E-Book-Ausgabe 2018
© 2018 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40 / 41, 10719 Berlin
Covergestaltung Julie August.
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.
ISBN: 9783803142320
Auch in gedruckter Form erhältlich: 9783803132925
http://www.wagenbach.de/
Für Deepak
Als man ihm sagt, dass alles in Ordnung ist – keine Auffälligkeiten, nichts Besorgniserregendes – für sein Alter tipptopp –, da empfindet er neben der Erleichterung eine insgeheime Enttäuschung. Er hat gehofft, man würde etwas finden. Und auch wenn es ihm kaum bewusst gewesen ist, hat ihm die Hoffnung darauf ein Gefühl von Wichtigkeit gegeben: Man würde etwas finden und entsprechende Maßnahmen ergreifen. Eine Diät etwa. Sport. Drei Tabletten pro Tag. Maßnahmen, auf die er sich gefreut hat und die er trotz Vorfreude darauf zuerst mit einigem Widerstand, dann, sich nach und nach fügend, am Ende eifrig befolgt haben würde. Aber so? Was soll er machen? Man händigt ihm die Befunde aus, er nimmt sie entgegen. Jetzt könnte er darauf zu sprechen kommen, wie schwer es ihm fällt, morgens aufzustehen, aber da hat man ihn bereits aus dem Untersuchungsraum begleitet, zurück ins Wartezimmer, wo er am liebsten bleiben würde. Es ist schön hier. Man hat sich Mühe gegeben. An den Wänden hängen Fotos von Babys in Blumenkelchen, und er würde gerne, sehr gerne davor sitzen bleiben. Sich fragen, wie sie wohl dorthinein geraten sind, die Babys mit ihren Schmetterlingsflügeln, wie die wohl befestigt wurden, an ihren schmalen weißen Rücken. Auch darauf hätte er zu sprechen kommen können, dass er sich immerzu fragt und fragt und fragt, ohne dass sich daraus ein Sinn ergibt, und ob das nicht symptomatisch ist für eine Krankheit, dass er keine Ruhe hat vor den Fragen, gerade morgens nicht, wenn er die Augen aufschlägt, dass dann die Sinnlosigkeit auf seinen Brustkorb drückt. Oder ist das normal? Eine Alterserscheinung? Und es braucht Zeit, die er ja nun hat, bis er sich gewöhnt hat ans Zeithaben? Bei der Garderobe nimmt er seine Jacke vom Haken, sie ist dunkelgrau, fast schon schwarz. In dem Geschäft, wo er sie gekauft hat, sagte man ihm, die Farbe sei von einer zeitlosen Eleganz, sowohl klassisch als auch modern, dazu der Schnitt, von einer Schlichtheit, die stark im Trend liege und dabei gleichzeitig traditionell und – im Grunde nichtssagend ist. Den Gedanken hat er freilich für sich behalten, ebenso wie den, dass es wohl die letzte Jacke war, die er kaufte, das letzte Hemd, die letzten Schuhe. Diese Sachen, dachte er, genügen. Mehr braucht er nicht mehr. Und es hat ihn mit einer Zufriedenheit erfüllt, derart bescheiden zu sein in seinen Ansprüchen für sich selbst, zugleich mit einer Wehmut, an jenem Punkt angelangt zu sein, von dem er immer geglaubt hatte, er befinde sich in weiter Ferne, irgendwann würde er nichts mehr haben wollen. Nun war es so weit. Lächerlich. Jetzt sieht er es ein. Und dass er sich glücklich schätzen sollte, Hauptsache gesund, nicht auf die Uhr schauen, nicht seufzen, die Mundwinkel nach oben ziehen. Fast tut es weh, das Lächeln, mit dem er die Praxis verlässt. Ein leichtes Zucken im Gesicht, so in etwa stellt er sich einen Phantomschmerz vor.
Es war seine Frau, die ihn dazu gedrängt hat, sich einmal von Kopf bis Fuß untersuchen zu lassen. Sie meinte, Vorsicht sei besser als Nachsicht und das schon gar nicht mehr zu ihm hin, sondern an ihm vorbei ins Leere gemurmelt: »Immerhin wäre das eine Beschäftigung.« Das Kränkende daran hat er zuerst nicht hören wollen. Erst etwas später, schon halb im Schlaf, fand er sich ganz zu Unrecht in eine Reihe gestellt mit jenen anderen, die nichts Besseres zu tun hatten, als jeden Monat einmal zum Arzt zu gehen, um dort mit Gleichgesinnten über ihre Wehwehchen zu sprechen und auf diese Art, wenigstens zeitweilig, der den Wehwehchen zugrunde liegenden Einsamkeit zu entfliehen. Er sah sie vor sich. Fröhlich schwatzend über ihre Krankheiten, die, wenn man es genau nahm, gar keine waren, und sie wussten es und hielten dennoch daran fest, an ihrem Stechen und Brennen und Zwicken. »Erbärmlich!« Mit diesem Wort und indem er es gleichsam aus sich herausschleuderte, versuchte er sich von ihnen abzugrenzen, aber sooft er es auch wiederholte mit immer schwächer werdendem Nachdruck – »Erbärmlich! Erbärmlich! Erbärmlich!« –, am Ende schien es ihn miteinzuschließen, und was ihn kränkte, war nicht die Zugehörigkeit, sondern eben die Einsamkeit, die sie voraussetzte. Dass er in seinem Bett lag, daneben die Wand. Er nach einer Bewegung auf der anderen Seite lauschte, aufgrund eines Knarrens genau wusste, seine Frau war noch wach. Er nicht mehr über sie wusste als das. Und dass er sie nicht zu benennen vermochte. Bloß spürte. Die Fremdheit, die zwischen ihnen stand, sie das einzig Vertraute war, was sie miteinander verband.
Und jetzt? Er gibt sich den Anschein, ein Ziel zu haben. Mit großen Schritten geht er los, als ob dort, wohin er geht, jemand warten würde und es von höchster Dringlichkeit wäre, rechtzeitig hinzugelangen. Müßig spazieren zu gehen, einfach so, um des Gehens willen, hat er probiert – kann er nicht. Das Problem dabei sind seine Hände, er weiß nicht, was tun mit ihnen. Wenn er sie in die Jackentaschen steckt – so fühlt er sich wie ein Schüler, der die Schule schwänzt, und wenn er sie an sich herunterbaumeln lässt – so fühlt er sich wie ein davongelaufener Affe, der sich nach seinem Käfig sehnt. Und wozu auch? Spazieren gehen? Seine Frau meint: um die Knochen in Schwung zu halten. Sie schickt ihn jeden Tag vors Haus. Er solle doch eine Runde drehen. Ihr nicht im Weg sein, will sie damit sagen. So gut kennt er sie. Und daher hat er es sich angewöhnt, schließlich gar kein so schlechter Zeitvertreib, bloß dass er nicht spazieren geht, sondern läuft, dieser Unterschied ist ihm wichtig. Wenn er einen Hund hätte! Dann ja! Einen weißen Spitz, der ihn hinter sich herzöge, eine der Vorstellungen, die bewirken, dass er einen Moment lang das Atmen vergisst, so sehr beglückt sie ihn, die Vorstellung von einer straff gespannten Leine. Aber okay, er versteht es ja. Seine Frau hat es ihm begreiflich gemacht: Ein Hund kostet erstens Geld, zweitens hängt man sein Herz an ihn. Kindisch. Drittens: kein Urlaub mehr. Viertens: der Schmutz. Und fünftens: Irgendwann stirbt er, was dann? Worauf er entgegengehalten hat, weil es das Kleinste war, gemessen an Geld, Liebe und Tod, und weil er im Kleinsten, wenigstens da, recht haben wollte, dass sie ohnehin nie in den Urlaub führen, worauf sie gelacht hat, er auch, sie plötzlich stumm geworden ist, er auch, und sie beide für den Rest des Tages in ein ungemütliches Schweigen verfallen sind. Den weißen Spitz hat er danach nicht wieder erwähnt, und er bemüht sich, so selten wie möglich an ihn zu denken. Manchmal passiert es ihm aber, zum Beispiel beim Essen, und seine Frau scheint es zu merken an der Art, wie er nach ein bisschen mehr Salz verlangt. Eigentlich schön: Sie sind ein eingespieltes Team. Er denkt an etwas. Sie merkt es. Er merkt, dass sie es merkt. Und auch wenn keiner von ihnen ein Wort darüber verliert, ist es, als ob sie einander über den Tisch hinweg anschreien würden.
Aber es wartet niemand auf ihn, und es ist egal, ob er zu spät kommt oder nicht. Nach zwei, drei Häuserblöcken, zügig gelaufen, rinnt ihm der Schweiß von der Stirn, und es ist ihm peinlich, sich derart verausgabt zu haben, immerhin müsste er das nicht, er könnte sich irgendwohin setzen, sich zurücklehnen, die Wolken über sich vorbeiziehen lassen, aber auch das – er hat es probiert – kann er nicht. Sein Blick bleibt jedes Mal an den Stromleitungen hängen, wie sie den Himmel zerschneiden, und es ist ein Bild, das ihn traurig macht: die Vögel, die über den zerschnittenen Himmel fliegen. Dann lieber die Peinlichkeit aushalten, stehen zu bleiben und sich mit dem Taschentuch, das er für solche Fälle bereithält, den Schweiß abzuwischen. Er, der gar nicht mehr schwitzen müsste, schwitzt, wie er in all den Jahren, als er noch arbeiten ging, nicht geschwitzt hat, und er nimmt sich vor, diesbezüglich nachzuschlagen, sobald er zu Hause ist. Unter den Stichwörtern »schwitzen« und »Ruhestand« wird er bestimmt etwas finden. Eine hormonelle Störung, die anhand der Blutwerte, die er bei sich trägt, nicht leicht erkennbar ist, und er fragt sich, ob er vielleicht morgen in die Praxis? Das nochmals abklären lassen? Oder lieber gleich in ein größeres Krankenhaus? Einen Spezialisten aufsuchen? Nein, erst einmal forschen, auf eigene Faust, es gibt Dinge, die macht man mit sich selber aus, und solche, die erledigen sich von alleine. Der Sex, unter anderem, gehört dazu. Schwitzend denkt er daran zurück. Das letzte Mal – hat es überhaupt stattgefunden? – ist eine schwache Erinnerung an Haut oder, knapp darüber, an hauchdünnen Stoff. Er ist betrunken gewesen. Schade. Das Mädchen hat ihn gleich nachher rausgeschmissen. Und er erinnert sich, an einem grell beleuchteten Eck gestanden und sich gleichzeitig erbrochen und in die Hose gepinkelt zu haben. Das war kurz vor seiner Pensionierung gewesen. Ein paar Kollegen hatten ihn herausgefordert. Alles Leute, mit denen er nichts mehr zu schaffen hat, von heute auf morgen sind sie untergetaucht. Oder ist er der Untergetauchte, und sie schwimmen oben? Von exakt dem Tag an, als er das Büro verlassen hat, mit einem Rollkoffer voller Zeug, Fotos und Andenken, mit denen er seinen Schreibtisch geschmückt hatte, darunter ein Specht, der, wenn man ihn aufzieht, gegen einen Baumstamm klopft, ist er kein einziges Mal auf die Idee gekommen, sich bei einem von ihnen zu melden.
Die Gesichter sieht er klar vor sich, und auch die dazugehörigen Durchwahlnummern weiß er noch auswendig, aber den Hörer in die Hand nehmen, anrufen und »Hallo« sagen? Womöglich würde man ihn für ein Gespenst halten, und er hat Angst vor der Pause, nachdem er seinen Namen genannt hätte.
»Ähm, wer bitte?«
Das alte »Ich bin’s«. Es würde ihm im Hals stecken bleiben.
Was wohl aus Itō geworden ist? Dem ehemaligen Mitarbeiter, der, schon in Rente, sie an jedem Ersten des Monats, und wenn der Erste ein Samstag oder ein Sonntag war, dann am Zweiten oder Dritten im Büro besucht hatte, um von seinem Motorrad zu erzählen? Wie er damit durchs Land brauste? In die untergehende Sonne hinein? Hinter sich die Stadt, in der sie sich alle zu Tode strampelten, und wofür eigentlich? Seine Hypothese: weil sie annahmen, es gehöre sich so, was natürlich nicht stimmte. In Wahrheit – und wie verführerisch das aus seinem Mund klang – waren sie »frei«. Am Anfang glaubten sie es ihm, und der eine oder andere war sogar ins Träumen gekommen: »Wenn ich in Rente gehe, mache ich es genauso wie Itō!« Nach und nach aber hatten sie zu zweifeln begonnen: warum er nie auf seinem Motorrad erschien? Es auch auf den Fotos, die er stolz herumreichte, nicht zu sehen war, sondern immer nur ein Berg oder ein Fluss, halb verdeckt von seinem Daumen? Hier und dort hätte er campiert. Kein Zelt, keine Feuerstelle. Hier und dort wäre er fast im Graben gelandet. Eine Straße ohne Kurven, schnurgerade. Itōs Schilderungen, mit jedem Mal abenteuerlicher, wurden zur Lachnummer. Sobald er gegangen war, ein wenig schief, wie er durch die Tür hinausschlurfte, prusteten sie los: »Der und Motorradfahren! Der fährt doch höchstens mit der Bahn und selbst das nur mit Bauchweh!« Und ob er das gespürt hat oder nicht, es war gleichgültig, denn sie vermissten ihn kaum, als er an einem Vierten noch nicht gekommen war. Die süßen Pfirsiche, die er ihnen von einem seiner »Trips«, wie er zu sagen pflegte, mitgebracht hatte, lagen verschrumpelt in einer Schale auf dem Tisch in der Gemeinschaftsküche. Einer scherzte: »Die hat er bestimmt im Laden ums Eck gekauft.« Und sie wurden kleiner von Tag zu Tag, braun und saftlos, bis die Putzfrau sie irgendwann in den Mülleimer warf, mit vor Ekel verzogenem Mund, wo sie zwischen den Resten des Mittagessens wie eingetretene Köpfe aussahen.
Er denkt jetzt öfters an Itō. Vor allem wenn er, wie gerade eben, um eine Ecke biegt und der Wind ganz plötzlich von vorne in sein Gesicht fährt und ihm die Haare zerzaust, er kurz keine Luft bekommt – japst, rudert, schnauft –, sich mit dem Oberkörper gegen den unsichtbaren Gegner stemmt. Und er fasst dann jedes Mal und von Neuem den Entschluss, bei ihm vorbeizuschauen, nicht heute, das nicht, für heute hat er genug geleistet, aber bald, sehr bald, vielleicht morgen oder übermorgen. Er hat es sich auf seiner Liste notiert. Ganz oben: mit den Kindern telefonieren. Sie fragen, wie es ihnen geht. Danach: das Radio reparieren. Die Schallplatten ordnen, wobei er noch unschlüssig ist, ob nach Alphabet oder musikalischem Genre. Den Bonsai umtopfen. Aber damit kennt er sich nicht aus. Also: sich zuerst einlesen, wie man das macht. Weiter unten: ein Geschenk. Er hat nicht dazugeschrieben: für meine Frau, stattdessen: ohne Anlass, weil er gehört hat, in der Fernsehsendung, die er eigentlich gar nicht schaut, dass das die beste Art des Schenkens ist, jemanden zu überraschen, einfach so, ohne sich selbst als den Schenkenden in den Vordergrund zu stellen, was bei den meisten, bei etwa fünfundneunzig Prozent, leider der Fall sei. Ferner: den Rollkoffer auspacken und, mit einem Smiley, nicht mehr darüber stolpern . Bei Itō vorbeischauen. Spontan!!! Die drei Rufzeichen hat er nachträglich hinzugefügt, man merkt es an der andersfarbigen Tinte. Die Stufen zum Haus entmoosen. Das Dach prüfen lassen. Etwaige Neuerungen wie z. B. einen Zubau in Erwägung ziehen. Das hat er gleich wieder gestrichen. Ebenso wie den weißen Spitz. Dabei hat er den ja gar nicht erst aufgeschrieben, und was man nicht aufschreibt, kann man nicht streichen, was ihm ein Trost ist, dass er ihn nicht hat streichen müssen, und mehr noch als das, ein heimlicher Triumph: »Ha, du glaubst wohl, dass ich ihn aufgeben werde, aber da hast du dich geirrt, ha! Da hast du dich verdammt noch mal geirrt, meine Liebe!« Er ertappt sich dabei, solche Dinge zu sagen, aber immer bloß leise, in sich hinein, und es ist immer ein Moment des Schreckens, als ob ihm da erst bewusst werden würde, zu wem er spricht, und als ob nicht er es wäre, der spricht, sondern jemand anderer, den er nicht kennt, jemand, der Lust hat, das ganze Haus mitsamt der Stufen und des Daches, mitsamt des Zubaus, dem nicht gebauten, in Grund und Boden zu stampfen.
Schnell in die Seitengasse. Hier hat er Ruhe vor dem Wind. Und warum auch nicht? Einmal woanders laufen? Es sind die Umwege, die vielen, die den Weg, den einen, interessant machen. Auch das hat er aus der Fernsehsendung, einer Talkshow »über das Leben und wie es sich meistern lässt«. Dass man den Mut haben sollte, die ausgetretenen Pfade zu verlassen und sich auf neue zu begeben, mit dem Gefühl, ein Entdecker zu sein. In dem Vorort, in dem er schon seit mehr als vierzig Jahren wohnt, gibt es Ecken, die ihm noch nie zuvor aufgefallen sind, und ihm kommt vor, er sieht zum ersten Mal bewusst, wo er zu Hause ist, nachdem er jahrelang nur zum Bahnhof und wieder zurück, zum Bahnhof und wieder zurück, kaum jemals aufgeschaut, kaum jemals hingeschaut hat. Kein schlechter Ort. Nein, wirklich nicht. Ein Vorort eben. Ein bisschen langweilig, aber es gibt alles, was man braucht. Sogar ein Fitnessstudio hat vor Kurzem, sehr praktisch nahe des Tageszentrums für Senioren gelegen, Eröffnung gefeiert, und es gab Broschüren zum Mitnehmen und rosa Luftballons. Als er dort vorbeikam, hat man ihm einen in die Hand gedrückt, und er wollte nicht unhöflich sein und ist eine Weile damit herumgelaufen, verlegen grinsend, als wollte er sich bei allen, die ihm entgegenkamen, für seinen Anblick entschuldigen: älterer Mann mit rosa Luftballon. Wenn ihn einer gefragt hätte, und tatsächlich stellte er sich vor, wie man ihn anhalten und danach befragen würde, er hätte, ohne zu zögern, zur Antwort gegeben: »Was, der? Der ist für meine Enkelin!« Und man hätte ihn für einen etwas närrischen Großvater gehalten, denn er wäre ins Schwärmen geraten, wie klug die Kleine sei, noch nicht ganz drei und sie könne schon Hiragana* schreiben, nur dass ihn erstens niemand gefragt und er zweitens gar keine Enkelin hat. Die jungen Leute! Sie lassen sich Zeit mit Familie. Es scheint ihnen kein besonderes Anliegen zu sein, eine zu gründen, und wenn sie sich doch endlich dazu durchringen, dann sind entweder die Spermien zu träge oder die Eizellen zu – zu – er findet kein Wort dafür –, und die ganze Angelegenheit, im Grunde einfach, wird überaus kompliziert. Wenigstens hat ihm das seine Frau angedeutet, obwohl sie mit Sicherheit mehr weiß als das: dass die Kinder oder ihre Partner, wahrscheinlich die Partner, »Probleme im unteren Bereich« haben. Und daran dachte er, als er den Ballon in die Luft steigen ließ, ihm nachschaute, so lange, bis er ganz oben mit einem nicht hörbaren Knall zerplatzte. Dass Sohn und Tochter, wenn er mit ihnen telefonierte und sie fragte, wie es ihnen ging, stets nur ein einsilbiges »Gut« erwiderten und sich auch sonst kein Gespräch einstellte, das die Entfernung zwischen ihnen verringert hätte. Schon beim Auflegen weiß er nicht mehr, was sie miteinander geredet haben, und er verspürt kein Bedauern darüber, bloß die Erleichterung: Er hat etwas abgehakt.
An der Querstraße vorne ist ein Taxistand. Und ihm fällt der Taxifahrer ein. Der ihn in jener Nacht kurz vor seiner Pensionierung, nachdem er wieder halbwegs bei Sinnen gewesen war, für ein Vermögen, er schämt sich noch heute deswegen, nach Hause gebracht hat. An seinem Akzent erkannte er, dass er aus Kansai* kam, und natürlich griff er das gleich auf, in seinem noch nicht ganz nüchternen Zustand, fing an zu erzählen, dass er selbst von dort stammte, aber schon als Kind weggezogen sei, er noch einige Wendungen draufhabe, diese und jene, die ihn, so vertraut wie sie waren, an seine Mutter erinnerten. »Ach, wirklich? An Ihre Mutter?« Der Fahrer schien aufrichtig interessiert. Und er fühlte sich ermutigt, ihm weiter von ihr zu erzählen, wie er noch nie einem Menschen von ihr erzählt hatte, etwa, dass sie sehr böse werden konnte: »Unglaublich, wie die geschimpft hat!« Und dass sie dabei in den Dialekt zurückfiel, den sie sich über die Jahre hinweg abgewöhnt hatte, und dass ihr Schimpfen dadurch an Strenge verlor und es ihm im Gegenteil warm wurde davon und er sich noch lange, nachdem er erwachsen geworden war, danach gesehnt hatte, derart ausgeschimpft zu werden, so gut beherrschte sie die Kunst zu maßregeln, ohne wehzutun. Was zweifellos an ihrer Herkunft, zweifellos an ihrer Sprache lag und zweifellos an ihrem Wesen, welches durch beides geprägt worden war. An dieser Stelle hatte er zu weinen begonnen. Zunächst verhalten, mehr wie ein Lachen, dann schluchzte er auf. Schließlich weinte er wie ein Kind, das sich verlaufen hat. Der Geschmack der Tränen. Leicht salzig. Plötzlich wusste er wieder, wie es schmeckt, wenn man weint. Und der Fahrer? Der fuhr einfach. Blinkte nach rechts, dann nach links. Reichte ihm wortlos ein Taschentuch nach hinten, wo er zusammengekauert auf der Rückbank saß, machte »Schsch«, dann wieder schwieg er. Bremste sachte, fuhr wieder los. Die Art und Weise, wie er das Lenkrad hielt, fast berührte er es nur mit den Fingerspitzen, dabei präzise in der Spur blieb, sich nichts zuschulden kommen ließ. Wenn man so durchs Leben käme! Er dachte, das wäre schön. Als er sich wieder gefasst hatte, sprachen sie über Belanglosigkeiten, das Wetter, die Wirtschaftslage, und er war so klar jetzt, so ohne Nebel im Kopf, dass er genau wusste, wie hoch welche Aktien standen. Der neue Premierminister. Was er von ihm hielt? Ganz ehrlich? Der lief doch nur hechelnd den Amerikanern nach. Solche Sachen, wie man sie sagt, wenn man eigentlich gar nichts weiß und froh ist, wenn der andere dazu nickt, froh um die Zustimmung, die er einem ohne viel Aufhebens gewährt, auch wenn man selbst genau weiß: Man verdient sie sich nicht. Und dann auf einmal – sie sind schon da – und am liebsten würde er ihn bitten, einfach weiterzufahren – sagt der Fahrer, er müsse ihm, bevor er aussteige, noch etwas zeigen. Zeigt ihm die Fotos von seinen Kindern, die er, ein Gesicht nach dem anderen, aus der Geldbörse zieht. Er bewundert ihre Züge. Der schaut gescheit aus, die hübsch, der ein bisschen bockig, aber das gibt sich schon. Und sie lachen. Lauthals in der Nacht. Seine Frau sagte später: »Die ganze Nachbarschaft ist davon aufgewacht!« Aber was zählt das? Wenn einer lacht? Wenn der aus tiefstem Herzen lacht? »Soll alle Welt bitte erwachen!« Was sie nicht lustig fand. Er schon. Und daran klammert er sich jetzt: dass es in dieser Stadt einen Taxifahrer gibt, wahrscheinlich steht er gerade im Morgenverkehr und summt ein Lied oder pfeift, kurz, dass es einen Menschen gibt, der etwas von ihm weiß und es, summend, pfeifend, für ihn bewahren wird.
In der Seitengasse. Nichts Überraschendes. Aber er hat es sich in den Kopf gesetzt: Er ist ein Entdecker. Wenn er ein Diktafon hätte, er würde hineinsprechen: »Eine Katze, die von der Mauer springt. Verdacht auf Fischreste irgendwo im Gebüsch. Eine Frau am Stock, ich überhole sie. Eine Kantine. Heute gibt es Curry mit Meeresfrüchten.« Sein Entdeckergeist hat sich damit bereits hinreichend erschöpft, und er beeilt sich, wieder zurück auf die Hauptstraße zu gelangen. Die Frau am Stock, nun sieht er sie von vorne, hat ein Gesicht, das nicht zu ihrem Körper passt, bunt geschminkt in den Farben eines Paradiesvogels, eine lila Strähne inmitten von strahlendem Weiß. Als sie ihm zulächelt, glaubt er, sie würde davonfliegen, eine solche Leichtigkeit geht von ihrem Lächeln aus, und er fragt sich, warum er selbst nicht dazu fähig ist, trotz der ihm attestierten Gesundheit unterm Arm, den schon etwas knittrig gewordenen Befunden, vollkommen unfähig zu lächeln? Oder gerade deshalb vielleicht? Weil er nichts vorzuweisen hat? Nichts, was er zu Hause auf den Esstisch legen könnte, mit gewichtiger Miene, was ihn dazu berechtigen würde, Frau und Kinder um sich zu versammeln und ihnen zu eröffnen, dass von jetzt an – jetzt! – alles anders werden müsse. Sonst. Wer weiß? Es wäre vielleicht zu spät. Sie müssten zusammenhalten, in dieser Stunde, davon hinge die Zukunft ab. Ob sie’s nicht wüssten? Dass er sie brauchte? Nein? »Dann wisst ihr es jetzt!« Und noch einmal, mit einem Zittern in der Stimme, damit sie sich lange daran erinnern und darauf verweisen würden als auf einen Scheidepunkt, und ein wenig langsamer, sozusagen zum Mitschreiben, damit sie es spürten als eine Schrift auf der Haut: »Ich brauche euch!« Dann Stille. So eine tiefe und dunkle Stille, die er als Erster unterbräche. Wenn ihm einer zuvorkäme, er würde ihm notfalls das Wort verbieten: »Jetzt bin ich an der Reihe!« Und zwar unterbräche er sie, indem er die Befunde mit einer Bedachtsamkeit, ähnlich der eines Buchhalters, zunächst feinsäuberlich übereinanderlegen und sie mehrmals mit dem Finger, der Hand oder dem Unterarm, je nachdem, möglichst geräuschlos glattstreichen würde. Eine Geste, die seine Bewegtheit verriete, und er sieht sich selbst, wie er sie vollführt, sieht, wie seine Frau zu ihm, die Kinder hinter ihr drein zu ihm hinstürzen würden. Dann Schnitt! Er sieht nichts mehr. Seine Augen sind nass geworden. Ein klein wenig schämt er sich für so viel Gefühl.
Dort vorn bei der Kreuzung ist der Obdachlose. Der einzige, den sie hier haben, eine Art lebendiges Denkmal, nicht schön, aber man hat sich an ihn gewöhnt und duldet ihn, weil er der einzige ist und nicht, wie anfänglich befürchtet, das Ortsbild stört, sondern ihm auf gewisse Art etwas Romantisches verleiht, mit seinen strubbeligen Haaren, in denen ein Vogel nisten könnte, den schwarzen Falten am Hals. Im Laufe der Zeit hat er sich überdies als durchaus nützlich erwiesen. Man gibt ihm, was man nicht mehr braucht, und er nimmt es dankbar an, wodurch man sich selbst wiederum guten Gewissens sagen kann: Man hat etwas gegeben. Den alten Anzug zum Beispiel, mit der abgewetzten Stelle am Ärmel. Den hat er nun die letzten Monate hindurch getragen, und es ist seltsam, ihn darin zu sehen, gleichzeitig hat der Anzug dadurch ein würdiges Ende gefunden. Ihn wegzuwerfen, dafür wäre er noch zu gut gewesen, immerhin eine italienische Marke, Salvatore oder so ähnlich, und er hat lange überlegt, ob es sich nicht lohnen würde, ihn flicken zu lassen. Aber ihn herzuschenken, das war eine Tat, mit der die Welt ein bisschen besser wurde. Er grüßt ihn immer, auch das macht sie besser: »Hallo, wie geht’s?« – »Gut. Und dir? Schon geschieden?« Der übliche Scherz. Und er nimmt ihn dem Obdachlosen nicht übel, sondern steigt darauf ein, mit einem Eifer, als ob er ihm das schuldig wäre. »Ts-ts-ts«, der Obdachlose schaut ihn mitleidvoll an: »Der Ruhestand steht dir schlecht. Deine Frau hat bestimmt bald die Schnauze voll von dir. Gib Bescheid, wenn es so weit ist. Ich werde dich dann vertreten!« – »Ja, mache ich.« – »Bitte gerne!« Es sind immer dieselben Sprüche, schnell hingeworfen im Vorübergehen, und er weiß, sie sind nicht ernst zu nehmen, trotzdem überkommt ihn an manchen Tagen der Aberglauben: dass der Obdachlose, der immerhin schon seinen Anzug trägt, womöglich wirklich sein Stellvertreter sein könnte und dass seine Frau womöglich glücklicher wäre, mit ihm, dem Stellvertreter, unten am Fluss zu hausen als in ihrem Haus, oben in der Siedlung. Der Obdachlose scheint einen Instinkt dafür zu haben. Manchmal ruft er ihm »Nichts für ungut!« nach. Manchmal nicht. An Tagen wie heute läuft er ihm sogar ein Stück weit hinterher, entschuldigt sich mehrfach, mit dienerischen Verbeugungen, und er kann ihn riechen, so nah ist er ihm, eine Mischung aus Flussgras, feuchter Erde und etwas anderem, was nicht zuzuordnen ist, das Instinkthafte vielleicht, und für den Bruchteil einer Sekunde, nicht länger, beneidet er ihn um die Freiheit seiner Existenz, um das Vorrecht, ein Narr zu sein, unter dem weiten Himmel, sich von dem zu ernähren, was ihm die Passanten zustecken, auf einem Pappkarton zu sitzen und niemandem im Weg zu sein. Der hat keinen, der ihn vors Haus schickt. Nicht mal ein Haus.
Wo ist das Taschentuch? Eben hat er es doch noch gehabt. Er stülpt die Jackentaschen nach außen. Da ist es nicht. Die Taschen der Hose sind – ja, gibt’s denn das? – immer noch zugenäht. Wieder und wieder hat er seine Frau darum gebeten, die Nähte aufzutrennen, wieder und wieder hat sie es auf morgen verschoben. Dabei hätte sie gewiss genug Zeit! Oder was macht sie den ganzen Tag? Außer einkaufen nicht viel, aber was weiß er schon? Im Grunde nichts. »Doch damit ist jetzt Schluss!« Wenn er nach Hause kommt, wird er sie als Erstes zur Rede stellen. Sich aufbauen vor ihr – so – die Schultern ein wenig nach vorne gedrückt, die Arme seitwärts leicht angehoben, sie fragen, was das soll, ob er für immer und ewig mit zugenähten Taschen herumlaufen, besser, für immer und ewig damit leben soll. Und er will nicht noch einmal danach fragen müssen. Dass er überhaupt danach fragen muss. Ärgerlich. Ihm rinnt der Schweiß über den Hals und in den Nacken hinein, selbst die Befunde sind nass von seinen schwitzenden Achseln. Sich irgendwohin setzen. Nun doch. Durchschnaufen. Plötzlich ist er sehr müde. Aber weit und breit gibt es keine Bank, »typisch Vorort«, denkt er. Da ist man draußen im Grünen und darf weder sitzen noch schauen noch sonst irgendwas. Nicht einmal vor dem Bahnhof hat man eine Sitzgelegenheit aufgestellt, wahrscheinlich damit niemand auf die Idee kommt, länger als notwendig dort zu verweilen. Früher gab es eine Bank aus Plastik, an der Lehne das verblasste Logo einer in Konkurs gegangenen Getränkefirma, und er erinnert sich an die Gruppe von Jugendlichen, für die das keine Bank, sondern eine Couch gewesen ist. Wenn er von der Arbeit kam, hat er sich gefreut, sie dort rumhängen zu sehen, wie sie sich langweilten miteinander, ihm kaum einen Blick schenkten, er hätte schließlich ihr Vater sein können. Trotzdem schien ihm ihre Gleichgültigkeit durchaus freundlich, weshalb sie ihm fehlten, als sie eines Abends samt der Bank verschwunden waren, und er sich selbst heute manchmal fragt, wo sie wohl sind, ob zusammen oder in alle Winde verstreut, er wider sein besseres Wissen daran glauben mag, dass sie zusammengeblieben sind. An die Gemeinde hat er damals einen Brief geschrieben. Man solle die Bank doch bitte ersetzen. Die Jugendlichen bräuchten einen Platz, an dem sie in die Luft schauen könnten. Der Brief wurde nicht beantwortet, aber er besitzt den Durchschlag. Wenn er ihn beim Aufräumen zufällig wiederentdeckt, ist es jedes Mal eine Überraschung. Dass er so etwas einmal geschrieben hat.
wer ich bin