Das Thema "psychische Gesundheit" gewinnt immer weiter an Bedeutung. Wir erinnern uns beispielsweise an Prominente aus dem Profisport, die über den Kampf mit einer psychischen Störung berichteten oder deren Leben mit einer Selbsttötung ein tragisches Ende nahm. Gleichzeitig werden es Gesundheitsökonomen nicht müde, auf die gesellschaftlichen Kosten durch Verdienstausfälle oder Frührenten hinzuweisen, die durch psychische Störungen entstünden. Zu guter Letzt behaupten die führenden Epidemiologen Europas, jährlich seien rund 40% der Bevölkerung von mindestens einer Störung betroffen; eine Zunahme sei jedoch nicht festzustellen.
Alle diese Themen setzen die Beantwortung grundlegender Fragen voraus: Was sind überhaupt psychische Störungen? Wie entstehen sie? Wie definieren und diagnostizieren wir sie? Was bedeutet es für jemanden, so eine Diagnose zu erhalten? Wie untersuchen wir die Häufigkeit ihres Auftretens? Wie schätzen wir die Kosten, die damit verbunden sind? Welche Therapien gibt es und wie gut helfen diese den Betroffenen?
Als ich mein letztes Buch schrieb - Die Neurogesellschaft: Wie die Hirnforschung Recht und Moral herausfordert? (2012) -, legte ich im Vorwort den Grundstein für dieses eBook:
»Hierzu würde es gut passen, eine weitere Untersuchung anzuschließen: warum nämlich Jahrzehnten der klinischen Hirnforschung zum Trotz bis heute keine einzige psychische Erkrankung im Kernspintomographen diagnostiziert werden kann. Zu dieser offenen Frage passt auch die derzeitige Ernüchterung über den nur eingeschränkten Nutzen vieler jahrzehntelang verschriebener psychopharmakologischer Medikamente… Psychiater und klinische Psychologen weltweit kommen auch mehr als ein Jahrzehnt nach der 'Dekade des Gehirns' um die Beobachtung von Verhalten und die Berücksichtigung persönlicher Erfahrungsberichte ihrer Patienten nicht herum. Dieses interessante, aber auch sehr schwierige, eigenständige Thema muss ich auf eine zukünftige Untersuchung verschieben.«
Fast jeder ist betroffen
Dass es sechs Jahre dauern würde, diese Untersuchung in Form der jetzt vorliegenden Sammlung von Aufsätzen durchzuführen, hätte ich mir damals nicht vorstellen können. Erfreulicherweise hat das Thema nichts von seiner Aktualität oder Relevanz eingebüßt. Wenn wirklich 40% der Menschen jedes Jahr von mindestens einer psychischen Störung direkt betroffen sind, dann sind es so gut wie 100% indirekt - etwa durch Freunde, Bekannte und Angehörige mit psychischen Problemen; oder eben auch als Steuerzahler und Versicherte, die das Sozial- und Gesundheitssystem finanzieren. Entscheidend ist ebenfalls: Das Rätsel, warum sich trotz größter Bemühungen bis heute keine einzige psychische Störung zuverlässig mit Gentest oder Gehirnscanner diagnostizieren lässt, bleibt.
Meine eigene Forschung hat mir erlaubt, drei forschungsstarke psychiatrische Universitätskliniken von innen kennenzulernen. Dort wie auf Tagungen und Konferenzen habe ich es zwar selten mit Patienten, doch oft mit klinischen Psychologen und Psychiatern zu tun gehabt, mit denen ich mich unterhalten oder denen ich bei der Arbeit zuschauen konnte. Davon abgesehen habe ich auch selbst Hilfsangebote in Anspruch genommen.
Bis heute finde ich frappierend, dass betroffenen Laien sowie ihren Angehörigen wichtiges Kontextwissen fehlt: Dass etwa die Interpretation der psychischen Probleme eines Patienten und schließlich auch die angebotene Hilfe davon abhängen, welches Wissen ein Arzt oder Psychotherapeut von psychischen Störungen hat, also wie diese Fachleute ausgebildet sind.
Bedeutendes Hintergrundwissen
Ein Psychoanalytiker oder tiefenpsychologischer Psychotherapeut wird insbesondere nach unverarbeiteten Kindheitstraumata suchen; ein Systemtherapeut wird sich vor allem das Funktionieren in Beziehungen - Freundschaften, Familie, am Arbeitsplatz - anschauen; ein kognitiver Verhaltenstherapeut wird hauptsächlich den Umgang mit störenden Gefühlen und Gedanken untersuchen.
Bei einem Psychiater ist von entscheidender Bedeutung, ob er biologisch, phänomenologisch oder sozial ausgebildet ist. Verkompliziert wird das in der Praxis durch zahlreiche Mischformen und dadurch, dass detaillierte Informationen über die Ausbildung eines Therapeuten oder Psychiaters, wenn überhaupt, nur schwer zugänglich sind.
Dass diese Unterschiede von großer Bedeutung sind, lässt sich leicht veranschaulichen: Stellen wir uns vor, dass jemand wegen zu viel Stress erschöpft ist und zu einem Psychoanalytiker oder Tiefenpsychologen geht. Dieser wird mit dem Patienten wahrscheinlich über dessen Kindheit und Beziehung zu den Eltern sprechen und dabei vielleicht Maßnahmen übersehen, mit denen man dem Betroffenen schnell helfen kann, nämlich neuen Stress zu verhindern. Dabei kann es natürlich sein, dass das heutige Problem von Kindheitserfahrungen abhängt, also die ferne Vergangenheit die Zukunft beeinflusst.
Ein Verhaltenstherapeut mag dem Betroffenen vor Augen führen, wie er seine Probleme selbst vergrößert, und Techniken zum besseren Umgang mit Stress beibringen. Dabei wird er vielleicht vernachlässigen, dass die Verhaltens- und Denkmuster eine längere Geschichte haben. Ein biologischer Psychiater wiederum mag in den Symptomen Ausdruck einer Gehirnstörung sehen, die es medikamentös zu beheben gilt. Das bietet vielleicht schnelle, kurzfristige Hilfe, blendet aber die Lebensumstände eines Menschen aus und verhindert so womöglich deren Anpassung, sodass die Symptome immer wieder oder auf andere Weise zurückkehren.
Das Auge des Betrachters
Für alle diese Fachleute gilt dasselbe wie für alle Laien und alle Wissenschaftler, also schlicht für alle Menschen: Unsere Wahrnehmung, unser Denken und Fühlen, unser Sprechen und Entscheiden hängt wesentlich davon ab, welche Erwartungen und welches Hintergrundwissen wir haben. Mit anderen Worten: Wenn wir über psychische Gesundheit sprechen, dann haben wir es mit einem hohen Maß an Subjektivität zu tun.
Diese Subjektivität versuchen Fachleute, unter Führung der USA, zwar seit den 1980er Jahren durch das Einführen und Verbessern standardisierter Symptomlisten für die Diagnose psychischer Störungen zu reduzieren. Doch selbst wenn die Kriterien formalisiert und objektiviert, schwarz auf weiß auf Papier stehen, müssen diese natürlich von einem Subjekt gelesen, verstanden und angewandt werden: Nämlich von dem Experten, der bei der Diagnose vor Ihnen sitzt.
Ist ein Leiden klinisch signifikant? Ist die Trauer beim Verlust eines geliebten Menschen noch kulturell typisch oder schon Ausdruck einer Depression? Antworten auf diese Fragen liegen letztlich auch im Auge des Betrachters. Oder man könnte sagen: Medizin bleibt Menschenwerk. Diese Feststellung wird denjenigen widerstreben, die stets die Wissenschaftlichkeit von klinischer Psychologie und Psychiatrie betonen; geht es dort doch um die Überwindung des Subjektiven, um Erkenntnis und Praxis, die so objektiv wie möglich ist.
Suche nach dem Heiligen Gral
Deshalb wurde und wird die Suche nach Genen, Gehirnzuständen oder allgemein Biomarkern für psychische Störungen so vehement vorangetrieben: Man hofft, dass die Natur letztlich dem Experten die Unsicherheit abnimmt; man hofft, das subjektive Auge des Betrachtes durch die objektiven Verfahren der Mikrobiologie zu ersetzen. Dass auch diese Wissenschaft von menschlicher Begriffs- und Theoriebildung sowie verfügbaren Instrumenten abhängt, soll hier nicht weiter diskutiert werden. In einigen Essays dieses eBooks wird dargelegt werden, warum die Suche nach Biomarkern der Suche nach dem Heiligen Gral gleicht und es daher nicht überrascht, dass sie bisher so erfolglos war.
Stattdessen soll hier an einem Beispiel aus der Kunstgeschichte die Interpretations- und Verständnisleistung nachvollzogen werden, vor die sich auch ein klinischer Experte gestellt sieht, der einem Menschen mit psychischen Problemen begegnet: Was geht in diesem Menschen vor? Woran leidet er und wie schlimm ist dieses Leiden? Wie stark ist er in seinem Alltag und beim Verfolgen seiner Lebensziele eingeschränkt? Ist der Mensch behandlungsbedürftig, arbeitsunfähig, vielleicht sogar in Lebensgefahr?
In Jahren des Studiums, in Jahren der Ausbildung, vor allem aber im jahrelangen Umgang mit Menschen lernt der Experte, vor dem Hintergrund fachlicher, formaler und kultureller Regeln Antworten auf diese Fragen zu geben. Dabei hat er es mit einem "Gegenstand" zu tun, der sich permanent verändert und der auch auf die Fragen und Entscheidungen des Experten selbst reagiert, nämlich mit einem Subjekt. Das ist wahrlich keine einfache Aufgabe.
Ein Beispiel in Hermeneutik
Wir haben es bei diesem einfachen Beispiel stattdessen mit einem bloßen Kunstwerk zu tun, das für einen bestimmten Zweck angefertigt wurde und sich nach dem letzten Pinselstrich des Meistermalers nicht mehr verändert. Es ist ein Beispiel mit einer theologischen Dimension, auf die ich hier aber nicht hinaus will; wohl bin ich mir der Tatsache bewusst, dass man es nicht ganz ohne diese Dimension verstehen kann. Einigen wir uns für das Beispiel aber darauf, dass es einen Menschen in einer existenziellen Situation darstellt:
Das Gemälde stammt aus einer Sammlung der Hermitage in St. Petersburg. Ich sah es auf einer Ausstellung in der Amsterdamer Hermitage. Einer Person, die mit unserem Kulturkreis vertraut ist, dürfte unmittelbar deutlich sein, dass hier Jesus abgebildet ist. Links oben schaut ein Engel auf ihn herab. Rechts im Hintergrund sind Soldaten mit Fackeln angedeutet. Überlegen Sie sich, was im hier abgebildeten Menschen vor sich geht. Welchen Gemütszustand hat der Maler hier ausgedrückt? Suchen Sie nach einer eigenen Antwort, bevor Sie weiterlesen.
Wenn Sie sich die Mühe gemacht haben, dann haben Sie vielleicht verschiedene Informationsquellen verwendet: Ihre Intuition und Empathie, wenn Sie sich das Gesicht und die Körperhaltung des Mannes anschauen; Symbole aus dem situativen Kontext wie den Engel oder die Soldaten, die, wenn man mehr über die Szene weiß, auf Jesu bevorstehende Verhaftung hindeuten. Vielleicht haben Sie sogar die Bibelstelle (deren Authentizität übrigens umstritten ist) herausgesucht und gelesen: "Vater, wenn du willst, nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen." Wenn man weiter denkt, sieht man in der Farbe des Umhangs vielleicht sogar einen Hinweis auf Blut, also die Kreuzigung.
Verschiedene Antworten
Mir fiel im Museum auf, dass in der Bildunterschrift von "Todesmut" die Rede war. Der junge Kunstkritiker, der den Beitrag für den Audioführer verfasst hat, brachte den Ausdruck Jesu ganz anders auf den Punkt: "Warum ich?" Das wäre also eher Verzweiflung und Wut. Diese beiden Interpretationen widersprechen sich schon. Jedoch entsprach keine von beidem dem Gemütszustand, den ich erkannte: nämlich Hingabe, Ergebung. Jesus weiß um sein Schicksal. Vielleicht hegt er innerlich einen anderen Wunsch, doch ist er sich der Tatsache bewusst, dass hier größere Mächte im Spiel sind, denen er sich vertrauensvoll fügt.
Wie gesagt, mir ging es hier nicht um die theologische Dimension. Entscheidend ist, dass es verschiedene Informationsquellen gibt; und auch wenn die Antwort in gewissem Maße im Auge des Betrachters liegt, so ist sie begründbar und nicht völlig willkürlich. Neben subjektiven Eindrücken gab es Kontextwissen und Schriftquellen, auf die man sich stützen kann. Wer es sehr ernst nimmt, könnte mehr über die Umstände herauszufinden versuchen, unter denen das Gemälde entstanden ist. Falls Sie das Fallbeispiel interessiert, können Sie die lebendige Diskussion dazu in meinem Blog lesen.
Was wir hier getan haben, ist die hermeneutische Methode anzuwenden: Es geht um das Verstehen des Gemütszustands des Menschen Jesus auf dem Gemälde. Dafür haben wir mithilfe verschiedener Quellen einen Sinnzusammenhang hergestellt. Diese Methode ist typisch für die Geistes- und Rechtswissenschaften. Sie ist aber aller "objektiven" Wissenschaft zum Trotz auch unvermeidlich für die Arbeit klinischer Psychologen und von Psychiatern. Dass dies im universitären Studium vernachlässigt, wenn nicht gar unterschlagen wird, ist eine verpasste Chance in der Ausbildung dieser Experten.
Die Expertensicht
Das weiß eine Person, die mit psychischen Problemen Hilfe sucht, vielleicht gar nicht. Vielleicht ist sie gar in einer Krisensituation und froh, überhaupt irgendeinen Experten gefunden zu haben. Die Ausbildung, das Hintergrundwissen und der formale Rahmen dieses Experten wird aber die Einordnung der Probleme, die mögliche Diagnose, damit auch die Therapie und so schließlich den Krankheitsverlauf entscheidend mitbeeinflussen. Im schlimmsten Fall geht das so weit, dass Fachleute und Pflegepersonal nach einer ersten Diagnose nur noch die Symptome sehen, die dazu passen, und alles andere aus dem Auge verlieren.
In der Wissenschaft kennt man diesen Fallstrick als "Bestätigungsfehler". Für wie neutral halten Sie beispielsweise die Beobachtung und das Urteilsvermögen von jemandem, der felsenfest davon überzeugt ist, Frauen könnten nicht einparken, Männer könnten nicht kochen oder dass ausgerechnet er im Supermarkt immer in der längsten Schlange warten muss? Es wäre naiv zu denken, dass solche Effekte bei Experten nicht auftreten können.
Was vorgefertigte Denkmuster für einen Patienten bedeuten können, wird an dem Fallbeispiel der Wissenschaftlerin Nev Jones von der University of South Florida deutlich. Sie litt während ihres Studiums selbst an Wahnvorstellungen und erforscht heute Entwicklungen in der Psychiatrie. In einer Reportage über sie wird die Situation geschildert, wie sie mit einer Freundin in eine psychiatrische Klinik ging, als sie große psychische Probleme.
Dort seien sie von einer Krankenschwester aufgenommen worden, die gar nicht mit der Patientin, sondern nur mit der Freundin gesprochen habe - und dabei unverblümt ihre Vorurteile über Schizophrene zum Besten gegeben habe: Diesen könne man kaum helfen, ihr Zustand würde sowieso immer schlimmer werden und daher müsse man sie vor allem vom Rest der Gesellschaft isolieren.
Folgenschwere Entscheidungen
In dem Interview ("Es gibt keine Schizophrenie") mit dem Schizophrenie-Experten Jim van Os in diesem eBook wurde - unabhängig von diesem Beispielfall - genau dieses Denken kritisiert: Van Os will die Diagnose abschaffen, da sie einen Patienten förmlich vernichten könne. Wenn dieser mit dem Stigma "Schizophrenie" versehen werde, stürze ihn die angebliche Aussichtslosigkeit und die Isolation von seinem sozialen Umfeld womöglich erst recht in eine schwere Krise. Tragischerweise erzeugen die klinischen Experten mit so einer schlimmen Vorstellung von der psychischen Störung den hoffnungslosen, vernichteten Patienten, den sie in der Vergangenheit schon so oft gesehen haben, vielleicht erst selbst.
Im Fall der Wissenschaftlerin schlichen die beiden Frauen laut der Reportage aus dem Krankenhaus, als die Schwester einen Arzt holen wollte. Stattdessen hätten sie schließlich einen Psychiater und einen Psychotherapeuten gefunden, die der Patientin dabei zur Seite gestanden hätten, in ihrem sozialen Umfeld zu bleiben und dort so gut wie möglich zu funktionieren. Heute ist sie eine bekannte Forscherin, die sogar schon an der renommierten Stanford University gearbeitet hat.
Natürlich kann niemand mit Gewissheit sagen, wie es ihr in der psychiatrischen Klinik ergangen wäre. Das Beispiel zeigt aber, dass es Alternativen gibt, und macht im Zusammenhang mit der Expertenmeinung von Van Os verständlich, wie diese sich auf den Krankheitsverlauf auswirken können. In diesem Sinne könnte man sogar sagen, dass der Experte, sei es eine Pflegekraft, ein Arzt oder Therapeut, aber auch Bekannte und Angehörige, mit ihren Erwartungen und ihrem Wissen Teil der Erkrankung sind.
Tatsächlich weisen Forschungsergebnisse der Transkulturellen Psychiatrie - einem in vielen Ländern sträflicherweise vernachlässigten Fach - darauf hin, dass Schizophrenien in Gesellschaften, die die Patienten ausgrenzen, schlechter verlaufen als in solchen, die sie sozial integrieren. Da jeder Mensch eine bestimmte Psychoseanfälligkeit hat, um noch einmal auf Jim van Os zu verweisen, könnte es sogar auch Sie einmal treffen. Kurzum: Eine psychische Störung lässt sich nicht unabhängig von ihrem Kontext, ihrer Zeit und ihrer Kultur sehen; und dieser Befund ist potenziell für alle Menschen relevant.
Biologisches Denken
Die eingangs erwähnten Fragen sind zwar schwierig, sie können aber beantwortet werden. Die in diesem eBook vorliegenden Aufsätze sind im wortwörtlichen Sinne Essays, also Versuche einer Antwort. Der Befund, auf den ich schon 2012 im Vorwort meines Buchs "Die Neurogesellschaft" verwies, ist nach wie vor frappierend: Während die Meinung weit verbreitet ist, psychische Störungen seien Gehirnstörungen, können sie immer noch nicht im Gehirn diagnostiziert werden, sondern nur durch Gespräche mit Betroffenen, möglicherweise ergänzt durch Verhaltensbeobachtungen.
Dabei haben schon um das Jahr 1900 herum Pioniere auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Psychiatrie wie Emil Kraepelin (1856-1926) unter der Prämisse gearbeitet, mit Hirnforschung die Probleme der klinischen Psychologie und Psychiatrie lösen zu können. Seit den 1920er Jahren untersuchen Wissenschaftler mit der Elektroenzephalographie Hirnströme, seit den 1970er Jahren werden moderne Verfahren der bildgebenden Hirnforschung eingesetzt und sind unzählige Arbeiten über Störungen wie ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung), Autismus, Depressionen, Phobien (Angststörungen) oder Schizophrenie erschienen. Bei all diesen Bemühungen sollte man doch erwarten, dass zumindest einige der mehreren Hundert heute unterschiedenen Störungen zuverlässig im Gehirn diagnostiziert werden könnten.
Insofern war das Erscheinen der fünften Auflage des psychiatrischen Diagnosehandbuchs DSM aus den USA im Jahr 2013 eine Zäsur: Obwohl es eines der erklärten Hauptziele gewesen war, das Handbuch endlich auf ein neurowissenschaftliches Fundament zu stellen, war dies für keine einzige der, je nach zählweise, 150, 300 oder gar 600 Störungen gelungen. Dass der damalige Direktor des National Institute of Mental Health (NIMH), der bedeutendsten psychiatrischen Forschungseinrichtung der USA mit Milliardenbudget, kurz darauf ankündigte, man werde das auch als "Psychiatriebibel" bekannte Handbuch nicht mehr unterstützen, versetzte den Psychiatern im ohnehin schon schmerzhaften Moment der Ernüchterung einen Tiefschlag.
Während das NIMH auch unter seinem neuen Direktor nach wie vor vor allem auf die Neurowissenschaften setzt, was in einigen der Artikel dieses eBooks detaillierter behandelt werden wird, entstand hierdurch auch eine neue Welle der Kritik; nicht zuletzt interessieren sich Experten oder diejenigen, die es werden wollen, wieder vermehrt für die Philosophie der psychischen Störungen.
Überblick
Vor diesem Hintergrund ist die vorliegende Sammlung von Aufsätzen zu sehen. Sie ist von mir als ein Beitrag zur Aufklärung und Diskussion gemeint und nicht als "großer Wurf", der alle Fragen abschließend beantwortet. Wie mit den Beispielen hiervor geschildert, kann aber bereits dieses Wissen von entscheidender Bedeutung sein.
Das eBook beginnt dann auch mit Grundlagenfragen, vor allem mit derjenigen aus dem Titel: Was sind eigentlich psychische Störungen? Es gibt darauf mindestens drei klassische Antworten, die einer Logik folgen (Essentialismus, Konstruktivismus und Pragmatismus), die sich auf viele Wissenschaftsfelder anwenden lässt. All diese Ansätze haben bestimmte Vor- und Nachteile und Für- und Widersacher in der wissenschaftlichen wie philosophischen Diskussion. Sie sind zwar erst einmal theoretische Positionen, beeinflussen aber das Vorgehen in der Erforschung, Diagnose und Behandlung psychischer Störungen.
Schnell wird deutlich werden, dass ich vor allem den molekularbiologischen Ansatz kritisch sehe, und zwar nicht, weil ich diesen Wissenschaftszweig an sich ablehnend gegenüberstünde. Im Gegenteil habe ich schon mit Molekular- und Neurobiologen zusammengearbeitet und viel Respekt vor deren Forschung. Der Schwerpunkt meiner Kritik rührt daher, dass dieser Ansatz eben in der Forschung und oft genug auch in der Praxis dominiert, jedoch seit Jahrzehnten mit der geschilderten Anomalie leben muss, keine zuverlässigen Merkmale psychischer Störungen im Gehirn oder den Genen finden zu können.
Gesellschaftliche Brisanz
Zudem ist dies auch gesellschaftspolitisch brisant, da durch die Verortung der Probleme eines Menschen in dessen Körper beziehungsweise Gehirn, also durch die Individualisierung, die persönliche und gesellschaftliche Ebene aus dem Blickfeld gerät. Soziologen nennen diesen Prozess daher auch "Dekontextualisierung" oder "Depolitisierung".
Salopp gesagt: Liegt eine Erschöpfung an einem Ungleichgewicht von Botenstoffen im Gehirn und nicht an Eigenschaften der Lebenswelt - etwa zu viel Stress und zu wenig Entspannung durch Überarbeitung und schwere Lebensereignisse -, dann wird zur Behandlung eben ins Gehirn eingegriffen und nicht in die soziale Umwelt eines Menschen. Dementsprechend lautet die Überschrift eines der Artikel: "Wenn Psychologie politisch wird: Milliarden zur Erforschung des Gehirns".
Natürlich würde es hier zu weit gehen und wäre es auch nicht zielführend, alle psychischen Störungen zu diskutieren; einige Beispiele verdienen hier aber doch unsere Aufmerksamkeit. So werden in den Artikeln über ADHS, Depressionen und Schizophrenie Punkte aus dem Grundlagenteil anschaulich gemacht und verdeutlicht; bei den letzten beiden kommen Experten ans Wort, die viel Erfahrung mit klinischer Forschung und Praxis haben und auf meine Fragen reagieren. Meine beiden Artikel über "Misophonie" und "Genderdysphorie" behandeln Beispiele für mögliche Störungen, die einmal in die offiziellen Handbücher aufgenommen werden oder ganz im Gegenteil in Kürze daraus gestrichen werden könnten; auch dadurch wird die Frage, was psychische Störungen sind, greifbarer.
Auf dem Weg zu Lösungsansätzen
Im letzten Teil des eBooks bewegen wir uns auf Lösungsansätze zu. Dabei geht es erst noch einmal um eine Bestandsaufnahme zur Untersuchung der (angeblichen) Häufigkeit und Kosten psychischer Störungen. Dabei ist es wichtig zu wissen, wie Vorannahmen, Definitionen und methodische Entscheidungen das Ergebnis beeinflussen. Führende Forscher erheben meistens schlicht die Häufigkeit bestimmter Symptome in der Gesellschaft.
Persönlich halte ich es aber für viel wichtiger, die tatsächliche Nachfrage nach Hilfsangeboten ins Auge zu fassen. Das Symptomzählen allein sagt nämlich nichts darüber aus, wie viele Menschen wirklich ein Hilfsbedürfnis haben, worüber auch Pieter de Jonge im Interview sprach.
Wie man nun aber auch zählt und misst, eine Feststellung bleibt davon unberührt: Dass wir es hier nämlich mit einem wichtigen gesellschaftlichen Phänomen zu tun haben. Das ist auch vor dem Hintergrund relevant, dass unser heutiges Versorgungssystem für psychische Probleme eine relativ neue gesellschaftliche Erscheinung der letzten Jahrzehnte ist. Entweder hatten Menschen früher andere Probleme - oder sie gingen anders damit um.
Dies sollte man beim Lesen der Artikel im Hinterkopf behalten, auch wenn ich zugeben muss, dass meine eigenen Überlegungen hierzu noch sehr vorläufig sind. Der allgemeine Prozess der Medikalisierung, dass also generell, nicht nur im psychischen Bereich, immer mehr Probleme in die Domäne der Medizin aufgenommen und dann auch dort behandelt werden, die Organisation der Versorgungssysteme nach marktwirtschaftlichen Prinzipien mit der Notwendigkeit von Wettbewerb, Effizienzsteigerung und Gewinn und insbesondere auch das Marketing von Pharmaunternehmen und anderen Marktteilnehmern spielen hierfür eine Rolle.
Die letzten beiden Artikel im eBook bewegen sich vorsichtig in die Richtung einer eigenen Lösung. Dabei werden noch einmal Trends des Medikamentenkonsums oder der Selbstoptimierung im Bereich der beruflichen Karriere thematisiert, denen östliche wie westliche Philosophien der Entschleunigung entgegengestellt werden. Mir ist klar, dass man mit etwas Entspannung, Innehalten, Reflexion, Saunabesuchen, Yoga oder Meditation allein keine schweren psychischen Störungen behandeln kann, bei denen mitunter auch der ganze Körper stark beeinträchtigt ist.
Für das Gros des erlebten Stresses scheint mir das aber ein wichtiger erster Ansatz zu sein, um die systematischen strukturellen Ursachen psychischer Probleme, wie sie sich heute häufiger und häufiger äußern, zu beheben; oder jedenfalls einen ersten Schritt in diese Richtung zu gehen. Ich danke Ihnen für die Bereitschaft, sich mit mir auf dieses herausfordernde Terrain zu begeben - und stehe wie immer einer kritischen Diskussion offen gegenüber.
Stephan Schleim
Was sind psychische Störungen?
Grundlagenfragen, gesellschaftliche Herausforderungen, Alternativen zur Biologie
Herausgeber der Reihe: Florian Rötzer
Umschlaggestaltung & Herstellung: Michael Schuberthan
ISBN 978-3-95788-170-0 (V1)
Copyright © 2018 Heise Medien GmbH & Co. KG, Hannover
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Titel
Einleitung
Grundlegendes zur Einführung
Die "amtliche" Fassung
Was sind psychische Störungen? - Teil 1
Wenn es ums Geld geht
Was sind psychische Störungen? Teil 2
Aus Sicht der Wissenschaftstheorie
Was sind psychische Störungen? – Teil 3
Ein Blick auf die "Schaltkreisepsychiatrie"
Was sind psychische Störungen – Teil 4
Wenn Psychologie politisch wird: Milliarden zur Erforschung des Gehirns
Oder: Was sind eigentlich psychische Störungen?
Sieben Einzelbeispiele: Störungsbilder
30 Jahre Aufmerksamkeitsstörung ADHS
Verbreitung, Drogen und Therapien geben uns Rätsel auf
ADHS und die Suche nach dem Heiligen Gral
Die Krise der molekularbiologischen Psychiatrie
Misophonie: Die nächste psychische Störung?
Ein Verwirrspiel von Hirnforschern
Genderdysphorie
Psychische Störung oder nicht?
"Es gibt keine Depressionen"
Wie der Psychologie- und Psychiatrieprofessor Peter de Jonge die psychische Gesundheitsversorgung revolutionieren will
Was sind Ursachen von Depressionen?
Ein offener Brief an die Stiftung Deutsche Depressionshilfe
Mehr über Ursachen von Depressionen
Politische Brisanz einer millionenfach vorkommenden psychischen Störung
"Es gibt keine Schizophrenie"
Der bekannte Psychiater und Professor für Psychiatrische Epidemiologie über Sinngebung und neue Ideen für die psychische Gesundheitsfürsorge
Gesellschaftliche Erklärungsansätze
Beinahe jede(r) Zweite gilt als psychisch gestört
Forscher bestreiten dennoch eine Zunahme psychischer Störungen, während sie weiter am Gehirnmodell festhalten
Verursachen psychisch Kranke finanziellen Schaden?
Ökonomische Konstrukte und ihre Folgen
Kapitalismus und psychische Gesundheit
Warum man einen Zusammenhang nicht bestreiten kann
Der Preis fürs "perfekte Leben"
Warum sich Frauen und Männer kaputt arbeiten
Fußnoten
Impressum
Stephan Schleim
Die Neurogesellschaft Wie die Hirnforschung Recht und Moral herausfordert mehr▶ |
Hg.: Thomas Pany (mit Beiträgen von Stephan Schleim)
Vergiftete Beziehungen Männer oder Frauen: Wer hat recht? mehr▶ |
Konrad Lehmann
Neues vom Gehirn Essays zu Erkenntnissen der Neurobiologie mehr▶ |
Gunter Laßmann
Asimovs Robotergesetze Was leisten sie wirklich? mehr▶ |
Volker Henn
Manipulation des Erbguts Werkzeuge, Anwendungen und Aussichten der Gentherapie mehr▶ |
Volker Henn
Synthetisches Leben Auf dem Weg zum biologischen Betriebssystem mehr▶ |
[1] Wittchen et al. (2011). The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010. European Neuropsychopharmacology, 21, 655-679.
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[2] Es geht hier vor allem um den Vergleich des Bundes-Gesundheitsservices des Robert-Koch-Instituts 1998 und die neueren Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) aus dem Jahr 2013. Aufgrund geänderter Kriterien lassen sich die Zahlen schwierig vergleichen. Hans-Ulrich Wittchen, dessen Mitarbeiter die Daten erhoben haben, kommentierte sie aber in der von mir geschilderten Weise.
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[3] Rasmussen, N. (2008). America's First Amphetamine Epidemic 1929-1971. American Journal of Public Health, 98, 974-985.
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[4] ] Ich beziehe mich hier auf den Bericht Beyond Therapy. Biotechnology and the Pursuit of Happiness des Bioethikrats des US-Präsidenten aus dem Jahr 2003. Im Kapitel 2 werden dort "bessere Kinder" diskutiert, im Unterabschnitt III Verbesserungen durch Psychopharmaka. Die Aspekte der moralischen Erziehung werden so im Kapitel 2.III.B.4 beschrieben
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[5] Vrecko, S. (2013). Just How Cognitive Is "Cognitive Enhancement"? On the Significance of Emotions in University Students' Experiences with Study Drugs. AJOB Neuroscience, 4, 4-12.
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[6] Solche Uahlen habe ich ausführlicher diskutiert in: Schleim, S. (2014). Whose well-being? Common conceptions and misconceptions in the enhancement debate. Front. Syst. Neurosci., 8, 148. Open Access.
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[7] Ein Klassiker hierfür ist nach wie vor: Ross, C. E. & Mirowsky, J. (2003). Social Causes of Psychological Distress. Aldine Transaction. Diese starken empirischen Belege für das biopsychosoziale Modell wurden von der Biopsychiatrie ja nie widerlegt, sondern nur verdrängt.
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Forscher bestreiten dennoch eine Zunahme psychischer Störungen, während sie weiter am Gehirnmodell festhalten
In den Medien ist immer wieder von einem Anstieg psychischer Erkrankungen die Rede. Führende Epidemiologen wiegeln ab, ihre Schätzungen seien konstant - allerdings auf einem dramatischen Niveau. Die Zahlen tatsächlicher Diagnosen und Medikamentenverschreibungen der Krankenkassen sprechen aber eine andere Sprache. Das gilt vor allem für Depressionen und Antidepressiva. Rein biologisch sind diese Änderungen nicht zu verstehen.
Wie krank sind die Menschen in unserer Gesellschaft? Insbesondere die psychischen Störungen sind ein beliebtes Streitthema. Während manche die Meinung vertreten, bei den Betroffenen handele es sich nur um Scheinpatienten, die sich einmal am Riemen reißen sollten, sehen andere in ihnen ernstzunehmende biologische und/oder psychosoziale Funktionsstörungen. Was auch die Ursachen von psychischen Leiden sind, ihre Auswirkungen auf die Betroffenen und ihr Umfeld sind nicht von der Hand zu weisen.
Biologie, Soziologie? Biopsychosoziologie!
Gemäß dem derzeit dominanten biologischen Modell in der wissenschaftlichen Psychiatrie und klinischen Neurowissenschaft unterliegen den psychischen Störungen körperliche Probleme, vor allem der Gene und des Gehirns eines Menschen. Vor dieser Annahme ist die Frage, ob es eine Zunahme oder kulturelle Unterschiede bei der Häufigkeit dieser Störungen gibt, für das biologische Modell unmittelbar relevant: Ein Zuwachs innerhalb weniger Jahre lässt sich genetisch nicht erklären, da ein Mensch sein Leben lang dieselben Gene hat. Änderungen durch Mutation und Selektion finden in einer ganz anderen Zeitskala statt.
Das Gehirn ist zwar ein dynamischeres Organ, seine grundlegende Struktur ändert sich aber nicht eben über Nacht - während beispielsweise der Verlust der Arbeit oder einer geliebten Person sowie andere traumatische Erlebnisse in Blitzesschnelle schweres psychisches Leiden auslösen können. Solche Ereignisse mit ihrem psychosozialen Kontext lassen sich jedoch nicht allein biologisch verstehen. Daher ist das biopsychosoziale Modell der psychischen Störungen auch dem rein biologischen in seiner Erklärungskraft überlegen: Es umfasst den Menschen von Kopf bis Fuß von seinen Molekülen bis zu seiner Lebenswelt.
Daraus ergibt sich die unmittelbare Konsequenz, nicht nur auf der biologischen Ebene, sondern auch im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen und der Gesellschaft nach Ursachen psychischer Störungen und Möglichkeiten der Behandlung zu suchen. Diese Forschung wird zwar schon seit Jahrzehnten betrieben, ist durch das dominante biologische Modell jedoch weitgehend verdrängt worden, obwohl dieses in der Praxis schlecht funktioniert. Zum Nachdenken anregende Befunde über die Wissenschaft und Praxis psychischer Störungen hat beispielsweise der frühere Pharmakopsychologe Felix Hasler in seinem neuen Buch "Neuromythologie" zusammengefasst.
38 bis 45% der EuropäerInnen psychisch gestört
Studie