Über dieses Buch
Bevor Grenzen gezogen und Verträge unterzeichnet wurden, bevor Kriege neu geführt wurden, bevor die großen Königreiche der Verbliebenen geboren wurden, in denen die alte Welt nur eine verschwommene Erinnerung aus Geschichten und Legenden war, da kämpften ein Mädchen und ihre Familie ums Überleben. Und dieses Mädchen hieß Morrighan.
In Morrighan, einer Kurzgeschichte zu Mary E. Pearsons Chroniken der Verbliebenen, treffen sich ein Mädchen und ein Junge aus feindlichen Lagern, verlieben sich – und bringen den Stein der Geschichte ins Rollen.
MARY E. PEARSON
Aus dem amerikanischen Englisch
von Barbara Imgrund
BASTEI ENTERTAINMENT
Deutsche Erstausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2016 by Mary E. Pearson
Published by Arrangement with Mary E. Pearson
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Morrighan – A Remnant Chronicles Novella
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Für deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Julia Przeplaska, Ingolstadt
Covergestaltung: Kirsten Osenau unter Verwendung von Motiven von © shutterstock: evannovostro | estevez | Swen Stroop
eBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-5893-3
Dieses eBook enthält eine Leseprobe des in der Bastei Lübbe AG im April 2018 erscheinenden Werkes
»Der Glanz der Dunkelheit« von Mary E. Pearson.
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2016 by Mary E. Pearson
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Beauty of Darkness« Teil II
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Übersetzung: Barbara Imgrund, Heidelberg
Lektorat: Julia Przeplaska, Ingolstadt
Umschlaggestaltung: Jeannine Schmelzer nach einem Entwurf von © 2016 by Jonathan Barkat; Umschlagdesign by Rich Deas
Umschlagmotive: © shutterstock: Nejron Photo | Alessandro Guerriero | Luis Louro; CanStockPhoto
www.be-ebooks.de | www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Bevor man Grenzen zog, bevor man Vereinbarungen unterzeichnete, bevor man Kriege führte – ja, bevor die großen Reiche der Verbliebenen entstanden und die alte Welt längst nur noch eine verschwommene Erinnerung war, von der Geschichten und Legenden erzählten, kämpften ein Mädchen und seine Familie ums Überleben.
Das Mädchen hieß Morrighan.
Sie bittet um eine weitere Geschichte, eine, die ihr die Zeit vertreibt und sie satt macht.
Ich suche nach der Wahrheit, den Einzelheiten einer Welt, die nun schon so lange vergangen ist, dass ich mir nicht mehr sicher bin, ob es sie je gegeben hat.
Es war einmal vor sehr, sehr langer Zeit,
in einer Zeit, bevor Ungeheuer und Dämonen die Erde heimsuchten,
einer Zeit, in der Kinder frei über die Wiesen liefen
und Früchte schwer von den Bäumen hingen.
Es gab Städte, groß und schön, mit funkelnden Türmen, die den Himmel berührten.
Hat Zauberei sie erschaffen?
Ich war selbst noch ein Kind. Ich dachte, sie könnten eine ganze Welt stützen. Für mich waren sie aus …
Ja, sie waren gesponnen aus Zauberei und Licht und den Träumen der Götter.
Und gab es auch eine Prinzessin?
Ich lächle.
Ja, mein Kind, eine edle Prinzessin. Genau wie du. Sie hatte einen Garten voller Bäume, von denen Früchte so groß wie Männerfäuste hingen.
Die Kleine sieht mich zweifelnd an.
Sie hat nie einen Apfel gesehen, nur Männerfäuste.
Gibt es wirklich solche Gärten, Ama?
Jetzt nicht mehr.
Ja, mein Kind, irgendwo schon. Und eines Tages wirst du sie finden.
Gaudrels Vermächtnis
ICH WAR ACHT JAHRE ALT, als ich ihn zum ersten Mal sah. In diesem entsetzlichen Augenblick war ich überzeugt, dass ich nun sterben würde. Er war ein Plünderer, und ich war noch nie einem von ihnen so nahe gekommen. Allein. Ich hatte nichts, um mich zu verteidigen, nur ein paar Steine, die vor meinen Füßen herumlagen, und ich war zu gebannt von der Angst, um mich zu bücken und sie aufzuheben. Eine Handvoll Steine hätte mir ohnehin nicht viel genutzt. Ich sah das Messer, das in der Scheide an seiner Seite steckte.
Er stand auf einem Felsen und blickte neugierig zu mir herab, musterte mich. Mit nackter Brust und wüst verfilztem Haar verkörperte er jene Wildheit, vor der man mich gewarnt hatte, auch wenn er selbst dem Kindesalter kaum entwachsen war. Seine Brust war schmal, man konnte seine Rippen zählen.
Ich hörte das ferne Donnern von Hufen und erbebte vor Furcht. Weitere Plünderer kamen, es gab keine Möglichkeit zu fliehen. Zwischen zwei Felsen in einer dunklen Spalte unter ihm kauernd, saß ich in der Falle. Ich atmete nicht. Rührte mich nicht. Ich konnte nicht einmal den Blick von ihm abwenden. Ich war nur noch Beute, ein stummes Kaninchen, gestellt und in die Enge getrieben. Ich würde sterben. Er fasste den Beutel mit Samenkörnern ins Auge, die ich den ganzen Morgen über gesammelt hatte. In all der Hast, all dem Schrecken hatte ich ihn fallen lassen, und nun lagen die Körner zwischen den Felsen verstreut.
Der Junge riss den Kopf hoch, und das Getöse von Pferden und Rufen drang an mein Ohr.
»Hast du etwas gefangen?« Eine laute Stimme. Die, die Ama so hasste. Die, von der sie und die anderen nur flüsterten. Sie gehörte ihm. Dem, der Venda geraubt hatte.
»Sie sind in alle Richtungen auseinandergelaufen. Ich konnte sie nicht einholen«, rief der Junge.
Noch eine entrüstete Stimme. »Und sie haben nichts zurückgelassen?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
Weitere unzufriedene Rufe wurden laut, dann wieder das Donnern von Hufen. Fort. Sie ritten fort. Der Junge kletterte von seinem Felsen herunter und ging mit ihnen, ohne mich noch einmal anzuschauen oder mich anzusprechen; das Gesicht wandte er absichtlich ab, fast als würde er sich schämen.
Ich sah ihn zwei Jahre lang nicht wieder. Dass ich nur mit knapper Not entkommen war, flößte mir bleibende Angst ein, und ich entfernte mich nie mehr weit von meinem Stamm. Wenigstens nicht bis zu einem warmen Frühlingstag. Die Plünderer schienen weitergezogen zu sein. Seit den ersten Herbstfrösten hatten wir keine Spur mehr von ihnen gesehen.
Aber da war er wieder, einen Kopf größer nun; er versuchte gerade, Rohrkolben aus meinem Lieblingsteich zu ziehen. Sein Haar war noch wilder, seine Schultern ein wenig in die Breite gegangen, während sich seine Rippen noch immer zählen ließen. Ich sah, dass seine Enttäuschung wuchs, als die Stängel einer nach dem anderen abbrachen und er nur die unbrauchbaren Halme in den Händen hielt.
»Du bist zu ungeduldig.«
Er fuhr herum und zückte sein Messer.
Selbst im zarten Alter von zehn Jahren wusste ich, dass ich ein Risiko einging, indem ich mich zeigte. Ich war mir nicht sicher, warum ich es tat, vor allem als ich seinen Blick sah. Er war ungezähmt und hungrig, ohne ein Zeichen des Erkennens. »Zieh die Stiefel aus«, sagte ich. »Ich zeige es dir.«
Er stach in die Luft, als ich einen Schritt auf ihn zu machte, aber ich setzte mich auf den Boden und zog meine Kalbslederschuhe aus. Dabei ließ ich ihn keinen Moment aus den Augen, denn ich dachte, dass ich vielleicht doch noch würde weglaufen müssen.
Seine Angst schwand genau wie sein wilder, glasiger Blick, und endlich breitete sich ein Ausdruck des Erinnerns auf seinem Gesicht aus. Ich hatte mich in den beiden Jahren stärker verändert als er. Er ließ das Messer sinken. »Du bist das Mädchen in den Felsen.«
Ich nickte und deutete auf seine Stiefel. »Weg damit. Du musst hineinwaten, wenn du an die Knollen kommen willst.«
Er zog die Stiefel von den Füßen und folgte mir, bis wir knietief im Teich standen. Ich sagte, er solle mit den Zehen tasten, sie tief in den Schlamm graben, um die fetten, fleischigen Knollen zu lockern, bevor er an den Stängeln zog. Unsere Zehen mussten genauso viel arbeiten wie unsere Hände. Wir wechselten nur wenige Worte. Was hatten sich ein Plünderer und ein Kind der Verbliebenen auch schon zu sagen? Alles, was wir gemeinsam hatten, war der Hunger. Aber er schien zu verstehen, dass ich mich für die Gnade bedanken wollte, die er mir gegenüber vor zwei Jahren hatte walte lassen.
Als wir uns trennten, war sein Beutel voller fleischiger Knollen.
»Das ist jetzt mein Teich«, sagte er scharf, während er den Beutel an seinem Sattel festband. »Komm nicht wieder her.« Er spuckte auf den Boden, um deutlich zu machen, dass er es ernst meinte.
Ich wusste, was er mir in Wahrheit sagen wollte. Die anderen würden jetzt auch hierherkommen. Es war nicht mehr sicher für mich.
»Wie heißt du?«, fragte ich, als er sich in den Sattel schwang.
»Du bist nichts!«, antwortete er, als hätte er eine andere Frage gehört. Er setzte sich zurecht, dann sah er mich widerstrebend an. »Jafir de Aldrid«, erwiderte er.
»Und ich bin …«
»Ich weiß, wer du bist. Morrighan.« Und er galoppierte davon.
Es dauerte weitere vier Jahre, bis ich ihn wiedersah, und während dieser ganzen Zeit fragte ich mich, woher er meinen Namen kannte.
ES HATTE DEN ANSCHEIN, als würde mir die Angst im Blut liegen. Sie sorgte dafür, dass meine Sinne geschärft blieben, aber schon mit zehn Jahren war ich ihrer müde. Ich erinnerte mich, dass ich an jenem Tag wachsam ins Lager zurückgekehrt war. Von Kindesbeinen an wusste ich, dass wir anders waren. Das war es, was uns überleben half. Aber es bedeutete auch, dass den anderen nur wenig entging, nicht einmal das Verborgene und Ungesagte. Ama, Rhiann, Carys, Oni und Nedra waren diejenigen, bei denen das Wissen am stärksten war. Und Venda, aber sie war nun fort. Wir erwähnten sie nicht mehr.
Ama sprach, ohne den Blick von dem Korb mit den Bohnen abzuwenden. Ihr grauschwarzes Haar war ordentlich zu einem Zopf zurückgebunden. »Pata hat mir erzählt, dass du das Lager verlassen hast, während ich fort war.«
»Nur bis zum Teich hinter der Felswand, Ama. Ich war nicht weit.«
»Weit genug. Ein Plünderer braucht nur einen Augenblick, um dich zu schnappen.«
Wir hatten dieses Gespräch schon viele Male geführt. Die Plünderer waren grausam und rücksichtslos, Diebe und Wilde, die anderen die Früchte ihrer Arbeit raubten. Und manchmal waren sie auch Mörder, je nach Laune. Wir versteckten uns in den Hügeln und Ruinen, liefen lautlos, sprachen leise, wo die Mauern einer leeren Welt uns Deckung gaben. Und wo die Mauern zu Staub zerfallen waren, verbargen wir uns im hohen Gras.
Aber manchmal genügte selbst das nicht.
»Ich habe aufgepasst«, flüsterte ich.
»Was hat dich denn an den Teich getrieben?«, fragte sie.
Meine Hände waren leer – ich hatte nichts als Grund für meinen Ausflug vorzuweisen. Nachdem Jafir davongeritten war, war auch ich gegangen. Ich konnte Ama nicht anlügen. In ihren Worten lagen genauso viele Fragen wie in ihrem Schweigen. Sie wusste es.
»Ich habe einen Plündererjungen gesehen. Er hat Rohrkolben ausgerissen.«
Ihr Blick flog zu mir. »Du hast doch nicht –«
»Er heißt Jafir.«
»Du kennst seinen Namen? Du hast mit ihm gesprochen?« Ama sprang auf, sodass die Bohnen von ihrem Schoß fielen. Zuerst packte sie mich an den Schultern, dann strich sie mir das Haar zurück und musterte prüfend mein Gesicht. Auf der Suche nach Verletzungen fuhr sie hektisch mit den Händen über meine Arme. »Geht’s dir gut? Hat er dir wehgetan? Hat er dich angefasst?« Ihre Augen waren groß vor Angst.
»Ama, er hat mir nichts getan«, erwiderte ich fest, um ihr die Sorge zu nehmen. »Er hat nur gesagt, dass ich nicht mehr zum Teich gehen soll. Dass es jetzt sein Teich ist. Und dann ist er mit einem Beutel Knollen davongeritten.«
Ihr Gesicht wurde hart. Ich wusste, was sie jetzt dachte. Sie nehmen sich alles, und es stimmte. Das taten sie. Immer wenn wir uns am anderen Ende eines Tals oder einer Wiese eingerichtet hatten, fielen sie über uns her, raubten uns aus und verbreiteten Angst und Schrecken. Ich ärgerte mich inzwischen selbst darüber, dass ich Jafir gezeigt hatte, wie man die Knollen erntete. Wir schuldeten den Plünderern gar nichts, denn sie hatten uns schon so viel genommen.
»War es schon immer so, Ama? Gehören sie nicht auch zu den Verbliebenen?«
»Es gibt zwei Sorten von Überlebenden – die einen, die beharrlich weitermachen, und die anderen, die Beute machen.«
Sie ließ den Blick über den Horizont schweifen, und ihre Brust hob sich in einem müden Atemzug. »Komm, hilf mir, die Bohnen aufsammeln. Morgen brechen wir in ein anderes Tal auf. Eines, das weit weg ist.«
Es gab kein Tal, das weit genug von den Plünderern entfernt war. Sie vermehrten sich so zahlreich wie Kletten im Gras einer Wiese.
Nedra, Oni und Pata murrten, sagten aber nichts weiter dazu. Sie fügten sich Ama, weil sie die Älteste und das Oberhaupt unseres Stammes war und die Einzige unter uns, die sich noch an die Zeit Früher, das Davor, erinnerte. Außerdem waren wir es gewohnt weiterzuziehen und nach einem friedlichen Tal des Überflusses zu suchen. Irgendwo musste es eines geben. Ama hatte das gesagt. Sie hatte es mit ihren eigenen Augen gesehen, bevor die Grundfesten der Welt erschüttert worden und die Sterne vom Himmel gefallen waren. Irgendwo musste es einen Ort geben, an dem wir vor ihnen sicher waren.
ICH WISCHTE MIR DAS BLUT von der Nase. Ich hütete mich, mein Messer zu zücken – aber ich würde nicht immer einen Kopf kleiner sein als Steffan. Auch er schien das zu wissen. Ich bekam seinen Handrücken in letzter Zeit seltener zu spüren.
»Du warst den ganzen Tag weg und hast nur einen Beutel voller Unkraut vorzuweisen?«, schrie er.
Piers zog an seiner Pfeife, während er genüsslich Steffans Vorstellung beiwohnte. »Das ist immerhin mehr, als ich in deinen Händen sehe.«
Die anderen lachten; sie hofften, die Beleidigung würde Steffan zu einer wütenden Prügelei verleiten, doch er tat Piers’ Bemerkung mit einer verächtlichen Handbewegung ab. »Ich kann nicht jeden Tag ein Spanferkel heimbringen. Wir müssen alle etwas beitragen.«
»Du hast das Schwein gestohlen. Fünf Minuten Anstrengung«, entgegnete Piers.
»Was willst du von mir, alter Mann? Es hat dich doch satt gemacht, oder?«
Liam schnaubte. »Mich nicht. Du hättest zwei stehlen sollen.«
Fergus warf einen Stein und sagte, sie alle sollten still sein. Er hatte Hunger.
So ging es jeden Abend – in unserem Lager drohten ständig hitzige Worte und Fäuste zu fliegen, doch wir schenkten uns gegenseitig auch Kraft. Wir waren stark. Aus Angst vor den Folgen vermieden es alle anderen, sich mit unserer Sippe anzulegen. Wir hatten Pferde. Wir hatten Waffen. Wir hatten uns das Recht erstritten, andere kleinzuhalten.
Laurida winkte mich heran, und ich leerte meinen Beutel vor ihr aus. Wir beide begannen, die zarten Knollen aufzuschneiden, dann schälten wir die harten Stängel. Ich hatte gewusst, dass sie zufrieden sein würde. Sie bevorzugte die grünen Sprossen – sie briet sie in Schweinefett und mahlte die längeren Stängel zu Mehl. Brot war eine Seltenheit für uns – es sei denn, wir stahlen es ebenfalls.
»Wo hast du sie gefunden?«, fragte Laurida.
Ich sah sie verwundert an. »Was gefunden?«
»Die hier?« Sie hielt eine Handvoll kleingeschnittene Stängel hoch. »Was ist denn mit dir los? Hat dir die Sonne das Hirn ausgedörrt?«
Die Stängel. Natürlich. Nichts anderes meinte sie. »In einem Teich. Warum ist das so wichtig?«, blaffte ich zurück.
Sie versetzte mir einen Schlag auf den Hinterkopf, dann beugte sie sich vor, um meine blutige Nase zu untersuchen. »Er wird sie dir eines Tages noch brechen«, knurrte sie. »Besser so. Du bist sowieso zu hübsch.«