Über dieses Buch:
Wer eigene Pläne schmiedet, dem kommt das Schicksal in die Quere … Anna freut sich darauf, ihre erste Stelle als Tierärztin anzutreten, aber vorher will sie den Duft der großen weiten Welt schnuppern. Liebend gerne nimmt sie das Angebot der gestrengen Viktoria von Lichtenfels an, sie nach Südafrika zu begleiten – dort will die Gräfin ihren Sohn zur Vernunft bringen: Es wird Zeit, dass Frank auf den Familiensitz zurückkehrt und Verantwortung übernimmt! Der charmante Naturbursche hat allerdings wenig Interesse daran, ein standesgemäßes Leben zu führen. Kein Wunder, dass es zwischen ihm und seiner Mutter zu Reibereien kommt. Und auch zwischen Frank und Anna fliegen bald die Funken – allerdings aus anderen Gründen …
Dramatische Ereignisse, große Gefühle und eine Liebe, die eigentlich keine Zukunft haben kann: Ein Roman aus dem Nachlass der beliebten Bestsellerautorin Christa Canetta!
Über die Autorin:
Dieser Roman ist etwas ganz Besonderes, da drei Generationen ihn geprägt haben: Christa Canetta war das Pseudonym der deutschen Journalistin und Bestsellerautorin Christa Kanitz (1928–2015). In ihrem Nachlass fanden ihre Töchter – darunter die erfolgreiche Autorin Brigitte D’Orazio – unvollendete Romane und Entwürfe, denen sie gemeinsam den letzten Schliff verliehen und die nun unter dem Namen von Christa Kanitz‘ Enkeltochter Virginia veröffentlicht werden.
Von Christa Canetta erschienen bei dotbooks »Das Leuchten der schottischen Wälder«, »Schottische Engel«, »Schottische Disteln«, »Die Heideärztin«, »Die Heideärztin unter dem Kreuz des Südens« und »Eine Liebe in Frankreich«; unter dem Namen Christa Kanitz erschien bei dotbooks der Roman »Die Liebe der Kaffeehändlerin«.
Unter dem Namen Virginia Canetta erschienen bei dotbooks die Romane »Im Land der roten Erde« und »Sommerwind über der Heide«.
Brigitte D’Orazio veröffentlichte bei dotbooks die Romane »Die Sterne über Florenz«, »Villa Monteverde« und »Verliebt auf dem Land« sowie die Kurzromane »Fundstücke des Glücks«, »Kapitäne küsst man nicht« und »Ti amo heißt Ich liebe dich« – diese Romane sind auch als Sammelband mit dem Titel »Zum Träumen romantisch« erhältlich – sowie »Das Haus in Portofino«, »Der Fünf-Sterne-Kuss«, »Geliebte Träumerin«, und »Sing mir das Lied von der Liebe«, die auch als Sammelband mit dem Titel »Zum Verlieben schön« erhältlich sind.
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Originalausgabe Januar 2018
Copyright © der Originalausgabe 2017 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redaktion: Rabea Güttler
Titelbildgestaltung: www.buerosued.de unter Verwendung eines Bildmotivs von © ILINA SIMEONOVA / Trevillion Images
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)
ISBN 978-3-95824-937-0
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Virginia Canetta
Jenseits der Grillenbäume
Roman
dotbooks.
In liebender Erinnerung
an unsere Mutter Christa Canetta.
Brigitte D’Orazio, Christine Lundgren, Ulrike Richter
Das Licht brach sich im satten Grün der Bäume auf der Uferpromenade. Es roch bis zu uns herüber nach heißem Asphalt. Wenige dunstige Wolken hockten weit draußen über dem Meer.
Kapstadt – unzählige verschiedene Menschenschläge, unzählige Sprachen, unzählige Religionen. Eine interessante, vielseitige, heitere Stadt.
Gräfin Viktoria von Lichtenfels hielt sich an der Reling fest und schaute in das Häusermeer hinüber, das unser Schiff mit den ausgebreiteten Armen seiner Bucht willkommen hieß. Ich stand hinter ihr und beobachtete sie. Die vorspringende, schön gemeißelte Nase, die weit auseinanderstehenden, großen, dunklen Augen und das schwere, weiße, auf dem Kopf hochgesteckte Haar – das alles war mir auf dieser Schiffsreise vertraut geworden.
»Komm doch einfach mit, Anna«, hatte sie vor ein paar Monaten gesagt.
Sie wäre bereit gewesen, alle Kosten für mich zu übernehmen. Aber mir war das unangenehm. Obwohl es mir zeitlich sehr gelegen kam – gerade 27 geworden, wäre ich gerne noch gereist, bevor der Ernst des Lebens begann. Bald schon würde ich eine Stelle in einer Praxis für Großtiere antreten, mitten auf dem platten Land in Schleswig-Holstein. Ich freute mich darauf, aber mir war auch klar, dass ich dann für längere Zeit keinen Urlaub erwarten durfte. Wenn nicht jetzt, wann dann?, fragte ich mich daher. Besonders Afrika reizte mich, nachdem ich die wilden Tiere während des praktischen Jahres im Zoo, das ich vor Kurzem beendet hatte, von Nahem kennengelernt hatte. Ich hätte vieles dafür gegeben, ihre Artgenossen in freier Wildbahn zu erleben, aber ich wollte meine Freundschaft mit der Gräfin nicht durch den finanziellen Druck gefährden. Dafür mochte ich die alte Dame zu gerne.
Als ich ihr das sagte und dankend ablehnte, hatte sie die Augen verengt und mit den Fingern ungeduldig auf den Tisch geklopft. Sie schien von meiner Absage wirklich ungehalten zu sein, was mich wunderte. Sie würde mit Chauffeur und Dienstmädchen fahren, es war also nicht so, als wäre sie alleine.
Schließlich hielt die Gräfin inne und fixierte mich mit ihrem Blick. »Dann stelle ich dich als meine Assistentin ein. In dieser Rolle wäre es dein Job, mich zu begleiten, und natürlich würde ich deine Reisekosten übernehmen und dir gleichzeitig deine Arbeit bezahlen.«
Das Angebot war zu verlockend, daher nahm ich es an, wenn ich auch das Extragehalt ablehnte. Und im Stillen fragte ich mich, was ich mir bloß unter der Rolle einer Assistentin vorstellen sollte. Welche Termine sollte ich schon für sie organisieren, und konnte sie ihr bisschen Korrespondenz nicht allein schaffen? Ich nahm mir aber vor, mich während der Reise um die Gräfin zu bemühen und ihr so viel wie möglich abzunehmen, damit mein Dasein begründet war.
Zuerst hatte ich angenommen, dass sie mich wie zu früheren Zeiten als Gesellschafterin dabeihaben wollte. Mein Vater Friedrich Reiderwald war Förster in einem großen Waldgebiet, zu dem auch Gut Langenmark gehörte, das sich im Besitz derer von Lichtenfels befand. Zwar war unsere Familie nicht der Gräfin unterstellt, doch ich hatte schon immer gern Zeit mit ihr verbracht und ihr kleine Gefälligkeiten erwiesen. Wie sich nun auf der Schiffsreise herausstellte, war sie kein geselliger Mensch, wodurch ich viel Zeit hatte, um mich mit anderen Reisenden anzufreunden oder einfach nur faul in einem Liegestuhl zu liegen.
Meine Arbeitgeberin brauchte mich nur bei diversen Migräneanfällen sowie bei Magenbeschwerden. Obwohl ich mehrfach betonte, ich sei Veterinärin, hielt sie mich offenbar für kompetent genug, ihr bei ihren Zipperlein beizustehen. Ich fand einen Ausweg, indem ich mich regelmäßig mit dem Schiffsarzt beriet.
Entgegen meinen Erwartungen über meine Aufgaben, wusste ich inzwischen, dass die Gräfin mich außerdem als Blitzableiter brauchte, wenn sie sich über ihren Sohn aufregte. Er lebte hier in Südafrika und war der Grund, warum wir überhaupt auf diesem Schiff unterwegs waren. Auch wenn ich durch die Gespräche mit der Gräfin erfuhr, dass sie ihn noch nie in Afrika besucht hatte. Als ich sie fragte, was sie dazu gebracht hatte, jetzt eine Ausnahme zu machen, hatte sie lediglich erwidert: »Ich werde nicht jünger. Es wird Zeit, dass der Querkopf« – so nannte sie ihren Sohn – »nach Hause kommt.«
Nach und nach hatte ich erfahren, dass der »Querkopf« gegen den Willen seiner Familie hierher ausgewandert war, eine kleine Farm übernommen und eine Südafrikanerin mit englischen Vorfahren geheiratet hatte.
Seine Frau war gestorben, als die gemeinsame Tochter Kathy noch ein Baby gewesen war. Woran, wusste ich allerdings nicht. War es ein Unfall gewesen? Oder eine Krankheit? Gräfin Viktoria schwieg sich darüber aus. Vielleicht wusste sie es selbst nicht. Viel Kontakt hatte sie offensichtlich nicht zu ihrem einzigen Sohn.
Auf jeden Fall sah sie es jetzt als ihre Pflicht an, ihn endlich zu einer Rückkehr nach Deutschland zu bewegen.
»15 Jahre habe ich ihm gelassen, sich hier unten auszutoben«, erklärte sie einmal. »Nun wird es Zeit, dass er zur Besinnung kommt und unseren Besitz in Deutschland übernimmt, damit ich im Alter endlich entlastet werde. Frank ist jetzt 35. Er muss endlich zur Vernunft kommen!«
Daraufhin hatte sie einen ihrer überlangen Zigarillos angesteckt und sich verärgert in ihren Deckstuhl zurückgezogen.
Nach den verschiedensten Zornausbrüchen seiner Mutter war ich nun extrem gespannt auf die erste Begegnung mit diesem Mann. Ich konnte es kaum abwarten, mir selbst ein Urteil zu bilden.
Insgeheim bewunderte ich ihn. Es gehörte schon einiges dazu, sich in einem fremden Land eine neue Existenz aufzubauen. Frank von Lichtenfels hätte in der Heimat ein bequemes Leben führen können. Aber er hatte sich für das Abenteuer in der Ferne entschieden. Und er hatte sich der herrischen Gräfin widersetzt. Dafür bewunderte ich ihn vielleicht am meisten.
Abgesehen von den gelegentlichen Tiraden meiner Arbeitgeberin, war die Reise von Hamburg nach Kapstadt herrlich, und ich genoss sie in vollen Zügen. So weit war ich noch nie in der Welt herumgekommen, und vielleicht würde ich nie wieder Gelegenheit dazu bekommen. Ob es mir fehlen würde? Ich wusste es nicht, ahnte jedoch in meinem Inneren, dass mir dieses Abenteuer vorerst genügen würde. Ich war ein Mädchen vom Land, fest verwurzelt in seiner Heimat, und nach dem langen Studium war ich gespannt auf meinen künftigen Arbeitsalltag.
Zuvor jedoch sollte eine andere Aufgabe auf mich warten, wenn es nach dem Willen von Gräfin Viktoria ging. Auf der Rückreise sollte ich mich um Kathy kümmern, Franks inzwischen sechsjährige Tochter. Dem unbekannten Enkelkind gehörte die ganze Liebe und Sehnsucht der alten Frau. Irgendetwas an der Kleinen schien der Gräfin Sorgen zu bereiten, aber ich fand nicht heraus, was es war. Ich sah nur, wie sich die Stirn der Gräfin umwölkte, wenn sie von ihr sprach.
Von dem »Querkopf« sprach sie wesentlich seltener.
Je näher wir unserem Ziel kamen, desto mulmiger wurde mir zumute. Der Querkopf hatte nämlich keine Ahnung von unserem Kommen. Auf was hatte ich mich da bloß eingelassen?
»Vielleicht flüchtet er mit dem Kind in den Busch, wenn er erfährt, dass seine resolute alte Mutter im Anmarsch ist«, hatte Mama augenzwinkernd vermutet.
»Mach unsere Anna nicht verrückt, Christa«, hatte daraufhin Papa gemahnt.
Aber Mama hatte dennoch hinzugefügt, dass sie mich um das Vergnügen beneide, den Zusammenprall dieser beiden Dickköpfe aus der Nähe zu erleben. So ganz konnte ich ihre Meinung nicht teilen. Ein bisschen fürchtete ich mich sogar vor dem Zusammentreffen zwischen Mutter und Sohn. Ich wusste nicht, ob ich als Pufferzone was taugen würde. In dem Jahr, in dem Frank Lichtenfels seine Heimat verlassen hatte, war ich noch ein Kind gewesen. Meine Eltern hingegen konnten sich offenbar gut an den eigensinnigen jungen Mann erinnern. Und beide sorgten sich um mich, obwohl Mama ihre Witze machte und Papa lieber schwieg. Ich konnte es ihnen einfach ansehen.
Als ich nun hinter der Gräfin an Deck stand und sie beobachtete, fielen mir wieder die Worte ein, mit denen sie mir ihren Sohn beschrieben hatte: »Groß wie ein Schrank, schwarzhaarig und mit einem Schädel, der nur mit Trotz gefüllt scheint – weiter gibt es über ihn nichts zu sagen!«
Viktoria von Lichtenfels war eine hochgewachsene Frau, hager und 75 Jahre alt. Ihre langen, mit diversen Ringen geschmückten Hände lagen locker auf der Reling. Sie war Hauptsponsorin des Zoos an der Trave, der an ihr Anwesen grenzte und in dem ich mein praktisches Jahr absolviert hatte.
Anscheinend wurde ihr berichtet, dass ich gute Arbeit leistete. Sie lud mich immer häufiger zu einem Gespräch aufs Gut ein, oder wir spazierten gemeinsam durch den Zoo, und ich erklärte ihr die verschiedenen Krankheiten der Tiere, um die ich mich kümmerte. So knüpften wir an unsere ungewöhnliche Freundschaft aus meiner Kindheit an, die unterbrochen worden war, als ich zum Studium an der Tierärztlichen Hochschule nach Hannover gezogen war. Anfangs nannte sie mich noch korrekt »Doktor Reiderwald«, aber bald schon ging sie zum gewohnten Du und zu »Anna« über. Manchmal nannte sie mich sogar Tochter, da ich ihr mittlerweile wie eine solche ans Herz gewachsen sei. Ich hatte nichts dagegen. Aus Respekt vor ihrem Titel blieb ich aber beim Sie. Viktoria von Lichtenfels war eben noch von der alten Schule, die Wert auf so was legte.
Als sich mein Praktikantenjahr dem Ende zuneigte, plante die Gräfin ihre Reise nach Südafrika. Da sie unter Flugangst litt, entschied sie sich für eine Seereise.
So kam es, dass ich mich auf diesem Schiff befand und den traumhaften Blick auf den Tafelberg und die zwölf Apostel genießen konnte.
Geisterhafte Wolken tauchten am ansonsten blauen Himmel auf, und plötzlich hüllte ein Sprühregen, so leicht wie Tau, Schiffe, Hafen und Menschen ein und zwang uns, das Anlegemanöver vom Salon aus zu betrachten.
Gerda, das dicke Dienstmädchen und dabei schon lange kein Mädchen mehr – sie war fast so alt wie die Gräfin selbst –, stand mit dem Handgepäck bereits in der Nähe der Gangway. Um alles andere kümmerte sich Klaus, der Chauffeur, den die Gräfin ebenfalls aus Deutschland mitgebracht hatte. Nur auf den eigenen Mercedes hatte sie verzichtet, da die Autovermietung ihr versprochen hatte, den gleichen Wagentyp hier in Kapstadt für sie bereitzustellen. Die Gräfin war daran gewöhnt, alles nach ihrem Willen zu bekommen. Die wenigsten Leute stellten sich ihr entgegen.
Ich ließ sie vorgehen und setzte kurz darauf zum ersten Mal einen Fuß auf südafrikanischen Boden. Und trotz der Sonne, die inzwischen die vereinzelten Wolken wieder verscheucht hatte, überlief mich ein erwartungsvolles Schaudern.
Im Table Bay Hotel waren Zimmer für uns reserviert worden. Vom Balkon aus hatte ich einen herrlichen Blick über das Meer und hinüber zum Tafelberg im Osten. Außerdem war die Hafeneinfahrt zu sehen, und ich verfolgte jedes Mal mit größter Spannung die An- und Ablegemanöver der riesigen Kreuzfahrtschiffe und lauschte den laut aufheulenden Sirenen. Leider kam regelmäßig nachmittags ein kräftiger Südostwind auf, sodass ich die Flügeltüren des Balkons schließen musste.
Gräfin Viktoria hatte eine ganze Suite gemietet, und ich bewohnte davon das kleinste Zimmer. Gerda und Klaus waren in einem anderen Teil des Hotels untergebracht. Meine Vorzugsstellung passte nicht ganz zu dem Bild der Assistentin, das ich versuchte, aufrechtzuerhalten, aber beschweren würde ich mich sicherlich nicht. Und Gerda und Klaus waren gutmütig genug, dass sie mir die schöne Reise gönnten. Gräfin Viktoria schien meine »Anstellung« gänzlich vergessen zu haben; Fremden gegenüber stellte sie mich als Freundin vor. Die grinsten oft vergnügt, wenn sie uns zusammen sahen, war ich doch vom Aussehen sowie vom Charakter her das genaue Gegenteil der mürrischen, rechthaberischen alten Dame.
Natürlich konnte ich – wenn erforderlich – auch resolut sein; viel lieber aber versuchte ich, Konfrontationen zu vermeiden, und war meist gut gelaunt; ein Erbe meines Vaters, der aus dem Rheingau stammte. Von ihm hatte ich auch das schwarze Haar, die dunklen Augen und die schmale Figur. Von meiner Mutter, die auf einem Gut in Mecklenburg aufgewachsen war, hatte ich meine Fähigkeit, fest mit anzupacken, und meine langen Beine.
Ich war keine Schönheit, aber auch kein hässliches Entlein – nichts an mir war auffallend, aber alles war zufriedenstellend. Jedenfalls war es das für mich.
Gräfin Viktoria hatte eine Woche Aufenthalt in Kapstadt vorgesehen. Wir sollten uns akklimatisieren und einkaufen. Sie hatte darauf bestanden, nur mit leichtem Gepäck zu reisen.
»Wir kaufen alles in Kapstadt«, hatte sie erklärt. »Dort weiß man besser als in Hamburg, was wir für unsere Fahrt nach Beaufort West brauchen werden.«
Kapstadt gefiel mir sehr, obwohl es mich auch traurig stimmte. Es gab moderne, interessante, aufgeschlossene Bezirke, und es gab die Townships, die von Armut und Hoffnungslosigkeit zeugten.
Eine Stadt, ein ganzes Land der Gegensätze.
Zur Erholung gingen wir an die Waterfront oder in den Company’s Garden, Kapstadts grüne Oase, wo wir den Duft von Rosen und Jasmin genossen.
Wir besuchten ein riesiges Shopping- und Vergnügungsviertel auf einem Pier direkt am Wasser sowie einige Museen. Wir unternahmen einen Ausflug nach Hermanus, wo man die Wale vom Strand aus sehen konnte. An einem anderen Tag fuhren wir mit der Seilbahn auf den Tafelberg. Und gegen Ende der Woche besuchten wir noch die Penguin Colony bei Boulders.
Mit größtem Vergnügen zog Gräfin Viktoria tagtäglich durch die Stadt. Und das meist zu Fuß. Die dicke Gerda, müde, atemlos und schwitzend, als Nachhut. Klaus als Wegbereiter und Respektsperson vorneweg. Und mich neben sich, an der Seite, an der sie die Tasche mit dem Geld trug.
Auf diesen Streifzügen lernte ich eine ganz veränderte Gräfin Viktoria kennen. Aufgeschlossen und angeregt hatte sie sich vorgenommen, in dieser einen Woche ganz Kapstadt, alle Sehenswürdigkeiten und das Temperament der Stadt, ihre Vergangenheit, ihre Träume für die Zukunft, alle Launen, Leiden und Freuden kennenzulernen.
Aber diesen Eindruck von ihr hatte man nur draußen auf den Straßen. Sobald wir wieder im Hotel waren, kam die ernste Miene zum Vorschein, und mit einem Zigarillo versehen, zog sich die Gräfin gegen Abend in den Rauchersalon am Anfang der Hotelhalle zurück. Ich vermutete, dass sie in diesen Augenblicken wieder an ihren Sohn dachte und sich unzählige Möglichkeiten überlegte, ihn zur Heimkehr zu bewegen.
Ich selbst verbrachte diese Stunden damit, mich mit anderen Hotelgästen zu unterhalten. Es machte mir Spaß, Geschichten aus aller Welt zu hören, und ich fühlte mich wie ein echter Globetrotter. Vor männlichen Gesprächspartnern allerdings warnte mich die Gräfin, wenn sie mich dabei beobachtet hatte, wie ich angeregte Unterhaltungen führte. »Tochter«, sagte sie dann, »lass die Finger von den Männern, die taugen nichts.«
»Aber ich rede doch nur mit ihnen«, verteidigte ich mich. »Ich werde doch hier so weit weg von zu Hause nichts mit jemandem anfangen.«
»Das ist gut. Halt sie dir nur vom Leib!« Sie zwinkerte mir zu. »Ich verrate dir einen Trick, Tochter: Wenn dir ein Mann etwas sagen möchte, lass ihn nicht zu Wort kommen, rede immerzu, irgendwann gibt er dann schon auf.«
Seltsame Strategie, dachte ich. Und was interessiert sie überhaupt mein Liebesleben? Nicht, dass es da viel Nennenswertes gegeben hätte. Eine erste Liebe in der Schulzeit, dann eine Beziehung in Hannover, die an den Belastungen meines Studiums zerbrochen war. Wenig mehr. Manchmal fragte ich mich, ob ich noch einmal Glück in der Liebe haben würde. Ja, ich liebte meinen Beruf, aber ich sehnte mich auch nach einem Partner. Na, hier am Ende der Welt würde ich ihn ohnehin nicht finden. Ich lächelte in mich hinein und lauschte weiter den Ratschlägen der alten Dame.
»Lach niemals über seine Witze«, fuhr sie fort, »gib ihm niemals recht, sag immer, dass du andere Männer anziehender findest, lache ihn bei jeder Gelegenheit aus und bestelle immer die teuersten Drinks, auch wenn er kein Geld hat. Dann siehst du schon, wie schnell er dich in Ruhe lässt. Männer taugen nichts, glaub mir, Tochter!«
Amüsiert tat ich so, als würde ich mir ihre Worte zu Herzen nehmen. Wie sollte ich ihr auch erklären, dass ich in Wahrheit eine Idealistin war? Dass ich an die große, die einzige Liebe glaubte? An einen Mann, der mich, und wirklich nur mich meinte? Der im Traum nicht auf die Idee käme, sich nach anderen Frauen umzusehen?
Ich ließ es lieber bleiben. Sie würde mich wahrscheinlich nicht verstehen. Selbst dann nicht, wenn ich ihr erklärte, dass meine Eltern mir für meinen Traum von Liebe als Beispiel dienten. Christa und Friedrich Reiderwald waren seit mehr als 30 Jahren das glücklichste Paar, das ich kannte.
Nach einer Woche brachen wir auf. Diesmal mit Kisten und Koffern so sehr beladen, dass der Mercedes gegen einen Range Rover getauscht werden musste.
Wir fuhren in die Great Karoo bis Beaufort West. Wir nahmen die N1, die bis Worcester zur Autobahn ausgebaut war und dann in eine gut befahrbare Fernverkehrsstraße mündete. Es waren etwas mehr als 500 Kilometer, und wir brauchten etwas mehr als acht Stunden für die Strecke.
Die Straße führte anfangs an unzähligen Townships vorbei und ab Worcester fast ausnahmslos durchs Gebirge. Ich war überrascht von der Vielfalt der Landschaft. Rollende Hügel wurden von Viehweiden, Farmhäusern, Weinplantagen und Weizenfeldern unterbrochen. Dort, wo das Land nicht bebaut und nichts angebaut wurde, waren die Hügel von niedrigen, fichtenähnlichen Nadelbäumen überzogen.
Doch obwohl mir die überwältigende Landschaft immer wieder den Atem nahm, setzte sich ein Knoten in meinem Magen fest, je näher wir unserem Ziel kamen. Die Gräfin schimpfte fast die ganze Fahrt über, ließ kein gutes Haar an ihrem Sohn und vergiftete die Stimmung im Wagen. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich einfach ausgestiegen und weggelaufen. Ich war mir plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, die Gräfin zu begleiten.
Hinter Beaufort West verließen wir die Hauptstraße nach Norden, bogen westwärts ab und ließen das Nuweveld-Gebirge im Süden liegen. Die Straße führte durch den Karoo-Nationalpark über den Rosesberg-Pass. Ich erblickte aus der Ferne eine Elefantenherde und eine Giraffenmutter mit ihrem Kalb und riss vor Staunen die Augen auf. Über den Molteno-Pass ging es dann weiter bis nach Rosedene.
Hier, durch mehrere Gebirgszüge vom Meer getrennt, spürten wir zum ersten Mal das wirkliche Klima Südafrikas.
Außerhalb des kleinen Ortes Rosedene befand sich die Lichtenfels-Farm. Ich entdeckte ausgedehnte Maisfelder, Weinberge und weitläufige Weiden, auf denen Schafe grasten. Vor Staunen bekam ich den Mund nicht mehr zu. Ich wusste nicht genau, was ich erwartet hatte, aber mit Sicherheit keine so ausgedehnten Ländereien.
»Gehört das alles zur Lichtenfels-Farm?«, fragte ich die Gräfin.
Sie nickte nur schweigend und mit umwölkter Stirn.
Gleich darauf passierte der Wagen einige hölzerne Nebengebäude, Stallungen, Scheunen und diverse Schuppen. Dann fuhren wir vor dem Farmhaus vor, und nun verstummte auch ich. Das hatte ich auch nicht erwartet! Vor meinen Augen erhob sich ein großes, weiß gestrichenes Haus in T-Form. Haus? Nein! Eine Villa! Über dem zentral gelegenen Haupteingang thronte ein wunderschöner runder und reich geschmückter Giebel. Rechts und links des Eingangs entdeckte ich romantische Sprossenfenster sowie Verandatüren, und das Reetdach erweckte beinahe heimatliche Gefühle, die Erinnerungen an eine Reise nach Holland mit meinen Eltern hervorriefen.
Ich war mehr als nur ein bisschen durcheinander bei dem Anblick, der sich mir bot. Die Gräfin zeigte Erbarmen. »Diese Villa wurde im kapholländischen Stil erbaut«, erklärte sie mir. »Der Querkopf hat mir vor Jahren in einem Brief davon berichtet. Die niederländischen Siedler haben im 17. Jahrhundert ihre Architektur mit ans Kap gebracht.«
»Aber sie ist so groß!«, sagte ich immer noch staunend, während ich die schmale Veranda an der Vorderseite betrachtete.
Die alte Dame hob die Achseln. »Viele Siedler sind reich geworden und bauten sich immer größere und prachtvollere Häuser. Dieses hier ist tatsächlich besonders schön. Meines Wissens war es halb verfallen, als mein Sohn sich darangemacht hat, es zu renovieren.«
Da uns niemand erwartete, trafen wir auf sehr überraschte und anfangs abweisende Angestellte. Wir waren staubig und erschöpft, und ich fürchtete schon, man würde uns gleich wieder zurückschicken. Doch ihre Mienen hellten sich sofort auf, als sie erfuhren, dass es sich bei einem der unerwarteten Gäste um die Mutter von Frank von Lichtenfels handelte. Daraufhin überschlugen sie sich fast, uns einzulassen.
Zum Eingang führten ein paar Stufen hinauf. Wir durchquerten eine Art Vorderraum, von dem die Türen zu den Flügeln und den übrigen Räumen abgingen. Die Gräfin fragte in herrischem Tonfall nach ihrem Sohn, musste aber erfahren, dass er sich auf einer Nachbarsfarm befand.
»Und wo ist meine Enkelin?«, erkundigte sie sich, erntete jedoch nur allgemeines Kopfschütteln.
Seltsam, dachte ich. Außerdem glaubte ich hinter einer fast mannshohen Bodenvase einen kleinen Schatten zu sehen, der sich schnell duckte, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein.
Der Butler – ein waschechter Butler! – teilte uns Zimmer zu, und nach einer kleinen Erfrischung konnte sich jeder zurückziehen.
Ich ging in mein Zimmer und schaute mich um. Es war einfach, aber praktisch eingerichtet, mit Möbeln aus dunklen, einheimischen Hölzern. Vor einer weiß gepolsterten Sitzgarnitur war ein schwerer, reich geschnitzter Couchtisch positioniert, zwei dazu passende Stühle standen an der Wand; ein Schrank im selben Stil und ein großes weißes Bett mit Moskitonetz rundeten den Raum ab. Gardinen und Bettüberwurf waren aus zartem Stoff in einem rosa Farbton. Mir gefiel das Zimmer sehr. Schnell schälte ich mich aus den Sachen, die ich den ganzen Tag getragen hatte. Ein hellgrünes T-Shirt und ein Paar Kaki-Shorts landeten in einer Ecke.
Dann ging ich ins Bad. Eine zweite Tür führte anscheinend in ein anderes Schlafzimmer. Ich stellte sicher, dass die Tür von meiner Seite aus abgeschlossen war, und ließ dann das kochend heiße Wasser in die Badewanne ein. Es zischte, strömte und sprudelte nur so. Sofort waren Spiegel, Gläser und Kacheln mit Dunstschleiern überzogen.
Ich spülte mir die Müdigkeit aus den Knochen. Genießerisch schöpfte ich die Wärme über meinen Körper, bis er glühte und meine Haut rosig anlief.
Dann stellte ich die Dusche an, rekelte mich in den Dampfwolken und erstarrte zum Abschluss in einem eiskalten Strahl.
Nun war ich einigermaßen fit.
Die Entspannung tat mir gut. Irgendwann schaute ich auf meine Armbanduhr, die ich neben der Badewanne auf einen Schemel gelegt hatte, und setzte mich hastig auf, sodass das Wasser beinahe überschwappte. Es war fast Zeit fürs Essen – und die Gräfin hasste es, wenn man sich verspätete.
Ich kletterte hastig aus der Badewanne und sah mich um. Nirgendwo waren Handtücher. Mist. Warum hatte ich vorher nicht nach welchen gefragt? Aber ich erinnerte mich, in meinem Zimmer einen Leinenschrank gesehen zu haben. Dort würde ich sicherlich fündig werden. Wenigstens war das Zimmer direkt nebenan, und so wurde es mir erspart, triefend vor Nässe über den Flur zu huschen – und dort womöglich noch einem der Angestellten in die Arme zu laufen.
Ich warf die Tür auf, trat einen Schritt ins Zimmer – und stolperte direkt über eine Teppichkante. Ich ruderte mit den Armen und sah mich schon ausgestreckt am Boden liegen, als mich ein Paar starke Hände packten. Im Bruchteil einer Sekunde nahm ich das Bild meines Gegenübers wahr: ein hochgewachsener Mann, breite Schultern, offenes Hemd, große Füße, die noch in Reitstiefeln steckten. Und zwei Hände, die immer noch meine Oberarme umfasst hatten. Im nächsten Augenblick wurde mir bewusst, dass ich nackt war. Bevor ich wusste, was ich tat, hatte ich mich auch schon losgerissen, mein Arm schnellte nach hinten, und ich verpasste dem Fremden eine schallende Ohrfeige.
Ich weiß nicht, wer von uns beiden mehr überrascht über den Schlag war. Obwohl der Mann vielleicht auch einfach nur benommen war – durch meine Arbeit im Zoo hatte die Ohrfeige nämlich einigen Schmackes. Einen Augenblick sahen wir uns beide nur an.
Dann wurde mir klar, dass ich immer noch splitternackt vor einem fremden Mann stand, der mit großer Wahrscheinlichkeit der Herr des Hauses war. Ich sah mich hastig nach etwas um, womit ich meine Blöße bedecken konnte. Aber meine schmutzigen Sachen waren nicht mehr dort, wo ich sie gelassen hatte, und bis zum Schrank zu rennen, um mir ein Handtuch rauszusuchen, wäre zu peinlich gewesen. Gott sei Dank sah ich dann auf einem Stuhl ein sauber gefaltetes Handtuch liegen. Ich verschwendete keinen Gedanken daran, wie es dort hingekommen war, und schlang es um meinen Körper.
Erst dann sah ich den Fremden wieder an. Der hatte sich inzwischen wohl von meiner Ohrfeige erholt und starrte mich finster an.
»Kann ich erfahren, was Sie hier in meinem Zimmer machen?«, knurrte er.
»Ihrem Zimmer?«, fuhr ich ihn an. »Das ist mein Zimmer. Ihr Butler hat es mir …«
Er zog seine Augenbrauen hoch, und ich verstummte. Langsam schaute ich mich um. Mein Koffer war nicht mehr da und – war mein Zimmer nicht in anderen Farben gehalten worden?
Einer bösen Eingebung folgend, ließ ich meinen Blick zur noch offenen Badezimmertür wandern, durch das dunstige Bad hindurch, durch die zweite Tür, die davon abging – direkt auf den Haufen Wäsche, den ich in dem anderen Zimmer liegen gelassen hatte.
»Oh Gott«, stammelte ich.
Lichtenfels' Blick folgte meinem, und die Zornesfalte auf seiner Stirn verschwand. Lachend trat er einen Schritt zurück. »Schlägst du immer die Männer, in deren Schlafzimmer du stolperst?«
»Oh Gott«, konnte ich nur noch einmal wiederholen.
Er grinste. »Frank von Lichtenfels, um ehrlich zu sein. Und du bist?«
»Anna Reiderwald«, brachte ich schließlich doch noch hervor. Dann türmte ich und floh, ohne ein weiteres Wort, ins Bad und warf die Tür hinter mir zu.
Als ich endlich allein – und dieses Mal in meinem eigenen Zimmer – war, fühlte ich mich ziemlich flau in der Magengegend.
Oh nein, nein, nein. Wieso musste ausgerechnet mir so was passieren? Nicht nur, dass ich jemanden geschlagen hatte. Ich hatte den Sohn meiner Chefin geschlagen, den Hausherrn. Und das auch noch zu Unrecht! Und dazu kam noch, dass er unglaublich gut aussah. Wieso hatte die Gräfin das in all ihren Tiraden eigentlich nie erwähnt?