Klaus-Peter Hufer
Neue Rechte, altes Denken
Ideologie, Kernbegriffe und Vordenker
Klaus-Peter Hufer, Dr. rer. pol. phil. habil., ist apl. Professor an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg Essen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Politische Bildung gegen Rechtsextremismus, politische Philosophie, Politische Erwachsenenbildung (Geschichte, Theorie-Praxis-Verhältnis), Politikdidaktik und Professionalität in der Erwachsenenbildung.
Vorwort
1 Worum geht es eigentlich? Eine „unbegreifliche“ Begrifflichkeit
1.1 Ein Ruck nach rechts, doch nicht alles passt zusammen
1.2 Die Extreme sind nicht gleich
1.3 Konservativ ist nicht gleich „konservativ“
1.4 Rechtspopulisten und „das Volk“
1.5 Die Neuen Rechten und ihr Netzwerk
2 Exkurs: Die Identitären
3 Kernbegriffe, Schlüsselkategorien und Ideologismen der Neuen Rechten
3.1 Der Kampf um Begriffe
3.2 Rechte Schlüsselwörter und was ihnen entgegengesetzt werden kann
4 Vordenker, philosophische Ahnenreihe
4.1 Hans Freyer
4.2 Arnold Gehlen
4.3 Martin Heidegger
4.4 Ernst Jünger
4.5 Konrad Lorenz
4.6 Arthur Moeller van den Bruck
4.7 Friedrich Nietzsche
4.8 Carl Schmitt
4.9 Oswald Spengler
4.10 Armin Mohler und die Konservative Revolution
5 Esoterik, Okkultismus und die Neue Rechte – Evola, Dugin und Co.
6 Die Neue Rechte und die Demokratie – sehen, beurteilen, handeln
7 Glossar: Vertreter der Neuen Rechten
8 Glossar: Zeitschriften, Magazine, Verlage der Neuen Rechten, Institut für Staatspolitik
8.1 Zeitschriften und Magazine
8.2 Verlage
8.3 Institut für Staatspolitik (IfS)
Literatur
Autoren und Autorin
In den letzten Jahren hat sich das politische und gesellschaftliche Klima verändert, nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern Europas und auch in den USA. Es ist eine Entwicklung, die mit einem „Ruck nach rechts“ beschrieben wird, manchmal mit einem Fragezeichen versehen (Milbradt u. a. 2017). Wir, die Autoren und Autorin dieses Buches, setzen allerdings ein Ausrufezeichen dahinter. Wir sehen eine Entwicklung, die, wenn sie sich durchsetzen sollte, Politik und Gesellschaft in Deutschland entscheidend verändern würde. Wir sehen die Gefahr, dass Demokratie abgebaut und autoritäre Regelungen eingeführt, dass liberale Errungenschaften zurückgedreht und rigide Verbindlichkeiten an ihre Stelle treten würden, dass kulturelle Vielfalt normierter Einheitlichkeit weichen müsste. Davon abweichenden Lebensentwürfen würde der Boden entzogen, letztendlich wären Menschen in ihrer Existenz bedroht. Dieses Szenarium haben wir vor Augen, wenn, nennen wir es beim Namen, der Durchmarsch der Rechten erfolgreich wäre.
Wir setzen uns daher mit der Ideologie, den von Rechten umkämpften und umdefinierten Begriffen auseinander und zeigen am Beispiel prominenter Vordenker, dass es eine konsequente Entwicklung der deutschen alten Rechten hin zu den neuen Rechten gibt. Das, was jetzt neu ist, hat tiefe Wurzeln.
Die Idee zu diesem Buch hatte Klaus-Peter Hufer. Die ersten Gedanken, es mit Inhalt zu füllen, sammelten Klaus-Peter Hufer, Jens Korfkamp und Laura Schudoma gemeinsam. Daraus entstanden eine Konzeption und eine Gliederung. Die namentlich nicht gekennzeichneten Texte hat Klaus-Peter Hufer verfasst, die übrigen sind mit den Namen von Jens Korfkamp und Laura Schudoma versehen. Alle Texte sind von uns dreien besprochen und nach kollegialen Anregungen verbessert worden. In regem und stetem Gedankenaustausch wurde das Manuskript schließlich vollendet.
Wir danken dem Verlag Beltz Juventa, insbesondere dem Verlagsleiter Frank Engelhardt für sein spontanes Interesse zu dieser Publikation, der Lektorin Magdalena Herzog für ihre zahlreichen wichtigen und hilfreichen Hinweise und Vorschläge, aber auch allen am Projekt und dem Zustandekommen dieses Buches beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihre Offenheit, fachliche Betreuung und engagierte Unterstützung.
Kempen, Moers, Essen im August 2017
Klaus-Peter Hufer, Jens Korfkamp, Laura Schudoma
Die politische Stimmung hat sich zweifelsohne nach rechts entwickelt. Das ist in unterschiedlichen Medien Konsens. Ob in populären Sachbüchern (Amann 2017, Bender 2017, Leggewie 2016, Speit 2016, Weiß 2017), wissenschaftlichen Periodika, im Fernsehen, in der Provinz- oder der Großstadt-Presse, diesem Phänomen wird eingehend nachgegangen.1
Auch in den sozialen Medien beschäftigt man sich eingehend mit dem Auftreten rechter Positionen. Dabei verschärft sich die Gangart politischer Diskussionen, die massive Verrohung von Sprache ist ein Hinweis auf emotionale Betroffenheit diesen Entwicklungen gegenüber. Wenn es mitunter nur eine Frage ist, die zur Diskussion gestellt wird, scheint es doch ein Fakt zu sein: Die politische Kultur in Deutschland (und in Europa) entwickelt sich nach rechts – ruckartig, abrupt und stoßartig.
Doch ist diese Entwicklung wirklich neu oder handelt es sich um eine eher historisch zu betrachtende langfristige, „subkutane“ Entwicklung reaktionärer altbekannter Denkweisen?
Damit werden unterschiedliche Ereignisse zusammengefasst: die Proteste von Pegida, das Aufkommen und der Höhenflug der Alternative für Deutschland (AfD), die Stimmung im Lande mit starken Ressentiments gegen „Fremde“ und gegen „die da oben“, Aufmärsche rechter und rechtsextremer Gruppen, sogenannte Reichsbürger, die der Bundesrepublik Legalität und Legitimität absprechen, Rassismus in den Fußballstadien, eine rechte „Erlebniswelt“ (Glaser/Pfeiffer 2017), eine rechte Publizistik, deren Zeitschriften wie z. B. „Compact“ und „Junge Freiheit“ an fast jedem Kiosk ausliegen, Verlagsgründungen und -aktivitäten, die Zeitschriften und Bücher mit neuem und altem rechten Denken verbreiten, unzählige Internetseiten, die bei weitem nicht alle in plumper Weise, sondern höchst professionell und virtuos das Medium nutzend rechtes Denken propagieren. Der Grund für die zahlreichen Publikationen und Internetauftritte liegt darin, eine „Gegenöffentlichkeit gegen ein angebliches Meinungskartell auf[zu]bauen“ (Maegerle 2016).
Doch passt das alles zusammen, ist das eine einheitliche Entwicklung? Wie ist das alles auf einen Nenner, eine Definition zu bringen? Handelt es sich um den sogenannten „Zeitgeist“ oder gibt es eine historische Kontinuität?
Bei dieser Frage offenbart sich eine mangelnde terminologische Klarheit. Die Begriffe, die zur Kennzeichnung verwendet werden, changieren: Faschisten, Faschos, Nazis, Neofaschisten, Neonazis, Rechtsextreme, Rechtsradikale, Rechtspopulisten, Neue Rechte, radikale Rechte, Rechtskonservative, Nationalkonservative … Dazu gibt es noch besondere Selbstbeschreibungen, z. B, die der „Identitären“.
Schon in einer Analyse des Jahres 1987 wurde festgestellt: „Die Vielfalt der politischen und ideologischen Optionen im rechten Teil des gesellschaftlichen Spektrums der Bundesrepublik ist heute weitaus größer als in den 50er und 60er Jahren; die Milieus, aus denen die Rechte sich rekrutiert und in denen sie sich bewegt, weisen größere Unterschiede auf; die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Rechten sind oft so tiefreichend, daß es kaum möglich erscheint, den rechten Konsens zu identifizieren“ (Klönne 1987, 290).
Was sind die Kultfiguren dieser Bewegung? Zweifelsohne werden altbekannte Namen wieder aktuell. Welche Vorlagen liefern sie für die gegenwärtige Entwicklung?
Sind pöbelnde, gewaltbereite, ja zum Morden entschlossene Neonazis gleichzusetzen mit Bürgerinnen und Bürgern, die aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft kommen, früher SPD, CDU oder Grüne gewählt haben, und jetzt für die AfD votieren wollen? Die Motive der Letztgenannten sind vielfaltig, mitunter behutsam abwägend, aber auch allesamt von Wut und Enttäuschung über die politische Entwicklung geprägt (Sound eines Rechtsrucks 2017). Daneben gibt es genau in dieser Partei politische Führungsfiguren, die mit Demagogie und völkisch, nationalistisch aufgeladenen Agitationen zeigen, wie fließend die Übergänge hin zu manifestem Rechtextremismus sind2, so z. B. Björn Höcke, Fraktionsvorsitzender der AfD im Thüringer Landtag, der sich selbst aber als „Konservativer“ versteht (Speit 2016, 46).
In diesem Buch soll es darum gehen, die Entwicklungen in der bürgerlichen Mitte und die auffindbaren Motive zu betrachten. Das ist vielfach schon geschehen und exakt bemessen worden. Die Titel von drei empirischen Untersuchungen bringen auf den Punkt, wie schwankend und emotional die Stimmung ist: „Fragile Mitte. Feindselige Zustände“ (Zick/Klein 2014), „Gespaltene Mitte. Feindselige Zustände“ (Zick/Küpper/Krause 2016) und „Die enthemmte Mitte“ (Decker/Kiess/Brähler 2016). Zahlreiche Fakten zu den autoritären, (sozial-)chauvinistischen, rassistischen, sexistischen, muslimfeindlichen, antisemitischen, antidemokratischen und letztlich rechtsextremen Einstellungen zeigen, wie verbreitet diese Aversionen in der Mitte der Gesellschaft mittlerweile sind. Das, was da zutage kommt, gibt Anlass zur Sorge, ob die liberale Demokratie der Bundesrepublik dem wirklich standhält. Diese Sorge wird aus unserer Sicht dadurch verstärkt, dass es eine Kontinuität „rechten Denkens“ in Deutschland gibt, das weit ins 19. Jahrhundert zurückgreift (Breuer 2010). Das sind die Ressourcen, aus denen heute immer noch und schon wieder die Neue Rechte ihre Programmatik und Ideologie begründet. Da ist keineswegs eine Eintagsfliege unterwegs, die mit dem momentanen Zeitgeist und der gegenwärtigen schwierigen Umbruchsituation kommt und mit ihm auch wieder verweht wird.
Aber wie soll das bezeichnet werden, was sich da entwickelt hat und manifest geworden ist?
In den zur Zeit kursierenden Definitionen besteht Einigkeit darüber, dass Begriffe wie Neofaschismus und Neonazismus „jeweils auf eine historische Referenz [verweisen]: die des Faschismus oder die des Nationalsozialismus“ (Salzborn 2015, 14 f.). Das aber ist beispielsweise im Programm der AfD nicht nachweisbar. Außerdem wird für Neonazis „ihre grundsätzliche Gewaltaffinität und aktive Gewaltbereitschaft“ als „charakteristisch“ angenommen (ebd., 16). Gemeinsam ist aber ein „völkisches“ Verständnis von Nation, und immer wieder sind – entweder bei Neonazis unüberhörbar propagiert oder bei Vertreter/-innen der AfD etc. eher verdeckt formuliert – rassistische Töne und Tendenzen festzustellen.
Was also liegt vor?
Die belgische Politologin Chantal Mouffe hat auf die Frage, ob der Begriff faschistisch für die Bezeichnung der rechten populistischen Bewegungen und Parteien brauchbar sei, die folgende Antwort gegeben: „Nein, ich halte weder den Begriff ‚Faschismus‘ noch den Begriff ‚rechtsextrem‘ für richtig. Wir müssen verstehen, was neu ist an dieser Situation, und wenn wir einen alten Begriff wie ‚Faschismus‘ benützen, dann tun wir so, als wüssten wir bereits, was hier geschieht. Außerdem sehe ich keine erfolgreiche rechtspopulistische Bewegung, die echte Tendenzen zum Neo-Faschismus hätte. […] Vor allem aber ist die Bezeichnung ‚Faschisten‘ eine moralische Verdammung und keine politische Auseinandersetzung“ (Neue Chance … 2016, 11).
In einem Beitrag, der im Jahr 1987 veröffentlicht wurde, hat Arno Klönne den Begriff Rechtsextremismus für die gesamte Entwicklung als „unscharf“ abgelehnt, „weil er den Anschein erweckt, es handele sich um ‚Außenseiter der Gesellschaft‘, die da ideologisch tätig werden; tatsächlich geht es aber eher um eine Rechtsentwicklung in der politischen Stammkultur der Gesellschaft“ (Klönne 1987, 286).
Bei der Verwendung des Terminus Rechtsextremismus wird zudem als problematisch erachtet, dass da „ein ‚allgemeiner‘ Extremismus mitgedacht, also implizit davon ausgegangen [wird], dass es nicht nur einen Rechtsextremismus, sondern einen in derselben Weise zu betrachtenden Linksextremismus gibt“ (Salzborn 2015, 18, Herv. im Orig.). Der Extremismusbegriff ist schon lange heftig umstritten. Vor allem Uwe Backes und Eckhard Jesse bringen mit einer Vielzahl von Veröffentlichungen immer wieder die Extremismustheorie ins Spiel, Ausgangspunkt war ihr 1993 erschienenes voluminöses Buch „Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland“ (Backes/Jesse 1993). Bis in die Gegenwart melden sich die beiden Politikwissenschaftler in vielen Medien und auf etlichen Foren zu Wort.
Dagegen Christoph Butterwegge, ebenfalls Politikwissenschaftler: „Extremismustheoretiker setzen Links- und Rechtsextremismus gleich, leugnen aber die Nähe der ‚bürgerlichen Mitte‘“ zu dessen Ideologie“ (Butterwegge 2001, 18). Diesen Einwand hat Fabian Virchow mit Verweis auf empirische Untersuchungen präzisiert: Auch in der gesellschaftlichen Mitte sind rassistische, antisemitische und antidemokratische Sichtweisen anzutreffen (Virchow 2016, 15).
Bereits vor vielen Jahren hat Helga Grebing, auch sie ist Politikwissenschaftlerin, deutlich gemacht, dass es falsch ist, „links“ und „rechts“ gleichzusetzen: „Linke wollen die Erweiterung der Autonomie des einzelnen, den Fortschritt der Emanzipation sozialer Gruppen oder Klassen von rational nicht mehr legitimierbarer Herrschaft, neue erweiterte Formen der Beteiligung aller an den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen – dies alles unter Benutzung eines optimal als rational ausweisbaren Instrumentariums; Rechte wollen die Einordnung des Individuums in haltende natürliche Gemeinschaften, die Bindung der sozialen Gruppen an eine hierarchisch gestufte Ordnung der Gesellschaft, die Stabilisierung von Entscheidungsstrukturen, die durch Individuum und Gesellschaft vorgeordnete Institutionen bestimmt werden – dies alles mit einem Instrumentarium, das überrationale Bezüge in den Vordergrund zu rücken ermöglicht“ (Grebing 1971, 8 f.).
Wir halten diese Klärung nach wie vor für aussagekräftig und plausibel. Ins „Extreme“ gesteigert, bedeutet es, dass ein linker Extremismus eine quasi wissenschaftlich begründete Befreiung von Menschen aus ihren Abhängigkeiten anstrebt. Befreit werden soll die unterdrückte Klasse. Dazu bedarf es aber derjenigen, die den „wissenschaftlich“ zu bestimmenden Fortschritt definieren, die wissen, was „objektiv richtig“ ist und das gegen Zweifler und Kritiker durchsetzen. Das historische Beispiel ist bekannt, es zeigt sich im gigantischen Scheitern ehemaliger Weltmächte und im Tod von Millionen sogenannten Klassenfeinden.
Ein rechter Extremismus setzt dagegen auf irrationale Kategorien wie z. B. Volk oder Rasse, propagiert damit die Ideologie von einer alle umfassenden Gemeinschaft, die vom Schicksal oder der Natur vorgegeben und daher nicht anzuzweifeln ist. Dieses Volk, diese Rasse sind höherwertig als andere Völker oder Rassen. Auch diese Erkenntnis muss durchgesetzt werden, denn sie versteht sich keineswegs von selbst. Dafür gibt es Eliten und Führer, die dazu auserwählt sind. Auch dieses Ergebnis ist bekannt, es hat zum größten Verbrechen an der Menschheit geführt, nämlich zum millionenfachen systematischen Mord an Menschen, die man willkürlich als „nicht dazugehörig“ bezeichnete.
Das sind die beiden extremen Pole, so weit gehen aber viele der allenthalben aufzuspürenden und sich verstärkt äußernden Gruppierungen, Ideen, Plattformen und Meinungen nicht. Wir betrachten diejenigen zahlreichen Menschen, die in Deutschland (und europa- und weltweit) so rechts denken und agieren, wie es Helga Grebing beschreibt.
Damit wird das Repertoire der passenden Begriffe kleiner, und dennoch bleiben die Zweifel, ob das Problem überhaupt mit vorhandenen Kategorien „begriffen“ werden kann (Butterwegge 2001).
Auf der „rechten“ anderen Seite des oben genannten Begriffsspektrums steht der Konservatismus. Sind Pegida-Mitläufer, AfD-Mitglieder und -Sympathisanten Konservative? Sind die Meinungen auf den diversen Internetseiten, in Printmedien wie Junge Freiheit und Compact, die Publikationen in den einschlägigen Verlagen wie z. B. im Kopp Verlag oder im Antaios-Verlag, die Themen und Beiträge der Zeitschriften „Blaue Narzisse“ und „Sezession“ etwa Äußerungen von Konservativen? Geht es bei den Aktionen der Identitären nur darum, Traditionen zu bewahren, was ja das allumfassende konservative Credo ist? Unsere Einschätzung: ja, aber es geht auch darüber hinaus, manchmal weit darüber hinaus. Es gibt viel konservatives Denken, das bei der Betrachtung der diversen Aktivitäten und Publikationen auszumachen ist. Es gibt aber auch eine manifeste Verschärfung und Zuspitzung, sodass sich vieles, was da zu finden ist, meilenweit vom klassischen Konservatismus weg – und – ja wohin? – zu einem autoritären „rechten“ Politikverständnis bewegt hat. Wie auch immer: „Es gibt ein Spektrum von Personen und Medien, die darum bemüht sind, rechtes Denken zu rehabilitieren“ (Brumlik 2016, 82).
Betrachten wir zunächst, wie einer der bedeutenden Theoretiker des Konservatismus, der US-Amerikaner Russell Kirk (1918–1994), diese „Weltanschauung“ auf „sechs Grundregeln“ zusammenfasst:
„1. Der Glaube, daß eine göttliche Absicht sowohl die Gesellschaft wie das menschliche Gewissen lenkt und eine ewige Kette von Rechten und Pflichten schmiedet, die Hohe und Niedrige, Lebende und Tote verbindet. […] 2. Liebe zum unerschöpflichen Reichtum und zum Geheimnis des Lebens, im Unterschied zur beengenden Einförmigkeit und Gleichmacherei und zum Utilitarismus der meisten radikalen Systeme. […]
3. Die Überzeugung, daß eine zivilisierte Gesellschaft der Rangordnung und der Klassen bedarf. […] Die Gesellschaft sehnt sich nach Führung. […]
4. Die Gewißheit, daß Eigentum und Freiheit untrennbar zusammengehören, und daß wirtschaftliche Nivellierung keineswegs wirtschaftlichen Fortschritt bedeutet. Sobald man das Eigentum vom Privatbesitz trennt, ist es aus mit der Freiheit.
5. […] die Konservativen wissen, daß mehr durch Gefühl als durch Vernunft regiert wird. Tradition und gesundes Vorurteil wirken mäßigend auf die aufrührerischen Triebe der Menschen.
6. […] Die Gesellschaft muß sich verändern, wie der menschliche Körper sich fortwährend erneuert, denn langsame Veränderung ist das Mittel zu ihrer Erhaltung. Aber die Veränderung muß in Übereinstimmung mit der göttlichen Vorsehung erfolgen, und man erkennt den wahren Staatsmann daran, daß er die gesellschaftlichen Kräfte aufspürt, die auf die Verwirklichung der Pläne der Vorsehung gerichtet sind“ (Kirk 1959, 12–14).
Die Merkmale konservativer politischer Theorie nach Kirk also sind: eine lenkende göttliche Absicht, Vorsehung, Tradition, Rangordnung und Führung, keine „Gleichmacherei“, privates Eigentum.
Diese Beschreibung der konservativen „Grundregeln“ fand seine Zustimmung in der deutschen Diskussion. So bezieht sich einer der Vordenker des deutschen Konservatismus, der in den 1970er Jahren wieder zum intellektuellen und politischen Programm wurde, Gerd-Klaus Kaltenbrunner (1939–2011), in seiner in Szene viel gelesenen Schrift „Rekonstruktion des Konservatismus“ aus dem Jahr 1972 explizit auf Kirks Beschreibung (Kaltenbrunner 2015, 24).
Neben Kaltenbrunner meldeten sich in dieser Zeit zahlreiche prominente Vertreter des deutschen Konservatismus zu Wort, bzw. es wurde in der Diskussion immer wieder auf sie Bezug genommen: Arnold Gehlen, Ernst Jünger, Hans Freyer, Klaus Hornung, Konrad Lorenz, Hermann Lübbe, Armin Mohler, Carl Schmitt, Hans-Joachim Schoeps, Caspar von Schrenck-Notzing, Ernst Topitsch, u. v. a. m. (Kaltenbrunner 1974). Auf einige dieser Personen werden wir im weiteren Verlauf noch zurückkommen.
Über das Pro und Contra des Konservatismus wurde intensiv gestritten. Beispielsweise trafen im Februar 1973 auf einer Tagung der Evangelischen Akademien Hofgeismar die konservativen Protagonisten Gerd-Klaus Kaltenbrunner und Caspar Freiherr von Schrenck-Notzing und die linksliberalen Kritiker Martin Greiffenhagen und Christian Graf von Krockow aufeinander. Sie stritten darüber, was heute (also in den 1970er Jahren) konservativ sei und ob es in der damaligen Bundesrepublik einen Trend zum Konservatismus gebe (Auf der Suche … 1978, 32).
Fast 45 Jahre später: In ihrem Selbstverständnis verorten und verstehen namhafte Vertreter der AfD diese als eine „liberal-konservative Partei“, so beispielsweise André Poggenburg, Landesvorsitzender der AfD in Sachsen-Anhalt3, oder so zu lesen in einer Verlautbarung des Berliner Landesverbandes der AfD4. Allerdings wird der Partei bzw. deren Vertretern dieses von ihnen selbst zugeschriebene Etikett auch heftig streitig gemacht.5 Der frühere Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) stellte klar: „Die AfD ist keine konservative Partei, sie ist eine aggressive Partei.“6
Das Problem bei diesem Kampf um Begriffe ist, welches Verständnis von Konservatismus jeweils zugrunde liegt. Die Kategorien, die Kirk als Kernelemente des Konservatismus ausmacht, führen in ihrer zugespitzten und radikalen Konsequenz zu einer Gesellschaftsordnung, die nicht mehr demokratisch, mehr noch: explizit antidemokratisch ist. So gesehen wären die AfD und ihr gesamtes geistiges Umfeld durchaus sowohl konservativ als auch nicht konservativ. Eine genauere Analyse folgt später.
Doch die Betrachtung lässt sich nicht auf die AfD reduzieren. Das Vor- und Umfeld ist groß, es gibt Beziehungen untereinander, von rechtskonservativen bis hin zu unverhohlen rechtsextremen Personen, nicht selten Akademiker/-innen, und Organisationen. Beobachter gehen davon aus, dass es ein „braunes Netzwerk“ gibt, ein sich ergänzendes System verschiedener, aber sich aufeinander beziehender Aktivitäten und Strukturen. Es wird strategisch gesteuert von intellektuellen Rechten, auf der Straße wird demonstriert und agiert von unterschiedlichen Gruppen: AfD, Pegida, Identitäre, Kameradschaften und NPD.7 Auf der einen Seite gibt es Verlage, Zeitungen und Zeitschriften, in denen elaboriert altes rechtes Denken mit neuem zusammengebracht wird, auf der anderen Seite werden bei Aufmärschen und Demonstrationen demokratische Politiker/-innen lauthals, hasserfüllt und ungehemmt als „Volksverräter“ angepöbelt und diffamiert. Dieses Unwort des Jahres 2016 ist seit dem Ersten Weltkrieg fester Bestandteil im Sprachrepertoire der Rechtsextremen, so z. B. als in der Weimarer Republik demokratische Politiker als „Novemberverbrecher“ und „Volksverräter“ denunziert wurden.
Die Nationalsozialisten haben diesen Begriff in die Tat umgesetzt, indem sie nach der „Machtergreifung“ den Straftatbestand „Volksverrat“ ins Strafrecht einführten. Tausende von Menschen wurden daraufhin vom „Volksgerichtshof“ abgeurteilt und dann hingerichtet.
Ein weiterer Versuch, einen passenden Terminus zu finden, ist der Begriff „Rechtspopulismus“. Die an der Universität Wien und an der Lancaster University (Großbritannien) lehrende Sprachwissenschaftlerin Ruth Wodak hat den „Rechtspopulismus“ genau untersucht und definiert. Zunächst die allgemeine Herleitung: „Der Begriff ‚Populismus‘ lässt sich auf das lateinische Wort Populus zurückverfolgen: Es bedeutet ‚Volk‘ im Sinne von ‚Leute‘ oder ‚Nation‘, wie bei ‚das römische Volk‘ (Populus Romanus) oder ‚das deutsche Volk‘, nicht im Sinne von ‚mehreren Personen‘“ (Wodak 2016, 25). Die immer wieder bei Pegida-Aufmärschen etc. skandierte Parole „Wir sind das Volk“ erklärt sich somit – die Betonung liegt im Unterschied zu den Demonstrationen am Ende der DDR nicht auf „wir“, sondern auf „Volk“.
Mit dieser Bezugnahme wird eine Homogenisierung „des Volkes“ konstruiert, die im Widerspruch zu einer pluralen Gesellschaft und der Realität einer repräsentativen Demokratie steht. Dem „Volk“ gegenüber gestellt wird ein Kartell von Eliten, bestehend aus „der“ Politik, „der“ Presse und „der“ Wirtschaft. Populisten sind gegen die etablierten „Eliten“ (obwohl sie an deren Stelle selbst welche, nämlich ihre eigenen setzen) und sie sind anti-pluralistisch (Müller 2016, 25). Im Unterschied zum linken Verständnis vom „Volk“ gehören nach der Vorstellung der Rechten zum „Volk“ nur die „ethnisch angestammten“ „kleinen Leute“ dazu (Häusler 2016, 137). Die Logik eines so stilisierten Volksideals ist, dass es dann auch welche gibt, die nicht dazu gehören, die dadurch ausgegrenzt werden. Aktuell erleben wir es dadurch, dass hierher geflüchtete Menschen als Bedrohung des „Volkes“ gesehen werden. So sprach beispielsweise der bereits erwähnte Björn Höcke am 11.3.2016 bei der Abschlussveranstaltung des Wahlkampfes seiner Partei in Sachsen-Anhalt von einem „Asyl-Tsunami“8 – eine Metapher, bei der Menschen eine Naturkatastrophe sind – davon, dass „das eigene Volk abgeschafft [wird]“9. Seine stürmisch beklatschte Rede gipfelte in dem Satz: „Das deutsche Volk, unser Volk, sehnt sich nach einer bürgerlich-patriotischen Alternative“10.
Neben dem „Volk“ und dem „Wir“ ist die „Nation“ ein zentraler Topos in der rechten politischen Ideologie. Damit wird klar, warum Rechtspopulisten dezidierte, mitunter sehr aggressive „Anti-Europäer“ (Leggewie 2016) sind. Rechtspopulisten machen „Politik mit der Angst“ (Wodak 2016). Bedroht ist Vieles: das Volk, die Nation, die Natur, die Kultur, Recht und Ordnung, die Grenzen, die Identität … Gegen diese Angst wird „eine Politik der Ausgrenzung“ (ebd., 63) gesetzt: der „Islam“, die „Kulturbolschewisten der 68er“ (Höcke)11, die „Nutzlosen“ und andere. Doch wo diese Gefahr groß ist, ist auch der „Retter“ nah, der dieses „Volk“ befreit (Wodak 2016, 69).
Obwohl Populisten sich „volksdemokratisch“ geben, sind sie „der Tendenz nach immer antidemokratisch“ (Müller 2016, 18). Die dezidierte Betonung einer unmittelbaren Demokratie, einer Volksabstimmung, unterläuft das Prinzip der Gewaltenteilung und verzichtet auf den Schutz und die Artikulationsfähigkeit von Minderheiten. Heterogenität ist ein Kennzeichen liberaler Demokratie, Homogenität dagegen das Merkmal autoritärer Gesellschaftsvorstellungen (die dann als besonders „demokratisch“ etikettiert werden).
Nun soll die Verwirrung und die Gefahr der Verirrung bei der Suche nach der tauglichen Begrifflichkeit nicht auf die Spitze getrieben werden. Daher sei, dieses Kapitel abschließend, nur noch eine Etikettierung genannt, die zusammen mit Rechtspopulismus, das am ehesten beschreibt, was wir in diesem Buch untersuchen: die Neue Rechte.
Der Politikwissenschaftler Wolfgang Gessenharter hat bereits im Jahr 1989 in einem Beitrag die „Nähen und Distanzen“ zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus ausgelotet (Gessenharter 1989, 561). Das „ideologische Scharnier“ zwischen beiden ist für ihn die Neue Rechte. Diese habe sich in der Bundesrepublik innerhalb von 16 Jahren entwickelt (ebd., 564). Es gibt sie also seit Mitte der 1970er Jahre (was sich mit der oben beschriebenen Entwicklung eines Neokonservatismus deckt). In dieser Zeit orientierte sich die deutsche Neue Rechte an der französischen „Nouvelle Droite“. Die Neue Rechte – so Gessenharter – „wurde immer stärker zu einem intellektuellen Zirkel, dem es in erster Linie um die kulturelle Hegemonie, also um die Meinungsführerschaft im politischen Alltag, und nicht unmittelbar um die parlamentarische-politische Macht ging“ (ebd., 564).
An dieser Stelle sei auf den Ursprung des Begriffs „kulturelle Hegemonie“ hingewiesen, der in den ideologischen und strategischen Überlegungen der Neuen Rechten eine bedeutende Rolle spielt. Der Begriff geht auf den marxistischen Philosophen und Parteiführer Antonio Gramsci zurück. Geprägt wurde er ca. 1927, als Gramsci im faschistischen Italien inhaftiert war und seine „Gefängnishefte“ und „Gefängnisbriefe“ verfasste. Mit der Strategie, die „kulturelle Hegemonie“ zu übernehmen, betonte er – im Unterschied zum klassischen Marxismus – die Wechselwirkung zwischen ökonomischer Basis und ideologischem Überbau des Staates, also Politik, Ideologie und Kultur. Gramscis These war, dass der Revolution eine intensive kulturelle Vorbereitung der Arbeiterklasse vorhergehen müsse (Gramsci 1967). Dieses Konzept wurde von der Neuen Rechten übernommen, natürlich nicht auf die Arbeiterklasse bezogen, sondern auf das „Volk“. Auch unter dem in rechten Zirkeln geläufigen Begriff der „Metapolitik“ wird auf Gramsci Bezug genommen, und zwar mit der Absicht, Begriffe zu besetzen und auf Meinungsträger der modernen Gesellschaft zuzugreifen (Lehnert/Weißmann 2009, 101, „man betreibt Ideenpolitik“ Klönne 1987, 287). Damit setzen wir uns im übernächsten Kapitel auseinander.
Gessenharter weist darauf hin, dass der Antiliberalismus ein „entscheidendes Element des Denkens der ‚Neuen Rechte‘ (‚Nouvelle Droite‘) ist“ (Gessenharter 1989, 564). Damit wird nach seiner Beobachtung ein Bezug hergestellt zu Carl Schmitt, dem „in der Weimarer Zeit höchst einflussreichen politischen Theoretiker […] und intellektuellen Wegbereiter […] der Nazis“ (ebd.). Sowohl bei den Neuen Rechten als auch bei Schmitt ist zudem der Antipluralismus ideologie-bestimmend. Auf Schmitt werden wir später noch zurückkommen, ebenso auf Arnold Gehlen. Sein pessimistisches Menschenbild zählt Gessenharter ebenfalls zum Bestand des Gedankengebäudes der Neuen Rechten (ebd.).
Der Verweis auf diese Referenz bedeutender Theoretiker macht deutlich, „daß es sich bei der Ideologie der ‚Neuen Rechten‘ um Gedanken handelt, denen keinesfalls jeglicher intellektuelle Anspruch bestritten werden kann“ (ebd., 565).
Diese These wird unterstützt durch den Hinweis auf die Zeitschriften „Criticón“ und „MUT“ sowie das Studienzentrum Weikersheim (ebd., 568).
Die Zeitschrift „Criticón“ wurde 1970 von Caspar von Schrenck-Notzing gegründet und sollte eine Gegenstimme zu der 68er-Bewegung sein. Ende der 1990er Jahre kam es zu einem Wechsel der Herausgeberschaft und offensichtlich auch zu einer Erweiterung der ideologischen Linie. So schrieb die „Junge Freiheit“, dass es zwar „freilich immer wieder Glanzlichter“ gebe, aber drückte auch ihren Unmut aus: „Daß der neue Herausgeber jedoch jedem nationalen Denkansatz eine Absage erteilt (‚National müssen wir nichts mehr bewahren‘), ist für viele Stammleser wiederum nur schwer verdaulich“12.
Die Zeitschrift „MUT“ wurde 1965 als der NPD nahestehendes Theorieorgan gegründet. In den 1980er Jahren wandelte sich die Zeitschrift politisch und gilt nicht mehr als rechtsextrem. Das Studienzentrum Weikersheim wurde 1979 gegründet, um, wie es auf seiner Homepage heißt, „die geistige Auseinandersetzung mit der Kulturrevolution von 1968 zu führen und zu bündeln“13. Das Studienzentrum führt nach wie vor als Plattform der Neuen Rechten Tagungen durch und gibt Publikationen heraus: „Die Verbindungen vom Studienzentrum Weikersheim zur ‚Neuen Rechten‘, die das Ziel eint, rechtsradikale bis rechtsextreme Denkschemata zu enttabuisieren und ihre Positionen in der demokratischen Gesellschaft hoffähig zu machen, sind augenfällig. Das Studienzentrum selbst kann als Scharnier oder Brücke zwischen dem konservativen Flügel der Union und dem extrem rechten Spektrum betrachtet werden.“ So die Einschätzung der Akteure der Internetseite „Netz gegen Nazis“14.
Eine besondere Bedeutung für die intellektuelle Orientierung der Neuen Rechten hat das im Jahr 2000 gegründete Institut für Staatspolitik (IfS). Mitbegründer Karlheinz Weißmann hatte in einem Interview mit der Jungen Freiheit den Anstoß gegeben, „in dem er die Notwendigkeit eines ‚Reemtsma-Instituts von rechts‘ betonte.“15 Eine der ersten Vorträge innerhalb einer eingerichteten „Sommerakademie“ hatte den Titel „Was ist Dekadenz?“16.
Die „Neue Rechte“ wird nach wie vor – bzw. wieder und verstärkt – als ein wesentlicher Teil der „rechten“ Organisationen, Institutionen und Äußerungen der Bundesrepublik gesehen (Salzborn 2015, 63–75, Langebach und Raabe 2016 und Brumlik 2016). Dabei wird ihr das Attribut „intellektuell“ beigefügt (Salzborn 2015, 63).
Auch wenn sich die Begriffe nicht immer präzise und allgemeingültig zur Differenzierung und Abgrenzung voneinander eignen, haben wir uns für den weiteren Verlauf dieser Betrachtungen dafür entschieden, dass wir uns mit dem Rechtspopulismus und der Neuen Rechten in der Bundesrepublik beschäftigen. Da gibt es eine große inhaltliche Schnittmenge, doch auch eine Art strategischer „Arbeitsteilung“: Das rechte „Volk“ geht auf die Straße, die rechten Intellektuellen bereiten den ideologischen Boden, auf dem die Populisten agitieren. Die Vordenker liefern die Stichworte und Theoreme, die wiederum in die Programme und Verlautbarungen der populistischen Parteien und Organisationen fließen. Und es gibt die parteipolitisch aktiven Provokateure, die medial stark wirken und gezielt bisherige Tabus ignorieren. Sie überschreiten bewusst die Grenzen des Sagbaren mit der Absicht, dass das zur Gewohnheit wird und ein „Umdenken“ stattfindet. Die politischen Gegner werden dazu gezwungen, sich daran abzuarbeiten und Schadensbegrenzung zu versuchen. Ein Ziel ist dann erreicht: öffentliche Aufmerksamkeit. Es ist, wie wir beweisen wollen, ein effektives Netzwerk aktiv, das die demokratische Kultur der Bundesrepublik herausfordert.
„Ihr macht eine Politik, die unsere Werte und Traditionen
für eine multikulturelle Utopie opfert.“
„Ihr wollt uns einreden, dass wir keine Identität haben,
zu homogen sind. Wir sollen verdrängt und ausgetauscht werden.“
„Ihr schafft euch ein neues Volk und macht uns zu Fremden.“
Das sind drei von mehreren Aussagen, die junge Männer und Frauen in eine Kamera sprechen. Sie alle sind ohne erkennbaren Migrationshintergrund und haben ein Erscheinungsbild ohne die für die rechtsextreme Szene typischen Zeichen und Codes.
Es ist ein Clip, in dem sich die „Identitären“ selbst darstellen. Veröffentlich wurde er am 21. Januar 2016, am 8. Juni 2017 hatte er bereits 413.346 Aufrufe (siehe: Zukunft für Europa … 2016).
Mit den drei zitierten, entschieden und proklamatorisch vorgebrachten Erklärungen wird der Kern der Ideologie der Identitären deutlich: Es geht um das Gegenüber von „ihr“ und „wir“, wobei „ihr“ das „Volk“ verdrängt und „austauscht“. „Wir“ werden Fremde.
Dieser Entwicklung hat „die Identitäre Generation“ den Krieg erklärt, so Martin Willinger, einer der profilierten Vertreter dieser Bewegung (Willinger 2013). Und adressiert an „ihr“: „Der Wille zur Identität ist stärker als eure künstliche Ideologie“ (ebd., 80).
In einer Selbstbeschreibung heißt es: „Wir wollen endlich eine offene Debatte über die Identitätsfrage im 21. Jahrhundert. Das etablierte Meinungsspektrum verengt diese Frage lediglich auf die Utopie einer einheitlichen One-World-Ideologie. Wir hingegen fordern eine Welt der Vielfalt, Völker und Kulturen. Die Bewahrung unserer ethnokulturellen Identität muss als Grundkonsens und als Grundrecht in der Gesellschaft verankert werden.“17
„Die Identitäre Bewegung hat ihre Ursprünge in Frankreich und wurde spätestens im Oktober 2012 darüber hinaus bekannt. Damals besetzten einige Dutzend Personen der GÉNÉRATION IDENTITAIRE, der Jugendorganisation des extrem rechten BLOC IDENTITAIRE, über mehrere Stunden das Dach einer im Bau befindlichen Moschee in Poitiers. Dabei entrollten die Identitären ein Banner mit der Zahl 732 und dem Symbol der Bewegung: dem griechischen Lambda auf gelbem Grund. Der Bezug auf dieses historische Ereignis spielt bei fast allen Aktionen der Identitären eine wichtige Rolle. Im Jahr 732 errang Karl Martell in Poitiers den Sieg gegen die Mauren. Der symbolisch und pathetisch aufgeladene Aktionismus der Identitären ist seitdem Kennzeichen der Bewegung […]“ (Henßler 2016, 1).
Mit seinem Buch „Die Identitäre Generation“ will der 1992 geborene Österreicher Markus Willinger einmal Europa retten und zum anderen erklärt er den „68ern“ den Krieg. Beides hängt für ihn zusammen: „Die Völker Europas haben ihren Lebenswillen verloren […] Die Ideologie der 68er durchsetzt Europa“ (Willinger 2013, 7). Weiter heißt es: „Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit drangen fremde Völker in derartigem Ausmaß in einen Erdteil ein, ohne dass es Widerstand der eigenen Bevölkerung gegeben hätte. Dass Europa nun nach 1000 Jahren stolzer Geschichte am Ende ist, liegt nicht an der Stärke der Anderen, sondern an unserem Unwillen, für unser eigenes Überleben einzutreten.
Die 68er haben uns das Bekenntnis zur eigenen Identität schlecht gemacht“ (ebd., 8).
In 41 Kapiteln ereifert sich Willinger u. a. gegen die
multikulturelle Gesellschaft: sie „bedeutet für uns nur Hass und Gewalt“ (ebd., 11). „Wir wollen nicht, dass Mehmed und Mustafa Europäer werden“ (ebd. 32 und etliche weitere Stellen);
Politik: „Wir erwarten nichts anderes, als dass die Politik uns belügt“ (ebd., 17), „Die Politiker aller Parteien sind uns gleich. Denn sie sagen ja auch alle das Gleiche“ (ebd., 18).
Angleichung der Geschlechter: „Wo sich einst das starke und das schöne Geschlecht freudig vereinigten, habt ihr die Allianz der Zwitter gesetzt, das Bündnis der Halben, die Vereinigung des Nichts“ (ebd., 21);
repräsentative Demokratie: „Wir aber behaupten, dass das Volk die entscheidenden Dinge tausendmal besser beurteilen kann als eure weltfremden Parlamentarier“ (ebd., 37);
Integration: „Muslime und Afrikaner! Brecht eure Zelte ab und verlasst diesen Kontinent. Ihr habt ganze Erdteile, die euch gehören“ (ebd., 84).
Und immer wieder geht es um Identität und gegen diejenigen, die sie vermeintlich verhindern: „Ihr könnt den Willen zur Identität nicht besiegen“ (ebd., 79).
Am Ende stellt Willinger klar, dass dieses Buch kein Manifest sei: „Es ist eine Kriegserklärung. Unsere Kriegserklärung an euch“ (ebd., 103).
Die Identitären werden als die „Jugendbewegung“ der Neuen Rechten bewertet. Ihre Jugendlichkeit verbinden sie mit Aktionismus, Popkultur und einer Corporate Identity (so „der schwarz-gelbe Einheitslook und das Lambda-Symbol“) (Bruns/Glösel/Strobl 2014, 59). Trotz erklärter Feindschaft gegen die „68er“, ja Hass auf sie (Willinger 2013, 7) orientieren sich die Identitären „an linken Aktionsformen“, an Störaktionen, Besetzungsversuchen und Flashmobs (Bruns/Glösel/Strobl 2014, 57). Damit sind sie in nahezu allen mittel-, west- und nordeuropäischen Ländern aktiv (ebd., 61–121). Auf ihrer Homepage präsentieren die Mitglieder der Identitären Bewegung ihre „Aktionen“, die mitunter sehr spektakulär sind.18
Für Götz Kubitschek, Verleger rechter Literatur und eine zentrale Schlüsselperson der Neuen Rechten, sind die Identitären eine Art Hoffnungsträger. Auf die entsprechende Frage eines Journalisten antwortete er, dass „die Identitäre Bewegung zu diesem Teil der Hoffnung [gehört], die ich noch habe. Also, das ist zur Verteidigung des Abendlands, zur Verteidigung des Eigenen zwingend notwendig. Dass es […] ne richtige Wende, ne richtige Revolte (gibt)“ (Kneser/Gogos 2016, 15:28).
Am Ende einer gründlichen Analyse der Identitären fasst eine Wiener Forschergruppe zusammen: „Die Identitären haben die Neue Rechte für eine junge Generation ein Stück weit vitalisiert, sie breitenwirksamer, aktionistischer gemacht und ihre Ziele unter ein länderübergreifendes gemeinsames Ganzes gestellt, das sie mit Hilfe einer Corporate Identity erreichen wollen“ (Bruns/Glösel/Strobl 2014, 220).
Die Identitären werden vom Bundesamt für Verfassungsschutz und von Verfassungsschützern in neun Bundesländern beobachtet: „Wir sehen bei der ‚Identitären Bewegung‘ Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“, sagte Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen. […]. Insbesondere in der Anti-Asyl-Agitation im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise habe sich eine weitere Radikalisierung gezeigt. ‚So werden Zuwanderer islamischen Glaubens oder aus dem Nahen Osten in extremistischer Weise diffamiert.‘ […]“ (Bundesamt 2016).
Eine materialreiche Untersuchung der Identitären Bewegung Deutschlands (IBD) hat der Niedersächsische Verfassungsschutz veröffentlich (Niedersächsisches Ministerium 2016). Im Fazit heißt es u. a.:
„Die IBD versteht sich als Bestandteil einer europaweiten Bewegung. Ihr Ziel ist es, die europäische Jugend im Kampf für die nach ihrer Meinung bedrohte Freiheit und kulturelle Identität zu vereinen. Ihre vornehmliche Aufgabe sieht die IBD folglich in der Verteidigung und Bewahrung von ‚Heimat, Freiheit, Tradition‘. An erster Stelle steht hierbei der Erhalt der ‚ethnokulturellen Identität‘, die durch einen befürchteten ‚demographischen Kollaps‘ sowie durch angebliche ‚Massenzuwanderung‘ und ‚Islamisierung‘ bedroht sei.
[…] Die Identitären richten sich deshalb vehement gegen Multikulturalismus und propagieren einen europäischen Ethnopluralismus, der erstens die vermeintlich zu verteidigenden kulturellen und zugleich angeblich naturgegebenen Unterschiede zwischen ethnischen Gruppen im Sinne eines kulturellen Rassismus begründet und der zweitens dementsprechend die strikte räumliche und kulturelle Trennung unterschiedlicher Ethnien fordert.