Über dieses Buch:
Plötzlich steht er vor ihr, nach über 13 Jahren. Die gefeierte Cellistin Abigail hat sich diesen Moment oft ausgemalt: Älter ist Marcus Radley geworden, ja, aber er ist immer noch schlagfertig – und sein Blick verrät, dass auch ihn das Wiedersehen wie ein Blitzschlag trifft. Die beiden können nur ein paar Worte wechseln, dann muss Marcus weiter. Abigail bleibt zurück, überrascht, aufgeregt und nostalgisch. Auf einmal sind all die Erinnerungen wieder da: Wie sie während der Schulzeit ihre beste Freundin Frances Radley kennenlernte, wie sie Teil ihrer ebenso charmanten wie chaotische Familie wurde, wie sie sich Hals über Kopf in Marcus verliebte. Und sie erinnert sich daran, wie schmerzhaft ihre Jugend damals endete … Gibt es trotzdem die Chance, den alten Zauber noch einmal zu erleben?
Über die Autorin:
Clare Chambers, geboren 1966 im englischen Croydon, studierte in Oxford und arbeitete als Lektorin in einem Londoner Verlag. Sie lebt mit ihrer Familie in Kent.
Bei dotbooks veröffentlichte Clare Chambers bereits ihre Romane »Das alte Haus am Brombeerweg« und »An einem Tag wie keinem anderen«.
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eBook-Neuausgabe Januar 2018
Die Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel »Learning to Swim« bei Arrow Books Ltd., Random House UK, London. In deutscher Erstausgabe erschien dieses Buch 2001 unter dem Titel »Seejungfrauen küsst man nicht« bei Blanvalet.
Copyright © der Originalausgabe 1998 by Clare Chambers
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2000 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House, GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/cozynook, Fenix SPB und Fandorina Liza
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)
ISBN 978-3-96148-173-6
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Clare Chambers
Die Melodie der Erinnerung
Roman
Aus dem Englischen übersetzt von Antje Althans
dotbooks.
Für Christabel, Julian und Florence
Loyalität wird immer bestraft. Das hat mein Vater einmal gesagt, als er bei einer Beförderung übergangen wurde, und ich habe es nie vergessen. An jenem Samstagnachmittag, kurz bevor ich bei einem großen Wohltätigkeitskonzert spielen musste, besuchte ich meine Eltern, nachdem meine Mutter mich unmissverständlich dazu aufgefordert hatte. Sie hatte eine Entrümpelungsaktion gestartet, weil die Maler kamen, und ich sollte kommen und einen Karton mit meinen Sachen abholen, sonst würden sie auf dem Kirchenflohmarkt landen. Meine Mutter erfindet gern praktische Gründe für meine Besuche, damit sie nicht das Gefühl hat, aus reinem Egoismus und ohne jeden Grund meine Zeit zu beanspruchen.
Als ich ankam, war sie gerade dabei, einen Pappkarton mit alten, ungeordneten Fotos durchzugehen, und offensichtlich schon eine ganze Weile damit beschäftigt. Überall um sie herum lagen leere Schachteln, glatte Negativstreifen und ordentliche Stapel von Bildern, die sie nach Themen, Daten und Qualität sortiert hatte.
»Unscharf, unscharf, doppelt, ich mit furchtbaren Tränensäcken, keine Ahnung, wer das ist«, intonierte sie, während sie den Ausschuss in den Papierkorb warf. Ich griff um sie herum und nahm ein altes Schulfoto aus dem Karton. Darauf waren die Basketball-Teams abgebildet. Da stand ich auf der einen Spielfeldhälfte, die zweite Reserve für das B-Team. Und da saß Frances, Kapitän des A-Teams, und hielt mit diesem typisch trotzigen Gesichtsausdruck die Trophäe der Grafschaft auf dem Schoß. Ganz plötzlich überkam mich ein überwältigendes Gefühl von Nostalgie – mein Erinnerungsvermögen kommt leicht auf Touren –, und auf der Suche nach anderen Gespenstern aus der Vergangenheit schaute ich die herumliegenden Bilder durch.
»Kram hier nicht rum«, sagte meine Mutter verärgert. »Ich bin schon den ganzen Morgen damit beschäftigt.«
»Etwas, was ich immer gehasst habe«, sagte ich, als ich mein dreizehnjähriges Ich betrachtete, lange Haare, straff aus dem Gesicht gekämmt und zu einem Pferdeschwanz gebunden, die spindeldürren Beine von Turnschuhen bis Schlüpfer schmal wie die Knöchel, »war, die Dünnste in der Klasse zu sein.«
»Du warst nicht dünn«, sagte sie defensiv. »Du hast immer genug zu essen bekommen.« Meine Mutter kann die seltsamsten Dinge persönlich nehmen. Sie riss mir das Foto aus der Hand. »Das ist nie im Leben meine Abigail«, sagte sie und kniff die Augen zusammen. Und dann, als ihr klar wurde, dass diese Behauptung nicht aufrechtzuerhalten war, sagte sie mit einem Schnauben: »Also, das würde ich nicht als dünn bezeichnen.«
In der Küche war mein Vater gerade dabei, ein neues Spielzeug auszupacken: eine riesige, glänzend schwarze Cappuccino-Maschine, die die Hälfte einer Arbeitsplatte einnahm. Seitdem er das Pfeiferauchen aufgehört hat – weil ihm aufgefallen war, dass er nicht mehr mit Mutters schar-fern Tempo durch Museen und Kunstgalerien mithalten konnte, ohne zu keuchen –, ist er immer süchtiger nach modernen Hightech-Geräten geworden: nach allem, womit er seine Hände beschäftigen kann.
»Hallo«, sagte er und blies Staub von der Glaskanne, bevor er sie auf ihren Platz stellte. »Kann ich dir was zu trinken anbieten?«
»Ich hätte wahnsinnig gern eine Tasse Tee«, sagte ich, ohne nachzudenken. »Kaffee, meine ich.«
»Kolumbianischen, brasilianischen, kenianischen, costaricanischen, nicaraguanischen oder entkoffeinierten«, fragte er und holte ein halbes Dutzend ungeöffneter Päckchen aus der Einkaufstüte vor sich.
»Egal«, sagte ich und dachte dann, ach, sei kein Spielverderber. »Kolumbianischen.« Ich sah ihm zu, wie er mit einer kleinen Plastikschaufel sorgfältig die Bohnen abmaß, sie in die Mühle gab und dann an der Kurbel drehte.
»Hast du heute Abend ein Konzert?«, fragte er, während er das Pulver in den Metalltrichter löffelte und feststampfte, wobei sein Gesicht einen verzückten Ausdruck bekam.
»Ja. Eine Wohltätigkeitsveranstaltung. Zu Gunsten der ariden Gebiete oder so was.«
»Sehr poetisch. Und wo soll das sein?«
»Äh ... Im Senegal, glaube ich.«
»Ich meinte das Konzert.«
»Im Barbican. Willst du mitkommen? Der Eintritt kostet nur hundert Pfund.«
Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. »Einhundert Pfund. Das ist eine ganze Wand einschließlich Decke und Leisten. Außerdem müssen wir noch all diese Sachen entrümpeln – und packen.« Sie wollten in Urlaub fahren während die Maler da waren: diesmal Florenz. Mich haben sie nie nach Florenz mitgenommen. Es war anderen überlassen geblieben, mir die Schönheiten des Kontinents zu zeigen.
Über das Räusper- und Spuckgeräusch der Kaffeemaschine hinweg sprach mein Vater über die Urlaubsreise, die bis ins letzte Detail geplant war. Sie würden in einem billigen Hotel absteigen – ein ehemaliges Kloster –, etwas außerhalb des Stadtzentrums, aber es hatte ein eigenes Restaurant, sodass sie sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr hinauswagen mussten. Tagsüber war ein mörderisches Besichtigungsprogramm angesagt: Galerien, Kirchen und Palazzi. Sie würden alle Sehenswürdigkeiten der Renaissance abklappern, und wenn sie dabei draufgingen. »Anscheinend ist der Eintritt zu all diesen Museen und so weiter für Greise frei«, sagte er, stellte eine Kanne Milch unter die Dampfdüse und schäumte sie zur Konsistenz rohen Baisers auf. »Wir werden ein Vermögen sparen. Hier.« Er reichte mir eine große Tasse mit etwa einem Zentimeter Kaffee und einem steifen Gipfel aus Milch. Ich sah, dass mein Durst ungestillt bleiben würde. »Oh, warte. Lass es uns richtig machen.« Er nahm mir die Tasse wieder ab. »Zimt? Muskat? Geriebene Schokolade?«
Ich sah auf meine Uhr: Ich musste noch mein Festgewand aus der Reinigung holen. »Was am schnellsten geht.«
Als ich ging, meine geretteten Sachen in einer Kiste – hauptsächlich alte Schulbücher, Cellonoten für Anfänger, Briefe, Badminton- und Tennisschläger und eine Sammlung aus Holz-, Glas- und Keramikelefanten verschiedener Größe, über viele Jahre hinweg angesammelt –, fiel mir auf dem Tisch im Flur ein Stapel Leihbücher auf. Reiselektüre. Wo normale Leute wahrscheinlich Gut essen in Florenz mitnehmen würden, hatte mein Vater Machiavelli und Giorgio Vasaris »Lebensläufe der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten« als Führer.
***
Wegen eines geplatzten Hauptwasserrohrs in Blackfriars hätte ich es fast nicht mehr zum Konzert geschafft: Von solch banalen Zufällen hängt unser Schicksal ab. Ein Teil des Embankments und die Unterführung waren geschlossen, und der Verkehr war zusammengebrochen. Ich musste mein Auto im absoluten Halteverbot stehen lassen und die U-Bahn nehmen – etwas, das ich normalerweise wegen der rauen Behandlung, die andere Fahrgäste meinem armen Cello zuteil werden ließen, nie tue, aber es war einfach zu weit, um das Ding zu Fuß zu transportieren.
Es war voll am Bahnsteig, und es war klar, dass niemand auch nur einen Zentimeter weichen würde. Ich hatte schon meine Konzertklamotten an – eine Vorsichtsmaßnahme, falls ich mich verspäten würde – und musste ständig meinen langen Rock hochziehen, damit nicht dauernd jemand drauftrat. Als ein Zug einfuhr, wogte die Menge zurück und wieder nach vorn, wie eine Welle, die sich bricht, und ich wurde mit der Menschenmenge durch die Türen gesogen und in eine Ecke gequetscht, den Cello-kasten zwischen den Beinen.
Als ich beim Barbican ausstieg, war ich überzeugt, dass das arme Instrument nur noch Brennholz war. Es fielen ein paar Schneeflocken. Ich musste wohl langsam alt werden, denn ich dachte sofort: Ach du Scheiße. Schnee. In der letzten Zeit habe ich mich schon ein oder zwei Mal bei so was ertappt. Vor ein paar Monaten hatte man mir einen fürchterlich unvorteilhaften Haarschnitt verpasst, aber ich stellte fest, dass ich völlig gelassen blieb. Ich habe der Friseuse sogar noch reichlich Trinkgeld gegeben. Und auf der letzten Party, die in Bristol war, wurde mir plötzlich klar als die Aussicht auf eine Heimfahrt von hundert Meilen um zwei Uhr morgens allmählich etwas bedrohlich wirkte und mir vorgeschlagen wurde, ich könnte auf dem Sofa »pofen« –, welche Entfernungen ich bereitwillig zurücklegen würde, um in meinem eigenen Bett zu schlafen. Und zu guter Letzt habe ich neulich wahrhaftig den Ausdruck »der letzte Schrei« benutzt. Das war nicht einmal akzeptabel, als ich noch zur Schule ging, aber mir fiel keine moderne Entsprechung ein. Meine Gesprächspartnerin schien jedoch keineswegs verblüfft. Vielleicht ist es wieder angesagt. Vielleicht ist es der letzte Schrei.
Ich hatte gerade noch Zeit zu überprüfen, ob mein Cello die Reise überstanden hatte, und saß nur ein paar Sekunden, bevor der erste Geiger auf die Bühne rauschte, auf meinem Platz. Grace warf mir einen fragenden Blick zu, während wir die Instrumente stimmten, und ich verdrehte die Augen. Ich spürte, wie sich Teile meines Haares aus der Klemme am Hinterkopf lösten. Ist doch egal, dachte ich, als eine weitere Strähne vor meinen Augen baumelte. Dich wird sowieso niemand anschauen.
Danach fand ein Empfang statt. Die meisten Orchestermitglieder gingen sofort nach Hause: Viele haben junge Familien und halten sich nach Aufführungen normalerweise nicht länger auf. Ich dagegen hatte keinen Grund, sofort wegzustürzen. Ich habe schon immer den Augenblick gehasst, wenn ich zum Abschluss des Tages allein meine Wohnung betrete, und zögere ihn immer hinaus, wenn ich kann. Grace sagte, sie würde noch bleiben: Sie kannte einen der Organisatoren der Wohltätigkeitsveranstaltung und hatte das Gefühl, sich sehen lassen zu müssen. Ich mag sie, weil sie ein geborener Enthusiast ist, aber ihr Durchhaltevermögen ist gering. Sie hat dauernd eine neue Marotte, für die sie sich stark macht. In dieser Saison war es Enthaltsamkeit, die sie angeblich bereits seit drei Monaten »erfolgreich ausübte«. Ich hatte keine Lust, ihr zu erzählen, dass ich in den letzten paar Jahren in einer ähnlichen Situation gewesen war, ohne dafür üben zu müssen. Der Unterschied bestand darin, dass ich es eher für eine missliche Lage hielt als für ein Hobby.
Ich hatte vor dem Konzert keine Zeit gehabt, etwas zu essen, weil ich von meinen Eltern zur Reinigung und dann nach Hause gehetzt war, und dachte, ich könnte vielleicht eine Vol-au-Vent oder so was abstauben. Grundsätzlich bin ich nicht so scharf auf Wohltätigkeitsgalas. Das Publikum besteht nicht unbedingt aus Musikliebhabern; die Leute sind gekommen, um den königlichen Schirmherrn anzuglotzen. Sie klatschen an den falschen Stellen und scheinen nach der Pause nur widerwillig von der Bar zurückzukehren. Heute Abend jedoch waren die Zuschauer wohlerzogen, aber zweifellos verstimmt, weil das unbedeutende Mitglied der königlichen Familie in letzter Minute durch jemanden von noch geringerer Herkunft ersetzt worden war.
Als ich Grace fand, trank sie gerade Champagner und starrte auf eine der Schautafeln, auf der die Arbeit des Wohltätigkeitsvereins an einem Bewässerungsprojekt dargestellt war. Darauf waren ein paar Fotos von Entwicklungshelfern und Dorfbewohnern, die einen Brunnen gruben, zu sehen nebst einem ziemlich herablassenden Text.
»Nicht gerade aufwühlende Bilder«, sagte ich zu Grace.
»Tja«, sie deutete auf die mit Edelsteinen geschmückten Horden, »wir wollen sie ja nicht mit der Nase reinstoßen.« In unseren langen, schwarzen Röcken und hochgeschlossenen Blusen sahen wir aus wie zwei Gouvernanten, die aus den Unterkünften der Dienerschaft hereinspaziert waren. Eine Frau hatte bereits versucht, mir ihren Mantel zu geben. Grace’ Freund Geoff kam auf uns zu und sah genervt aus. Er war zirka einsneunzig und dünn und hielt die Arme an Ellbogen und Handgelenk gebeugt, als würde er an Fäden hängen wie eine Marionette. Grace machte uns miteinander bekannt, und als er mir ausgesprochen leicht die Hand drückte, fiel mir auf, dass die Manschetten seiner Smokingjacke durchgescheuert waren und den Blick auf gut drei Zentimeter Hemd frei ließen. Er roch nach abgestandenem Zigarettenrauch. Er wird sich später nicht an meinen Namen erinnern, dachte ich.
»Schöne Musik«, sagte er, als er sich bückte, um Grace zu küssen. »Scheißherzogin.« Er kratzte sich heftig am Kopf, wodurch seine Haare büschelweise abstanden. »Ich nehme an, sie kann nichts dafür, dass sie krank ist«, räumte er ein.
»Erfüllen diese Veranstaltungen denn ihren Zweck?«, fragte Grace.
»Oh ja.« Er nickte energisch. »Ich weiß, es ist leicht, diese Leute als ...«, er betrachtete die Gäste, die in ihrem Feststaat umherliefen, »Schickeria abzutun, aber sie bringen wirklich das Geld zusammen.«
»Ist das alles, worum es geht? Brunnen zu graben?«, fragte ich und zeigte auf die Poster. »Haben sie wirklich ausgebildete Ingenieure da draußen?«
»Wenn es Sie interessiert, kann ich Sie dem Typen vorstellen, der das Projekt im Senegal in den letzten fünf Jahren geleitet hat. Oder wollten Sie nur höflich sein?«
»Nein«, sagte ich höflich. »Es interessiert mich.«
Er verschwand in der Menschenmenge und war nach zehn Minuten immer noch nicht zurück. Ich nahm mir von einer patrouillierenden Kellnerin ein Glas Champagner und dachte an mein Auto, das inzwischen auf einem Abstellplatz in irgendeinem trostlosen Industriegebiet an der A3 stand, zweifellos mit einem Knöllchen an der Windschutzscheibe. Diskret winkte ich eine weitere Kellnerin herbei, die eine riesige Platte mit etwas hielt, wovon Grace steif und fest behauptete, dass es in Gastronomiekreisen Canapées de luxe genannt wurde. Eine Wurst im Blätterteig oder ein Ritz-Cracker waren jedenfalls nicht in Sicht. Jemand – Mensch oder Maschine – hatte sich die Mühe gemacht, aus hart gekochten Wachteleiern das Eigelb herauszunehmen, es mit etwas Cremigem zu vermischen und in kleinen Rosetten wieder hineinzuspritzen. Alles war so winzig, so wunderschön, so delikat hergerichtet, dass man den ganzen Abend essen konnte und nie satt werden würde.
»Ach, da seid ihr«, sagte Geoff. »Abigail Jex. Marcus Radley.«
Marcus Radley. Für dieses Treffen, oder Varianten davon, hatte ich im Geiste tausendmal geübt, doch trotz all dieser Vorbereitung schaffte ich es nicht, einen der brillanten und vernichtenden Sätze zu sagen, die ich über die Jahre hinweg eingeübt hatte. Stattdessen sagte ich »Hallo Marcus«, wobei ich den Namen ganz schwach betonte und seine Fremdheit auskostete. Er sah genauso aus, wie ich es mir vorgestellt hatte: Meine Fantasie hatte ihn automatisch altern lassen, sodass er vor meinem geistigen Auge immer zwei Jahre älter war als ich. Sein Haar war noch dasselbe, dunkel, lockig und schlecht geschnitten, genauso wie sein Stirnrunzeln, das Uneingeweihte für Missbilligung hielten, das jedoch gelegentlich auch Konzentration erkennen ließ, und seine Augen, in denen der Schock zu sehen war, als er mich wieder erkannte, bevor sein Blick wieder neutral wurde.
»Hallo Abigail«, sagte er, inzwischen ziemlich gelassen. »Jex.« Er dachte eine Sekunde darüber nach. »Guter Name für Scrabble.«
Geoff, der mit den Gedanken woanders war und offensichtlich nach diesem Wortwechsel nicht begriffen hatte, dass wir uns nicht fremd waren, sagte: »Abigail hat heute Abend hier Cello gespielt. Sie möchte gern etwas über das Projekt hören.«
»Marcus« sah mich skeptisch an.
»Entschuldigt mich«, sagte Geoff und eilte wieder davon. Er war sich nicht bewusst, auf welchem Minenfeld er uns zurückließ. Grace war bei weitem nicht so begriffsstutzig und sagte mit verengten Augen: »Kennt ihr beide euch schon oder so?«
Hier war Schnodderigkeit gefragt, beschloss ich. »Ich fürchte ja. Marcus hat mir einmal mit einem glühend heißen Feuerhaken ein Zeichen auf die Stirn gebrannt. Obwohl er damals noch nicht Marcus hieß.«
»Abigail hat mir ihre Haare in einem Umschlag geschickt«, sagte er fast lächelnd. »Damals hieß sie noch nicht Jex.«
Grace sah mit hochgezogenen Augenbrauen von einem zum anderen. Keine flüchtige Bekanntschaft, ganz klar. »Und wie lange habt ihr euch nicht mehr gesehen?«
»Dreizehn Jahre«, antworteten wir gleichzeitig, ohne Zeit zum Nachrechnen zu brauchen. Der Anflug eines Lächelns war verschwunden. Wir erinnerten uns beide an den Anlass unseres letzten Treffens: die Hitze in der Kapelle; die Sopranstimme der Schülerin, die auch die letzten von uns zusammenbrechen ließ; das windige Grab. Einen Augenblick herrschte betretenes Schweigen, dann sagte er, entschlossen darum bemüht, das Gespräch wieder auf sichereren Boden zu lenken: »Dann bist du jetzt eine professionelle Cellistin?« Ich nickte. »Das ist gut – gut, dass du weitergemacht hast.«
»Es gibt schlimmere Formen der Armut«, sagte ich.
»Die meisten davon haben Sie sicher gesehen«, sagte Grace zu Marcus.
»Was ist mit dir?«, fragte ich. »Aus all dem schließe ich, dass du kein professioneller ... äh ... Philosoph bist.«
»Nein«, sagte er lachend. »Nicht einmal ein Amateur. Ich habe mein Studium nie abgeschlossen.«
»Ah.«
»Ich war in den letzten fünf Jahren im Senegal. Ich bin erst seit einem Monat wieder zu Hause; ich bin noch dabei, mich einzugewöhnen.«
»Wieso sind Sie zurückgekommen?«, fragte Grace.
»Ich war zu lange dort. Sie brauchten jemanden, der jung und enthusiastisch ist.«
»Mir erscheinen Sie jung genug«, sagte sie und sandte Signale aus wie ein Geigerzähler.
»Außerdem, je länger man weg ist, desto schwieriger ist es, sich zu Hause wieder einzugewöhnen. Nach ein paar Wochen im Büro, wo Umfragen darüber geplant werden, inwieweit wir im öffentlichen Bewusstsein verankert sind, und erörtert wird, ob wir im Personalklo eine neue Seifenschale brauchen, werde ich mir wünschen, wieder dort zu sein.«
Im Hintergrund konnte ich sehen, wie Geoff sich durch die Menschenmenge zu uns schlängelte und ab und zu stehen blieb, um rechts und links Leute zu begrüßen. »Marcus, kann ich dich mal entführen?«, rief er, als er in Hörweite war, und winkte ihn mit einem dünnen Finger zu sich.
»Entschuldigt mich«, sagte Marcus. »Da muss noch jemand anders an meinen Rohren interessiert sein. Es war schön, dich wieder zu sehen.«
»Du hast dich kein bisschen verändert«, sagte ich, und das Klischee ließ mich sofort erschaudern.
»Ach doch, das hab ich«, sagte er mit einem halben Lächeln, bevor er Geoff ins Getümmel folgte.
Ein herumstehender Kellner bot uns noch mehr Champagner an. »Tja«, sagte Grace, neigte ihr Glas zu meinem und zwinkerte. »Auf die ›ariden Gebiete‹.«
Ich untersuchte meine Fingernägel, während ich auf das unvermeidliche Verhör wartete.
»Okay, lass dir nur Zeit.«
»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte ich unschuldig.
»Ach, nun mach mal halblang. Ich hab noch nie so ein verhuschtes Wiedersehen erlebt. Wenn das nicht schmerzhaft war. Was steckt dahinter?«
Ich lachte nur und genoss ihre Neugier.
»Er ist einer deiner Ex-Freunde, stimmt’s?«, fragte sie, etwas zu beiläufig.
»Wieso? Bist du interessiert?«
»Vielleicht. Er sieht ganz gut aus. Schöner Körper. Ich wette, er trainiert.«
Ich sah sie mitleidig an. Der Marcus Radley, den ich gekannt hatte, wäre bereitwillig zehn Meilen zu Fuß gegangen, um irgendwohin zu kommen, aber er hätte nie im Leben trainiert. »Ich dachte, du wärst enthaltsam.«
»Bin ich auch. Aber ich will nicht zur Fanatikerin werden.«
Was steckt dahinter? Jedes Mal, wenn ich dachte, ich hätte einen Ausgangspunkt gefunden, fiel mir eine frühere Begebenheit ein, von der die spätere abhing. Egal, wie weit ich zurückging, ich schien nicht bis zum Anfang vorzudringen. Wenn ich bloß an dem Tag, als Lexi wegging, nicht zurück zum Haus gegangen wäre; wenn Anne Trevillion bloß besser Tennis gespielt hätte; wenn sie vor dreißig Jahren an der Schule meines Vaters bloß keine neue Deutschlehrerin eingestellt hätten. Schließlich hatte ich gesagt: »Ich hab mal die ganze Familie gekannt. Als ich noch zur Schule ging, habe ich praktisch bei ihnen gelebt. Aber wir haben keinen Kontakt mehr.«
Und das habe ich ihr nicht erzählt.
Ich wurde auf den Namen Abigail Onions getauft. Eigentlich sollte ich Annabel heißen, aber mein Vater, der sich in einem Zustand erhöhter Gefühlsregung befand, als er meine Geburt registrieren lassen wollte, erinnerte sich falsch an den Namen, über den er und meine Mutter volle neun Monate debattiert hatten. Diese Verfehlung führte er darauf zurück, dass er an dem Abend, als meine Mutter ins Krankenhaus musste, Nabucco gehört hatte, und der Name Annabel und der der bösen Schwester in seinem Kopf durcheinander geraten waren. Es war eine lange und schwere Niederkunft, und da ist ein gewisses Element der Verwirrung verständlich. Ich nehme an, ich sollte dankbar sein, dass er nicht Götterdämmerung gehört hat.
Nach ein paar Tränen fand meine Mutter sich mit dem neuen Namen ab, und als ich allmählich hineinwuchs, gefiel er ihr sogar besser als der ursprüngliche, den sie unerklärlicherweise plötzlich »ordinär« fand, ihrer Meinung nach das Allerschlimmste, was ein Name – oder auch alles andere – sein konnte.
Für mich war all das natürlich nicht besonders wichtig. Im Vergleich zu dem Gräuel meines Nachnamens (denn Onion ist Englisch für Zwiebel) – der Munition für Tausende von Wortspielen in sich barg und mich vor Verlegenheit lähmte, wenn ich jemandem vorgestellt wurde – war die leichte Abweichung zwischen meinem geplanten und endgültigen Namen nebensächlich. »Abigail« gab keinen Anlass zu Peinlichkeiten – eine Eigenschaft, die ich höher schätzte als jede andere.
Wir bewohnten eine Hälfte eines großen, zwischen den Weltkriegen erbauten Doppelhauses in einer Vorstadt in Kent. Der Garten, der durch kniehohe Zäune von den Nachbargärten getrennt war, grenzte hinten an einen Eisenbahndurchstich. Die Strecke war eine wenig genutzte Pendlerlinie, auf der pro Tag vier Züge verkehrten, und morgens und abends hopste ich am Ende des Gartens auf und ab und winkte den etwa zwölf Passagieren zu, während sie auf dem Weg zur Arbeit und zurück vorbeirumpelten. Als ich vier war, fand dieses Kindheitsritual ein unsanftes Ende: Ein Mann, der allein in einem Waggon war, entblößte sich am Fenster, und als ich meiner Mutter davon erzählte, brach sie in Tränen aus und verbot mir, weiterhin den Zügen zuzuwinken. »Von einem dreckigen Perversen eines unschuldigen Vergnügens beraubt«, hörte ich sie toben, als sie es Vater berichtete. Ich erzählte ihr nicht, dass ich den Pendlern schon seit ein paar Wochen meinen Schlüpfer gezeigt hatte.
Meine Mutter war die Gärtnerin in der Familie. Sie sprach immer von Landschaftsgärtnerei, als hätte sie Berge zu bearbeiten und Flüsse zu zähmen statt eines tisch-tuchgroßen Rasenstücks und ein paar Blumenbeeten. Vater wurde mit ein paar niederen Arbeiten betraut – er musste mit einem Rasenmäher auf und ab stapfen, wobei er einen glitzernden Regenbogen aus Grasstaub aufsteigen ließ, das Gemüsebeet umgraben, Komposttüten besorgen und schleppen und alles beschneiden, was groß und stachelig war und woran man leicht hängen blieb.
Die Rosen waren das Ressort meiner Mutter. Den ganzen Winter über hockten die verkümmerten Skelette in ihren Beeten, wie ein Vorwurf und eine Erinnerung an den Kampf, der jedes Jahr zwischen Mutters Arsenal aus Pudern, Kügelchen und Sprays auf der einen Seite und grüner Blattlaus, Mehltau und Sternrußtau auf der anderen um ihre zarten Blüten geführt wurde. Aber ihre Bemühungen blieben nicht ohne Erfolg, denn in jedem Sommer sprossen die Büsche, wurden dichter und brachen in einer samtigen Masse aus Farben und Duft hervor. Die Blumen zu pflücken war strengstens verboten. Meine erste Dosis körperlicher Bestrafung bekam ich dafür, dass ich für ein Parfümproduktionsexperiment alle Köpfe der Baroness Rothschild abgerissen hatte. Die Hand, die zu sanft war, ein Blütenblatt zu zerquetschen, hinterließ durch zwei Schichten Kleidung einen vierfingrigen blauen Fleck auf meinem Hintern. Ich hatte gehofft, durch den Erfolg meines Projekts rehabilitiert zu werden, aber das Marmeladenglas mit Wasser und Rosenblättern verwandelte sich über Nacht in ein übel riechendes, braunes Mus und musste auf den Kompost geworfen werden.
Unsere Straße war eine von Bäumen gesäumte Sackgasse in Form eines Lutschers, mit einer runden Grünfläche am Ende, von der Hunde und Kinder, eigentlich alle Lebewesen, denen sie eventuell etwas Vergnügen bereitet hätte, fern gehalten wurden, und sie wurde von Autofahrern, die die Abzweigung nach Bromley übersehen hatten, als Wendeplatz benutzt – eine Tatsache, die bei meiner Mutter erhebliche Bestürzung auslöste. Manchmal stand sie am Fenster, sah mit verschränkten Armen durch die Tüllgardinen und beobachtete das Vordringen irgendeines Anstoß erregenden Fahrzeugs. »Wender«, erklärte sie dann missbilligend. Abgesehen vom Eindringen »der Wender« war es eine ruhige Straße: Gartenarbeiten vor dem Haus wurden normalerweise schweigend verrichtet, und Nachbarn kommunizierten über angrenzende Hecken und Mauern hinweg eher mit Kopfnicken und dem Hochziehen von Augenbrauen als mit Worten. Auch im Haus war es still. Die dicken, weichen Teppiche schienen Geräusche zu schlucken, wie Löschpapier Tinte aufsaugt, und Mutters Vorschrift, in der Wohnung die Straßenschuhe auszuziehen, führte dazu, dass wir drei in unseren Socken so leise umhertapsten wie Katzen. Sogar die Kuckucksuhr, ein Souvenir von der Hochzeitsreise meiner Eltern in die Schweiz, hatte nach und nach ihre Stimme verloren, und das Vögelchen kam jede Stunde mit einer stummen Grimasse statt mit einem Zwitschern hinter seinem Türchen hervor. Manchmal ließ Mutter auf dem Plattenspieler klassische Musik laufen, aber nur mit der Lautstärke auf der geringsten Stufe: Oboen zwitscherten wie Kanarienvögel, Becken klirrten wie Teelöffel, und großartige, dröhnende Symphonien waren zu einem Flüstern gedämpft.
Ich nehme an, das ist der Grund, weshalb das folgende Ereignis so deutlich aus meinen Erinnerungen hervorsticht. Es kommt mir seltsam vor, dass ich mich so detailliert an etwas erinnern kann, das passierte, als ich erst zwei war, aber ich weiß, dass ich damals nicht viel älter gewesen sein kann, weil ich noch in meinem Kinderbett schlief, und in der Familienüberlieferung ist es gut dokumentiert, dass das Bettchen zusammenbrach, als ich zweieinhalb war, wobei ich mir die Finger einklemmte, und dass es danach für gefährlich gehalten und zum Wohltätigkeitsbasar der Pfadfinder gegeben wurde.
Woran ich mich erinnere, ist Folgendes: Einige Zeit, nachdem ich ins Bett gebracht worden war, wachte ich vom Weinen, eigentlich vom Schluchzen, meiner Mutter auf. Durch die offene Tür konnte ich das Licht aus dem Elternschlafzimmer sehen, das Streifen auf den Treppenabsatz warf; meine Mutter kam heraus und zerrte einen Koffer hinter sich her. Einen Augenblick später hörte ich schwere Schritte auf der Treppe, und mein Vater, der ebenfalls weinte, erschien. Dann folgte ein wütender Wortwechsel und ein Kampf um den Koffer, den mein Vater natürlich gewann, und ein gewaltiges Krachen, als er ihn die Treppe hinunterschleuderte. Das war die einzige Gewalttätigkeit, die ich unter diesem Dach je erlebt hatte, und mein verängstigtes Geheul ließ gleich darauf meine Mutter zu mir eilen; sie umarmte mich grimmig, bis ich wieder einschlief. Soweit ich weiß, haben sie nie wieder ihre Stimmen erhoben. Es war ein sehr zivilisierter Haushalt.
Es gab auch medizinische Gründe, wieso in der Sackgasse, Hausnummer 12, Ruhe so hoch geschätzt wurde. Meine Mutter litt an schrecklichen Migräneanfällen, die sie tagelang außer Gefecht setzten, und die durch helles Licht, Hitze, Lärm, Erregung und eine Vielzahl von harmlos aussehenden Nahrungsmitteln ausgelöst werden konnten. So lange wie möglich widersetzte sie sich einem Ausbruch, schleppte sich blass, eine Packung gefrorener Erbsen an die Stirn gepresst, mit zugekniffenen Augen im Haus herum, bis es sie schließlich die Treppe hinauf trieb, wo sie Zuflucht im abgedunkelten Schlafzimmer suchte. Im Eisfach unseres Kühlschrankes war eigens für diesen Fall immer ein Vorrat an gefrorenem Gemüse. Die Packungen mussten regelmäßig gewechselt werden, denn die glühenden Kopfschmerzen meiner Mutter waren so intensiv, dass sie eine innerhalb von zwanzig Minuten zum Schmelzen brachte. Sie beklagte sich nie. Mein Vater und ich schlichen uns in kurzen Abständen an ihr Bett, um die Eispackung zu wechseln oder ihr einen nassen Waschlappen auf die Stirn zu legen, und dann lächelte sie schwach und versprach, bald wieder nach unten zu kommen. Gelegentlich forderte sie mich auf, ihr mit einem Metallkamm über die Kopfhaut zu kratzen, dem Prinzip folgend, dass man die Schmerzen, wenn man sie schon nicht lindern, doch wenigstens abwechslungsreich gestalten konnte.
Während dieser Rückzugsphasen mussten mein Vater und ich für uns selbst sorgen. Vater, der nicht nur so vor sich hin wursteln wollte, riss sich zusammen, holte Kochbücher aus dem Arbeitszimmer, fuhr meilenweit, um nach obskuren Zutaten zu suchen, und bereitete eine üppige, für den Gaumen eines Kindes ziemlich ungeeignete Mahlzeit – Tintenfisch vielleicht, oder ein scharfes Currygericht –, die ich tapfer schluckte, während ich die ganze Zeit betete, dass meine Mutter schnell wieder genesen solle.
Manchmal hielt Vater es für seine Pflicht, mich zu unterhalten, eine Situation, die uns beiden Sorgen bereitete. Einmal, als ich fünf war, ging er mit mir zu einer Matinee von Verlorene Liebesmüh’, während der ich die ganze Zeit fest schlief, und ein andermal in einen Zirkus, wo ich sowohl den Anblick erwachsener Männer in Clownskostümen, die sich lächerlich machten, ertragen musste, als auch den meines Vaters neben mir, der sich vor Langeweile und Verlegenheit wand. »Hast du geglaubt, das würde mir gefallen, Daddy?«, fragte ich ihn danach freundlich, eine Geschichte, die er oft erzählte, als ich älter war. Nach diesen Katastrophen unterließ Vater es für eine Weile, Ausflüge vorzuschlagen, und beschränkte sich auf einfachere Vergnügungen. Er brachte mir Backgammon und Rommee bei oder saß einfach neben mir auf dem Sofa, während jeder in seinem Buch las und darauf wartete, dass die Migräne oben vorbeiging. Aber ein Ereignis sticht aus allen anderen heraus.
Schon den ganzen Morgen hat im Haus eine komische Atmosphäre geherrscht. Kein Streit, aber so als würde etwas unterschwellig gären. Der samstägliche Einkauf beim Fleischer und Obst- und Gemüsehändler ist schweigend erledigt worden, und gegen elf Uhr hat meine Mutter sich mit Kopfschmerzen ins Bett zurückgezogen. Für mich ist das eine frühe Phase der wachsenden Erkenntnis, dass meine Eltern nicht besonders glücklich sind – wenigstens nicht gleichzeitig. Mir ist langsam aufgefallen, dass sie sich nicht anschreien wie andere Paare, die ich zum Beispiel auf der Post gesehen habe, aber auch keine besondere Zuneigung füreinander an den Tag legen. Sie küssen, umarmen und necken mich, nicht sich.
Während Mutter sich in ihr Bett und Vater sich in sein Arbeitszimmer zurückzieht, spiele ich im Garten hinterm Haus mit Margot und Sheena. In diesem Stadium (ich bin sechs) habe ich mir zwei imaginäre Freundinnen angeschafft, Margot, die etwas älter ist als ich, hübsch, dunkelhaarig und sehr herrisch, und Sheena, die jünger ist, blond, natürlich hübsch und nicht ganz so selbstbewusst. Ich mag Sheena lieber, aber Margot ist diejenige, die die Dinge regelt. Wir üben unser Ballett. Margot führt eine Reihe von Pirouetten vor, die in einem Sprung gipfeln, und Sheena und ich applaudieren begeistert. Margot hat schon Spitzenschuhe, während wir noch weiche Tanzschuhe tragen: Unsere Füße seien noch nicht ausreichend entwickelt, ist Margots Argumentation, und wenn wir zu früh versuchten, zu Spitzenschuhen zu wechseln, würden wir später deformiert sein und höchstwahrscheinlich verkrüppelt.
»Du bist dran«, befiehlt sie, und ich fange mit der Nummer an, an der ich schon ein paar Tage gefeilt habe. Sie ist, finde ich, besser als Margots, weil sie eine Geschichte erzählt: Es geht um ein junges Mädchen, das sich mit einer Nachtigall anfreundet, die dann wegfliegt und es verloren zurücklässt, und wird mit so viel Pathos dargeboten, wie ich nur aufbringen kann. Sheena ist sehr bewegt.
»Gefällt es dir?«, frage ich Margot.
»Ja, Schatz, sehr gut.«
»War sie so gut wie deine?«, hake ich nach.
»Nein, Schatz«, sagt Margot freundlich. »Nicht ganz.«
Während ich mich noch davon erhole, sehe ich Vater am Fenster. Er steht zwischen den Tüllgardinen und der Glasscheibe und blickt in die Ferne. Ich winke ihm, aber er sieht mich nicht. Als ich hineinkomme, steht er noch genauso da, und ich schleiche mich an ihn heran und schlüpfe unter den Tüll. Geistesabwesend legt er mir eine Hand auf den Kopf und zerzaust mein Haar, das ich prompt wieder glatt streiche.
»Daddy?«, sage ich. »Wieso sind du und Mummy traurig?«
Seine Hand zuckt zurück, als hätte er den Finger in eine unter Strom stehende Steckdose gesteckt, und er sagt: »Wir sind nicht traurig, Schätzchen. Wie könnten wir das sein, mit so einer wunderschönen Tochter?« Und er schiebt die Tüllgardinen weg, hebt mich schwungvoll hoch und gibt mir einen Kuss auf die Nase. »Ich sag dir was, wir gehen aus, ja? Wir essen irgendwo zu Mittag.« Das ist sehr aufregend für mich, weil ich noch nie auswärts gegessen habe.
Als Vater das Auto rückwärts aus dem Tor fährt, öffnet sich ratternd das Schlafzimmerfenster, und Mutter erscheint, eine Plastiktüte in der Hand. »Hast du nicht was vergessen?«, sagt sie kalt, und Vater zieht ruckartig die Handbremse an und geht mit großen Schritten. die Einfahrt wieder hinauf. Einen Augenblick später kommt er mit der Tüte zurück, in der anscheinend ein mit braunem Papier umwickeltes Paket ist, und verstaut sie im Kofferraum.
»Was ist das?«, frage ich, als wir endlich auf dem Weg sind.
»Eine Besorgung«, sagt er in einem Ton, der jede weitere Frage unterbindet.
Ich sitze mit ausgestreckten Beinen auf dem Rücksitz – anscheinend ist es gefährlich für mich, vorne zu sitzen, für Vater dagegen in Ordnung. Das macht es schwierig, sich zu unterhalten, aber Vater ist sowieso kein großer Redner, und in freundlichem Schweigen geht die Fahrt weiter, Straße um Straße, bis wir nach fast einer Stunde vor einem außergewöhnlichen Haus anhalten. Im Vergleich zu diesem Haus ist die Straße unauffällig – zwei Reihen großer Backsteinhäuser, keine Lücken dazwischen, kleine Vorgärten und zwei Parkstreifen mit Autos. Doch an der Ecke, von der Straße zurückgesetzt, am Ende einer halbkreisförmigen Zufahrt, hockt dieses Monster mit einem Turmzimmer auf jeder Seite, wie ein Paar hochgezogene, knöcherne Schultern, und mit ungleichmäßig großen Fenstern, die ihm ein beunruhigendes Schielen verleihen. Der Garten, ein Wald aus ungemähtem Gras, Dornensträuchern und riesigem, gummiartigem Gestrüpp, das von violetten Blumen erstickt wird, ist von einer hohen Mauer umgeben, und oben an den Torpfosten sind zwei Furcht erregende Bilder eingeritzt. Eins ist der Kopf eines knurrenden Wolfes, und das andere ist ein Adler oder Geier – jedenfalls ein wild aussehender Vogel – mit einem hakenförmigen Schnabel und finster starrenden Augen, die auf mich gerichtet zu sein scheinen. Während ich auf dem Rücksitz kauere und versuche, ihren Blicken auszuweichen, holt Vater das Paket aus dem Kofferraum und läuft die Einfahrt hinauf. Die Haustür wird von einem der violetten Büsche verdeckt, aber einen Augenblick später taucht er wieder auf, und wir fahren weiter. Nachdem seine Besorgung erledigt ist, scheint Vater gesprächiger zu sein, und er erzählt mir, dass er mich an einen schönen Ort bringe, an einen seiner Lieblingsplätze, einen heiligen Ort namens Half Moon Street; er hoffe, dass ich bequeme Schuhe anhabe, weil wir ein Stück zu Fuß gehen müssen. Ich schaue auf meine Schuhe. Ich habe die Unpässlichkeit meiner Mutter ausgenutzt und meine weißen Lackledersandalen angezogen, die ich nur im Haus tragen darf, zu besonderen Anlässen. Normalerweise kann man sich darauf verlassen, dass Vater solche Details nicht auffallen. Ich erzähle ihm, dass sie äußerst bequem sind, was wahr ist, und bete, dass es dort keinen Schlamm gibt.
Wir essen in einem Dorfpub zu Mittag. Wir sitzen im Garten, weil es ein sonniger Tag ist und weil Kinder nicht hinein dürfen. Vater ist äußerst penibel, wenn es darum geht, solche Verbote einzuhalten, und lässt mich nicht einmal im Pub aufs Klo gehen; stattdessen müssen wir im Dorf umhertrotten, bis wir eine Damentoilette finden.
Wir essen beide Rindfleisch-Nieren-Pastete mit Pommes. Als ich fertig bin, stochert Vater in meinen Resten und isst die Dosenerbsen, die ich auf dem Teller zur Seite geschoben habe, und die Fleischbrocken, die ich als zu zäh oder knorpelig aussortiert habe. Ich probiere zum ersten Mal klare Limonade. Wie, will ich wissen, kann etwas, das wie Wasser aussieht, so gut schmecken? Vater beginnt mit der Erklärung von Aromen und Chemikalien, nimmt sich dann aber zusammen, als er mein Gesicht sieht, und fragt, ob ich noch ein Glas möchte. Er zündet seine Pfeife an, und als die ersten Rauchwolken zum Himmel ziehen, nehmen die Leute am Nachbartisch ihre Teller und verschwinden in die hinterste Ecke des Gartens. Seufzend klopft Vater seine Pfeife im Aschenbecher aus. Es ist so warm, dass ich mir meine Strickjacke um die Taille gebunden habe, aber Vater hat Hemd, Krawatte, Pullover und Jacke noch an. Er trägt immer eine Krawatte. Seine Garderobe ist einfach, und obwohl keins seiner Kleidungsstücke leger ist, ist auch keins richtig schick. Er friert leicht, was ungünstig ist, weil unser Haus praktisch ungeheizt ist: Jede Spur von Wärme kann einen von Mutters Migräneanfällen auslösen.
Half Moon Street erreicht man durch tief liegende Wege. Die Bäume, seit kurzem grün, wölben sich wie ein Tunnel über uns, verdecken den Himmel. Überall um uns herum ist das scharfe, saure Grün des Frühlings. Es ist, als würde man sich in einen Apfel verkriechen. Wir müssen das Auto ungefähr eine halbe Meile entfernt auf dem Parkplatz eines Pubs stehen lassen und zu Fuß weitergehen; der Weg wird zu einem Feldweg, und ich muss aufpassen, damit ich nicht in Pfützen trete. Ab und zu muss Vater mich über große Schlammstreifen tragen. Wir steigen hinab in eine Senke, biegen um eine Ecke, und da ist es: Mein erster Blick auf Half Moon Street, überhaupt keine Straße, sondern ein moosgrüner Teich, von einer Krone aus Bäumen umgeben, mit einem winzigen Backsteincottage und einem Landungssteg auf einer Seite. Der Garten, ein Wasserfall aus blauen Wiesenglockenblumen und Vergissmeinnicht, reicht bis zum Ufer, wo ein kleines Holzboot an ein Schild gebunden ist, auf dem steht: BOOTFAHREN, ANGELN UND SCHWIMMEN VERBOTEN. Das Cottage ist offensichtlich bewohnt, denn die Fenster im ersten Stock sind geöffnet, und ich sehe Vorhänge flattern. Vor der Haustür stehen ein Kübel mit verblühten Osterglocken und ein grüner Stuhl, von dem die Farbe abblättert, mit einem Patchwork-Kissen auf dem Sitz und einem Buch über der Armlehne. »Als ich das letzte Mal hier war, war das Cottage leer«, sagt Vater. »Ich bin froh, dass es jetzt vermietet ist. Es schien mir eine solche Verschwendung zu sein.« Auf dem Teich schwimmen eine Ente und ein paar Entenküken. Nur ihre Haarnadelspuren stören die Symmetrie des Spiegelbilds der Bäume. Es ist so schön, dass es nicht real zu sein scheint.
»Das ist ein Hammerteich«, sagt Vater und versucht mir etwas über Wasserräder und Eisenverhüttung zu erklären, aber meine Gedanken sind bereits abgeschweift, und ich höre bald nicht mehr zu. Ich schmiede Pläne, wie ich später hier wohnen werde, vielleicht mit einer Freundin. Ich weiß schon, dass es einer meiner speziellen Orte sein wird. Ich habe Vater nicht einmal gefragt, wie er ihn entdeckt hat. Es spielt keine Rolle; er gehört jetzt mir. Wir umrunden den Teich; Vater geht und ich renne, schlängele mich um die Bäume herum und hinunter ans Wasser. Auf einem Schild, das an einen Baum genagelt ist, steht: VORSICHT VIPERN, und als Vater es sieht, sagt er zu mir, ich soll aufpassen, wo ich hintrete.
Als wir ungefähr eine Stunde später zum Auto zurückkommen, fällt mir auf, dass meine Sandalen schwarz vor Schlamm sind. Sie mit einem Taschentuch abzuwischen erweist sich als nutzlos – der Schmutz ist tief in die Naht eingedrungen, und das Leder ist von Zweigen zerkratzt. Sie sind ruiniert. Nachdem ich ein paarmal heftig geschluckt habe, breche ich in Tränen aus und plärre ein Geständnis heraus. Vater ist mitfühlend. Im Vergleich zu seinen eigenen Schuhen, die voll Schlamm sind, sehen meine ganz ordentlich aus, aber er weiß, dass kleine Mädchen und insbesondere erwachsene Frauen einigen Wert auf schickes Schuhwerk legen. Außerdem wird er von meiner Mutter zum Teil dafür verantwortlich gemacht werden, dass sie verdorben sind, und deshalb sind Hilfsmaßnahmen erforderlich.
»Wo habt ihr die gekauft?«, fragt er. Zwischen Schluchzern sage ich es ihm: Es ist eine billige Ladenkette, und er ist zuversichtlich, dass wir auf dem Heimweg eine Filiale finden und sie ersetzen können. In Dorking gibt es sie, aber nur in Beige. In Reigate haben sie meine Größe nicht. Wir stöbern schließlich gefährlich nahe an zu Hause ein Paar auf, und die Erleichterung ist riesig. Das alte Paar und die Verpackung der neuen Schuhe werden in einen Mülleimer geworfen, und ein Geheimhaltungseid wird geschworen. Vater versucht, den Betrug zu bagatellisieren, deutet aber an, dass ihm lieber wäre, wir würden es für uns behalten. »Wir wissen beide, dass es Mummy nicht viel ausmachen würde, aber es hat keinen Zweck, sie zu verärgern, wenn sie Kopfschmerzen hat«, sagt er irgendwie unlogisch. Die Aufregung, mich mit Vater gegen Mutter zu verbünden, wird durch ein Gefühl des Unbehagens beeinträchtigt. Ich neige von Natur aus dazu, die Wahrheit zu sagen.
Als wir zurückkehren, sind Mutters Kopfschmerzen und ihre schlechte Laune verflogen, und sie ist unten und bäckt einen Schokoladenkuchen – ein besonderer Leckerbissen und ein großes Zugeständnis, denn Schokolade ist eines ihrer verbotenen Nahrungsmittel, und deshalb wird sie sich nur indirekt daran erfreuen können. Sie, Vater und ich begrüßen uns fröhlich, und nachdem ich die verräterischen Sandalen in meinem Zimmer verstaut habe, werde ich umarmt und gestreichelt und darf den Löffel mit dem Kuchenteig ablecken. Am Abend, nach dem Essen, gesellt mein Vater sich zu uns, statt sich in sein Arbeitszimmer zurückzuziehen, um Hefte zu korrigieren, Unterrichtsstunden vorzubereiten oder an seinem Projekt zu arbeiten – irgendein monumentaler und auf ewig unvollendeter Kommentar zum griechischen Drama –, und spielt mit uns Karten. Im Hintergrund läuft leise Klaviermusik, und zu unserem Rommee, das wir um Streichhölzer spielen, trinken wir heiße Milch und essen Kuchen. Wir sind glücklich, alle drei, gleichzeitig, am selben Ort.
Mein Vater hatte sein eigenes Äquivalent für unbehandelbare Kopfschmerzen: die unerklärte Abwesenheit. Da Mutter das Autofahren nie gelernt hatte, war Vater Herr über den Vauxhall Viva und verschwand stundenlang damit, normalerweise um irgendeine kleinere Besorgung zu erledigen, wie zum Beispiel einen Dichtungsring für den Wasserhahn zu kaufen oder in der Leihbücherei seine Strafgebühren zu zahlen. (Als Lateinlehrer an der örtlichen Grammar School hatte er unbegrenzten Zugang zur Schulbibliothek und war deshalb an lange Leihfristen gewöhnt.) Er kündigte seine Ausflüge niemals an, sondern schlenderte offensichtlich geistesabwesend aus dem Haus, und nur das Aufheulen des Motors verriet uns, dass er wieder einmal »weg« war. Gelegentlich kam er mit irgendetwas zurück, das er gekauft hatte, um vier Stunden Abwesenheit zu rechtfertigen: einem exotischen Autoersatzteil oder einem Stapel Bücher in einer Foyle-Plastiktüte. Für meine Mutter war dieses Verhalten eine dieser reizenden Exzentritäten, die sie mit der Zeit zu hassen gelernt hatte, aber die, da sie so lange nicht in Frage gestellt worden waren, jetzt auch nicht mehr geändert werden konnten. (Gewisse Regeln, wie dass Vater nur in seinem Arbeitszimmer oder im Garten Pfeife rauchen durfte, und das Ausziehen der Straßenschuhe an der Türschwelle, waren schon früh festgelegt worden und konnten deshalb mit aller Härte durchgesetzt werden, und nach zwölf Jahren Ehe fiel es ihm sogar fast leicht, sie zu befolgen.)
Im Haus selber gab er eine begrenztere Version seines Verschwindens zum Besten, indem er sich, kurz bevor das Abendessen serviert wurde oder wir ausgehen wollten, in seine abgelegensten Ecken zurückzog.
»Verschwinde jetzt nicht, ich trage auf«, sagte Mutter dann, während sie in einer Dampfwolke Gemüse aus dem Topf in ein Sieb kippte und mein Vater sich in der Tür herumdrückte. Wenn das Essen auf den Tellern war, war er verschwunden – um in seinem Schreibtisch nach einem Dokument zu stöbern, an das er sich plötzlich erinnert hatte, oder um schnell etwas an seinem »Projekt« zu verbessern.
Einmal habe ich ihn erwischt. Es war am Samstag vor Ostern. Vater hatte sich kurz nach dem Lunch weggeschlichen; Mutter jätete im Vorgarten Unkraut. Ich hatte meinen Comic zu Ende gelesen, mein Zimmer aufgeräumt und mich entschlossen, mit dem Fahrrad loszufahren, um mir Süßigkeiten zu kaufen. Rad fahren ohne Stützräder war eine Fähigkeit, die ich erst vor relativ kurzer Zeit gelernt hatte, und die Belohnung für diese Bemühung war ein neues, rotes Fahrrad gewesen, mit einem Korb vorne und einer Satteltasche hinten, das das rostige Flohmarkt-modell ersetzte, auf dem ich diese Kunst erlernt hatte. Immer wieder um die Grünfläche am Ende der Sackgasse herumzuradeln war zu meiner Lieblingsbeschäftigung geworden, und als ich an diesem Morgen mit zehn Pence in der Tasche über die holperigen Bürgersteige zum Zeitungshändler fuhr, war ich so vollkommen und wunschlos glücklich, wie ich es als Erwachsene selten gewesen bin.