Lauren Wolk
Eine Insel zwischen Himmel und Meer
Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Lauren Wolk, geboren in Baltimore, ist Schriftstellerin, Dichterin und bildende Künstlerin. Sie studierte an der Brown University Literatur, arbeitete u.a. als Redakteurin, Feuilletonistin und Lehrerin und ist derzeit stellvertretende Leiterin des Cultural Center of Cape Cod. Auf der Halbinsel ist sie mit ihrer Familie auch zu Hause.
Ihr Debüt »Das Jahr, in dem ich lügen lernte« war bei Presse und Publikum ein großer Erfolg.
www.Laurenwolk.com
Bei Twitter @LaurenWolkBooks
Crow hat ihr ganzes Leben auf einer winzigen, abgelegenen Insel verbracht, die zu den wild schönen Elisabeth-Inseln vor der Küste Massachusetts gehört. Sie wurde, kaum ein paar Stunden alt, allein in ein leckes kleines Boot gelegt und ausgesetzt. Und von Osh, dem einzigen Bewohner der Insel, gerettet. Bei ihm ist Crow aufgewachsen. Unterstützt nur von der couragierten und liebevollen Miss Maggie von der Nachbarinsel. Sie kümmert sich um die beiden Außenseiter.
Crow war immer neugierig, was ihre Herkunft, aber auch ihre unmittelbare Umgebung angeht. Und als sie eines Nachts ein unheimliches Feuer auf einer vermeintlich menschenleeren Insel entdeckt, steigen all die unausgesprochenen Fragen nach ihrer Herkunft in ihr auf. Stammt sie tatsächlich von der gefürchteten Insel Penikese? Plötzlich kommt eins zum anderen, Ereignisse überschlagen sich; Crow bekommt Antworten, allerdings führen die sie auch auf einen gefährlichen Weg.
Herzzerreißend und lebendig zugleich webt Lauren Wolk ihre Geschichte über Identität, Zugehörigkeit und die wahre Bedeutung von Familie.
2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
© 2017 Lauren Wolk
Published by Arrangement with Lauren Wolk-Hall
Titel der Originalausgabe: Beyond the Bright Sea
(Dutton Children’s Books, New York)
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München 2018
Umschlaggestaltung: dtv nach einem Entwurf von Lindsey Andrews
unter Verwendung einer Illustration von Tang Yau Hoong
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
eBook-Herstellung im Verlag (01)
eBook ISBN 978-3-423-43424-9 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-64035-0
Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks
ISBN (epub) 9783423434249
Für meinen Vater,
der mich als Erster mit hinausnahm aufs Meer
Elisabeth-Inseln,
vor der Küste von Woods Hole, Massachusetts, gelegen
1925
Ich heiße Crow.
Crow wie die Krähe.
Als ich noch ein Baby war, hat mich jemand in ein altes Boot gepackt und aufs Meer hinausgeschoben.
Wie ein Samenkorn auf einer hohen Welle bin ich auf einer winzigen Insel an Land gespült worden.
Osh hat mich gefunden und zu sich genommen, und er war es auch, der mich gelehrt hat, Wurzeln zu schlagen, mit der Hilfe von Sonne und Regen zu gedeihen und nach und nach aufzublühen.
Die Insel, auf der wir uns begegnet sind, war klein, aber stark und fest im Meeresboden verankert durch eine Reihe großer schwarzer Felsen, die gleichzeitig unsere Hütte schützten. Diese Hütte, in ihrem Nest aus Erde und Meerschlamm, war ein baufälliges Ding, zusammengesetzt aus Teilen gestrandeter Schiffe. Außer der Hütte hatten wir noch einen kleinen Garten und das Boot, das uns überall hinbrachte, wohin unsere Füße uns nicht tragen konnten.
Mehr brauchten wir nicht. Jedenfalls zunächst nicht.
Bei Ebbe konnten wir problemlos im seichten Wasser nach Cuttyhunk hinüberlaufen, der nächsten Insel, zwischen Braunalgen und Barschen hindurch.
Bei Flut stand unsere Hütte so nah am Wasser, dass es einem fast so vorkam, als wäre sie selbst ein Boot.
Lange war ich dann am glücklichsten, wenn das Wasser anstieg, uns von allem anderen trennte, wir ganz für uns waren, sodass wir zwei allein alles entscheiden konnten, was zu entscheiden war.
Dann, eines Nachts, als ich zwölf war, sah ich ein Feuer auf Penikese, der Insel, die nie jemand besuchte. Da beschloss ich für mich, dass es an der Zeit war herauszufinden, wo ich hergekommen war und warum man mich weggeschickt hatte.
Doch ich begriff nicht, was ich damit aufs Spiel setzte. Bis ich es beinahe verloren hatte.
Nie werde ich mit Sicherheit wissen, wann ich geboren bin. Nicht genau jedenfalls.
An dem Morgen, als Osh mich entdeckte, war ich erst wenige Stunden alt, doch Osh besaß keinen Kalender, und es interessierte ihn auch wenig, welcher Tag gerade war. Daher begingen wir meinen Geburtstag immer um Mittsommer herum, an irgendeinem Tag, der uns gerade passend erschien.
Genauso war es mit anderen wichtigen Meilensteinen in meinem Leben: Ereignissen, die alle nichts mit dem Kalender zu tun hatten.
Wie der Tag, an dem Maus auf einmal vor unserer Tür stand, klapperdürr, und beschloss, dass unsere Hütte jetzt auch ihre sei. Ganz ähnlich, wie es bei mir selbst gewesen war.
Oder das erste Mal, dass Osh mich an die Ruderpinne unseres Bootes ließ, während er sich vorn ins Boot setzte, den Rücken an den Mast gelehnt, und sich eine Weile die Sonne ins Gesicht scheinen ließ, während die Gischt ihn mit feinen Regenbogenschleiern überzog. Oder der Tag, als einmal bei Flut ein junger Weißseitendelfin bei uns strandete, ein Weibchen. Osh war gerade unterwegs und ich auf dem Rückweg von Cuttyhunk, als ich den Delfin entdeckte, der angstvolle, babyähnliche Schreie ausstieß und sich immer wieder aufbäumte. Mit den bloßen Händen schaufelte ich den nassen Sand beiseite, in dem das Tier feststeckte. Ich packte es bei den geschwungenen Schwanzflossen und zog es Zentimeter um Zentimeter weg, bis das Wasser wieder hoch genug war und wir beide uns plötzlich im Meer wiederfanden.
Als das Delfinweibchen an mir vorüberschwamm, sah es mir fest in die Augen, so als wollte es sich mein Gesicht einprägen, diesen Moment. Als wollte es mir sagen, auch ich solle mich stets an diesen Moment erinnern, was immer auch später geschehen mochte.
Kalender spielten für all das keine Rolle.
Trotzdem weiß ich, dass ich acht Jahre lang auf jener kleinen Insel gelebt hatte, bevor ich mehr als nur Neugier verspürte, was meinen Namen anging. Der Traum, aus dem ich mit neuen Fragen nach meinem Namen erwachte, war voller Sterne, blasender Wale, voll von der Poesie des Meeres. Als ich die Augen aufschlug, blieb ich noch kurz liegen und beobachtete Osh, der am Herd stand und in einem zerbeulten Topf Haferbrei kochte.
Dann setzte ich mich auf und rieb mir den Schlaf aus den Augen. »Wieso heiße ich eigentlich Crow?«, fragte ich Osh.
Wenn er Brei kochte und mit dem Löffel im Topf rührte, dann hörte es sich an, als würde ein Boot auf einen Strand gezogen. »Das habe ich dir doch schon gesagt«, antwortete Osh. »Als du hier angeschwemmt wurdest, hattest du dich schon völlig heiser geschrien. Du hast nur noch gekrächzt, aber das die ganze Zeit. Deshalb habe ich dich Crow genannt.«
Bis dahin hatte mir diese Antwort immer genügt. Doch sie erklärte nicht alles. Und inzwischen wollte ich die ganze Geschichte wissen.
»Auf Englisch?«, fragte ich.
Manchmal sprach Osh in einer Sprache, die ich nicht verstand. Dann klang seine Stimme wie Musik, vor allem wenn er betete, aber auch wenn er seine Bilder vom Meer und von den Inseln malte. Als ich Osh zum ersten Mal nach dieser anderen Sprache fragte, sagte er, sie gehöre zu dem Wenigen, das ihm geblieben sei von dem Leben, das er hatte, bevor er auf diese Insel kam. Bevor ich zu ihm kam.
Auch wenn er diese andere Sprache nicht oft benutzte, so verlieh sie doch seinem Englisch ein ganz besonderes Aroma, sodass es anders klang als das aller anderen Leute. Seinen Akzent nannte Miss Maggie das. Mir schien es eher so, als hätten alle anderen einen fremden Akzent.
»Nein, anfangs nicht auf Englisch«, antwortete Osh. »Aber hier sprechen die Leute nun mal Englisch. Und deshalb: Crow.«
Ich stand auf und reckte mich, um den Schlaf aus meinen Knochen zu vertreiben. In dem blassen Morgenlicht hatten meine Arme so gut wie keine Ähnlichkeit mit Flügeln.
Doch als ich dann auf einen Hocker kletterte und in unseren Spiegel schaute – der gerade groß genug war, um mir mein Gesicht zu zeigen –, sah ich das Vogelähnliche in der Krümmung meiner Nase. Das Geburtsmal auf meiner Wange, das die Form einer kleinen Feder hatte. Mein Haar, das dunkler war als das aller anderen, die ich kannte. Meine dunklen Augen. Meine Haut, die aussah wie die von Osh nach einem halben Jahr in der Sonne.
Ich blickte hinunter auf meine mageren Beine, meine knochigen Füße.
Es gab reichlich Gründe, mich Crow zu nennen, außer der Art, wie ich früher geweint hatte.
Osh selbst hatte drei Namen: Daniel – so nannte ihn Miss Maggie. Der Maler – so nannten ihn die Sommergäste. Osh – so nannte ich ihn, seit ich meine ersten Worte sprechen konnte.
Sein richtiger Name war kompliziert. Zu schwierig für ein Kind. Bei mir hatte es nur zu Osh gereicht. Und so nannte ich ihn seither.
»Ich wünschte, ich wüsste, wie mein richtiger Name war«, sagte ich.
Eine Weile schwieg Osh. »Wie meinst du das – dein richtiger Name?«, fragte er dann.
»Mein richtiger Name. Der, den mir meine Eltern gegeben haben.«
Wieder schwieg Osh eine Weile. Dann sagte er: »Du kamst als Neugeborenes hier an. Ob du je einen anderen Namen gehabt hast? Nicht, dass ich wüsste.« Er löffelte Haferbrei in eine Schale. »Und falls doch, weiß ich nicht, wie wir je erfahren sollten, wie er war.«
Ich holte uns zwei Löffel. »Wie er ist, meinst du wohl.«
Osh zuckte mit den Schultern, und dabei rollten seine schulterlangen Haare sich auf wie nächtliche Wellen. »War. Ist. Sein wird.« Er füllte eine zweite Schale mit Brei. »Was bedeutet das schon? Du bist jetzt hier, und du hast einen Namen.«
Platsch machte der Haferbrei, als er in der Schüssel landete, tock der Holzlöffel, der an ihrem Rand aufschlug, und beide Geräusche weckten die Frage in mir, wer diese Dinge benannt hatte. Sowie alles andere auf der Welt. Auch mich.
Ich spürte, wie meine Neugier stärker wurde, so als wäre sie ein Teil meiner Knochen und würde mit ihnen Schritt halten, während ich wuchs.
Aber es war mehr als das, mehr als bloße Neugier: Ich verspürte den brennenden Wunsch, endlich zu wissen, was ich bis dahin nicht wusste.
Ich wollte wissen, warum in manchen der Austern von Cuttyhunk Perlen waren, in anderen aber nicht. Ich wollte wissen, wieso der Mond aus so großer Entfernung das Meer bewegen konnte, wo er doch nicht einmal die Milch in Miss Maggies Tee umzurühren vermochte. Aber ich musste wissen, warum so viele Menschen auf Cuttyhunk sich von mir fernhielten, so als hätten sie Angst vor mir, obwohl ich kleiner war als sie alle.
Ich fragte mich, ob es etwas damit zu tun haben könnte, wo ich herkam, doch das ergab keinen Sinn. Welche Bedeutung konnte ein Woher haben für die Fragen, wer oder was ein Mensch war? Eine gewisse Bedeutung sicher.
Aber keine alles entscheidende.
Und ich wollte Antworten auf alle drei Fragen.
Osh hingegen nicht. Wann immer ich ihn nach Austernperlen oder Ebbe und Flut fragte, tat er sein Bestes, mir Antwort zu geben. Doch wenn es mir um Dinge jenseits unseres Lebens auf den Inseln ging, dann wurde Osh zu so etwas wie der Mond selbst und versuchte, mich zurückzuziehen wie der Mond das Meer bei Ebbe. So als liefe Meerwasser durch meine Adern statt Blut.
»Ich bin von weit, weit hergekommen«, sagte er einmal, als ich ihn nach seinem Leben vor mir fragte. »Weiter konnte ich nicht wegkommen von jenem Ort, an dem sich Menschen – darunter auch meine eigenen Brüder – kopfüber in schreckliche Kämpfe stürzten und niemand mehr einen Durchblick hatte in jenem Tollhaus. Und wofür? Worum ging es?« Osh schüttelte den Kopf. »Um nichts, was solche Kämpfe gelohnt hätte. Ich habe mich geweigert, dabei mitzumachen. Deshalb bin ich jetzt hier. Und hier bleibe ich.«
Während ich darauf wartete, dass Osh unseren Haferbrei auf den Tisch stellte, überlegte ich, welcher Name mir für mich gefallen könnte, doch etwas Besseres als Crow fiel mir nicht ein, und so hieß ich ja bereits.
Ich fand es auch schön, nach einem Vogel benannt zu sein, der schlauer war als die meisten. Sogar schlauer als manche Menschen. Ganz anders als die Möwen und Fischadler, die über den Inseln kreisten und immer wieder hinabtauchten. Ich fühlte eine gewisse Verwandtschaft mit diesen großen schwarzen Vögeln, die vom Festland herübertrieben wie verlorene Papierdrachen und sich im Wind mal hierhin, mal dorthin neigten, bis sie sich schließlich auf Miss Maggies Weißbuche niederließen. Sie schienen nicht auf die Inseln zu gehören, und manchmal fühlte ich mich genauso. Trotzdem, auch wir waren Inselbewohner, sollten die anderen doch denken, was sie wollten.
Manchmal gab Osh mir andere Tiernamen: Füchschen. Kätzchen. Muli, wenn ich stur war. Zaunkönig, wenn ich brav war. Weil ich so gern spätabends den Strand absuchte nach allem, was die Flut hereingebracht hatte, nannte er mich auch manchmal »Mooncusser«, was wörtlich so viel wie Mondflucher bedeutete und Menschen meinte, die nachts Schiffe anlockten, bis diese vor der Küste von Cuttyhunk zerschellten, sodass sie sie ausplündern konnten. Aber ich lockte keine Schiffe in ihr Verderben. Und ich war auch kein Dieb, der das Mondlicht scheute, während ich nach verlorenen Schätzen suchte. Ich hatte den Mond nie verflucht.
Aber normalerweise brauchten wir keine Namen. Wenn wir getrennt waren, dann waren wir so weit auseinander, dass Rufen zwecklos gewesen wäre. Wenn wir zusammen waren, redeten wir, wie man redet, wenn sonst niemand dabei ist. Namen spielten keine große Rolle für uns.
Osh hatte unsere Hütte selbst gebaut, aus Material, das er von nahe gelegenen Schiffswracks loslösen konnte, die langsam im Meeresboden versanken, bei Stürmen auseinanderbrachen oder Stück für Stück verschwanden.
Alles andere an und in unserem Haus war Treibgut, das so zufällig bei uns angelandet war wie ich auch. Manchmal direkt in unserer kleinen Bucht, manchmal am Strand von Cuttyhunk, wo niemand sonst es wollte. Das Gerüst des Hauses hatte er aus langen Balken zusammengesetzt, das Dach und die Wände aus Schiffsbohlen, den Schornstein aus dem Lüftungsrohr eines havarierten Dampfschiffs, ein Fenster aus einem Bullauge. Unsere Tür war Teil eines Kiels, unser Herd der Deckel einer Luke und unser Tisch ein umgedrehter Ausguck.
Doch viele Sachen, die Osh am Strand entdeckt und mitgebracht hatte, erfüllten keinen anderen Zweck, als uns Freude zu machen. Am schönsten waren zwei Galionsfiguren, zwei ernst dreinblickende Frauen mit langem, wehendem Haar, die zu beiden Seiten unseres Kamins standen und uns unausgesetzt anstarrten, ohne je zu blinzeln. Ein paar von der Sonne ausgeblichene Walrippen bildeten einen Bogen über unserem Eingang, und in der Bogenmitte hing eine angelaufene Schiffsglocke.
Ich selbst hatte auch etliche Schätze gefunden, wenn ich am Strand auf die Suche gegangen war. Seeglasstücke zwischen sogenannten Seemäusen – den Eikapseln von Haien – und Entenmuscheln. Eine Geldklammer aus Messing, in die ein Elefantenkopf eingeprägt war. Eine Banjo-Uhr, die nie wieder die Zeit anzeigen konnte, die aber fest auf einem Schränkchen saß, in dem ich meine übrigen Herrlichkeiten aufbewahrte. Das war noch etwas, was ich mit den Krähen gemein hatte: Immer waren es die allereinfachsten Schätze, die uns anlockten.
Als ich ihn fragte, was er mit dem Boot gemacht hatte, in dem ich an Land gekommen war, sagte Osh, er habe es zu Brennholz zerhackt, um mich in jenem ersten Winter warm zu halten. Bis ich irgendwann mehr darüber erfuhr, fragte ich mich, warum von allem Holz, das auf der Insel angeschwemmt wurde, ausgerechnet jenes Boot im Feuer gelandet war, statt dem Ausbau der Hütte zu dienen.
Von dem Geld, das Osh verdiente – mit dem Hummerfang, mit Bildern, die er im Sommer an Feriengäste verkaufte, und im Winter mit Eishacken am Wash Pond, dem großen Teich, in dem die Schafe vor der Schur gebadet wurden –, hatte er Nägel, einen Hammer und was er sonst brauchte, erstanden. Auf der Sundseite von Cuttyhunk stach er Lehm, den er mit dem Boot in unsere Bucht brachte, wo er ihn mit Holzasche und Salz vermengte. Damit dämmte er die Hütte gegen Zugluft und starken Regen. Er tat, was immer er konnte, um unser Zuhause widerstandsfähig und behaglich zu machen.
Als ich alt genug war, half ich ihm dabei, es so zu erhalten.
Doch selbst wenn wir miteinander an dem Haus arbeiteten, das wir uns gemacht hatten, musste ich immer darüber nachdenken, wer wohl mich gemacht hatte. Wer hatte mich damals angeschaut, als ich wie eine zarte, gerade aufgehende Blüte war, und beschlossen, mich den Wellen anzuvertrauen? Und warum?
All diese Fragen trug ich mit mir herum wie einen Sack, der mit jedem Jahr schwerer wurde, auch wenn ich mich im Laufe der Zeit daran gewöhnt hatte. Auch wenn ich nicht unglücklich war mit dem Leben, das ich hatte.
Ich wollte es einfach nur wissen. Verstehen. Den Sack endlich ablegen können.
Manche Dinge kannte ich in- und auswendig.
Immer wieder – so oft, dass es eine Art Gutenachtgeschichte geworden war – hatte Osh mir erzählt, wie er mich gefunden hatte: in einem alten Boot, das ganz von alleine über Nacht am Spülsaum angetrieben war. Hätte er mich nicht zu jener frühen Stunde gefunden, dann hätte die Flut mich wieder mit zurück ins Meer genommen und irgendwo anders abgesetzt. Doch er hatte Lust auf Fisch zum Frühstück gehabt und war deshalb so früh mit der Angel hinausgegangen, um ein, zwei Felsenbarsche zu fangen.
Das Boot, in dem ich lag, war kaum seetüchtig, doch es hatte die Fahrt zu unserer Insel heil überstanden, trotz der wilden Strömungen, in denen viel größere Schiffe zerschellten.
Ich weiß nicht, was Osh erwartete, als er auf das kleine Boot zuging, ganz bestimmt aber rechnete er nicht damit, ein Neugeborenes zu finden, das mit Streifen von schmutzigem Leinen an der Ruderbank festgebunden war, nur wenige Zentimeter über dem Wasser, das in den Rumpf eingedrungen war.
Wie oft hatte Osh mir erzählt von dem Morgen, an dem wir beide uns zum ersten Mal begegneten – davon, wie ich jäh aufhörte zu schreien und ganz still dalag wie eine Maus unter dem Schatten eines Habichts, wie ich zu ihm hochblickte und er zu mir herunter und unsere Blicke sich trafen.
Er lebte damals allein an einem Ort, der selbst für einen erwachsenen Mann schwierig war. Doch er nahm mich erst einmal mit, um später zu entscheiden, was er mit mir anfangen sollte. Und ich blieb bei ihm.
Oft hat er mir auch erzählt, wie schwierig die ersten Tage nach meiner Ankunft waren. Im Laden von Cuttyhunk tauschte er Hummer gegen Milch, goss sie in eine kleine Flasche und bastelte eine Art Sauger aus einem Sipho, der Atemröhre einer Muschel, durch den sie auch Meerwasser hinausspritzt. Daraus sog ich die salzig schmeckende Milch wie direkt aus dem Meer. Er wickelte mich in vom Wind weich gemachtes Segeltuch und wusch mich in einem kleinen, von den Wellen glatt gespülten Felsentümpel, in dem sich Regenwasser sammelte. Nachts schliefen wir dicht an dicht, wie ein einziger Mensch.
Irgendwann bekamen Miss Maggie und die anderen mit, dass es mich gab, doch bis dahin hatte Osh schon für sich beschlossen, dass ich seins war, solange niemand das Gegenteil beweisen konnte.
Miss Maggie hatte es eine Zeit lang versucht. Nicht, weil sie mich ihm wegnehmen wollte, sagte sie. Sie wollte nur ganz sichergehen, dass niemand nach mir suchte. Vielleicht, so sagte sie, sei meine Mutter ja nicht diejenige gewesen, die mich aufs Meer hinausgeschickt hatte. Vielleicht, so sagte sie, lief meine Mutter verzweifelt an den Stränden gegenüber der Buzzards Bay auf und ab, die Brüste geschwollen von ihrer Milch.
Also bedrängte Miss Maggie den Postmeister so lange, bis er an alle Häfen zwischen Narragansett und Chilmark Telegramme schickte, in denen er fragte, ob jemand ein Neugeborenes vermisste, auf das meine Beschreibung zutraf.
Miss Maggie schrieb auch selbst Briefe und schickte sie an Orte entlang der Küste, die zu klein waren für ein Telegrafenamt.
Von manchen kam keine Antwort: von Onset nicht, von Mattapoisett nicht, nicht einmal von Penikese, obwohl diese Insel am nächsten lag.
Von denen, die antworteten, wusste niemand etwas über ein vermisstes Baby.
Doch da war es schon nicht mehr wichtig.
Bis Miss Maggie die Antworten endlich in ihren Händen hielt, gehörte ich längst zu Osh. Und er zu mir.
Es war mir ein Rätsel, wieso das Boot ausgerechnet auf unserer kleinen Insel gestrandet war und nicht auf Cuttyhunk, wo die meisten Schätze und das meiste Treibgut angespült wurden. Doch ich war froh darum.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass von den Bewohnern von Cuttyhunk irgendwer mich aufgezogen hätte, wenn ich bei ihnen gelandet wäre. Höchstwahrscheinlich, so dachte ich, hätten sie mich irgendwohin aufs Festland geschickt, an einen Ort, an dem es nicht so viel Meer und Himmel gab. Das wäre schlimm gewesen. Osh und ich lebten inmitten einer wilden Welt. Mir gefiel es so.
Ein paar Leute gab es auf Cuttyhunk, die ich ganz gern mochte und die mich zu mögen schienen, auf ihre seltsame Art. Doch sie berührten mich nie. Kamen mir nie nahe. Schienen zufrieden damit, mich aus der Ferne zu kennen. So war es von Anfang an gewesen, besser hatte ich sie nie kennengelernt, und so stellte ich keine Fragen, bis ich älter wurde und anfing, an den losen Fäden meines Lebens zu ziehen.
Als ich das tat und das Ganze aufzuribbeln begann, öffnete sich ein Streifen und ließ etwas Licht herein, das mir half, mein Leben klarer zu sehen. Manchmal wollte ich aber auch nur die Augen fest davor verschließen.
Miss Maggie war die Einzige auf Cuttyhunk, die keine Angst vor mir zu haben schien.
Als Baby war ich häufig krank – und auch später noch viel zu oft –, und nur Miss Maggie kam dann zu uns herüber mit Brot und Suppe und einer ihrer aus Hagebutten und Brennnesseln selbst gemischten Arzneien. Ihre Hand war die einzige, die mich je berührt hat, wenn man die von Osh und denen, die vor ihm waren, nicht mitrechnete. (Aber ich rechnete sie immer mit.)
Trotz all der schweren Arbeit waren Miss Maggies Hände so glatt wie das Innere einer Austernschale. Als ich sie einmal danach fragte, sah sie mich nachdenklich an. Dann sagte sie, das käme vom Lanolin in der Wolle ihrer Schafe. Sie hatte eine Herde, die sie regelmäßig schor. Die Wolle spann sie zu Garn. Wenn Schafe im rauen Klima der Insel gestorben waren, pflückte sie ihnen die Wolle aus dem Fell. »Aber das heißt nicht, dass meine Hände nicht kräftig sind«, fügte sie hinzu, als hätte ich das bezweifelt.
Wenn sie mir die Hände auf die heiße Stirn legte, dachte ich an Strandnelken und April. Doch Miss Maggie lächelte ganz selten, und alles, was sie sagte, klang nach leisem Donnergrollen. Ein bisschen nach Schimpfen, egal, was ich getan oder nicht getan hatte.
»Du isst jetzt diese Suppe, und zwar bis auf den letzten Löffel«, sagte sie streng. »Hörst du?«
Und ob ich die Suppe aufaß, Löffel für Löffel. Niemand auf Cuttyhunk kochte bessere Suppen als Miss Maggie, mit Gemüse aus dem schönsten Garten der Inseln. Sobald es mehr Sonne als Schnee gab, zog sie ihre Setzlinge im Frühbeet auf, und wenn auch der allerletzte Schnee endgültig getaut war, pflanzte sie sie hinaus in ihren großen Garten, den sie mit Mist und Meerschlamm düngte. Kartoffeln baute sie an, Sellerie, Bohnen und Kohl, dazu Meerrettich, Erbsen, Gerste, Melonen, Zwiebeln, Gurken, Tomaten und Möhren.
Mit mir mochte sie streng sprechen, doch mit ihren Kühen redete sie sanft. Und auch wenn ihre Tiere den gleichen Hafer zu fressen bekamen wie alle anderen Kühe auf Cuttyhunk, so gaben die von Miss Maggie doch die beste Milch, und auch ihre Butter war die beste. Ihre Hennen machte sie so glücklich mit Ringelblumen und Gerste, dass sie am laufenden Band Eier legten und mehr Küken ausbrüteten als alle anderen Hühner auf den Elisabeth-Inseln. Die Eier tauschte Miss Maggie gegen Mehl und Öl, und damit backte sie ein Brot, das mich glücklicher machte, als wenn ich Kuchen bekommen hätte. Den gab es ohnehin so gut wie nie. Wenn Kranksein bedeutete, von Miss Maggie mit Brot und Suppe versorgt zu werden, dann konnte man sich fast freuen, krank zu sein.
»Ihre Suppen sind wirklich gut«, sagte Osh jedes Mal, bevor Miss Maggie kam und nachdem sie wieder gegangen war. »Aber Suppe ist nur das eine.«
Das andere war ihr Mut.
»Haben Sie keine Angst, sich anzustecken?«, fragte ich sie einmal, als ich krank im Bett lag und mir der Kopf dröhnte.
»Ich war auch schon krank«, antwortete sie, »und irgendwann werde ich es bestimmt wieder sein, ob mit deiner Hilfe oder ohne sie.«
Das mochte ich an Miss Maggie. Sie schaffte es immer, dass die Dinge auf einmal so einfach schienen.
Miss Maggie lebte in einem hübschen kleinen Haus abseits der meisten anderen ganzjährigen Inselbewohner, doch wegen ihrer vielen Tiere war sie nicht wirklich allein. Einmal, in einem harten Winter (hatten wir je einen milden?), nahm sie das kleinste ihrer Schweine mit ins Haus. Als es Frühling wurde, musste sie es mit aller Kraft zurück in den Koben zerren. Ein anderes Mal saß ein halbes Dutzend wilder Truthähne in den Sassafras-Bäumen neben der Scheune und drohte zu erfrieren. Da trug Miss Maggie sie ins Haus, einen nach dem anderen, packte sie in warme Flanelltücher wie hässliche große Babys, stellte sie dicht neben den Ofen und fütterte sie mit einer Mischung aus heißem Whiskey und Milch. Sie überlebten allesamt, hackten nie mit den Schnäbeln nach ihr, verhielten sich völlig friedlich, und als es endgültig taute, stolzierten sie einfach am nächsten Tag zur Haustür hinaus in die Sonne.
Einigen ihrer Kaninchen erging es nicht so gut. Obwohl Miss Maggie sie vor dem Erfrieren aus dem Stall rettete und ihnen das gleiche heiße Getränk einflößte, kamen die vier doch nur für kurze Zeit noch einmal zu sich, bevor sie endgültig verendeten. Sie zog ihnen das Fell ab und kochte aus dem Fleisch einen großen Eintopf mit Möhren aus ihrem Vorratskeller und Speck aus der Räucherhütte.
»Es war der beste Eintopf, den ich je gekocht habe«, sagte sie, »und ich habe ihn bis zum letzten Krümelchen aufgegessen. Aber die armen Kaninchen haben mir doch leidgetan, dass sie so enden mussten.«
Aus dem Fell der Tiere nähte sie sich ein Futter für ihren Mantel und musste nicht mehr frieren.
Auch Maus hatte einen Pelz, und ich liebte es, mein Gesicht darin zu vergraben. Dem Grummeln in ihrer Brust zu lauschen.
Sie hatte keine Angst, wenn ich sie berührte, so wenig wie Osh und Miss Maggie.
Maus nannten wir sie, weil sie das unablässig zu sagen schien, wenn sie Hunger hatte.
Sie gab sich zufrieden mit Fischresten und kleinen Stückchen von dem Trockenfleisch, das Osh aus Rindfleisch und Blaubeeren herstellte. Oder den Fischköpfen, die die Männer von Cuttyhunk zurück ins Meer warfen, nachdem sie ihren Fang ausgenommen hatten.
Manchmal brachte sie uns ein Geschenk, einmal sogar einen Aal, der sich zappelnd aufrollte, als sie ihn vor meinen Füßen fallen ließ, und den wir alle drei als Eintopf verspeisten. Doch meistens war sie zu hungrig für solche Gesten des Stolzes. Alle drei waren wir mager, und alle drei aßen wir, was es gerade gab, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was wir nicht hatten.
Normalerweise war Maus eine freundliche Katze, doch wenn Osh sie sich zwischen die Knie klemmte und ihr das Fell dort kürzte, wo es am längsten war, um daraus Spitzen für seine Malpinsel zu machen, dann miaute sie so erbärmlich und wand sich hin und her, dass ich mir die Ohren zuhielt und wegsah.
»Ich tu ihr nicht weh«, erklärte Osh, während er behutsam die Haare abschnitt, die er brauchte. »Die wachsen wieder.«
»Wieso nimmst du nicht deine eigenen Haare?«, fragte ich.
»Das tue ich auch. Aber für manche Dinge ist Katzenhaar eben besser.«
Nachdem er ihr die längsten Haare – und zwar solche, die am weitesten von den Krallen entfernt waren – abgeschnitten hatte, nahm Osh sich noch kurz Zeit, ihr Fell mit den Fingern nach Zecken zu durchsuchen. Einige waren so groß wie Erbsen. Er gab sie mir, um sie draußen an einem Felsen zu zerdrücken.
Doch als ich das zum ersten Mal tat, blieben kleine Sternenregen aus Maus’ Blut auf dem Stein zurück. Von da an ließ ich die Zecken lieber mit der Strömung davontreiben.
Wenn Osh Maus endlich hinunterließ, schoss sie jedes Mal aus dem Haus, als stünde ihr Schwanz in Flammen.
»Warum kaufst du nicht einfach neue Pinsel?«, fragte ich.
Miss Maggie konnte so gut wie alles bei Händlern auf dem Festland bestellen, und wenn Osh etwas brauchte, was er auf Cuttyhunk nicht bekam, dann ließ sie es eigens für ihn kommen.
»Die hier kosten nichts«, sagte er, während er die Katzenhaare an einen Pinselstiel band. Wenn er sie ganz spitz formte, konnte er damit die feinen Stoppelfedern einer Wiesenlerche oder die Blütenblätter von Maiglöckchen malen.
Doch nie nahm er Maus auch nur ein einziges Haar weg, wenn es auf den Winter zuging.
Ich gebe zu, auch mir war oft kalt in jenen langen Wintern bei Osh auf der Insel. Natürlich hatte auch ich, wenn die ganze Welt nass und grau und der Erdboden eisenhart war, Lust auf frische Äpfel oder Erdbeeren, doch am meisten wünschte ich mir Holz von havarierten Schiffen. Das würde mir im Januar warme Hände und Füße verschaffen.
Aber nie habe ich gehofft, dass Schiffe zerschellten, nur damit meine Wünsche erfüllt würden. Und nachdem ich nichts getan hatte, um solche Unglücke herbeizuführen, und auch nichts tun konnte, um sie zu verhindern, hatte ich auch kein schlechtes Gewissen, wenn wir uns holten, was wir konnten, wenn Schiffe in den Gewässern von Cuttyhunk in Seenot geraten und havariert waren. Diese Gewässer waren wegen ihrer Riffe so gefährlich, dass sie weithin als »Schiffsfriedhof« bekannt waren.
Du denkst vielleicht, dass wir uns am brennendsten Gold und Silber wünschten – und ich gebe zu, dass ich froh war, aus verschiedenen Gründen, als ich schließlich einen Schatz dieser Art fand, doch nie fanden wir eine kostbarere Fracht als die Schmiedekohle, die wir uns von einem Schiff holten, das in einem Auguststurm gekentert war. Die komplette Mannschaft hatte überlebt, was Grund genug zum Feiern war, aber darüber hinaus waren wir auch froh, dass das Schiff in seichten Gewässern auf Grund gelaufen war, sodass wir Inselbewohner bei Ebbe hinlaufen konnten. Wir hatten unsere hohen Stiefel an und zogen Beiboote hinter uns her, die wir so hoch wie möglich mit Kohle beluden und zurück nach Hause schleppten. Noch mehr Kohle brachte uns die Flut. Sie lagerte große Stücke davon am Spülsaum ab, und wir sammelten sie ein wie Muschelsucher, die zu viel Erfahrung mit Frostbeulen hatten.
Kohle war kostbar für uns, und wir verbrauchten sie nur ganz sparsam, damit wir auch im nächsten Winter noch etwas davon hatten. Selbst im Juni, wenn kaltes Wetter fast wie etwas von einem anderen Stern zu sein schien, konnte ich mir jeden schlechten Tag damit versüßen, wenn ich an diese erstaunliche Tatsache dachte: Im nächsten Winter würden wir nicht frieren. Niemand, der je solche Kälte erlebt hat wie ein Inselbewohner im Februar in Neuengland, würde sich mehr über Gold freuen als über Kohle.
Doch als ich von Miss Maggie lernte, dass Kohle unter dem Gewicht der Erde zu Diamanten wird, änderte sich mein Blick darauf, und ich fragte mich, ob es wohl noch anderes gab, was so grob und gewöhnlich daherkam und doch das Versprechen von etwas Seltenem barg.
Kohle war nicht der einzige Schatz, der auf den Elisabeth-Inseln auftauchte.
Die Schiffe, die im Schiffsfriedhof untergingen, nahmen jede Menge Fracht mit sich in die Tiefe, und nicht alles war Holz oder Rum oder Baumwolle.
Einige wenige Inselbewohner hatten schon wirkliche Schätze gefunden. Eine Kette mit Diamanten in einer Hummerfalle. Einen Goldbarren in den Zinken einer Muschelharke. Ein Mann lichtete vor der Küste von Naushon seinen Anker und zog daran eine Krone hoch, die gut hundert Jahre im Schlamm des Meeresbodens versunken gewesen war. Ein anderer sammelte Muscheln vor Nashawena und fand dabei eine breite silberne Gürtelschnalle, die er putzte und fortan selbst trug, stolz wie die Freibeuter, die einst diese Gewässer befahren hatten, darunter sogar einige echte Piraten. Aber nur einer von ihnen – Captain Kidd – war dafür bekannt geworden, dass er Beute lieber versteckte oder verschenkte, anstatt sich selbst zu bereichern.
So verschenkte er ein Vermögen an Mercy Raymond von Block Island, gar nicht weit von uns, indem er ihr die Schürze mit Gold und Juwelen füllte, aus dem einzigen Grund, dass sie freundlich zu ihm gewesen war. Auf Gardiners Island, nicht weit von Cuttyhunk, vergrub er weitere Schätze, die später von Gouverneur Bellomont nach England geschickt wurden, zum Beweis dafür, dass Captain Kidd ein Dieb war, einer, der nicht nur Gold oder Silber raubte. Es gab viele Arten von Reichtümern, und Captain Kidd hatte sie alle zu schätzen gewusst.
Miss Maggie hingegen war völlig zufrieden mit dem Einfachen, Schlichten, doch manchmal würzte sie meinen Erdkundeunterricht mit Erzählungen von Edelsteinen, die von Piraten wie dem gewitzten William Kidd erbeutet, bewahrt und manchmal vergraben worden waren: afrikanische Diamanten, burmesische Rubine, brasilianische Smaragde, alle durch magische Verwandlungskraft geschmiedet in den Glutnestern der Erde. So hart und unverwüstlich, dass sie über Jahrhunderte im kalten Salz und Sand von Inseln wie unserer überdauerten.
Viele Menschen glaubten, Captain Kidd könnte einen Großteil seiner Beute auf den Elisabeth-Inseln vergraben haben, die sich in günstiger Nähe zu seinem üblichen »Jagdrevier« befanden. Doch noch niemand hier draußen hatte auf seiner Schatzsuche irgendetwas gefunden.
Die Leute vom Festland ließen sich davon aber nicht abschrecken: Bei gutem Wetter kamen sie mit der Fähre herüber und trieben sich an den Stränden von Cuttyhunk herum, in der Hoffnung, etwas zu finden, was Captain Kidd womöglich vergraben hatte oder was die Strömung vielleicht losgerissen hatte von den Schiffwracks, die im Schiffsfriedhof langsam vor sich hin rotteten.
Es machte uns Spaß, die Festländer zu beobachten, die bei Ebbe der sich zurückziehenden Wasserlinie folgten und lange Stangen in den feuchten Sand stießen, bis vielleicht einmal der Klang von Metall zu hören war. Manchmal buddelten sie dann etwas aus, eine alte Laterne oder eine rostige Ankerkette, bevor die anrollende Flut sie zurück an den Strand trieb.
Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, wenn ich diese Leute so beobachtete, dass ich selbst diejenige sein würde, die den Schatz finden sollte, nach dem sie alle suchten. Und dass ich ihn an einer Stelle finden würde, wo keiner von ihnen je zu suchen gewagt hätte.
Bis Miss Maggie mir erklärte, wieso die anderen Inselbewohner Angst vor mir hatten, hatte ich mich manchmal gefragt, warum die Leute ihr die Hand schüttelten, mir aber nur zuwinkten.
Vermutlich, so dachte ich mir, hatte es damit zu tun, dass ich noch klein und außerdem so anders war als sie. Ähnlich wie bei den Calico-Hummern, die nur ganz selten in den Fallen landeten und stets mit großem Hallo bestaunt wurden.
Als ich älter wurde, begriff ich, dass das nicht alles sein konnte.
Ich fragte Osh, doch er zuckte nur mit den Schultern und antwortete so umständlich, als hätte ich gefragt, wieso Frauen keine Bärte haben.
Doch dann, eines Tages, ich kam gerade mit einem Eimer voller Sandklaffmuscheln nach Hause, hörte ich von draußen, wie Osh und Miss Maggie über etwas stritten, was ganz sicher mit mir zu tun hatte. Also lauschte ich. Was sonst.
»Es ist so dumm von ihnen«, hörte ich Osh sagen. »Die Art, wie sie sie behandeln. Tun gerade so, als wäre sie giftig.«
»Stimmt«, antwortete Miss Maggie mit einer Stimme so scharf wie der Rand einer Schwertmuschel. »Trotzdem wäre es besser, sie würde verstehen, warum die Leute so sind.«
»Dafür ist sie noch zu jung«, sagte Osh, was wirklich sehr merkwürdig klang aus dem Mund eines Mannes, von dem ich schon als Vierjährige gelernt hatte, wie man einen Köder am Angelhaken festmacht.
»Früher oder später findet sie es sowieso heraus.«
»Später reicht völlig.«
»Das sehe ich anders.« Miss Maggie hörte sich fest entschlossen an. »Es gefällt mir nicht, ihr etwas zu verschweigen, was sie wissen muss. Es ist ihr gutes Recht.«
An dieser Stelle schlüpfte ich zur Haustür hinein und fragte, was bitte dieses »Etwas« sei, wovon ich wissen sollte.
Osh wich meinem Blick aus.
Miss Maggie sagte: »Man lauscht nicht an Türen!«
»Dies ist ihr Haus, Maggie«, sagte Osh.
»Was ist mein gutes Recht zu wissen?«, fragte ich.
Miss Maggie sah noch ernster aus als gewöhnlich. »Woher du kommst«, sagte sie.
Das überraschte mich sehr.
»Ihr wisst, wo ich herkomme?«, fragte ich, und meine Stimme klang auf einmal sehr dünn.
»Nein«, sagte Osh, bevor Miss Maggie auch nur eine Silbe hervorbringen konnte. »Wir wissen gar nichts. Du könntest von allen möglichen Orten hier in der Gegend gekommen sein. Aber hier kamst du an, und hier bist du.«
Was aber nicht erklärte, wieso die Inselbewohner Angst vor mir hatten.
»Die Leute glauben, ich sei giftig?«, fragte ich.
Osh stieß zwischen zusammengebissenen Zähnen einen Seufzer aus. »Nein«, sagte er dann. »Aber –«
»Penikese«, unterbrach ihn Miss Maggie. »Sie glauben, du kommst von Penikese.«
Oshs Miene gefiel mir gar nicht.
Penikese war eine kleine Insel ein Stück westlich von den übrigen Elisabeth-Inseln.
Kein Bewohner von Cuttyhunk ging je dorthin.
Und nie kam jemand von Penikese nach Cuttyhunk.
»Nach Penikese brachte man kranke Menschen«, sagte Miss Maggie. Auf einmal sah ihre Miene der von Osh erschreckend ähnlich: einerseits ängstlich, andererseits so, als fänden sie es zu schade, dass wir nicht am Strand waren, um Miesmuscheln zu pflücken oder Venusmuscheln auszugraben oder tausend andere Dinge zu machen, die nicht annähernd so schwierig waren wie das jetzt. »Es gab da ein Krankenhaus, Crow. Bis vor ein paar Jahren. Das ist alles.«
Ich überlegte. »War das Krankenhaus noch da, als ich ein Baby war?«
Miss Maggie nickte. »Penikese war eine Insel für Kranke.«
»Und ich bin oft krank«, sagte ich. »Ist das der Grund, weswegen die Leute Angst vor mir haben? Weil ich so oft krank bin?«
Osh nickte. »Aber das liegt nur daran, dass du so klein bist«, sagte er. »Ganz sicher liegt es nur daran. Manche Menschen müssen erst alle möglichen Krankheiten durchmachen, bis sie richtig kräftig sind.«
»Und zu denen gehöre ich?«, fragte ich ungläubig.
Osh beugte sich zu mir herunter und sah mir in die Augen. »Da bin ich mir ganz sicher«, sagte er.
Ich sah Miss Maggie an. Sie zögerte. Dann nickte sie auch. »Das stimmt«, bestätigte sie. »Manche Menschen sind als Kinder einfach anfälliger. Verwundbarer. Schwächer.«
»Aber das bin ich nicht – schwächer.« Erst am Tag zuvor hatte ich Osh geholfen, einen großen Korb voller Blaukrabben den weiten Weg von der Spitze vom Westend Pond nach Hause zu tragen.
»Nein«, sagte Osh. »Du bist nicht schwach. Nicht so wie früher. Deswegen ist es auch dumm von den Leuten, sich einzubilden, du könntest irgendwas verbreiten.« Ich weiß noch, dass er mir an dieser Stelle eine Hand auf die Schulter legte. »Es sei denn, etwas Gutes.«
Doch als ich abends im Bett lag und dem Wind lauschte und dem Lärm der Wellen, die sich an den Felsen brachen, da fragte ich mich, welche Art Krankheit diese Leute gehabt haben mochten. Die Leute auf Penikese. Die man fortgeschickt hatte in so ein kleines Inselkrankenhaus, wo sie fern von allen anderen Menschen leben sollten. Wo ich vielleicht selbst zur Welt gekommen war.
Ich wollte aber nicht von Penikese stammen.
Ich wollte nicht aus einer Kolonie kranker Menschen stammen.
Ich wollte aus einer Familie stammen, die eine sehr gute Erklärung dafür hatte, dass sie mich in einem alten Boot, das sich kaum sehr lange auf dem Wasser halten würde, aufs Meer hinausgeschickt hatte.
Doch ganz gleich, wie angestrengt ich überlegte – mir fiel keine Erklärung ein.
Nicht lange nachdem Miss Maggie mir die Wahrheit über Penikese gesagt hatte, beschloss sie, es sei an der Zeit, dass ich zusammen mit den wenigen anderen Kindern der Elisabeth-Inseln zur Schule ging.
»Warum?«, fragte Osh. »Es geht ihr doch gut hier. Sie liest ununterbrochen, und was sie sonst noch wissen muss, bringen wir ihr bei. Lass sie in Ruhe!«
»Sie sollte mit Gleichaltrigen zusammen sein«, antwortete Miss Maggie.
»Du meinst die, mit denen sie nie spielen durfte?«
»Aber sie ist gesund!«, sagte Miss Maggie. »Man muss sie nur anschauen, dann sieht man das.«
»Die Leute werden es nicht sehen«, sagte Osh. »Und falls doch, dann kommen sie bloß auf den Gedanken, sie wäre anderswo besser aufgehoben als hier. Als bei mir.«
Miss Maggie schnaubte verächtlich. »Als ob es so einen Ort gäbe! Oder so einen Menschen«, sagte sie. »Und davon abgesehen – als würde ich das zulassen.«
Sie ließ einfach nicht locker.
Bis Osh schließlich einen tiefen Seufzer ausstieß. »Ihr werdet schon sehen«, sagte er mit Novemberstimme.
So kam es, dass ich im Herbst, an einem Tag, als der Himmel die Farbe von Vergissmeinnicht hatte und das Meer spielen wollte, widerwillig mit Miss Maggie nach Cuttyhunk übersetzte und ihr die Stufen zum Schulhaus hinauf und durch eine Tür hindurch folgte, geradewegs in die Art Verwirrung, die mir erst die Augen weit öffnete und mich gleich darauf wünschen ließ, ich könnte sie wieder verschließen. Doch das ging nicht.