Rees horchte auf. Geduckt hockte er neben einem Dornbusch und ließ den Blick langsam über die Umrisse des nächtlichen Waldes gleiten. Eine Weile betrachtete er wachsam, wie das Licht des Mondes silbrig zwischen den schwarzen Stämmen zerfloss. Nur leichtes Wispern drang an sein Ohr, ein milder Nachtwind, der in den kahlen Wipfeln einen langen, harten Winter verabschiedete. Keinerlei Bewegung war zwischen den Bäumen erkennbar, keine Veränderung der Schatten, und so richtete er seine Aufmerksamkeit erneut auf das warme, weiche Fell in seiner Hand.
Dem Kaninchen wäre die Flucht fast gelungen, hätte es das Gebüsch frühzeitig erreicht, aber der Schuss eines walisischen Bogenschützen war schnell, präzise und hart. Vorsichtig zog Rees den Pfeil aus dem leblosen Leib, säuberte die Holzspitze mit feuchtem Laub und band die Hinterbeine zusammen, damit er das Tier an seinem Beutestock befestigen konnte. Den Pfeil steckte er zurück in ein Sackleinen, das unter dem dunklen Umhang auf seinen Rücken gebunden war. Ohne einen Laut nahm er den Jagdbogen vom Boden auf und erhob sich, wobei die erlegten Tiere an dem Stock über seiner Schulter baumelten. Für einige Mahlzeiten würde es reichen. Zur nächsten Jagd würde er wieder im fahlen Grau des Morgens aufbrechen müssen, der Mond wäre dann nicht mehr hell genug. Doch am liebsten jagte er in wolkenlosen Vollmondnächten, denn es verbesserte Augenmerk und Treffsicherheit, zudem blieb er meist für sich.
Als Rees das Geräusch ein weiteres Mal vernahm, war sein Gehör darauf vorbereitet. Instinktiv drehte er den Kopf in jene Richtung, aus der es zu kommen schien. Im Gegensatz zu den vertrauten Klängen des Waldes erregten die Laute seine Besorgnis; er wähnte sich nicht länger allein. Anfangs schlug Rees den Weg nur zögernd ein. Geächtete trieben in den Wäldern ihr Unwesen und stets bestand Gefahr, dem eigenen Unheil in die Arme zu laufen; manche waren zu Unrecht verstoßen und harmlos, andere waren brutale Diebe und Mörder. Jedoch zog ihn ein eigenartiges Gefühl dorthin, fern gewöhnlicher Neugier, ein Gefühl stärker als seine Besonnenheit. Schritt für Schritt, mit den geduldigen Bewegungen eines Jägers, setzte Rees die Sohlen kaum hörbar zwischen Laub und morsche Zweige. Bisweilen drangen die Laute jedes Mal ein wenig deutlicher an sein Ohr und vergewisserten ihm den Weg. Bald hatte er den Rand einer vertrauten Mulde erreicht, wo der Mondschein freie Sicht über dicht stehende Büsche und wucherndes Brombeergestrüpp gewährte.
Inmitten dieser Senke stand ein weißes Reitpferd von enormer Größe, prachtvoll aufgezäumt und zum Ritt gesattelt, und tänzelte vor einem niedrigen Busch unruhig hin und her. Gelegentlich wieherte es oder schnaubte leise, entfernte sich jedoch nicht von jener Stelle. Im farblosen Licht der Nacht waren die Wappenfarben der Satteldecke nicht eindeutig zu benennen, aber Rees glaubte zu wissen, dass es die Livree von Cyfrinshire war. Für einen Moment blieb er reglos und lauschte im Schutze der nahestehenden Bäume. Da er kein Anzeichen von Bedrohung erkennen konnte, rutschte er leise über den niedrigen Abhang und schritt vorsichtig auf das Ross zu. Möglicherweise war es schlicht davongelaufen.
Wie er sich näherte, entdeckte Rees im Unterholz, unmittelbar neben dem Pferd, den Körper eines großen, stattlichen Mannes. Leblos auf dem Rücken, mit schreckgeweiteten Augen lag er da, niedergestreckt von einem Dolch, der seitlich tief in seinen Hals getrieben war. Es musste bereits einige Zeit vergangen sein, seit er dem qualvollen Tod erlegen war, der Hieb war schlecht gesetzt und das Blut bereits eingetrocknet. Am Wappen des silbernen Drachens auf der blau-weißen Tunika, die der Tote über dem Kettenhemd trug, war der Mann eindeutig als Gefolgsmann des Grafen zu benennen, und der kostbaren Stickerei nach zu urteilen handelte es sich um einen Ritter von hohem Stand. Mantel und Schwert jedoch fehlten, und äußerst seltsam bei dem blutigen Anblick, fast lächerlich neben all der Grausamkeit, war der Umstand, dass der untere Leib des Mannes entblößt war; die Beinkleider waren heruntergelassen und hingen lose um seine Fußgelenke. Als Rees ein weiteres Mal in das vom Tode verzerrte Gesicht blickte, erkannte er darin den Befehlshaber der Stadtwache von Castellyn, Sir Vance von Carreglas. Unversehens durchfuhr kaltes Grauen sein Herz. Wenn Rees hier, bei dem Toten, gefunden würde, drohte ihm der Strang. Niemals würde er beweisen können, dass nicht er der Meuchler war. Womöglich waren bereits Reiter ausgesandt, den Hauptmann zu suchen, die Straße nach Castellyn verlief nicht fernab.
Trotz aller Furcht, die ihn ergriffen hatte, befahl Rees sich, Ruhe zu bewahren. Keinesfalls durfte er davonlaufen, sondern musste lautlos davonschleichen wie er gekommen war. Mittels starker Anspannung versuchte er, die Heftigkeit seines Atems zu zügeln. Vorsichtig schaute er nach allen Seiten, um sicher zu gehen, dass er nicht beobachtet wurde. Dabei entdeckte er das Schwert zuerst. Nur wenige Schritte abseits, auf der durch Schatten verdunkelten Seite, lag es mitsamt Ledergurt auf dem achtlos ins Laub geworfenen Mantel. Und dann sah er sie.
Um es sich leicht zu machen, hatte ihr Peiniger die junge Frau zu Beginn der Tortur an einen verrottenden Baumstamm gebunden, die Arme weit nach hinten über den Kopf gestreckt. Ihre Kleider waren längs über Brust und Bauch aufgeschlitzt, sauber geführt mit Schwert oder Dolch, wobei die scharfe Spitze der Waffe dunkle Schnitte in ihrer weißen Haut hinterlassen hatte. Rees ahnte, wie schwer sie geprügelt und durch das Unterholz geschliffen worden sein musste. Der Stoff und das lange, wellige Haar waren verdreckt mit Laub und Erde und unter dem völlig zerzausten Schopf war ihr kleines Gesicht kaum mehr zu erkennen, so stark war es durch Prellungen geschwollen.
Doch irgendwann, nach einer Vielzahl vergeblicher Versuche, Gegenwehr zu leisten, hatte sich eine der Fesseln gelöst. Wie auch immer es geschehen sein mochte, alles wies darauf hin, dass sie den Ritter eigenhändig erdolcht hatte. Nun lag die Frau leblos, die angewinkelten Beine zur Seite gedreht. Bevor sie das Bewußtsein verlor, hatte sie wohl noch versucht, mit dem zerfetzten Stoff ihren geschändeten Unterleib zu bedecken.
Aufgebracht lief Rees zu ihr, schnitt mit seinem Messer den Hanfstrick vom anderen Handgelenk und legte den kalten Arm behutsam neben ihren Leib. In seinem Tun spürte er, wie unbändige Wut seine Kiefer schmerzhaft aufeinander presste, nur stoßweise vermochte er Luft zu holen. Über ihr Gesicht gebeugt konnte er kaum den schwachen Atem vernehmen, da rasender Herzschlag ihm das Blut durch die Adern peitschte und dröhnend in seinem Kopf pochte. Der Zwang, wieder und wieder zu schlucken, verdorrte ihm die Kehle und hallte knirschend in seinen Ohren wider. Kaum zwei Winter waren vergangen, seit Rees fernab von Wales Ähnliches erlebt hatte. Damals war alle Hoffnung verloren gewesen. Rees löste den Mantel von seinen Schultern und bedeckte die schwer verletzte Frau, derweil er fieberhaft überlegte, wie er sie fortbringen würde. Tragen konnte er sie nicht, dafür lag sein Hof zu weit entfernt. Sein Blick fiel auf das weiße Pferd. Die Überlegung ließ ihn unschlüssig zum Himmel aufschauen, wo der auffrischende Wind helle Wolken vor sich hertrieb, die zuweilen den Mond verdunkelten. Trotz der unausweichlichen Gefahr, entdeckt zu werden, entschied Rees noch im selben Atemzug, zu reiten.
Der Tote durfte jedoch nicht offen liegen bleiben. Kurzerhand blieb nur, ihn im Gebüsch zu verbergen. Dies war recht unzulänglich, aber zumindest flüchtige Blicke würden darüber hinwegsehen. Vom schamlosen Anblick derart anwiderte, dass er würgen musste, zerrte Rees dem Kerl noch die Hosen über die Blöße, bevor er den schweren Leib in das dichte Gestrüpp zog. Dornen rissen am Stoff seiner Kleider und zerkratzten ihm Gesicht und Hände, als wollten sie ihn von der ruchlosen Tat abbringen. Als der tote Körper ausreichend verborgen schien, verwischte Rees grob die auffälligsten Spuren und erschauderte unter dem Schweiß heftigster Anstrengung, zugleich ihm die feuchtkalte Witterung allmählich in die Glieder kroch.
Zweifelnd blickte Rees auf die wertvolle Habe des Ritters. Ohne Zögern nahm er zuerst den Gurt des Schwertes und schlang ihn um seine Hüften. Die Waffe selbst wog schwer in seiner Hand, wie er sie aufhob und zurück in die lederne Scheide steckte. Danach überlegte er, ob es klug wäre, den fremden Mantel an sich zu nehmen. Gleichwohl entschied er sich dafür. Er benötigte dringend Schutz vor Kälte und Regen und der dunkle Wollstoff seiner knielangen Tunika würde nicht genügen. Zwar war der schwarze Umhang aus edlem Stoff gefertigt, dennoch unauffällig, bis auf die glänzende Fibel, deren gebogenes Silber kunstvoll gearbeitete Ornamente zeigte.
Indes er sich den Wollmantel über die Schultern warf, kreisten seine Gedanken längst darum, wie er die Frau auf das mannshohe Ross bringen konnte. Der prunkvolle Ledersattel erwies sich als Hindernis, zu zweit konnten sie in der Schalung nicht aufsitzen. Rasch löste Rees die Schnallen und verbarg ihn neben dem Toten im Gestrüpp. Nachfolgend schien es unmöglich, mit der Frau über der Schulter von unten aufzusteigen. Nach einigen Überlegungen lenkte er das Tier zu ihr herüber und band es an einen dünnen Baumstamm. Danach nahm er seinen Mantel von ihr, breitete ihn daneben aus und schob behutsam die Arme unter ihren Körper. Bestürzt stellte er fest, wie dunkel das Laub, in dem sie gelegen hatte, von Blut verfärbt war, und sah, dass ein tiefer Schnitt im Fleisch ihres Oberschenkels klaffte. Kurz versagten ihm die Beine, der Jammer zwang ihn auf die Knie; einen Moment schloss er die Augen und verharrte. Als die Kraft in sein Herz zurückkehrte, schnitt er behende aus dem Linnen ihres weniger verschmutzen Unterkleides einen langen Streifen und legte damit einen strammen Verband um die blutende Wunde. Hiernach hob er die Frau sacht auf den groben Stoff seines Umhangs und wickelte sie fest in das Wollvlies. Trotz all seines Tuns gab sie keinen Laut von sich; er musste sich beeilen.
Nachdem Rees das große Bündel vom Boden auf seine Arme genommen hatte, kostete es ihn einige Kraft, die Frau darin vorsichtig über seine Schulter zu legen, da sie schwerer wog als erwartet. Das Pferd blieb erstaunlich gefügig, sodass er mit sanften Griffen den schlaffen Körper bäuchlings über den breiten Rücken des Tieres wuchten konnte. Anschließend führte er es am Zügel zu einer Anhäufung flachen Gesteins, aus deren Höhe er hinter ihr aufsteigen konnte, und nutzte diese wie eine Treppe. Umsichtig stieg er auf das Pferd, drehte die Frau auf den Rücken und zog ihren Oberkörper hoch. Erstmals gab sie ein leises Stöhnen von sich, sogar ihr Atem war in der Wärme des Mantels zu einem Röcheln geworden. Ihr Kopf sank gegen seine Schulter, einen kurzen Augenblick betrachtete er liebevoll das kleine, gequälte Gesicht. Um sie zu versorgen, würde er Hilfe brauchen. Doch ins Dorf zu Almina wollte er sie nicht bringen. Er würde die alte Kräuterfrau zu seinem Haus holen. Indem er dem folgsamen Tier die Fersen in die Flanken drückte, setzten sie sich mit ruhigem Schritt in Bewegung.
Feiner Regen fiel herab, als Rees das Pferd auf unsichtbaren Pfaden durch den Wald führte. Die Hauptstraße Richtung Castellyn musste er meiden, obgleich es länger dauern würde. Nur auf Umwegen bestand die geringe Aussicht, unbehelligt bis zum östlichen Rand des alten Steinwaldes zu gelangen. Zu jener Stelle, etwas abseits des Dorfes Hencod, wo hinter einem Hügelkamm sein kleiner Hof lag, etwa zehn Morgen gutes Ackerland. Bis dorthin waren es noch einige Meilen. Erleichtert stellte er fest, dass der Vollmond nunmehr gänzlich hinter einem dichten Wolkenband verborgen blieb. Das helle Roß zu reiten war riskant, als trüge er eine Fackel in der Hand. Bedrückt zog er sich die Kapuze über den Kopf. Anderes als Vertrauen in das Schicksal zu haben, blieb ihm nicht.
Einzig die Finsternis war jetzt seine Verbündete.
- 2 -
Grelle Blitze und grollende Donnerschläge verfolgten Almina im Traum und rissen sie aus unruhigem Schlaf. Ihr hohes Alter ließ die ergraute Frau nur noch selten eine ganze Nacht hindurch ruhen, zudem wurde sie vermehrt von Albträumen heimgesucht, die sich finster und unheilverkündend in ihre Gedanken nisteten.
Entsetzlicher als alle anderen wiederholte sich darin der Anblick eines brennenden Hauses, dessen Feuersbrunst zwei Kinder verschlang. Obgleich die beiden, ein Junge und ein Mädchen, hätten davonlaufen können, standen sie wie schwarze Schatten reglos in der geöffneten Tür. Hinter ihnen in der Stube wallten leuchtend die Flammen empor und züngelten über ihren Köpfen. Jedesmal versuchte Almina, die Kinder zu retten. Sie wollte zu ihnen zu laufen, doch sie konnte ihre Füße nicht heben; sie schrie ihnen zu, sie sollten das Haus verlassen, doch ihre Stimme blieb tonlos. Letztendlich musste sie hilflos ansehen, wie das lodernde Dach zusammenbrach und die Kinder unter einer mächtigen Feuerwolke begrub. Diese unwirkliche Erinnerung quälte Alminas Herz, und sie haderte, ob es wahrhaft eine böse Vorahnung sein könne.
Bislang hatte Almina nicht die Gabe besessen, vorherzusagen, was in künftiger Zeit geschehen würde. Wohl aber kannte sie sich mit Heilkräutern aus, wusste Wunden zu versorgen, Zähne zu ziehen und Knochen an richtiger Stelle zu sägen, um faulende Teile vom gesunden Leib zu trennen. All ihr Können hatte sie Tristan gelehrt, ein fahrender Bader, den das Schicksal zu einer Zeit in ihr Heimatdorf geführt hatte, als sie jung an Jahren und kreuzunglücklich war. Als der Bader das Dorf zwei Tage später verließ, saß Almina verborgen in seinem Wohnkarren und zuckelte zur Hautstraße hin, auf der Flucht vor jenem Widerling, dem sie versprochen war. Kurz darauf nahm Tristan sie zur Frau. Als seine Gehilfin erlernte sie rasch den Umgang mit heilsamen Kräutern ebenso wie das Bereiten von Säften und Tinkturen. Auch den alten Glauben brachte Tristan ihr näher, mit all den Mythen und vielzähligen Götter, auf die er weit mehr vertraute als auf den einzig wahren Gott des Christentums. Viele Jahre reisten sie gemeinsam durch unzählige Ortschaften und heilten mannigfaltige Leiden. Dies Leben hätte bis zum Ende ihrer Tage fortdauern können, wenn Tristan nicht ohne jedes Vorzeichen eines Morgens auf dem Marktplatz von Castellyn tot zusammengebrochen wäre. Alminas einziger Trost in ihrer damaligen Not war jenes zufällige Glück, dass ihre jüngere Schwester Gwenifer nahebei im Dorf Hencod verheiratet war. Voller Güte hatten die Dörfler sie aufgenommen. Somit war sie geblieben und verdiente seither ihr geringes Auskommen damit, den Menschen zu helfen, wenn sie erkrankten oder verletzt waren. Neben ihrem mildtätigen Wesen besaß Almina gute Menschenkenntnis und die Leute vertrauten ihr. Dies gab ihrem Leben den rechten Sinn und stimmte die Alte zufrieden. Obgleich Almina dem christlichen Glauben zugewandt war und regelmäßig in die Messe ging, dankte sie hin und wieder den alten Göttern dafür, dass diese schützend die Hand über ihre Heilkunst hielten und Almina verschonten, als Hexe in Verruf zu geraten. Ihren Tristan hatte Almina hoch geschätzt, aber nie wirklich geliebt. Von Beginn an waren sie einander mit freundlicher Zuneigung begegnet, ohne jegliche Leidenschaft. Aber mittlerweile war alles, das sie zusammen erlebt hatten, in halb vergessenen Tagen geschehen, in einem scheinbar früheren Leben. Lange schon lebte Almina jetzt allein, in einer kleinen Hütte am südlichen Rande von Hencod.
Kaum hatten sich ihre schwachen Augen an das schummrige Licht der glimmenden Feuerstelle gewöhnt, als lautes Klopfen durch die alten Holzwände dröhnte und Almina zu verstehen gab, dass die Geräusche aus ihrem Traum nicht bloße Einbildung waren. Mit starker Faust schlug jemand heftig gegen die morsche Tür. Indes sie beschwichtigende Worte rief, quälte Almina ihre schmerzenden Knochen von dem niedrigen Strohlager.
»Is' ja gut, is' ja gut! Ich komm' ja schon.« Die Glut verbrannte ihr ein wenig Haut, als sie mit zittriger Hand nach einem Kienspan fingerte. Sie brauchte einige mißglückte Versuche, die Kerze zu entzünden, und hängte sich dann mit stockenden Bewegungen ihren zerschlissenen Mantel um. Für den nächtlichen Besucher musste eine Ewigkeit des Wartens vergehen. Als Almina die Tür fast erreicht hatte, hämmerte es erneut gegen das Holz, und die Schläge erstarben erst, als sie endlich den Riegel beiseite schob. Beim Öffnen der Tür schlug Almina leichter Regen entgegen und sie hielt schützend die Hand vor die Flamme.
Im windigen Dunkel vor ihrer kleinen Hütte stand Landmann Rees Tawel und blickte tief besorgt auf sie herab. Das leicht gewellte Haar des hochgewachsenen Mannes glänzte schwarz im flackernden Lichtschein und hing in feuchten Strähnen bis auf die kräftigen Schultern. Nach dem langen Winter war sein Gesicht noch schmaler, die sonnengefleckte Haut spannte sich über knochige Wangen und seine wachsamen Augen schienen tiefer unter den breiten, dunklen Brauen zu liegen.
»Rees, mein Junge, komm' rein.«
Eisig wallte feuchte Luft hinein, und noch in den Worten kehrte sie der offenstehenden Tür den Rücken und schlurfte hinüber zu einem freistehenden Tisch im hinteren Teil der Hütte. Dort entfachte sie mit der einzelnen Flamme weitere Stumpen, die aufgereiht auf einem Brett standen, das einige Zoll breit oberhalb einer weiteren Tischplatte an der Wand befestigt war. Zunehmend breitete sich ein schwacher Widerschein über unzählige Flaschen, Holzschatullen, Schalen und Phiolen aus, die all überall verteilt standen. Nachdem Rees sichtlich erschöpft in die Hütte gestolpert war und die Tür verriegelt hatte, spürte Almina, wie Angst und Rastlosigkeit den niedrigen Raum erfüllten.
Ruhig wandte sie sich ihm zu. »Was is' passiert, haste dich verletzt?« Als Rees ihren Blick fing, begann er wild mit den Händen zu erklären. Dabei griff er häufig an seinen dichten Bart, der im Kontrast zum dunklen Schopf rotbraun schimmerte; sein keltisches Erbe ließ sich nicht verleugnen.
Manches Mal empfand Almina es als schwierig, sich mit dem wortlosen Mann zu verständigen. Vorerst konnte sie aus seinen aufgeregten Handzeichen nur entnehmen, dass sie mit ihm kommen sollte. Zumeist deutete sie seine Zeichen richtig und hatte längst gelernt, gezielt Fragen zu stellen. Anscheinend kam er mit dieser Art gut zurecht, und da er einst hatte sprechen können, formte er manche Worte mit den Lippen.
»Ich versteh' schon - im Dorf is' jemand verletzt.« Diese Überlegung kam ihr zuerst. Rees verneinte es mit einem Kopfschütteln.
»Auf'm Hof?«, wollte sie erstaunt wissen. Er nickte.
»'n Kerl?« Erneut schüttelte Rees den Kopf. Ein bekanntes Wort kam tonlos über seine bärtigen Lippen. Ungläubig sah sie ihn an.
»'nen...Weib?« In seinen Augen lag tiefe Besorgnis.
»Wo genau is' se verletzt?« Zuerst deutete er auf Gesicht und Oberschenkel, dann plötzlich erstarrte er für einen kurzen Moment in der Bewegung, senkte den Blick zu Boden und legte die Handfläche auf seinen unteren Leib.
»Dann...haste se gefunden.« Als er aufsah, erinnerte sein Blick an jene Nacht vor mehr als zehn Wintern. Seitdem war kein Wort mehr über seine Lippen gekommen. Almina zögerte nicht.
»Schnell, hol' Lein'n auss'er Truhe drüb'n. Hat se viel Blut verlor'n?« Sein verzweifelter Blick gab ihr Antwort.
»Wir müss'n uns eil'n.« Ihre Stimme klang fest. »Ich brauch' Saft vom Hexenkraut, Nadel, Fad'n. Haste den Karr'n bei?«
Rees nickte abgewandt, den Blick in die Truhe gerichtet, aus der er sorgsam das Tuch nahm; schon oftmals hatte er bei derlei Vorbereitungen geholfen.
Almina holte ein großes Stück Sackleinen unter dem Tisch hervor und sammelte sorgsam all jene Dinge darauf, die sie vermutlich brauchen würde. Als sie sicher war, nichts vergessen zu haben, legte sie die Enden des groben Stoffs nacheinander in eine Hand, um einen Beutel zu formen, und band diesen anschließend mit einem dünnen Strick zusammen.
Als beide die Hütte verließen, hatte der Regen nachgelassen. Geisterhafte Wolkenfetzen jagten über den tief stehenden Mond, dessen kaltes Licht lange, scharfe Schatten warf. Almina fröstelte. Rees nahm ihr den Sack ab, legte ihn auf die hintere Fläche seines morschen Gefährts, und half Almina, auf den nassen Karren zu klettern. Hiernach sprang er selbst rasch auf und setzte das eingespannte Kaltblut mit leichtem Zügelschlag in Bewegung.
Almina wusste, dass Rees stolz war, neben einer gesunden Milchkuh auch ein kräftiges Pferd zu besitzen. Der Ertrag seines Hofes hätte nicht gereicht, um sich dies leisten zu können. Doch die Baumeister der Burgstadt Castellyn schätzten sein Können als Maurer, und dieser Lohn ermöglichte Rees mehr Wohlstand als ihm so mancher aus dem Dorfe zugestand. Durch sein langes Fortbleiben war Rees den Leuten fremd geworden, so ernst und stumm, selbst jenen, die sich noch gut an den halbwüchsigen Kerl erinnern konnten, der von Schmerz und Wut getrieben seiner Heimat mehr als zehn Jahre den Rücken gekehrt hatte. Erst im vergangenen Jahr, kurz nach dem Neujahrstag, der auf dem Lande mit dem Ende des Winters einherging und zu Mariä Verkündigung am fünfundzwanzigsten März begangen wurde, war Rees überraschend nach Hencod zurückgekehrt und hatte am Rande des Alten Steinwaldes jenen kleinen Hof übernommen, den alle nur Ffermunig nannten, den Hof weit abgelegen, ein verlassenes Landhaus mit wenig Acker und einem verwahrlosten Obsthain. Darüber, wo Rees all die Zeit gelebt und was er getan hatte, war nur bekannt, dass er das Maurerhandwerk erlernt und in den Wintermonden vor seiner Rückkehr für England gekämpft hatte. Gemeinsam mit etlichen anderen war Rees freiwillig den Trommeln gefolgt, als diese mit den Herbstwinden durchs Land zogen, da König Edward III. ungeachtet eines vereinbarten Waffenstillstands seine bedrohte Machtstellung in Frankreich zu verteidigen suchte. Wenig später marschierten sie auf dem bretonischen Festland ein, unter dem Befehl von Lord William, dem damaligen Lehnsherr von Cyfrinshire. Bei der Belagerung der Stadt Vannes stellte Rees sein Können mit dem Langbogen unter Beweis und als einer der Besten wurde er dadurch entlohnt, dass der Graf ihm das Land von Ffermunig als Freihufe zusicherte. Den betagten Lehnsherrn selbst sollten die Scharmützel letztendlich das Leben kosten. Damit das gegebene Versprechen des Grafen dennoch eingelöst wurde, hatte sich Cyril ap Mabryn beim Erzbischof für Rees verwendet. Der Geistliche war der jüngerer Bruder von Rees, der dem Bischof einige Zeit in St Davids gedient hatte und mittlerweile zum Dekan berufen war. Als zusätzliche Gegenleistung wurde Rees die Treue abverlangt, abermals in den Dienst Seiner Majestät einzutreten, falls es erneut zu Auseinandersetzungen mit Frankreich kommen sollte. Und dies war bereits abzusehen. Bereits im Jahre 1340 hatte Edward sich zum rechtmäßigen König von Frankreich erklärt, es bisher nicht durchsetzen können. Nur wenige ahnten, dass dieser vorgebliche Anspruch ein Grauen heraufbeschwor, das über lange Zeit französische Landstriche mit Blut tränken sollte.
Die geringe Ackerfläche von Ffermunig bewirtschaftete Rees zumeist allein. Kein anderer Landmann hatte je Bedarf an dem hügeligen Land gezeigt, zumal der angrenzende Obsthain ungeschützt am Waldrand lag und das Rotwild im Herbst die Äpfel von den niedrigen Ästen fraß. Aber Rees besaß eiserne Zielstrebigkeit; innerhalb einer Jahresfrist hatte er zum Schutze der uralten knorrigen Bäume einen Wall aus Feldsteinen und Gehölz errichtet, der ihm selbst bis zur Hüfte reichte.
Derweil nun der Karren unter dem sternenlosen Himmel zum Dorf hinausschaukelte, schwächten vermehrt Schleierwolken das Licht des Mondes. Bei der Hauptstraße angelangt, lenkte Rees das Pferd in nördliche Richtung und trieb es in den schnellst möglichen Lauf. Nach und nach verschwanden die Umrisse des Gefährts in der Dunkelheit. Kurz war noch entferntes Rumpeln zu vernehmen, bevor jeglicher Laut hinter einer Wegbiegung verhallte und sich nächtliche Stille über die unwirkliche Landschaft ausbreitete, deren harte Schemen vom bläulichem Federstrich des Mondes gezeichnet waren.
Als das brave Zugtier schließlich den Zuweg nach Ffermunig passierte und den Karren am seichten Hang hinunterzog, ging aus finsteren Wolken plötzlich ein heftiger Sturzregen hernieder. Launenhafte Windböen peitschten einen stechenden Regen unbarmherzig über Mensch und Tier und zwangen die nächtlichen Fuhrleute, die Kapuzen überzuwerfen. Rasch griff Almina nach dem Beutel und barg ihn unter dem Mantel. Innerhalb eines Atemzugs wurde der Mond ausgelöscht, sodass Rees jeweder Helligkeit beraubt war und für den Rest des Weges absteigen musste, um das Pferd vorsichtig durch die Dunkelheit zu führen, kannte er doch jeden Stein hinab zum Hof. Dicht am Eingang zum Haus zügelte Rees das Pferd und öffnete die Tür, damit Almina ein wenig Licht bekam und absteigen konnte. Triefend vor Nässe betraten Rees und Almina die einzige Stube, die sie mit angenehmer Wärme empfing.
Bevor Rees die verletzte Frau zurückließ, hatte er ein schwaches Feuer entfacht, das durch niedriges Mauerwerk geschützt in einer hinteren Ecke der Stube brannte,. Im Gegensatz zu den üblichen Wohnhäusern, wo der Rauch einer schlichten Feuermulde den ganzen Raum verqualmte und nur über eine zugige Öffnung im Dach entweichen konnte, hatte Rees sein handwerkliches Wissen dafür genutzt, einen Herdplatz mit schlichtem Rauchfang aus Stein zu errichten. Dies war wesentlich sicherer als ein offenes Feuer in der Mitte des Hauses. Hiernach hatte Rees zum Strohdach eine Holzdecke einziehen können, durch die ein oberes Stockwerk entstanden war, wenn auch niedrig und nur zum Lagern genutzt.
Das flackernde Licht des Feuers warf gespenstische Schatten auf die bedauernswerte Gestalt, die nahe dem Herdkamin auf der Schlafstatt lag, unkenntlich in den Wollmantel gewickelt und auf Schaffell gebettet. Beim Eintreten schob Almina die durchnässte Kapuze vom Kopf und ging sogleich zu ihr hinüber. Rees schloss die Tür und blieb dort hilflos stehen. Derweil Almina die starke Schwellung in dem blassen, verschmutzten Gesicht begutachtet, wies sie Rees an, zu helfen.
»'nen Kessel heißes Wasser brauch'n wir, schnell, hol' Wasser. Und bring' große, flache Steine, tunlichst aus'm Bach.« Mit einem Seufzen öffnete Rees die Tür, er schien erleichtert.
»Bedeck' se mit kalt'm Wasser«, rief sie ihm nach, kurz bevor der Riegel einrastete.
Ihren Beutel breitete Almina auf der großen, länglichen Eichenplatte aus, die auf zwei Böcke gelegt als einziger Tisch in der Mitte der Stube stand. Zu beiden Seiten waren Holzbänke daran gestellt. Zu allererst tropfte Almina der verletzten Frau aus einem Fläschchen einen stark verdünnten Sud in den Mund, gebraut aus den Blättern des schwarzen Bilsenkrauts. Eine geringe Menge des Gifts würde sie alsbald in einen tiefen Rausch versetzen und ihr die Schmerzen nehmen, ohne ihr dabei zu schaden. In dem geschwächten Zustand war die Arme kaum in der Lage, zu schlucken, doch Almina hatte die stärkste Mischung gewählt, und schon bald würde sich die Wirkung von ihrer Zunge auf den gesamten Körper ausbreiten. Mit geschlossenen Augen holte Almina tief Luft, bevor sie das Wollvlies aufdeckte.
Es dauerte nicht lange, bis Rees mit zwei schweren Holzeimern zurückkehrte. Als sich die Tür öffnete, zog Almina hastig die grobe Wolldecke über den entblößten Körper. In seiner Abwesenheit hatte sie die Verletzungen ausreichend untersucht, um entscheiden zu können, was zu tun war. Die klaffende Schnittwunde am Oberschenkel musste genäht werden. Danach würde sie die verletzte Scham von außen mit einem Kräuterverband behandeln, in der Hoffnung, dass innere Verletzungen von selbst heilen würden. Am wichtigsten war, zuerst den Schmutz aus den Wunden zu waschen.
»Häng'n Kessel möglichst tief übers Feuer, Junge, damit's schnell kocht, 'n andern gib‘ her zu mir.« Rees stellte den Eimer neben ihr ab und sie nahm einen der nassen Steine heraus, trocknete ihn ein wenig mit einem Leintuch und drückte ihn dann sanft gegen die starke Prellung auf der linken Gesichtshälfte. Derweil goß Rees Wasser in einen Kessel und hängte diesen über das Feuer.
»Glück hat se, der Schnitt is' wohl tief, doch de Klinge hat 'ne große Ader im Bein verpasst. Gut war's, dass du's stramm abgebund'n hast«, meinte sie anerkennend. Dabei betrachtete sie aufmerksam, wie der erschöpfte Mann vor der gemauerten Nische hockte und das Feuer unter dem Kessel mit Reisig schürte. »Besser is', du gehst jetzt raus.« Dies ergänzte sie mit Bedacht, da Rees ihr jetzt nicht weiter würde helfen können.
Die Bewegung, mit der Rees sich aufrichtete, ließ unverrückbare Entschlossenheit erkennen, und als ob er Almina an seinem Innersten teilhaben lassen wollte, sah er ihr einen Moment lang direkt in die Augen. Durch den schwachen Feuerschein verbarg sich das erdige Grün seiner Augen hinter weit geöffneten Pupillen und ließ seinen Blick schwarz schimmern. Obgleich Almina nur vermuten konnte, was sein weiteres Vorhaben betraf, gab sein Ausdruck ihr deutlich zu verstehen, dass es unvermeidlich war. Sie seufzte tief.
Daraufhin nahm Rees einige Kerzenstumpen von einem Wandbrett neben dem Herd, stellte diese auf den Tisch und entzündete sie mit einem Kienspan, damit es für Alminas Arbeit hell genug war. Anschließend schritt er zur gegenüberliegenden Längsseite des Hauses, wo sich ein Durchgang zum angrenzenden Stall befand, verdeckt durch eine schmale Stiege, die auf den kleinen Dachspeicher führte. Nachdem er die Pforte leise hinter sich geschlossen hatte, hörte Almina es nebenan rumoren, leises Wiehern drang durch das Holz. Almina wußte, dass seit ihrer Ankunft keine Zeit geblieben war, das Kaltblut aus dem Karren zu spannen und zurück in den Stall zu bringen. Fast hätte die Neugier sie überwältigt. Doch wäre sie aufgestanden, um vorsichtig nachzuschauen, hätte sie Rees womöglich das Gefühl gegeben, dass sie ihm misstraute.
Stattdessen richtete sie ihre Gedanken auf die Vorbereitungen, den tiefen Schnitt wie die Naht eines Kleides mit einem Faden zu verschließen. Als draußen vorm Haus Geräusche zu hören waren, konnte sie ebensowenig sehen, was dort vor sich ging, da die kleinen Fenster mit Schlagläden verschlossen waren. Vermutlich brachte Rees den Karren in den Stall.
Zuerst spülte Almina alle Wunden mit warmen Wasser, wusch sie dann mit Wein und bedeckte die vier Zoll lange Naht mit sauberem Tuch, belegt mit Kamille und Schafgarbe. Einstweilen öffnete Rees kurzzeitig die Vordertür, blieb im Durchgang stehen und deutete mit Handzeichen an, dass er nochmals fortreiten würde. Almina wusste es längst, und bestätigte mit leichtem Kopfnicken, dass sie verstanden hatte. Kurz darauf hörte Almina, wie das Stapfen der Hufe von der durchweichten Erde gedämpft wurde und dennoch verriet, dass mehr als ein Pferd hinaus in den dunklen Regen trabte.
Erst im Zwielicht des Morgens kehrte Rees zurück. Längst hatte der Regen aufgehört, Almina saß auf dem alten Baumstumpf vorm Haus und wartete seit einiger Zeit. Müde stieg Rees vom Pferd und führte es am Zügel zu ihr herüber. Seine Kleider waren arg verschmutzt und Almina entdeckte den Spaten, der unter dem Sattelriemen klemmte und ebenfalls mit Lehm beschmiert war. Sie würde nicht fragen, wo er gewesen war. Rees griff sacht ihren Arm, als sie sich mit schwerfälligen Gliedern erhob.
»Werd' des Abends wiederkomm'n.« Auch ihre Stimme klang erschöpft. »Gib‘ ihr bis dahin dreimal vom Saft. Und versuch', ihr möglichst viel Wasser einzuflöß'n. Se fiebert.« Ein Moment des Schweigens trat ein, da Almina zögerte, Rees an ihren Überlegungen teilhaben zu lassen. »De Weiblichkeit is' nich' so schlimm verletzt, nich' so, wie ich's befürchtet hatt'. Recht früh muss wer's widerwärtige Tun gestört hab'n.« Augenblicklich senkte Rees den Kopf und schaute zu Boden. Anscheinend wollte er sich ihrem Blick entziehen, und Almina begriff, er wußte mehr. Sie wandte sich zum Gehen, Rees deutete auf das Pferd.
»'s kurze Stück werd'n de Füß' mich schon trag'n, mein Junge«, meinte sie fest. »Ihr seid de ganze Nacht geritt'n, Mann und Tier müss'n endlich ruh'n. Sollt' mich jemand frag'n, kann ich immer sag'n, ich hätt' im Steinwald Kräuter gesucht.« Am kummervollen Ausdruck in seinen Augen erkannte sie, dass Rees auf ermutigende Worte hoffte, bevor sie fortging. Sie legte ihre knochige Hand auf seinen Arm und sprach beruhigend.
»Jung is' se, mein lieber Rees. De Wund'n werd'n heil'n.« Dann kehrte sie ihm den Rücken und begab sich auf den Anstieg. Nach wenigen Schritten hielt sie kurz inne und drehte seitlich den Kopf, damit Rees ihre Worte verstehen konnte. »Nur bei der Seele, da bin ich nich' so sicher.«
Im selben Moment brach eine blasse Morgensonne durch die kahlen Bäume am östlichen Horizont und fing seinen Blick, weit entfernt über der Kuppe eines niedrigen Hügels. Noch wärmten die Strahlen nicht, doch schon bald würde dank ihrer Kraft alles neu zum Leben erwachen.
Im Licht des anbrechenden Tages stieg Almina schwerfällig den einzigen Pfad hinauf, der zur Hauptstraße führte, und überließ Rees seinen Gedanken, was immer diese von nun an beherrschen würde.
Beim Dorf angelangt kehrte Almina nicht sogleich in ihr bescheidenes Heim zurück, sondern lief entlang der nördlichen Gehöfte in Richtung Osten. Das Dorf Hencod war ein idyllischer Flecken fruchtbarer Erde; knapp vier Meilen südlich der Stadt lag es unweit des Flusses Awen oberhalb des östlichen Ufers; eine Ansammlung ähnlich gearteter Gutshöfe, die in ihrer Mitte mit schiefen Weidenzäunen den Dorfanger umgrenzten: eine kleine Kirche, einen hübschen Teich und dazwischen eine große, alte Eiche.
Rechter Hand verzweigte sich bald ein breiter Weg und führte Almina die leichte Anhöhe hinab zum Hause ihrer Schwester. Gwenifer war um einiges jünger als Almina und bewirtschaftete mit ihrem Mann Siorus den schön gelegenen Hof Weatlys auf der Ostseite von Hencod. Im Umkreis vieler Meilen war ihr Mann einer der wohlhabendsten Pächter. Die Töchter waren unlängst aus dem Hause und hatten geheiratet. Alle, bis auf Meredith, die jüngste, und die hübscheste.
Almina fand die rüstige Landfrau beim Geflügelhaus, wo sie soeben die Hühner fütterte. Ein dunkler Weidenkorb, gefüllt mit frischen Eiern, stand neben ihr auf dem festgetretenen Lehmboden. Die Verwandtschaft der Frauen war unübersehbar, beide hatten die gleiche knochige Zeichnung, eine knubbelige Nase und schmale Augen. Warmherzig begrüßte Almina die Schwester. »Gut'n Morgen, liebste Gwenifer.«
»Gut'n Morgen, Almina«, erwiderte diese freundlich. Obwohl Gwenifer lächelte, überdeckte dies nicht jene tiefe Traurigkeit, die sich in ihre Züge gegraben hatte. »Bist früh unterwegs. Dabei schauste sehr müd'. Is' was passiert?«
»Möcht' nich' viel sagen, Liebes«, erklärte Almina. »Manchmal is's besser, selbst unwissend zu bleib'n.« Sie stockte, denn sie war unsicher, ob sie geradewegs sprechen sollte. Doch es musste sein. Gwenifer blickte sie fragend an.
»Ich brauch' Kleider - von Meredith, mein' ich.« Seit letztem Frühsommer bewahrte Gwenifer die Kleider ihrer jüngster Tochter in einer kleinen Eichentruhe, seit jenem Morgen, als das Mädchen verschwand. Bei der Suche hatte ein jeder aus dem Dorf geholfen, meilenweit waren sie gegangen, tagelang. Wäre dem Mädchen ein Unglück geschehen, wie ein Sturz oder ein wildes Tier, sie wäre gefunden worden, das war ohne Zweifel. Doch nichts war von ihr geblieben, außer jenen ordentlich gefalteten Kleidern und der zermürbenden Ungewißheit, welch schlimmes Unheil dem jungen Ding widerfahren war. Gwenifer wurde blaß, ihr schien die Stimme zu versagen.
»Wozu? Für wen?« Almina merkte, dass sie ihrer Schwester wenigstens eine grobe Erklärung schuldete.
»Rees hat im Wald 'ne junge Frau gefund'n.« Möglichst wenig wollte sie kundtun. »Schlimm wurd' se zugerichtet. Ihr einzig Kleid is' zerriss'n und getränkt mit Blut.« Entsetzen spiegelte sich auf dem Gesicht der Schwester.
»Hab's anfangs versucht, als er mich mit'm Karren zum Hof brachte. Aber du kennst ja sein Benimm, wenn er nix hör'n will.« Rees machte stets eine deutliche Geste, um unerwünschtes Gerede zu beenden; begleitet von heftigem Kopfschütteln fuhr er mit der Hand quer durch die Luft, als wolle er etwas vom Tisch wischen.
»Glaubste, 's war der von - damals?« Gwenifers Stimme war nur ein Flüstern. Alminas Antwort kam behutsam.
»Nie werd'n wir's erfahr'n, denk' ich. Von ganz'm Herzen wünscht' ich, dir ein wenig vom unsäglich'n Schmerz nehm'n zu könn'n.« Da sie keine Tränen zulassen wollte, schnürten ihr die Worte die Kehle zu. Almina drehte den Kopf zur Seite, denn die Schwester sollte nichts bemerken. »Könn'n nur bet'n und hoff'n, dass 's arme Kind nicht lang gelitt'n hat.« Sie musste einige Male schlucken, bis sich der innere Aufruhr gelegt hatte, danach klang ihre Stimme wieder fest und bestimmt. »Gewiß is' jedoch, dieser wird's nie wieder tun.« Leichtes Entsetzen stand Gwenifer ins Gesicht geschrieben, dennoch blieb sie still, wohl wissend, dass Almina keine weitere Erklärung liefern wollte. Trotz allem zögerte sie noch. »Ich bitt' dich inständig, Gwenifer. De junge Frau wird's dir dank'n.« Für einen kurzen Augenblick verharrten beide schweigend in diesen Worten. Gwenifers Stimme klang belegt, als sie die Stille brach.
»Komm' ins Haus, de junge Frau darf nich' ohne Kleider bleib'n.« Still gingen die Schwestern zum hinteren Eingang des Hauses und Almina konnte auf Gwenifers Wangen die stillen Tränen sehen.
Als sie eine hinreichende Ausstattung ausgewählt hatten, packten sie die Gewänder zu einem Bündel. Zwei lange Kleider gab Gwenifer her, ein leichtes in Taubenblau und ein braunes aus gröberer Wolle, sowie zwei Unterkleider. Der Tag zeigte sich zunehmend freundlich, als sie aus dem Landhaus in den lichten Morgen traten. Die Regennässe dampfte auf den Feldern und im Licht der zaghaften Frühlingssonne glitzerten die Tropfen an den Zweigen wie kleine Sterne. Es sollte der erste warme Tag des Jahres werden. Gwenifer begleitete Almina bis zur Umzäunung des Hofs und beobachtete die ältere Schwester aus den Augenwinkeln, als sie Worte sprach, von denen sie wusste, dass diese Alminas Zorn erregen würden.
»Und wenn doch...der Wolf unsre Meredith geholt hat?« Unablässig nagte diese dämonische Vorstellung an ihr, durch den Kummer war sie außerstande, derartige Gedanken zu verwerfen. Gereizt machte Almina ihrem Unmut Luft.
»Wie kannste nur solch Ammenmärch'n glaub'n!« Gwenifer wollte sich verteidigen.
»Is' nich' der Wolf Gehilf' des Teufels, denn wohl kann er den Kopf nich' wend'n...« Mit Zornesfalte zwischen den Brauen wartete Almina ungeduldig, dass ihre Schwester den Aberwitz zu Ende führte. »...und wer nich' zurückblick'n kann, handelt ohne Reue.« Damit gab die Schwester jene Worte wider, die ein blindwütiger Bettelmönch dereinst lauthals auf dem Marktplatz verkündet hatte. Almina schnaubte.
»Haste schon mal 'nen Wolf geseh'n, der 'n Kopf nich' dreh'n kann?«
»Hab' noch nie 'nen Wolf geseh'n.« Zu jener Zeit waren die Leute unkundig, was den Anblick eines Wolfes betraf, war er doch in den Wäldern kaum mehr zu finden, so gnadenlos hatte der Mensch ihn gejagt. Dennoch gab es zweifelsohne einen Wolf im Alten Steinwald, falls das Tier nicht längst gen Norden zu seinesgleichen gewandert war. Almina war ihm ein einziges Mal begegnet. Damals war das Tier noch jung und tapsig gewesen, tiefschwarz war sein dichtes Fell und es wirkte wohl furchteinflößend, mit Augen wie geschliffenes Malachit. Niemandem hatte sie davon erzählt, insbesondere nicht der Schwester, da sie ahnte, was es bedeutet hätte. Almina begann zu schimpfen.
»Grausame Kreatur'n, de Jungfrau'n in Höhl'n schlepp'n! Gleichwohl's bei dieser Frau bestialisch aussieht, kann's nur eine Art von Tier tun, und zwar das im Manne! Oder wahrhaftiger, der Teufel in ihm, denn Getier is' von Natur aus weder gut noch bös'.« Eindringlich sah sie ihre Schwester an. »Glaubste denn wirklich solch Schauergeschicht'n?«
»Nee, Recht haste, wie immer. Is' töricht. Aber wenn mir sonst nix bleibt?« Almina wusste, darin lag das Unglück. Voller Mitgefühl fasste sie Gwenifer am Arm, Verständnis hatte ihren Zorn beschwichtigt.
»Ich dank' dir recht herzlich, Gwenifer. Und bitt' dich, liebe Schwester, erzähl' keiner Menschenseele, was gescheh'n is'. Auch nicht dem Siorus.«
Von der Pforte sah Gwenifer ihr nach. Almina spürte dies, obgleich sie es nicht sehen konnte. Reglos und verloren würde die Schwester auch dann noch dort ausharren, wenn Almina ihrem Blick längst entschwunden war. Wie oft hatte Gwenifer an dieser Stelle gestanden und gehofft, ihr kleines Mädchen würde eines Tages auf diesem Weg zurückkommen. Gewiß war es ein unerträgliches Greuel, welches jener fremden Frau letzte Nacht widerfahren war. Doch für Gwenifer würde es kaum ein Trost sein, dass der Schänder zu Tode kam, denn ihren unendlichen Schmerz konnte dies nicht lindern.
Auf einem nächtlichen Streifzug durch den Alten Steinwald entdeckt Landmann Rees die Folgen einer abscheulichen Missetat. Die Begegnung mit einer jungen Frau verknüpft dabei sein Leben mit dem ihren und besiegelt ein geheimes Bündnis, das vom ersten Augenblick an durch starke Zuneigung bestimmt wird. Unterdessen lässt Lord Evan nichts unversucht, den Befehlshaber seiner Stadtwache aufzufinden, der auf unerklärliche Weise verschwunden ist. Engster Berater des jungen Lords ist Pater Cyril, der schwer an verschwiegenen Bürden trägt und nicht glauben will, dass sein Bruder Rees mit dem Geschehen verhängnisvoll verwoben ist. Doch auch der hitzköpfige Cole macht sich auf die Suche...
So manches Mal wird der Lauf der Geschichte durch einen schwarzen Wolf gelenkt. Als Letzter seiner Art streift er einsam durch die Wälder von Wales und sein unvermutetes Erscheinen entscheidet oftmals über Leben und Tod.
Wales 1344
- 3 -
Cyril ap Mabryn stand am Schreibpult und tauchte sorgsam den Federkiel in ein Tintenfaß, bevor er das nächstfolgende Wort auf ein Pergament schrieb. Er war dankbar für die wollenen Beinlinge unter seinem schwarzen Habit und die festen Lederschuhe an seinen Füßen, denn die Holzladen der hohen Burgfenster standen weit offen und das zaghafte Feuer im Kamin vermochte der kühlen Frühlingsluft keine ausreichende Wärme entgegenzusetzen; allerdings brachte die frühe Mittagsstunde nicht nur Kälte mit sich, sondern auch ein helles und freundliches Licht. Gelegentlich hob Cyril den Blick und schaute hinüber zur Fensterfront der Stube. In einer der Nischen lehnte halb sitzend der junge Graf Evan und beobachtete vom oberen Stockwerk das rege Treiben im schattigen Burghof. Allmorgendlich übten sich dort die Gefolgsleute der Grafschaft Cyfrinshire im Schwertkampf und mit jedem Hieb hallte das Klirren von Stahl zu ihnen herauf. Neuerdings wurden die Kettenrüstungen der Ritter an wichtigen Stellen durch Platten verstärkt, was den Kampf ohne Schild ermöglichte; derart gerüstet erprobten die Männer am heutigen Tage die neuen Langschwerter, die aufgrund von Größe und Gewicht nur mit beiden Händen zu führen waren.
Die Festung zu Castellyn war keine Stadtburg im üblichen Sinne, sie lag außerhalb der großen Siedlung, die denselben Namen trug. Erbaut auf den flachen Felsen einer niedrigen Anhöhe stand sie in einer Biegung am südlichen Ufer des Flusses Awen, der sich an dieser Stelle von Osten durch die weite Ebene schlängelte. Zu Beginn stand die rechteckige Anlage allein, umgeben von vereinzelten Landhäusern und weitläufigen Wiesen und von jeher bewacht von den Zinnen der vier mächtigen Rundtürme. Doch über die Jahrzehnte siedelte immer mehr Volk an dem fischreichen Gewässer und so war eine Viertelmeile südöstlich der Burgmauern eine Stadt herangewachsen.
Einziger Zugang zur Burg war das Haupttor auf der Ostseite, das nur über eine schmale Vorburg erreicht werden konnte, die sich vom südlichen Wehrturm bis zum nördlichen Flügel zog. In diesem vorgelagerten Schutzbau befanden sich hinter niedrigen Mauern die Schmiedestätten und ein Backhaus sowie die Stallungen für Pferde und Fuhrwerk. Dahinter erhob sich das beeindruckende Mauerwerk des Ostflügels mit einem fünfkantigen Kapellenturm, der weithin sichtbar in den Hof der Vorburg ragte. Die Wohnbauten der Nord- und Westflanke besaßen keinen äußeren Zugang und wurden zusätzlich durch die Biegung des nahen Flußlaufs geschützt. Auch im südlichen Mauerwall gab es kein Tor, das die Wehrhaftigkeit beeinträchtigen konnte. Zudem hatten es die Burgherrn stets für sinnvoll erachtet, dass die Festung für sich blieb und nicht durch nördliche Ausdehnungen der Stadt in deren Mauern einbezogen wurde. Somit erstreckten sich weitere Ansiedlungen ostwärts und entlang des Flusslaufs, der ursprünglich von Süden kam. Die Stadt erhielt eigene Wehrtürme und Mauern, von deren nördlichem Zugangstor ein gewundener Hauptweg bis zum Torhaus der Vorburg führte.
Erneut blickte Cyril auf und legte die Feder aufs Pult. Das Schreibwerk war fertiggestellt und musste einen Moment trocknen. Schweigend betrachtete er die jungenhafte Gestalt des Grafen. Mehr als ein Jahr war bereits vergangen, seit Evans Vater, der ehrbare Lord William, vor den Toren einer französischen Stadt den Tod gefunden hatte. Als getreuer Vasall war er damals seiner Verpflichtung nachgekommen, den König beim Einmarsch in die Bretagne zu unterstützen. Die Machtverhältnisse in diesem Herzogtum waren ständig umstritten und König Edward wollte Vannes zurückerobern, um bei der Fehde wieder die Oberhand zu gewinnen. Deshalb landetet Lord William im Nebelmond 1342 in Brest, auf einem Schiff mit walisischen und englischen Bogenschützen, denen seit der siegreichen Seeschlacht von Sluis ein furchteinflößender Leumund vorauseilte. Kaum hatte das englische Herr die besagte Stadt erreicht, schickte der König von Frankreich, Philip VI., zu ihrem Schutz ein mächtiges Heer, unter dem Befehl des Herzogs der Normandie. König Edward blieb nicht anderes übrig, als seine Truppen bestmöglich zu befestigen und abzuwarten. Nach einigen Wochen entsandte der Papst zwei Kardinäle als Legaten, die zwischen den Heerführern Friedensbedingungen aushandeln sollten. Anfangs zeigten sich beide Seiten verstockt, und immer wieder gab es zwischen den Truppen kleinere Gefechte. Erst mit der Zeit brachten die zermürbenden Zustände in den Lagern die Befehlshaber zur Vernunft. Es regnete unaufhörlich, Mensch und Tier wurden krank und die Franzosen hielten die Versorgungswege zum Meer bewacht. Zu allem Unglück wurde Lord William zum Ende der Belagerung schwer verwundet und erlag nach wenigen Tagen des Hoffens und Bangens seinen Verletzungen - kurz bevor König und Herzog im Eismond des Jahres 1343 auf eine fragile Waffenruhe von drei Jahren schworen.