Autobiografische Erzählung
Aus dem Amerikanischen Englisch
von André Hansen
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Boy Erased«
bei Riverhead Books, NEW YORK.
Copyright © 2016 by Garrard Conley
Erste Auflage
© 2018 by Secession Verlag für Literatur, Zürich
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: André Hansen
Lektorat: Alexander Weidel
Korrektorat: Kristina Wengorz
www.secession-verlag.com
Gestaltung und Satz:
Erik Spiekermann & Marco Stölk, Berlin
Herstellung:
Renate Stefan, Berlin
Druck und buchbinderische Verarbeitung:
Friedrich Pustet, Regensburg
Papier Innenteil: 100g Fly 05
Papier Vor- und Nachsatz: 115g Fly 05
Papier Überzug: f-color metallic von Schabert
Gesetzt aus ff Hertz und FF KiPP
Printed in Germany
ISBN 978-3-906910-26-0
eISBN 978-3-906910-27-7
Für meine Eltern
ANMERKUNG DES AUTORS
CHRONIK DER EX-GAY-BEWEGUNG
TEIL I
MONTAG, 7. JUNI 2004
DIE RECHTSCHAFFENEN
MITTWOCH, 9. JUNI 2004
ANDERE JUNGS
FREITAG, 11. JUNI 2004
GEFANGENENKINO
TEIL II
DIE KLEINSTEN DETAILS
SAMSTAG, 12. JUNI 2004
DIAGNOSE
MONTAG, 14. JUNI 2004
SELBSTBILDNIS
MITTWOCH, 16. JUNI 2004
EPILOG
DANKSAGUNG
Während meiner Zeit bei Love in Action (LIA) waren Tagebücher, Fotoapparate und andere Aufzeichnungsgeräte in der Anstalt verboten. Darum habe ich alle Ereignisse, äußerlichen Beschreibungen und Dialoge nach bestem Wissen rekonstruiert. Die Erinnerungen meiner Mutter und meine eigenen, das Ex-Gay-Handbuch von LIA, Zeitungsartikel, Blogposts und persönliche Interviews füllten die Leerstellen aus, wo das Trauma verdunkelt, was einmal schmerzhaft klar war. Wie bei den meisten autobiografischen Erzählungen ist die zeitliche Abfolge korrekt und wurde nur abgeändert, wo die Erzählung es erforderlich machte. Ich habe Details ausgeschlossen, die mir für das Wesen der Geschichte irrelevant erschienen. Die Namen und gewisse kenntlich machende Eigenschaften von Schlüsselfiguren meines Lebens wurden geändert, unter anderem von Chloe, Brandon, David, Brad, Bruder Stevens und Bruder Nielson.
Ich wünschte mir, nichts von alldem wäre je geschehen. Manchmal danke ich Gott dafür, dass es geschah.
Dennoch konnte sie ihren empörten und entstellten Gesichtern ansehen, daß selbst ihre Tugenden sich in Rauch auflösten.
– Flannery O’Connor: Offenbarung
Ich sehe auf diese Wand, und ich sage ganz unvermittelt: »Sie ist blau.« Und jemand anderes kommt vorbei und sagt: »Nein, nein. Sie ist golden.« Aber ich will glauben, dass diese Wand blau ist. Sie ist blau, sie ist blau, sie ist blau. Aber dann kommt Gott und Er sagt: »Du hast recht, John, sie ist blau.« Das ist die Hilfe, die ich brauche. Gott kann mir helfen, die Wand blau zu machen.
– John Smid, Führungsfigur der Ex-Gay-Bewegung, in einem Interview mit dem Memphis Flyer
1973 |
Die American Psychological Association (APA) bezeichnet Homosexualität nicht mehr als Geisteskrankheit. Love in Action (LIA), eine konfessionsübergreifende christlich-fundamentalistische Organisation, lehnt die Entscheidung der APA ab und öffnet ihre Pforten in San Rafael, Kalifornien, mit dem Versprechen, Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transgender (LGBT) in den Kirchen von ihrer »sexuellen Sucht« zu heilen. |
1976 |
Die erste Ex-Gay-Konferenz findet in Anaheim, Kalifornien, statt, wo sich mehr als zweiundsechzig Teilnehmer zu einer Gruppe zusammenschließen, aus der Exodus International hervorgeht, die größte Ex-Gay-Dachorganisation der Welt. LIA ist ihr Vorzeigeprogramm. |
1977 |
Jack McIntyre, seit vier Jahren Mitglied bei LIA, begeht Selbstmord, woraufhin eines der Gründungsmitglieder, John Evans, das Programm scharf tadelt. Im Abschiedsbrief schreibt McIntyre: »Ständig vor Gott zu treten und um Vergebung zu bitten und Versprechen abzugeben, von denen man weiß, dass man sie nicht halten kann, das halte ich nicht mehr aus.« |
1982 |
Exodus Europe, eine unabhängige Organisation, die mit Exodus International kooperiert, hält die erste Ex-Gay-Konferenz in den Niederlanden ab. Gemeinden gibt es jetzt in Australien, Brasilien und Portugal. |
1989 |
Exodus erweitert seine Mission auf die Philippinen und Singapur. Die Organisation, die bei ihrer größten Ausbreitung mehr als zweihundert Gemeinden in den Vereinigten Staaten unterhält, erreicht mit Werbespots im nationalen Fernsehen und Radio die Aufmerksamkeit des Mainstreams. |
1990 |
John Smid übernimmt die Leitung von LIA. |
1993 |
John Evans schreibt einen Artikel für das Wall Street Journal, in dem er die Ex-Gay-Therapie anprangert: »Sie zerstören das Leben von Menschen. Wenn man nicht tut, was sie sagen, gehört man nicht zu Gottes Gemeinde, dann fährt man zur Hölle. Sie leben in einer Fantasiewelt.« |
1994 |
Unter der Leitung von John Smid verlegt LIA den Hauptsitz nach Memphis, Tennessee, kauft viertausend Quadratmeter Land für das stationäre Programm. |
1998 |
Ex-Gay-Führungsfigur John Paulk, der bald mit seiner Ehefrau, einer »Ex-Lesbe«, auf dem Titel von Newsweek sein wird, gründet Love Won Out, eine Reihe von jährlichen Ex-Gay-Konferenzen. |
2000 |
Die erste lateinamerikanische Exodus-Konferenz wird in Quito, Ecuador, abgehalten. Gemeinden gibt es jetzt in China, Indien, Indonesien, Malaysia, Mexiko, Sri Lanka und Taiwan. |
2003 |
LIA eröffnet das umstrittene Refuge-Programm, bei dem Teenager und Erwachsene mit verschiedenen sexuellen »Süchten« zusammengebracht werden. |
2004 |
Meine Ex-Gay-Geschichte beginnt. |
John Smid stand aufrecht, Schultern breit, strahlender Blick durch eine dünn geränderte Drahtgestellbrille, am Leib die Kakihosen und das gestreifte Button-down-Hemd, die zur Standarduniform für evangelikale Männer im ganzen Land geworden sind. Die dicken Umrisse seines Feinripps spannten sich straff und schienen durch das Hemd, das ergrauende blonde Haar gebändigt von Fünfzehn-Millimeter-Haarschneidern, typisch für die Friseurkette Sport Clips in den ganzen Südstaaten. Wir anderen saßen ihm in einem Halbkreis gegenüber, alle gemäß der Kleiderordnung des Programms angezogen, die im zweihundertvierundsiebzigseitigen Handbuch umrissen wurde:
Männer: Der Oberkörper ist immer bedeckt zu halten, auch zur Schlafenszeit. Ärmellose T-Shirts sind nicht gestattet, weder als Ober- noch als Unterkleidung, das gilt auch für »Muscle Shirts« und andere Trägerhemden. Gesichtsbehaarung ist sieben Tage die Woche zu entfernen. Koteletten nie länger als bis zum oberen Rand des Ohrs.
Frauen: BHs sind immer zu tragen, außer beim Schlafen. Röcke müssen mindestens bis zum Knie reichen. Trägerhemden sind nur in Kombination mit einer Bluse erlaubt. Beine und Unterarme sind mindestens zweimal in der Woche zu rasieren.
»Als Erstes müsst ihr einsehen, dass ihr von Sex abhängig geworden seid, von Dingen, die nicht von Gott kommen«, sagte Smid. Wir waren gerade bei Schritt eins des Zwölf-Schritte-Programms von Love in Action, einem Regelsatz, der die Sünden Untreue, Sodomie, Pädophilie und Homosexualität mit Suchtverhalten wie Alkoholismus oder Glücksspiel gleichsetzte: so etwas wie die Anonymen Alkoholiker für das, was die Berater unsere »sexuelle Abweichung« nannten.
Als ich, vor ein paar Stunden erst, allein mit ihm in seinem Büro gesessen hatte, hatte ich einen anderen Mann erlebt: einen freundlicheren, alberneren Smid, einen Klassenclown mittleren Alters, bereit, alle möglichen Witzchen zu machen, um mich zum Lächeln zu bringen. Er hatte mich wie ein Kind behandelt, und ich, ein wenig entspannter, ließ mich auf diese Rolle ein − ich war neunzehn. Er sagte mir, dass ich hier richtig sei, dass Love in Action mich heilen, mich aus meiner Sünde heraus in das Licht der göttlichen Herrlichkeit heben werde. Das Büro schien hell genug zu sein, um diese Behauptung zu stützen, die Wände kahl bis auf gerahmte Zeitungsausschnitte oder Bibelspruchstickereien hier und da. Vor dem Fenster war eine Brache, selten für diesen Vorstadtbezirk, ein ungepflegtes, grasiges Durcheinander übersät mit neonleuchtendem Löwenzahn und Tausenden Pusteblumen, die ihre Samen bis Ende der Woche über den ganzen Highway verstreuen würden.
»Wir versuchen, verschiedene Behandlungsmethoden zu verbinden«, hatte Smid mir versichert, als er sich in seinem Bürostuhl zum Fenster drehte. Eine orangefarbene Sonne stieg hinter den dunstigen weiß getünchten Gebäuden in der Ferne auf. Ich wartete darauf, dass sich das Sonnenlicht über die Landschaft ergießen würde, aber je länger ich zusah, umso länger schien es zu dauern. Ich fragte mich, ob die Zeit an diesem Ort immer so vergehen würde: Minuten wie Stunden, Stunden wie Tage, Tage wie Wochen.
»Sobald du in die Gruppe kommst, bist du schon auf dem besten Weg zur Genesung«, sagte Smid. »Wichtig ist, dass du dich immer daran erinnerst, unvoreingenommen zu bleiben.«
Ich war freiwillig hier, auch wenn ich immer skeptischer wurde, auch wenn ich mir heimlich wünschte, vor der Scham wegzulaufen, die ich empfand, seit meine Eltern erfahren hatten, dass ich schwul war. Ich hatte zu viel in mein aktuelles Leben investiert, um es hinter mir zu lassen: in meine Familie und in Gott, den ich kannte, seit ich denken konnte, und der immer unschärfer wurde.
Gott, betete ich, als ich das Büro verließ und durch den schmalen Flur zum Hauptraum ging, die Leuchtstoffröhren klickten in ihren Metallgehäusen, ich weiß nicht mehr, wer Du bist, aber gib mir bitte die Weisheit, das hier zu überleben.
Ein paar Stunden später, mitten in Smids Stuhlkreis, wartete ich auf Gott, darauf, dass Er sich mir anschließen möge.
»Ihr seid nicht besser oder schlechter als jeder andere Sünder auf dieser Welt«, sagte Smid. Er hatte seine Arme hinter dem Rücken gekreuzt, sein ganzer Körper war angespannt, als wäre er an eine unsichtbare Planke gefesselt. »Für Gott erscheinen alle Sünden im gleichen Licht.«
Ich nickte mit den anderen. Der Ex-Gay-Sprech war mir inzwischen vertraut, auch wenn ich schockiert gewesen war, als ich das zum ersten Mal auf der Website der Anstalt gelesen hatte, als ich zum ersten Mal erfahren hatte, dass diese Homosexualität, die ich die meiste Zeit meines Lebens ignorieren wollte, wahrscheinlich »außer Kontrolle« war, dass ich eines Tages mit dem Hund von irgendwem rummachen könnte, wenn ich mir keine Heilung verschaffte. So absurd die Idee im Nachhinein zu sein scheint, war mir kaum etwas anderes übrig geblieben. Ich war noch jung genug, um erst ein paar flüchtige Erfahrungen mit anderen Männern gehabt zu haben. Vor dem College hatte ich nur einen einzigen offen schwulen Mann gekannt, den Friseur meiner Mutter, so ein Bären-Typ, der die meiste Zeit damit beschäftigt war, meiner Auffassung von einem Stereotyp gerecht zu werden: mir Komplimente über mein Aussehen zu machen; über Kolleginnen zu lästern; Pläne für seine nächste wunderbare Weihnachtsfeier zu besprechen – den strahlend weißen Bart schon für die Rolle des Dirty Santa in Form gebracht. Durch Pantomimik lernte ich den Rest meiner Bigotterie: Gemeindemitglieder, die sich lustig machen, gebrochene Handgelenke, stolzierender Hüftschwung, Sätze, die aus der natürlichen Sprache in eine theatralische Musicalstimme abheben – »Das wäre doch nicht nötig gewesen!«; und dann Kirchenpetitionen, die unterschrieben werden müssen, um unser Land vor »Perversen« zu schützen. Das schrille neonfarbene Lycra, das Rascheln einer Federboa, der stramme Hintern, der vor der Kamera wackelte: Was ich im Fernsehen zu sehen bekam, bewies nur noch mehr, dass Schwulsein gestört, unnatürlich war.
»Ihr müsst eine sehr wichtige Sache verstehen«, sagte Smid, seine Stimme so nah, dass ich sie in meiner Brust spüren konnte, »ihr gebraucht eure sexuelle Sünde bloß zum Ausfüllen eines gottförmigen Hohlraums in eurem Leben.«
Ich war hier. Niemand konnte sagen, ich hätte es nicht versucht.
Der Hauptraum war klein und halogenbeleuchtet, eine Schiebetür führte auf eine sonnenstichige Betonveranda. Meine Gruppe saß auf Klappstühlen mit Sitzkissen im vorderen Teil des Raums. Hinter uns hingen die laminierten Zwölf Schritte und versprachen eine langsame, aber stetige Heilung. Abgesehen von diesen Aushängen waren die Wände meist leer. Hier gab es keine Kruzifixe, keine Stationen des Kreuzwegs. Hier empfand man diese Art von Ikonografie als Götzendienst, genauso wie Astrologie, Dungeons & Dragons, östliche Religionen, Hexenbretter, Satanismus und Yoga.
LIA nahm eine extremere Haltung gegen die Weltlichkeit ein als alle Kirchen, in denen ich aufgewachsen war, auch wenn mir die Denkweise der Berater vertraut vorkam. Im fundamentalistischen Zweig des Christentums, bekannt unter der Bezeichnung Baptisten, verboten die Missionarischen Baptisten, die Glaubensgemeinschaft meiner Familie, alles, was die Macht hatte, die Seele vom direkten Austausch mit Gott und der Bibel abzulenken. Viele der anderen etwa hundert Gruppierungen, die das baptistische Spektrum umfasste, deutelten an Dingen herum, die in der Gemeinde erlaubt sein sollten oder nicht, wobei manche Kirchen diese Fragen ernster nahmen als andere und Themen wie die Sitten des Tanzens und die Fallstricke nicht biblischer Lektüre noch zur Diskussion standen. »Harry Potter ist bloß ein Verführer von Kinderseelen«, hatte ein baptistischer Gastprediger einmal in der Kirche unserer Familie gesagt. Ich zweifelte keine Sekunde, dass auch meine LIA-Berater gegen jede Erwähnung von Harry Potter waren, dass meine Zeit in Hogwarts ein geheimes Vergnügen bleiben musste und dass ich, indem ich hierhergekommen war, einen noch ernsthafteren Pakt mit Gott geschlossen hatte, einen Pakt, der mir vorschrieb, alles zu beseitigen, was vor LIA geschehen war. Vor Betreten dieses Raums hatte man mich aufgefordert, alles hinter mir zu lassen, alles – bis auf meine Bibel und mein Handbuch.
Da die meisten Kunden von LIA in diesem wortgetreuen Protestantismus aufgewachsen waren und verzweifelt nach Heilung suchten, stießen die strengen Regeln der Berater auf gedämpften Applaus. Die schmucklosen weißen Wände der Anstalt sahen aus wie die passende Kulisse für ein Wartezimmer, in dem wir Gottes Vergebung empfangen würden. Sogar klassische Musik war verboten – »Beethoven, Bach und so weiter gelten nicht als christlich« –, ein drückendes Schweigen legte sich wie eine Bettdecke über unsere morgendliche Stille-Zeit, waberte in unsere Tagesaktivitäten und schuf eine Atmosphäre, die, wenn sie auch nicht heilig wirkte, so doch zumindest nicht weltlich.
Im Lernbereich im hinteren Bereich des Raums, Heimat eines Bücherregals mit inspirierender Literatur und einem massiven Stoß Bibeln, gab es Dutzende Berichte erfolgreicher Ex-Gays.
»Langsam aber sicher fing ich zu genesen an«, hatte ich an diesem Morgen gelesen, mit dem Finger quietschend die Hochglanzseite hinabgleitend. »Ich fing an, davon zu genesen, dass ich keine männlichen Freunde hatte, außer es ging um Sex. Ich lernte, wer ich in Wirklichkeit war, nicht die falsche Persönlichkeit, die ich geschaffen hatte, um akzeptiert zu werden.«
Ich hatte die letzten paar Monate versucht, meine »falsche Persönlichkeit« auszulöschen. An einem Wintertag hatte ich mein Studentenwohnheim verlassen und war in den halb zugefrorenen See auf dem Campus gesprungen. Zitternd und mit triefnassen Schuhen ging ich zurück ins Wohnheim und fühlte mich wie neu getauft. Bei der heißen Dusche danach sah ich, benommen vom Schock der eisigen Hitze auf meiner tauben Haut, wie ein Wassertropfen am Duschkopf entlangzog. Ich betete: Herr, mach mich auch so rein.
Während meines Aufenthalts bei Love in Action wiederholte ich das Gebet, bis es eine Art Mantra wurde. Herr, mach mich auch so rein.
Ich erinnere mich nicht so gut an die Fahrt zur Anstalt mit meiner Mutter. Ich hatte versucht wegzusehen, meinen Kopf nicht registrieren zu lassen, was am Beifahrerfenster vorbeizog, doch ein paar Details sind geblieben: der schlammige, karamellfarbene Mississippi hinter den Stahlträgern der Memphis-Arkansas Bridge, die Weite unseres amerikanischen Nils als das perfekte Aufputschmittel für mein unkoffeiniertes Hirn; die Glaspyramide glitzernd am Stadtrand, ihr heißes Licht über unsere Windschutzscheibe ausbreitend. Es war Anfang Juni, und schon am Vormittag würde draußen alles zu heiß sein, um es länger als ein paar Sekunden anzufassen, gegen Mittag würde dann alles vor Hitze vergehen. Die einzige Erlösung gab es am Morgen, wenn die Sonne an den Rändern des Horizonts ruhte, erst eine bloße Ahnung von Licht.
»Sie hätten sich doch sicher was Besseres als das leisten können«, sagte meine Mutter, als sie uns auf einen Parkplatz vor einer rechteckigen Ladenzeile lenkte. Der Standort war gehobener als ein Großteil der restlichen Stadt, gehörte zu einem wohlhabenderen Vorort, wobei diese Ladenzeile wohl das unattraktivste Bauwerk im Umkreis von mehreren Kilometern war, eine vorübergehende Heimat für Einzelhandelsgeschäfte im unteren Preissegment und kleine Beratungsstellen. Weiß getünchter Backstein und Glas. Flügeltüren, die in ein weißes Foyer mit Plastikpflanzen führten. Ein Logo über dem Eingang: ein umgedrehtes, rotes Dreieck, aus dem ein herzförmiges Loch geschnitten war, durchzogen von vielen dünnen, weißen Linien vom Rand zur Lücke. Wir stiegen aus dem Auto und gingen zum Eingang, meine Mutter immer ein paar Schritte voraus.
Als wir im Foyer waren, bat mich ein lächelnder Rezeptionist, meinen Namen in eine Liste zu schreiben. Der Mann sah aus wie Mitte zwanzig. Er trug ein Polohemd, das locker am Körper anlag, und seine Augen waren von einem hellen, ehrlichen Kobaltblau. Ich hatte ein fahlgesichtiges Phantom erwartet, das bereits alles ausgelöscht, das nichts Interessantes mehr an sich hatte. Stattdessen stand hier einer, der so aussah, als wollte er ein paar Runden Halo mit mir spielen und mir dann in Videospielanalogien ein bisschen davon erzählen, was Gott für ihn getan hatte. Du musst die Feinde bekämpfen, die Aliens, die in deine Seele eindringen wollen. Ich hatte eine Menge hippe Jugendpastoren getroffen, die so eine Einstellung hatten und ähnlich aussahen.
Ich kann mich nicht mehr an seinen Namen erinnern. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob es in diesem Foyer irgendwelche Zeichen dafür gab, was kommen würde, Gemälde an den Wänden, Aushänge mit Regeln. Das Foyer existiert für mich jetzt als ein blendend weißer Wartesaal, wie man ihn in Hollywoodfilmen sieht, die im Himmel spielen: ein blanker Raum.
»Kann ich mir die Räume anschauen?«, fragte meine Mutter. Etwas in ihrer Stimme, die zu einer höflichen Frage erhoben war, als würde sie um eine Hausbesichtigung bitten, machte mich beklommen.
»Tut mir leid«, sagte der Rezeptionist, »nach hinten dürfen nur die Klienten. Aus Sicherheitsgründen.«
»Aus Sicherheitsgründen?«
»Ja. Viele unserer Klienten haben verdrängte Familienprobleme. Wenn sie ein Elternteil sehen, egal von wem, auch wenn es jemand so Liebenswürdiges ist wie Sie«, ein gewinnendes Lächeln mit tiefen Grübchen, »kann das ein wenig verstörend sein. Deshalb ist das hier ein geschützter Bereich.« Er streckte beide Arme in einem weiten Bogen zur Seite aus – langsam und etwas steif, dachte ich, als wären seine Bewegungen früher viel ausschweifender gewesen und als hätte er nun gelernt, sie zu zügeln. »Da Sie nur im zweiwöchigen Programm sind, können Sie außerhalb des Programms jederzeit über Ihren Sohn verfügen.«
Das Programm ging von neun bis fünf. Die Abende, Nächte und Morgen würde ich mit meiner Mutter im Hampton Inn in der Nähe verbringen und dabei das Zimmer nur für notwendigste Besorgungen verlassen. Die meiste Freizeit sollte ich mit Hausaufgaben für die Veranstaltung am nächsten Tag verbringen. Der Plan, den mir der Rezeptionist aushändigte, war ziemlich eindeutig, jede Stunde wurde in einem schwarz umrandeten Quadrat ausgewiesen, Wörter wie »Stille-Zeit«, »Aktivität« und »Beratung« in Großbuchstaben.
Der Rezeptionist gab mir ein dickes LIA-Handbuch und eine Mappe. Ich öffnete das Handbuch, die Plastikklemmschiene knackte, und ein schwarz-weißer Gruß mit meinem Namen in großer Schrift hieß mich willkommen. Darunter stand ein Bibelvers, Psalm 32,5, in lockerer moderner Sprache, die sich von der Sprache der klassischen Fassung unterschied, mit der ich aufgewachsen war.
Schließlich bekannte ich dir alle meine Sünden und versuchte, sie nicht mehr zu verstecken. Ich sagte mir, ich werde sie dem Herrn gestehen; und Du hast mir vergeben! All meine Schuld ist fort.
Ich blätterte wahllos durch die Seiten, während meine Mutter mir über die Schulter schaute. Ich wollte das Buch schließen, als ich die auffälligen Tippfehler und die Cliparts sah. Ich wollte, dass meine Mutter einen guten Eindruck von diesem Ort gewann, bevor sie ging – nicht weil es mir darauf ankam, das armselig gestaltete Handbuch zu verteidigen, sondern weil ich wollte, dass es so schnell wie möglich vorbeiging, ohne weitere ihrer übermäßig höflichen Nachfragen. Wenn sie erst anfinge, die Handbuchgestaltung und die lockere Bibelsprache zu hinterfragen, könnte sie auch anfangen, Qualifikationen zu hinterfragen, zu hinterfragen, warum wir überhaupt hier waren, und ich wusste, das würde alles nur schlimmer machen. Fragen würden die Qual dieser Momente nur verlängern und blieben ohnehin fast immer unbeantwortet. Ich hatte genug davon, mich zu fragen, wie ich in diese Situation gekommen war, genug davon, nach anderen Antworten zu suchen, nach anderen Wirklichkeiten, anderen Familien oder Körpern, in die ich hätte geboren werden können. Jedes Mal, wenn ich bemerkte, dass es keine Alternativen gab, fühlte ich mich schlechter, weil ich gefragt hatte. Ich war jetzt bereit, die Dinge auf mich zukommen zu lassen.
»Ruf mich an, wenn du was brauchst«, sagte meine Mutter und drückte meine Schulter. Sie war ganz blondes Haar und dicke, blaue Wimperntusche, blaue Augen und zeitloses Oberteil mit Blumendruck: ein Klecks Technicolor an diesem trüben Ort.
»Es tut mir leid«, sagte der Rezeptionist, »aber wir müssen sein Handy einbehalten, solange er hier ist.« Aus Sicherheitsgründen.»Wir informieren Sie, falls etwas Wichtiges passiert.«
»Ist das wirklich notwendig?«
Meine Mutter und der Rezeptionist beendeten ihr Gespräch – »Das sind die Regeln. Es ist besser so für ihn« –, und dann verabschiedete sich meine Mutter, sagte mir, dass sie ins Hotel fahren werde, um uns einzuchecken, dass sie um Punkt fünf Uhr zurückkommen werde, um mich abzuholen. Sie umarmte mich, und ich schaute ihr nach, wie sie ging, Kopf hoch, Schultern gerade, die Glasflügeltüren schwangen mit einem Seufzer der pneumatischen Türschließer hinter ihr zu. Ich hatte sie schon einmal so erlebt, in dem Jahr, als meine beiden Großeltern gestorben waren. Sie hatte mir durch jenes Jahr geholfen, auf den freien Platz neben sich geklopft, damit ich mit ihr auf dem Sofa sitzen konnte, während die Gäste in unser Wohnzimmer herein- und wieder hinausflogen und dabei Aufläufe und Körbe voll glasiertem Gebäck brachten. Sie hatte mir durch die Haare gestrichen und geflüstert, dass der Tod ein Prozess sei, dass meine Großeltern beide ein glückliches Leben gelebt hätten. Ich fragte mich, ob sie jetzt auch so dachte, ob sie meinte, dass LIA zu einem notwendigen Prozess gehörte, der – zugegeben – schwierig war, aber leichter zu akzeptieren, wenn man erst einmal wusste, dass er zu Gottes Plan gehörte.
»Dann melden wir dich mal an«, sagte der Rezeptionist.
Ich folgte ihm in einen anderen Raum, genauso weißwandig und leer, in dem ein blonder Junge neben einem Tisch stand und mich bat, alles aus meinen Taschen zu holen. Der Junge war kaum älter als ich, zwanzig vielleicht, und er hatte eine Aura von Autorität, die mich denken ließ, er sei schon eine Weile hier. Er war grazil, auf eine Twink-Art attraktiv, groß und hager, aber nicht mein Typ. Andererseits wusste ich nicht wirklich, was mein Typ war.
In den Nächten, wenn ich mir erlaubt hatte, im Internet nach Bildern von Männern in Unterwäsche zu suchen, kam ich immer nur bis zur Hälfte der Seite, die Pixel strickten Millimeter für Millimeter einen Zeitlupenstriptease, bis ich das dringende Bedürfnis hatte, den Browser zu schließen und zu vergessen, was ich gesehen hatte, der Laptop zu heiß auf meinem Schoß. Es gab natürlich Lichtblitze, Ahnungen von Anziehung, die in meinen gelegentlichen Fantasien auftauchten – ein angespannter Bizeps hier, das spitz zulaufende V einer Hüfte dort, eine Collage verschiedener Grübchen unter einer Reihe von Adlernasen –, aber das Bild war nie vollständig.
Der blonde Junge wartete, tippte mit dem Zeigefinger auf den Klapptisch zwischen uns. Ich griff in meine Taschen und holte mein Handy vor, ein schwarzes Motorola RAZR, dessen kleines Display auf einmal aufleuchtete und ein Bild des Sees, des obligatorischen Schnipsels Natur auf meinem Campus, zeigte: ein paar Ahornbäume gruppiert um eine spiegelglatte Oberfläche. Der blonde Junge rümpfte bei diesem Anblick die Nase, als lauerte hinter dieser friedlichen Ansicht etwas Perverses.
»Ich muss mir alle deine Bilder ansehen«, sagte er. »Auch die Nachrichten.«
»Das ist Standard«, erklärte der Rezeptionist. »Alle Bilder werden zum Zweck der nüchternen Neubewertung eingezogen.« Er zitierte aus dem Abschnitt »Falsche Bilder« (FB) des Handbuchs, einem Abschnitt, den man mich später auswendig lernen ließ.
Wir wollen allen Klienten, männlichen und weiblichen, Mut machen, indem wir Ihre Geschlechtsidentität bekräftigen. Wir wollen auch, dass jeder Klient in all seinen/ihren Handlungen und Erscheinungen nach Lauterkeit strebt. Darum sind alle Besitztümer, Erscheinungsbilder, Kleidungen, Handlungen und Launen, die Sie mit einer unangemessenen Vergangenheit verknüpfen, vom Programm ausgeschlossen. Diese Hindernisse werden »Falsche Bilder« (FB) genannt. FB-Verhalten kann Hypermaskulinität, verführerische Kleidung, männische und jungenhafte Kleidung (bei Frauen), übermäßigen Schmuck (bei Männern) und »tuntiges« oder schwules/lesbisches Verhalten und Sprechen beinhalten.
Ich sah an meinem weißen Button-down-Hemd hinunter, auf die Kakihosen, die mir meine Mutter früh am Morgen gebügelt hatte, in der Mitte eines jeden Beins liefen gestärkte Falten hinab. Nichts an meiner Garderobe oder in meinem Telefon konnte als FB gelten. Ich hatte darauf geachtet, bevor ich hierherkam, hatte mein Spiegelbild nach irgendwelchen Knitterfalten abgesucht, lange Stränge von Textnachrichten mit Freunden gelöscht, gewartet, bis der graue Löschbalken schließlich alle Hoffnung und Angst und Furcht aufgefressen hatte, die ich einst mit Menschen teilte, denen ich vertraute. Ich fühlte mich wie neu geschmiedet, als wäre ich an diesem Morgen meiner alten Haut, meiner »unangemessenen Vergangenheit« entstiegen, die mit der restlichen Dreckwäsche noch immer zerknittert auf dem Schlafzimmerboden lag.
»Dein Portemonnaie, bitte.«
Ich tat, was er sagte. Mein Portemonnaie sah so klein aus, als es dort lag, ein winziges Rechteck aus Leder, das so viel von meiner Identität enthielt: Führerschein, Sozialversicherungskarte, Bankkarte. Der Junge auf dem Führerschein sah aus wie jemand anderes, jemand, der von allen Problemen frei war: ein lächelndes Gesicht in einem Vakuum. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wie mich die Führerscheinstelle dazu gebracht hatte, so albern zu lächeln.
»Räum bitte dein Portemonnaie aus und leg alles auf den Tisch.«
Mein Gesicht wurde heiß. Ich nahm alle Karten raus. Ich nahm ein kleines Bündel Zwanziger raus, dann ein zerrissenes Stück breit liniertes Papier mit der Telefonnummer der College-Zulassungsstelle, die ich in meiner Aufregung aufgeschrieben hatte, als nicht klar war, wie meine Chancen standen, angenommen zu werden.
»Was ist das für eine Nummer?«, fragte der Junge.
»College-Zulassung«, sagte ich.
»Wenn ich diese Nummer anrufe, finde ich dann raus, dass du die Wahrheit sagst?«
»Ja.«
»Du hast keine Telefonnummern oder Fotos von Ex-Freunden dabei?«
Ich hasste es, wie er so offen über »Ex-Freunde« sprach, ich hatte dieses Wort so sorgfältig vermieden, weil ich dachte, schon durch das bloße Aussprechen auf mein schändliches Verlangen nach einem »Freund« hinzuweisen. »Nein, ich habe keine unangemessenen Sachen.« Ich zählte bis zehn, atmete durch die Nase aus und sah wieder zum Jungen auf. Ich wollte das nicht an mich heranlassen, nicht so früh am ersten Tag.
»Hast du noch irgendwas anderes in deinen Taschen?«
Seine Fragen machten mich paranoid. Konnte ich unwissentlich irgendein unangemessenes Ding hereingetragen haben? In diesem Augenblick schien alles an mir unangemessen zu sein, als könnte ich der Räumlichkeiten verwiesen werden, einfach weil ich schon zu dreckig wäre. Sein Ton legte nahe, dass ich verzweifelt eine weitläufige sündhafte Vergangenheit zu verstecken versuchte, aber die Wahrheit war, dass ich, obwohl ich die Last dieser zu erwartenden Sünde spürte, sehr wenig leibhaftige Beweise dafür hatte und noch weniger leibhaftige Erfahrungen.
»Bist du dir sicher, dass du sonst nichts mehr hast?«
Ich hatte tatsächlich noch etwas, hoffte aber, ich müsste es nicht abgeben: mein Moleskine-Tagebuch, in das ich alle meine Kurzgeschichten schrieb. Obwohl ich wusste, dass diese Geschichten dilettantisch waren, dass es nur ein Herumspielen mit ernsthaftem Schreiben war, freute ich mich darauf weiterzuschreiben, sobald die Tagesaktivitäten vorbei sein würden. Ich vermutete, dass die langen beschreibenden Absätze zur Natur, so harmlos sie zu sein schienen, als ich sie geschrieben hatte, als zu blumig, zu feminin ausgelegt werden könnten, ein weiteres Zeichen meiner moralischen Schwäche. Eine meiner neuesten Geschichten hatte sogar eine Erzählerin, eine Entscheidung, die wohl kaum mein Geschlecht bekräftigte.
»Das hier«, sagte ich und hielt das Moleskine vor mir fest, weil ich es nicht auf den Tisch mit den anderen Sachen legen wollte. »Nur ein Notizbuch.«
»Tagebücher sind verboten«, sagte der Rezeptionist, das Handbuch zitierend. »Alles andere ist Ablenkung.«
Ich sah, wie der blonde Junge das Moleskine in die Hand nahm, wie er es auf den Tisch legte, desinteressiert die Seiten vor- und zurückblätterte und die Stirn runzelte. Ich kann mich nicht mehr erinnern, welche Geschichte er fand, aber ich kann mich erinnern, wie er die Seiten aus meinem Notizbuch riss, zu einer festen Kugel bauschte und mit einer Stimme ohne jede Emotion sagte: »Falsches Bild«, als wären sie nichts anderes.
»So, das sollte alles sein«, sagte der Rezeptionist. »Jetzt muss ich dich nur noch schnell abtasten, und dann bist du fertig.«
Er tastete an meinen Beinen, fuhr mit seinen Fingern unter den Aufschlag meiner Kakis, arbeitete sich bis zu meinen Armen empor, zum Ärmelaufschlag meines Hemds und klopfte mir, als wollte er mich beruhigen, auf die Schultern – eins–zwei–drei –, und blickte mir dabei die ganze Zeit in die Augen.
»Alles wird gut«, sagte er, seine allzu blauen Augen auf meine geheftet, das Gewicht seiner Hände drückte noch immer auf meine Schultern. »Da müssen wir alle durch. Am Anfang ist es ein bisschen seltsam, aber du wirst es hier lieben. Wir sind alle eine große Familie.«
Ich sah, wie der blonde Junge meine Geschichte in den Müll warf. Herr, mach mich rein. Wenn Gott mein Gebet je beantworten sollte, musste ich erst so durchsichtig wie ein Wassertropfen werden. Zerknüll die erste Hälfte der Geschichte und wirf sie in den Müll. Alles andere ist Ablenkung.
»Denn der Sünde Sold ist der Tod«, fuhr Smid fort. Das Licht der Nachmittagssonne fiel schräg durch die Schiebetür hinter ihm. Jedes Mal, wenn er an uns vorbeiging, zog der Schatten des Mittelstegs wie das träge Pendel eines Metronoms über ihn und betonte die Langsamkeit seiner Schritte. Unsere Therapiegruppe saß ruhig und still, unser Atem eingestimmt auf den langsamen Puls seiner Beine, den Auflauf der Mittagspause noch schwer im Magen. Die Gruppe bestand aus siebzehn oder achtzehn Personen. Einige waren schon lange genug hier, um höflich auf das Fleisch und den Schmelzkäse zu verzichten, während andere ihr eigenes Essen mitgebracht hatten, neonfarbene Tupperdosen öffneten, die einen Hauch Thunfisch und Mayo verströmten. Als ich den Mitgliedern, die schon seit zwei oder drei Jahren bei LIA waren, beim Essen zusah, konnte ich verstehen, dass der Rezeptionist zumindest teilweise recht hatte, dass das hier eine Familie war, wenn auch eine gestörte. Brot ohne Kruste und ultramarinblauer Wackelpudding: In dieser Gruppe wusste man die Eigentümlichkeiten bei den Essgewohnheiten der anderen zu tolerieren. Die Leute richteten sich in ihren Abläufen ein und zeigten nur wenig von dem verlegenen Summen, den verstohlenen Seitenblicken, die für gewöhnlich mit großen Gruppen einhergehen, die sich plötzlich in eine intime Situation geworfen sehen. Ich war der Einzige, der den Außenseiter zu spielen schien, kratzte mit der Gabel in meinem Fertiggericht herum, als hätte ich vergessen, wie ich mich zu ernähren hatte, und schaute kaum vom Teller auf.
Links von mir saß S, ein Teenager, ganz hölzern in ihrem Pflichtrock, die später zugeben sollte, dass sie dabei erwischt worden war, wie sie Erdnussbutter auf ihre Vagina geschmiert hatte, als Leckerli für ihren Hund. »Freut mich, dich kennenzulernen«, hatte sie an diesem Morgen gesagt, bevor ich mich überhaupt hatte vorstellen können. Sie schien stets bereit, einen Knicks zu machen, Daumen und Zeigefinger zupften an den Falten ihres Baumwollrocks. Sie hatte nach der Begrüßung auf meine Schuhe hinabgesehen, ihren Blick auf die Fliese hinter meinen Loafer fixiert, und für einen Augenblick dachte ich, ich hätte irgendeinen Überrest Sünde aus der Außenwelt eingeschleppt. »Es wird dir hier gefallen.«
Zu meiner Rechten saß ein siebzehn- oder achtzehnjähriger Junge, J, Wrangler-Jeans, Cowboygrinsen, ein Scheitel, wie man ihn in Studentenverbindungen trug, Haare, deren gefährlich lange Strähnen über warme haselnussbraune Augen fielen. J gab immerzu damit an, dass er alle acht »Prügelpassagen« der Bibel auswendig konnte, die so genannt wurden, weil sie es vermochten, Homosexualität dogmatisch zu verurteilen und traditionelle heterosexuelle Beziehungen zu verteidigen.
»Ich lese sie jeden Abend«, hatte J gesagt, seine Stimme ernst, aber auch ein bisschen verspielt. Er griff meine Hand mit antrainiert eisernem Druck. Dahinter schienen tausend Handschläge zu stecken, die Js Griff jedes Mal verstärkt hatten, bis er stark genug war, um diesen Grundtest der Männlichkeit zu bestehen. »Ich habe auch ganze Kapitel auswendig gelernt.«
Als sich unsere Hände lösten, konnte ich spüren, wie sein Schweiß meine Handfläche im Abwind kühlte. Keine Umarmungen oder Berührungen unter Klienten, hieß es im Handbuch, fiel mir ein. Nur der kürzeste Handschlag war erlaubt.
»Meine Lieblingsstelle?«, sagte er lächelnd. »Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Gräuel.«
Später sollte er mir mehr über seine Interpretation dieses »Prügelverses« erzählen. »Gräuel«, würde er sagen, seine Strähnen langsam mit gebogenen Fingern nach hinten schiebend, wobei die weißen Halbmonde seiner Fingernägel groß und hell leuchteten. »Verrücktes Wort. Auf Hebräisch to’e’va. Es kann sich genauso auf Schalentiere beziehen wie auf schwulen Sex. Diese ganzen Beinchen, die im Salzwasser schwimmen, ekelten die Israeliten an, weißt du? Sie dachten, das wäre unnatürlich.«
Unter den anderen Mitgliedern unserer Gruppe waren untreue Ehemänner und -frauen, frühere Highschool-Lehrer oder irgendwelche anderen Erzieher, bloßgestellt durch Gerüchte über ihre Sexualität, und Teenager, die gegen ihren Willen hier waren und am Refuge-Programm teilnahmen, einem umstrittenen Unterprogramm, das sich an Eltern richtete, die meinten, ihre Kinder in die Anstalt zu schicken, wäre die einzige Möglichkeit.
Die meisten von uns waren aus den Südstaaten, die meisten von uns irgendwo aus dem Bible Belt. Die meisten unserer Geschichten klangen auffallend ähnlich. Wir waren alle mit Ultimaten konfrontiert worden, die es für viele andere Leute nicht gab, Bedingungen, die für die Liebe der Eltern zu ihren Kindern sonst oft nicht infrage kamen. Irgendwann war jeder von uns auf ein »Ändere das, sonst …« gestoßen: Sonst würden wir obdachlos, mittellos, exkommuniziert, exiliert. Wir hatten alle zu viel Angst davor, durchs Raster zu fallen; uns allen waren abschreckende Beispiele von Drogensüchtigen geschildert worden, von Sexsüchtigen, von Leuten, die in irgendeiner urbanen Westküstengosse unter den Qualen von Aids starben. Die Geschichte ging immer so aus. Und wir glaubten die Geschichte. Größtenteils bekräftigten die von uns konsumierten Medien sie. Man konnte in den Kleinstadtkinos kaum einen Film finden, in dem es offen um Homosexualität ging, und wenn doch, dann endete er fast immer damit, dass jemand an Aids starb.
Ich war als Teilnehmer von Source hier, einem zweiwöchigen Probeprogramm, bei dem die Dauer der Therapie festgelegt werden sollte, die ich benötigen würde. Die meisten Patienten benötigten mindestens drei Monate Aufenthalt, für gewöhnlich länger. In vielen Fällen unterbrachen College-Studenten wie ich ihr Studium für mindestens ein Jahr, um von ungesunden Einflüssen Abstand zu gewinnen. Viele blieben sogar noch länger. Tatsächlich waren die meisten Mitarbeiter frühere Patienten, die mindestens zwei Jahre bei LIA gewesen waren und lieber in der Anstalt bleiben wollten, als sich wieder in ihr altes Leben einzufinden. Um in der Anstalt arbeiten zu dürfen, wurde von früheren Patienten erwartet, vorab genehmigte Jobs zu finden, finanziell selbstständig zu sein, nur mit denen zu sprechen, deren Charakter und Status vom Personal für unbedenklich erklärt wurden, und sich vom Internet oder irgendwelchen anderen »weltlichen Räumen« fernzuhalten – einschließlich »Einkaufszentren jeglicher Art« oder »nichtchristlicher Buchläden«. Weil Patienten sich in ihrer Freizeit nicht zu weit von den LIA-Büros entfernen durften, wurde die Selbsthilfegruppe zum Mittelpunkt ihres Lebens; der Weg und die Wahrheit und das Leben, von denen Jesus im Neuen Testament sprach, wurden der eine wahre Pfad zur Liebe Gottes.
In den nächsten zwei Wochen würde das LIA-Personal, gemeinsam mit meinen Eltern, festlegen, welche Art von Auszeit in meinem Fall nötig sein würde. Wie der Name andeutete, war Source die Quelle einer langen und beschwerlichen Reise.
»Erzähl ihnen, was du gemacht hast, T«, sagte Smid. Wir waren im Mitteilungsteil unserer Nachmittagssitzung. »Du musst zugeben, was du gemacht hast, damit es nicht mehr vorkommt.«
T, ein übergewichtiger Mann mittleren Alters, der mehrere schwarze Strickjacken übereinander trug, stellte sich vor die Gruppe, um mit steinerner Miene zu gestehen, dass er wieder einmal versucht hatte, Selbstmord zu begehen.
Das war Ts siebter Selbstmordversuch, seit er im Programm war. Er hatte Pillen probiert, Messer, was auch immer er finden konnte.
»Typisch«, flüsterte J und beugte sich rüber, sein warmer Cowboy-Atem kitzelte auf meinem Nacken. »Der Typ ist eine Rampensau. Der hat mehr Vaterkomplexe, als es Namen dafür gibt.«
T schien in seinen Strickjacken zu schrumpfen, der vergrabene Teil von ihm stand schroff schwarz im Kontrast zum blassen Gesicht. Was immer ihn in erster Linie zugrunde gerichtet hatte, war längst vorbei, aber LIA versuchte, es auszugraben.
»Wer von uns wird den ersten Stein werfen?«, sagte Smid und drehte sich wieder zu unserer Gruppe. »Wir haben alle gesündigt und gelangen nicht in Gottes Herrlichkeit.«
Es sah so aus, als wäre Ernsthaftigkeit mehr als die halbe Schlacht im Kampf um ein Ex-Gay-Leben. Man musste sich ändern wollen, und erst wenn der Wille zur Veränderung so stark wäre, dass man lieber sterben wollte, als sich nicht zu ändern, würde man es über Schritt eins hinausschaffen: zugeben, dass man falsch lag. Der Grund, warum Prä-Ex-Gays wie T das Gefühl hätten, zu schwach zur Veränderung zu sein, sagte Smid, liege darin, dass hartnäckige Familienprobleme sie von Gott trennten. »Selbstmord ist nicht die Antwort«, sagte er. »Die Antwort ist Gott. Schlicht und einfach.«
»Was ich gemacht habe, war falsch«, sagte T in zurechtgelegten Worten, wobei er die pinknarbigen Hände in die Taschen der obersten Strickjacke steckte. »Ich weiß, dass ich mit Gottes Hilfe lernen kann, den Wert meines Lebens zu erkennen.«
J hustete einen Lacher in die hohle Hand. Verlass dich nicht drauf.
Als T sich schließlich setzte, sagten wir alle: »Ich liebe dich, T.« Das war eine Programmvorschrift, Nummer neun im Abschnitt Gruppenregeln: Sobald jemand aus eurer Gruppe mit dem Sprechen fertig ist, sagt: »Ich liebe dich, _____.«
Da alle Kinder Gottes gleich waren, waren unsere Namen austauschbar.
»Ich liebe dich, T«, sagte Smid.
Ich wusste es zu der Zeit noch nicht, aber Smid hatte früher andere Ratschläge gegeben. Er hatte immer noch mit den Spätfolgen eines jahrzehntealten Rats zu tun, den er einem der ersten jungen Männer angeblich gegeben hatte, die an seinem Programm teilgenommen hatten. Laut Family & Friends, einer Zeitschrift aus Memphis, hatte Smid dem Mann gesagt, es wäre besser für ihn, sich umzubringen, als das Leben eines Homosexuellen zu führen.
Mehrere Blogger haben seitdem die Zahl der Selbstmorde infolge einer LIA-Behandlung irgendwo zwischen zwanzig und dreißig Fällen geschätzt, auch wenn solche Zahlen unmöglich genau zu bestimmen sind.
Die Kontroverse hörte damit nicht auf. Laut einem Interview von The Daily Beast mit Peterson Toscano, einem früheren Patienten von Smid, der an LIA-Treffen in den späten Neunzigern teilgenommen hatte, war LIA auch dafür verantwortlich, eine Scheinbeerdigung für einen »potenziell Abtrünnigen« inszeniert zu haben, einen jungen Mann von neunzehn oder zwanzig Jahren, der der Meinung war, ein offen schwules Leben außerhalb der Anstalt wäre besser für ihn. LIA-Mitglieder standen vor dem liegenden Körper des Jungen und sprachen darüber, wie furchtbar es sei, dass er nicht zu Gott halte: »Und seht nur, wohin es ihn gebracht hat, er ist tot, weil er gegangen ist.« Sie lasen frei erfundene Todesanzeigen vor, die den raschen Absturz des Jungen in HIV, dann Aids beschrieben, und beweinten ihn. Das ging so lange, bis der Junge ganz und gar überzeugt davon war, dass sein sündhaftes Verhalten ihn zu einem Tod ohne Hoffnung auf Wiederauferstehung führen würde. Der Junge konnte letztlich von LIA fliehen, doch erst Jahre später und, einem Gespräch zufolge, das ich mit Toscano führte, erst nach Jahren psychischer Schädigung.
Es war unsere Angst vor der Scham, gefolgt von unserer Angst vor der Hölle, die uns wirklich vom Selbstmord abhielt.
Smid beendete seine Rede und wartete still darauf, dass unsere Gesichter die Bedeutung von Schritt eins registrierten. Nach einigen langen Sekunden entließ er uns in die Pause, schlug die Handflächen zu einem einzigen Klatschen zusammen. Das Geräusch war erschütternd. Ich stand auf und streckte mich, ging dann durch die Glasschiebetür, ging weiter über die Veranda und hatte das Gefühl, stunden-, tage-, wochenlang gehen zu können. Die anderen folgten, ihre Schuhe schabten auf dem Beton.
Ich wollte noch mehr mit J reden, der ein ganz netter Typ zu sein schien, jemand, der noch nicht so lange hier war, als dass er vergessen hätte, wie der erste Tag war. Aber J blieb drinnen sitzen, und ich stand schließlich allein am äußersten Rand der Veranda. Ich konnte S direkt hinter der Glasscheibe stehen sehen, sie glättete ihren Rock und zielte mit einem Eckchen schüchternen Lächelns in meine Richtung. T saß noch immer am Ende unseres Halbkreises, sein Blick auf einen Fleck Beton zu meinen Füßen fixiert, wo ein paar lohfarbene Vögel nach Brotkrumen pickten, die einer der Gruppenteilnehmer hinterlassen hatte. Er hielt seine Hände vor sich, als wären sie mit Vogelfutter gefüllt, als könnte er eine Pickspur von der Tür bis zu seinem Stuhl verstreuen.
»Nun«, sagte Smid, als er zu einem Whiteboard an der anderen Wand ging, »kann mir hier jemand sagen, was ein Genogramm ist?« Er klatschte in die Hände. »Niemand?« Er nahm einen schwarzen Marker aus der silberfarbenen Ablage am unteren Ende der Tafel.
S rückte ihre Schultern gerade und hob eine Hand, während die andere ihren Rock über die roten Knäufe ihrer Knie zog – was, wie ich bald lernen sollte, den Nummern zwei, vier und sechs des Abschnitts Gruppenregeln unseres Handbuchs entsprach: »(2) Nicht krumm auf den Stühlen sitzen, kippeln, die Arme verschränken, Augen verdrehen oder anstößige Gesichter machen; (4) Zum Sprechen die Hand heben; (6) Klienten haben so zu sitzen, dass sie andere nicht zum Stolpern bringen.« Sie war offenbar lange genug hier, dass sie die meisten ihrer Falschen Bilder im Griff hatte.
»Ja?«, sagte Smid.
»Ein Genogramm ist ein Familienstammbaum«, sagte sie, »der aber auch Muster der Familiengeschichte zeigt. Ungefähr so was wie eine illustrierte Genealogie.« Oder eine Figurenliste, dachte ich und erinnerte mich an die vielen Stunden, die ich in meinem Wohnheimzimmer damit verbracht hatte, die Familiengeschichte von Emily Brontës Sturmhöhe in meinem Moleskine aufzuzeichnen und dabei Anmerkungen wie »die gemeinere Cathy« neben Figurennamen zu schreiben. Ich fragte mich, ob ich mein Notizbuch jemals zurückbekommen würde.
»Richtige Antwort«, sagte Smid und schrieb die Wörter »Familienstammbaum – Genealogie« in großer Schreibschrift auf den oberen Teil des Whiteboards. Er drehte sich wieder zu uns. »Gibt es noch etwas hinzuzufügen?«
Ich rutschte auf dem Sitzkissen hin und her. Ich empfand in Klassenräumen immer diese Nervosität, dieses Bedürfnis, der Stille nach einer Frage ein Ende zu bereiten, egal wie unpassend die Antwort auch sein mochte. Und ich wollte die anderen Gruppenteilnehmer beeindrucken. Ich wollte ihnen zeigen, wie viel ich wusste, wollte, dass sie sahen, wie viel klüger ich war, dass ich keine auffälligen Tippfehler machte, dass ich nicht hierhergehörte, nicht wirklich, sondern nur auf Durchreise war, dass ich in null Komma nichts wieder rausfinden würde.
»Das hast du richtig vermutet, S«, sagte Smid und holte einen Stapel Poster vom blonden Jungen. Er gab ihn T, der sich ein Blatt nahm und den Stapel weiterreichte. »Ein Genogramm zeigt die erblichen Muster und sündhaften Verhaltensweisen in unseren Familien. Es verfolgt nicht so sehr unsere Genealogie als vielmehr die Geschichte hinter unserem gegenwärtigen sündhaften Verhalten.«
Smid ging zur Tafel zurück. Mit einer überschwänglichen Geste zog er die Kappe des Stifts ab. Zuerst schrieb er ein A für Alkoholismus. Dann schrieb er ein P für promisk. Er schrieb die Tafel mit dicken schwarzen Buchstaben voll, die wir als Schlüssel für unsere Genogramme verwenden sollten: H für Homosexualität; D für Drogen; $ für Glücksspiel; G für Geisteskrankheit; Ab für Abtreibung; B für Bandenmitgliedschaft; Po für Pornografie. Ich versuchte, über die fehlende Einheitlichkeit in Smids Liste hinwegzusehen, eine grundlegende Stilregel, die ich im Englischunterricht der Mittelstufe aufgeschnappt hatte. Das Medium, sagte ich mir, musste nicht immer perfekt sein. J nahm eines der Poster und reichte mir den Stapel. Ich spürte das Zittern seiner Hand zwischen uns. Ich legte mein Blatt auf den beigen Berberteppich zu meinen Füßen.
Smid drehte sich zu uns um, klickte die Stiftkappe zu. »Ein Trauma ist oft mit einer Generationensünde verbunden«, sagte er. »Wir müssen verstehen, wo die Sünde ursprünglich herkommt. Wie sie von Vater zu Sohn, von Mutter zu Tochter durchsickert.« Ich kannte diese Haltung aus einem Bibelvers, der in der Kirche unserer Familie beliebt war – Exodus, 2. Buch Mose, 20,5.
Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen.
Der blonde Junge gab jedem von uns ein paar mit Gummiband zusammengehaltene Farbstifte. Die erfahreneren Teilnehmer in unserer Gruppe rutschten von den Stühlen und begannen mit dem täglichen Gruppenprojekt, die Poster nahmen sie mit. Ich folgte ihnen schnell, meine Knie waren bereits daran gewohnt, stundenlang vor dem mit Tungöl gepflegten Altar unserer Familienkirche zu knien und Gott zu bitten, mich zu ändern. Ich hatte achtzehn Jahre meines Lebens damit verbracht, dreimal in der Woche zur Kirche zu gehen, den Altarruf gemeinsam mit meinem Vater und den anderen Männern zu beherzigen, zu versuchen, an eine buchstabengetreue Bibeldeutung zu glauben.
»Der Einfluss des Zwangsverhaltens der Eltern auf die Kinder«, fuhr Smid fort, »ist die verbreitetste Wurzel für sexuelle Sünde.«
Unsere farbig gekennzeichneten Genogramme würden uns mitteilen, ab wann alles verkehrt gelaufen war. Verfolgten wir unseren Stammbaum weit genug zurück, erhielten wir, wenn schon nicht die Lösung für unsere eigenen sexuellen Sünden, so doch zumindest das Gespür dafür, welcher tote und verwahrloste Ast unseres Familienstammbaums dafür verantwortlich war.