ja. Vielleicht für die, die uns die Waffen liefern. Geld zustecken. Machtwechsel befördern gegen Schürfrechte und Bohrlizenzen. Rebellion und Korruption ergeben einen Kreis. Vor Generationen wurden wir versklavt, heute versklaven wir uns selbst und tun einander umso schlimmer an, was fremde Unterdrücker uns antaten. Nicht der zornigste Regen wird die Ströme von Blut aus dem Boden spülen können, die alleine zwischen Dinka und Nuer vergossen wurden.

Aber vielleicht gewinnen wir ja heute eine kleine Schlacht, um eine große zu beenden.

Er gibt seinen Männern das Zeichen.

 

Geduckt, die Gewehre im Anschlag, treten sie aus dem Schutz des Waldes hinaus auf die Ebene.

Schlagartig kühlt es ab.

Der Dunst wird dichter. Die Savanne wandelt sich zur Scherenschnittkulisse, ein Diorama vieler hintereinandergelegter Schichten. Abstufungen von Grau erzeugen eine theaterhafte Tiefe. Die Antilopen, die am linken Rand des Blickfelds unter die Bäume ziehen, Weißohr-Kobs mit charakteristischer Färbung und Satyrhörnern, sind zu Antilopenskizzen geworden, bloßer Umriss, eigenschaftslos. In der Waschküche fällt es schwer, Entfernungen abzuschätzen, aber Agok kennt die Gegend. Unweit von hier ist er aufgewachsen, einer der Gründe, warum er den Einsatz leitet. Die Wegmarken sind ihm vertraut, allen voran die kolossalen Baobabs, die Affenbrotbäume. Mit ihren ausladenden Stämmen und eigenartig verdrehten Ästen könnte man sie für aus dem Boden brechende Riesenkraken halten, deren erstarrten Armen kleine und immer kleinere Arme und Ärmchen entwachsen. Viele tragen seit Kurzem Blätter, was sie etwas mehr nach Bäumen und weniger nach fremdartigen Kreaturen aussehen lässt, doch der Eindruck des Bizarren bleibt.

Der Teufel selbst, sagt die Legende, habe die Baobabs gepflanzt, mit den Wurzeln nach oben.

Warum? Weil der Teufel so was eben tut.

Agok verzieht die Lippen. Tatsächlich ist das einzig Teuflische am Baobab die Eigenheit seiner Blüten, einen intensiven Verwesungsgestank auszuströmen. Den lieben die Flughunde, die nachts in Schwärmen zur Bestäubung anrücken.

Er kontrolliert die Ausrüstung an seiner Koppel: Messer,

Die ersten Tropfen klatschen in die Ebene.

Sofort nimmt die Sicht rapide ab. In der Ferne kann Agok die verwaschene Silhouette der Elefantenfamilie ausmachen, bevor der Dunst sie auflöst. Die Männer kommen schnell voran. Noch wenige Hundert Meter, bis sich das Gelände sanft hebt, um gleich wieder zum Fluss hin abzufallen. Auf der Kuppe verfilzt sich dichte, hochwachsende Vegetation. Agok hegt keinen Zweifel, dass Olonys Einheiten am gegenüberliegenden Ufer in den Büschen liegen, aber trotz ihrer enormen Mannstärke können sie nicht überall zugleich sein. Es wird unbewachte Passagen geben. Wege für Phantome, um sich durchzumogeln.

Um die Milizionäre dann von hinten zu überfallen –

Nein, ruft er sich zur Ordnung. Auch wenn der Gedanke verlockend ist, wir werden uns an den Plan halten und den offenen Kampf meiden.

So lange es irgend geht.

Der Regen nimmt an Heftigkeit zu, schraffiert die Männer rechts und links von Agok. Verwischt Landschaft, Menschen, Tiere zu einem monochromen Aquarell, ineinanderfließende Schatten auf der jetzt grauen Leinwand des Nebels. Am Fuß der Anhöhe zeichnet sich ein gewaltiger Affenbrotbaum ab, dessen Alter tausend Jahre oder mehr betragen dürfte. In einer titanischen Geste umarmen seine Krakenäste die Wolken, die ihm den Speicher füllen. Baobabs sind lebende Reservoire, sie horten Unmengen Wasser für die Trockenzeit. Dann kommen die

Natürlich kennt Agok auch diesen Baobab, dessen Stamm an der Basis gut und gerne dreizehn Meter umfasst. Er hält darauf zu, während immer dichterer Regen die Sicht verschlechtert und der Boden sich mit einer zähflüssigen, schmatzenden Schicht bedeckt.

Etwas lässt ihn innehalten.

 

Die Flut hat inzwischen wasserfallartige Dimensionen angenommen. Sie rauscht in seinen Ohren und im Hirn, überlagert alle sonstigen Geräusche, doch inmitten des Getöses glaubt Agok – nein, er ist sich völlig sicher! –, einen schwachen Schrei gehört zu haben.

Mehr den Ansatz eines Schreis, sofort erstickt.

Ein Mensch hat geschrien.

Und jemand – etwas – hat ihn abgewürgt.

Er blinzelt, wischt das Wasser aus den Augen. Es gibt hier Löwen, doch Angriffe sind selten. Auch Leoparden und Hyänen treiben sich in der Savanne herum, jagen Zebras, Büffel und Kobs, versuchen mitunter, Jungtiere aus den Viehherden der Nomaden zu reißen. Immer mal kommt es zur Tragödie, doch allgemein bleiben die Wildtiere unter sich. Jeder wird satt – bis auf die Menschen, da das nie endende Schlachten die Bauern daran hindert, Getreide auszusäen. In einem der fruchtbarsten Landstriche Afrikas droht eine Hungersnot historischen Ausmaßes, doch die Tiere kommen über die Runden.

Wo sind seine Männer?

Da. Die paar jedenfalls, die er noch sehen kann. Sie tauchen auf, tauchen ab. Einer geht gleich vor ihm, verschwommen wie ein Tintenklecks vor der ausladenden Masse des Affenbrotbaums.

Einfach so, begleitet von einem dumpfen Schmatzen, als werde etwas Weiches und Feuchtes auseinandergerissen.

Agok fährt herum, dem uralten Impuls folgend, sich einer möglichen Bedrohung von hinten zu versichern, den Abstand zu etwaigen Verfolgern abzuschätzen, obschon der Mann ja direkt vor ihm –

Was? Angegriffen wurde?

Adrenalin schießt in seine Muskeln. Sein Stammhirn bietet in rasender Folge schematische Entscheidungsmuster an, den ganzen evolutionären Katalog. Agok ist stolz auf seine Reflexe. In jeder vertrauten Situation würde er zielgerichtet vorgehen, nur dass nichts hier irgendein Ziel erkennen lässt – falls überhaupt etwas eine Reaktion erfordert, oder stresst er sich einer Sinnestäuschung wegen?

Was genau hat ihn eigentlich alarmiert?

Gar nichts. Der Schrei? Ein Ara. Der Mann vor ihm? Hat sich fallen lassen. Gleich wird er aufspringen und weiterhasten, getreu der Strategie, die Agok den Kerlen eingetrichtert hat.

Er wartet.

Niemand springt vor ihm auf.

Dafür dringt aus dem Nebel ein neuerlicher Schrei, lang gezogen und kaum zu ertragen. Ein Ausdruck äußersten Grauens, hochgeschraubt zu einem schrillen Geheul, bevor er abrupt endet. Im selben Moment lässt die Heftigkeit des Regens nach, und Agok kann es hören –

Hört es in aller Deutlichkeit.

Das andere Brausen.

In einer Aufwallung von Angst, die dem distanzierten Teil seiner selbst peinlich ist, beginnt er zu rennen, dem Affenbrotbaum entgegen, rutscht aus und schlägt der Länge nach in den Matsch. Der Aufprall presst die Luft aus seinen Lungen. Er versucht hochzukommen, doch der Untergrund bietet keinerlei Halt. Für Sekunden hat Agok das schreckliche Gefühl, die aufgedunsene

Es ist nicht einfach nur ein Brausen.

Es ist die Summe vieltausendfacher Präsenz – eine Art Flattern, nur nicht wie von Vögeln – andere, fremdartige Schwingungen, abnorme Muster – anschwellend –

Er rennt schneller.

Was immer da kommt, rast mit der Gewalt einer sich verschiebenden Grenze durch die Nebelschwaden heran, die jetzt kurz aufklaffen wie nach dem Willen eines überirdischen Regisseurs, der will, dass Agok einen Blick erhascht, und sich wieder schließen, weil sein Verstand kaum in der Lage wäre, den Anblick zu verarbeiten und er wahrscheinlich verrückt darüber würde. Die Schreie seiner Männer kommen nun von überallher. Agok hört sie sterben, verliert erneut den Halt und sieht im Fallen die Schwaden auseinanderwirbeln und das Laubdach des Affenbrotbaums freigeben. Die äußeren Geflechte sind durchsetzt von Kokons, unglaublich fein gesponnenen Kunstwerken, deren Erbauer die Blätter mit eingearbeitet haben: Weberameisen, die ihre Nester in Büschen und Baumkronen errichten. Jeder Kokon birgt ein ganzes Volk, geschart um seine Königin. Manchmal überfällt ein Volk das andere, dann fressen sie die Artgenossen auf, und es erscheint Agok im Straucheln wie die Versinnbildlichung seines eigenen, sich zerfleischenden Volkes – mit dem Unterschied, dass die kalte Intelligenz der Ameisen Sieger kennt und der Kontinent, auf dem er das Pech hatte, geboren zu werden, nur Verlierer.

Fäulnis und Leben sind eins.

Der Boden atmet, gepanzerte Heerscharen folgen erratischen Plänen, zwischen vom Sturm abgerissenen Blättern schillern die Leiber aasfressender Käfer. Gottesanbeterinnen lauern auf Beute, reglos. Sie werden noch an derselben Stelle sitzen, wenn wir einander ausgelöscht haben, denkt Agok. Und keine Zeit wird vergangen sein. Der Regen wäscht jede Zeit hinweg. Meine Existenz wird weniger als ein Wimpernschlag gewesen sein.

Etwas klatscht neben ihm gegen den Stamm.

Er wendet den Kopf.

Nie zuvor hat er etwas Derartiges gesehen.

Die Dinger sind überall.

Seine Knöchel treten hervor. Er umkrallt das Gewehr, als sei es ein Geländer, die einzig verbliebene Barriere zwischen ihm und dem Abgrund, der an ihm zerrt. Mit der Beharrlichkeit eines automatischen Funkfeuers sendet sein Verstand Signale aus: Kauere dich zusammen. Schütze den Kopf mit den Armen. Versuche, in die Höhlung zu gelangen.

Doch er ist viel zu verblüfft, um den Blick abzuwenden.

Hebt den Arm, um das Ding vom Baum zu wischen.

Es springt ihn an.

Agok schreit auf, als es sich in seine Nase verbeißt und sich blitzschnell über den Wangenknochen windet. In Panik versucht er, es von seinem Gesicht zu ziehen. Es stülpt sich über seine linke Augenhöhle, reißt den Augapfel heraus und arbeitet sich in seinen Schädel. Halb wahnsinnig vor Schmerz und Entsetzen taumelt Agok umher, seine Beine zucken, rücklings stürzt er in die modernde Höhle des Baobabs.

Das Letzte, was er registriert, ist die Woge glühender Pein, als weitere der Dinger auf seinem Körper landen und beginnen, ihn aufzufressen.