Sara-Maria Lukas
Liebe atmet Mut
Das Buch:
Die Erkenntnis sprang ihr wie ein heller Blitz in den Kopf. Er spielte eine Szene aus ihrem letzten Roman.
Frech grinsend strich er ihr mit der Hand betont sanft die Haare aus der Stirn, während er mit dem anderen Arm weiterhin den Weg versperrte. »Bist du jetzt böse? Andere Frauen finden das erotisch.«
Unaufhaltsam stürzt das Kartenhaus zusammen, das Hanna um sich herum aufgebaut hat, um ihr Leben zu schützen. Schuld ist dieser Journalist, der sie bloßstellt, wütend macht und auf unerklärliche Weise magisch anzieht.
Kann sie Simon trauen, den sie liebt, der sie belogen hat, der sie nun retten will?
Die Autorin:
Sara-Maria Lukas ist ein Pseudonym, unter dem Sabine Bruns Romane veröffentlicht. Jahrgang 1962, EDV-Kauffrau, Dozentin in der Erwachsenenbildung, Fachjournalistin und Autorin von Fachbüchern. Sie lebt mit Mann, Pferden, Hunden und Katzen in einem kleinen Dorf in Norddeutschland.
www.bea-lange.b-vp.de
Sara-Maria Lukas
Roman
Liebe atmet Mut
Sara-Maria Lukas
Copyright © 2018 at bookshouse Ltd.,
Ellados 3, 8549 Polemi, Cyprus
Umschlaggestaltung: © at bookshouse Ltd.
Coverfotos: www.shutterstock.com
Satz: at bookshouse Ltd.
Druck und Bindung: bookwire GmbH
Printed in Germany
ISBNs: 978-9963-53-924-6 (Paperback)
978-9963-53-925-3 (E-Book .pdf)
978-9963-53-926-0 (E-Book .epub)
978-9963-53-927-7 (E-Book Kindle)
www.bookshouse.de
Dieses Buch ist eine überarbeitete Neuauflage des 2014 bei
bookshouse unter dem Pseudonym Bea Lange erschienenen Titels
»Gib dich nie mit weniger zufrieden«.
Urheberrechtlich geschütztes Material
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
Prolog
»Was für ein Schwachsinn!« Simon wirft das Buch auf den Tisch. »Ein Leben für die Liebe, von Romy Scott«, zitiert er in die leere Wohnung hinein, »schade um das gute Papier.« Und verdammt schade, dass Jana seine vor Ironie triefende Stimme nicht mehr mitbekommt. Am Nachmittag hat sie ihm die Schnulze an den Kopf geworfen, die Koffer gepackt und ist ausgezogen. Pah! Er solle es mal lesen, dann würde er vielleicht kapieren, warum ihre Ehe gescheitert sei.
»Romy Scott, oder wie immer du in Wirklichkeit heißt, ich möchte gern wissen, ob dir überhaupt klar ist, was für einen hirnrissigen, unrealistischen Mist du da veröffentlichst.« Er trinkt einen Schluck aus seinem Weinglas und starrt auf den Buchdeckel. Wahrscheinlich ist die Autorin eine alte Schachtel, die nie in ihrem Leben Liebe in der Realität und im Alltag erlebt hat. Man sollte mal eine deftige Reportage über die Tante schreiben. Wird Millionärin, und anderer Leute Ehen gehen kaputt wegen solch trivialer Volksverblödung.
Kapitel 1
»Die wird hier nie richtig dazugehören, ist eben was Besseres.« Die Stimme der korpulenten Frau mit den streng anliegend frisierten grauen Haaren hinter dem Tresen trieft vor Herablassung.
Ihr Gegenüber nickt. »Manche Leute passen einfach nicht zu uns. Die hätte mal lieber in der Stadt bleiben sollen.«
Hanna nimmt das Getuschel wahr und verdreht innerlich die Augen. Frau Lehmann, die verkniffene Inhaberin des Gemüseladens, hat ihr gerade einen Apfel mit einer faulen Stelle einpacken wollen, den Hanna mit einem freundlichen Lächeln abgelehnt hat. Die alten Dorf-Tratschtanten können sie mal, sie lebt sowieso in ihrer eigenen Welt.
Die beiden Einkaufstüten schneiden ihr in die Finger, als sie mit der Schulter die Ladentür aufstößt. Obwohl Frau Lehmann in der Nähe steht, macht sie keine Anstalten, ihr die Tür aufzuhalten. Dafür fegt eine Windböe eine Ladung nasser Blätter bis zwischen die Regale. Hanna hat Mühe, ein breites Grinsen zu unterdrücken. Sie beeilt sich, in ihren Kleinwagen zu kommen.
Immer, wenn sie bei Sturm die Hauptstraße entlangfährt und neben dem Ortsschild »Nordstrand« in den schmalen, gepflasterten Weg abbiegt, der zu ihrem Häuschen führt, erinnert sie sich an den Tag, an dem sie zum ersten Mal in das Küstenörtchen hineingefahren ist. Dann atmet sie tief durch und wünscht sich, niemals wieder dem Menschen gegenüberzustehen, vor dem sie hierher geflüchtet ist.
Die Aussicht auf den herannahenden Winter stimmt sie depressiv. Sturmböen wühlen das Meer auf, genau wie an dem Tag, an dem sie angekommen ist. Unwillkürlich fasst sie auf die Stelle an ihrem linken Schlüsselbein, an der die Kleidung die Narbe verbirgt, die damals noch frisch und von einem großen Pflaster bedeckt war.
Entschlossen schüttelt sie die Erinnerungen ab und lenkt den Wagen zügig die kurvenreiche Straße entlang. Eigentlich ist es nur ein schmaler, gepflasterter Weg, der zu den drei kleinen Ferienhäusern mit Blick über den Deich auf das Wattenmeer und den Strand führt. Zwei werden im Sommer wochenweise vermietet, das dritte hat sie gekauft, nachdem sie eine Weile darin gewohnt und sich täglich wohler gefühlt hat. Der Abstand zu den Nachbarhäusern beträgt fast hundertfünfzig Meter. Aus ihren Fenstern blickt sie nur auf Wiesen, Waldstreifen und das Meer, sodass sie das Gefühl hat, ganz einsam zu wohnen.
»Fuck!« Abrupt tritt Hanna auf die Bremse, streckt die Arme durch und umklammert das Lenkrad. Direkt hinter der Kurve parkt ein Auto halb auf der Straße. Es scheppert, und mit einem heftigen Ruck kommt ihr Wagen zum Stehen.
»Verdammt! So ein Mist!« Sie reißt die Tür auf. »Welcher Esel stellt sich denn so bescheuert hin?« Stirnrunzelnd betrachtet sie den Schaden. Ihre Stoßstange hat eine hübsche Beule in den Kotflügel des anderen Autos gedrückt. Oh Mann! Fuck! Fuck! Fuck!
Sie vergräbt die Hände in den Jackentaschen, stemmt sich gegen den eisigen Wind und sieht sich um. Rechts biegen sich Gräser und Büsche im Sturm, über die sie freien Blick auf den Deich und das Meer hat, links grenzt ein kleiner, lichter Wald aus Birken und Kiefern an die Straße. Kein Mensch ist zu sehen. Missmutig bolzt sie mit dem Fuß einen faustgroßen Stein zur Seite.
Das Kennzeichen des großen Kombis ist fremd. Anscheinend hat sich trotz des Wetters ein Tourist nach Nordstrand verirrt.
Sie wird den Unfall der Polizei melden müssen, wenn sie nicht stundenlang auf den Besitzer des Wagens warten will. Verdammt. Das ist nicht gut. Jedes Auftauchen ihres Namens in irgendwelchen Akten kann gefährlich werden. Als sie sich in ihr Auto setzt, um den Plan widerwillig in die Tat umzusetzen, sieht sie im Rückspiegel einen Mann zwischen den Bäumen heraustreten. Sie wirft das Handy zurück auf den Beifahrersitz, steckt das Pfefferspray in ihre Jackentasche und steigt wieder aus.
Mit verschränkten Armen lehnt sie sich an ihren Kofferraumdeckel und mustert den Typen, während er näher kommt. Er ist mindestens zehn Zentimeter größer als sie und schlank, trägt eine verwaschene Jeans, Turnschuhe und eine graue Windjacke. Um seinen Hals hängt eine Angeber-Spiegelreflexkamera mit langem Objektiv. In ihrem Magen bildet sich ein Kloß. Das sieht verdammt nach Presse aus, und ein Journalist ist nun wirklich der Letzte, dem sie begegnen will. Okay, keine Panik. Vielleicht ist er auch nur ein ambitionierter Hobbyfotograf.
Kurze haselnussbraune Haare verleihen ihm ein strenges Aussehen. Er hält den Kopf gesenkt, um sich gegen den Sturm zu schützen, sodass Hanna seine Gesichtszüge erst erkennen kann, als er nah vor ihr stehen bleibt und sie zu ihm aufschaut.
Sie starrt in zwei dunkelbraune durchdringende Augen unter dichten Brauen, die sie dazu bringen, reflexartig das Gesicht zu senken. Ein Schauer rieselt durch ihre Adern, als würde sein Blick elektrische Schwingungen in ihre Nervenbahnen jagen. Verärgert sieht sie sofort wieder hoch und ertappt ihn dabei, wie er unverhohlen ihren Körper mustert. Was für eine Frechheit! Sie verschränkt die Arme vor der Brust und richtet sich entschlossen auf.
»Ist das Ihr Auto?«, fragt sie mürrisch statt einer Begrüßung.
Der Fremde nickt und öffnet den Mund.
»Wie kann man nur so bescheuert parken?«
Er schließt die Lippen, zieht eine Augenbraue hoch, wendet langsam den Kopf und erkennt offenbar erst jetzt, was passiert ist. Er tritt einen Schritt zur Seite, beugt sich vor und betrachtet in aller Ruhe den Schaden. Seine Gelassenheit facht ihren Zorn an. Sie ist kurz davor, ihn am Ärmel zu packen und zu schütteln. Nachdem er sich wieder aufgerichtet hat, blickt er die Straße entlang zurück und nickt. Als er sich endlich erneut ihr zuwendet, spürt Hanna augenblicklich abermals den Drang, seinem Blick auszuweichen. Ihre Finger krampfen sich um ihre Oberarme, während sie stoisch auf seine Nase über weich geschwungenen Lippen und dem hart ausgeprägten Kinn starrt.
»Wohl etwas eilig die Kurve geschnitten?«, fragt er schließlich trocken. Seine Stimme vibriert tief in ihrem Unterleib.
»Was?« Wutschnaubend holt sie Luft, um ihm ordentlich die Meinung zu sagen, da trifft sie eine fiese Sturmböe, die sie fast umwirft und ihnen beiden Sand ins Gesicht schleudert.
Der Typ flucht irgendwas Unverständliches, fasst sie am Arm und schiebt sie rüde in Richtung Auto. »Steigen Sie ein.«
Ehe Hanna darüber nachdenken kann, ob sie seiner Aufforderung folgen will, sitzt sie schon auf dem Sitz und er schlägt die Tür hinter ihr zu. Kurz darauf öffnet er die andere Seite und lässt sich auf den Fahrersitz fallen.
»Mann, was für ein Lärm. Ist das hier öfter so stürmisch?«, brummt er in die plötzliche Stille.
»Sie sind hier an der Nordsee, was dachten Sie denn, was da im Herbst für ein Wetter ist?«
Ihre Hand umklammert das Pfefferspray in der Jackentasche, und ihr Herzschlag dröhnt in den Ohren, aber aus dem Wagen zu flüchten, hieße, dem Arsch den Sieg zu überlassen.
»Können Sie mal einen Gang zurückschalten?«, fragt er trocken. »Eventuell so in den Tonfall der … Zivilisation?« Seine Stimme trieft vor Ironie, was sie um gefühlte hundert Stufen aggressiver stimmt.
»Eventuell«, sie betont das Wort genauso spöttisch wie er, »sollten Sie mal zivilisiertes Parken üben.«
Er zieht die Brauen hoch. »Ähm … ich stehe hier ziemlich korrekt. Wenn Sie auf Ihrer Seite geblieben wären, hätten Sie mein Auto heil gelassen.«
»Das hier ist ein Privatweg, da haben Sie überhaupt nichts zu suchen!«
Fuck! Der Scheißkerl hat natürlich recht. Es ist definitiv ihre Schuld. »Ja, ja, ich bezahle den Schaden«, faucht sie eilig, bevor er etwas erwidert und sie sich in ihrer Wut noch mehr zum Affen macht, »geben Sie mir Ihre Adresse, damit ich mich melden kann.«
Seufzend lehnt er sich zurück. »Die nächsten drei Wochen wohne ich in dem vorletzten Haus an dieser Straße. Mein Name ist Simon Vorfeld.«
Hanna nickt. »Ich sage meiner Versicherung Bescheid.« Bloß weg hier. Sie fasst an den Türgriff.
»Hey«, er lacht trocken, »So geht das nicht. Halten sie mich für bescheuert?« Er greift an ihren Unterarm. Die unerwartete Berührung lässt sie zusammenzucken. Ihr Körper versteift sich, und sie schreit auf. Sofort zieht er seine Hand zurück. »Nicht doch. Keine Angst.«
Panisch ringt sie um Atemluft, die erst nach einer gefühlten Ewigkeit wieder viel zu zögerlich in ihre Lungen strömt.
Er breitet in einer besänftigenden Geste die Arme aus. »Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken.«
Am ganzen Körper zitternd, reißt Hanna die Tür auf, springt raus und atmet tief durch. Alles gut. Sie hat überreagiert. Mist! Was bildet der Arsch sich auch ein, sie einfach anzufassen? Verdammt!
So gelassen wie möglich beugt sie sich vor. »Entschuldigung, ich bin in Eile und habe nicht nachgedacht. Mein Name ist Hanna Winter. Ich wohne im letzten Haus der Straße. Meine Versicherung wird die Rechnung bezahlen.«
Er mustert sie einen Moment lang mit gerunzelter Stirn, dann nickt er. »Okay, ich lasse den Wagen reparieren und melde mich hinterher, einverstanden?«
»Ja.«
»Gut, und noch mal sorry wegen des Schre…«
»Schon gut.«
Sie hastet zu ihrem Wagen, springt hinein, startet den Motor und setzt zurück, um an ihm vorbeizufahren. Als sie aufs Gaspedal tritt, drehten die Reifen durch und schleudern Steine hoch. Fuck!
Zu Hause verstaut sie die Lebensmittel, bedient die Kaffeemaschine und zieht sich bequeme Klamotten an. Nur langsam kann sie sich beruhigen. Warum hat sie sich bloß so aufgeführt? Der Typ muss sie für eine Furie halten. Scheiß drauf. Sie gießt sich einen Kaffee ein und lässt sich vor ihrem Schreibtisch nieder. Wie immer schweift ihr Blick durch das Fenster, während sie darauf wartet, dass ihr Laptop startet. Sonnenstrahlen mogeln sich durch die schnell vorbeiziehenden Wolkenberge in den herbstlichen Garten, und das tief heruntergezogene Reetdach wirft einen langen Schatten. Hanna liebt ihr Häuschen und die flache Anhöhe, auf der es erbaut worden ist. Sie hat von hier aus eine fantastische Sicht auf das Meer, dessen Wellen heute weiße Schaumkronen bilden.
Das Haus besteht nur aus drei Räumen. Ein etwas größeres Wohnzimmer mit integrierter Küchenecke und Tresen, ein kleines Schlafzimmer und ein Kinderzimmer, das sie als Abstellkammer benutzt.
Vom Hauptraum aus führt eine gläserne Doppeltür auf eine geflieste Terrasse. Schräg davor steht der Schreibtisch, an dem sie ihre Geschichten tippt.
Der Sturm gewinnt an Kraft. Schäumende Gischt peitscht über den Strand und lässt die Flut zu einem wild brodelnden Ungeheuer werden. Das Schöne am Herbst ist, dass die Touristen den Ort verlassen. Sie fühlt sich in ihrem kleinen Nest ungestört und weitab der Welt. Nur der arrogante Arsch mit dem Kombi macht ihr einen Strich durch die Rechnung. Drei Wochen lang direkter Nachbar, so ein Scheiß!
In ihrem Unterleib flattern ein paar Schmetterlinge, denen sie umgehend die Starterlaubnis entzieht. Er ist genau der Typ Mann, auf den sie abfährt – falsch, auf den sie abfahren würde, hätte sie noch irgendein Interesse am anderen Geschlecht. Der Blick aus seinen dunklen Augen über den markanten, glatt rasierten Wangen ist heiß und deshalb gefährlich. Sie kennt diesen Blick. Sie hat genügend Erfahrungen damit. Nie wieder!
Der Computer piept arbeitsbereit. Sie öffnet das aktuelle Skript und liest die letzten Sätze, die sie am Abend zuvor geschrieben hat.
Moni entfernte sich einen Schritt in Richtung Tür.
»Halt, hiergeblieben«, befahl er und griff nach ihrem Arm, »jetzt ist Schluss mit deiner Hinhaltetaktik.« Er schob sie zum Bett, warf sie rücklings darauf, beugte sich über sie und drückte ihre Hände rechts und links neben ihr auf die Matratze.
»Hey, was fällt dir ein?«, protestierte sie mit halber Kraft, war sie doch insgeheim froh, dass er sie endlich anfasste.
»So gefällt mir das besser.« Er lächelte und genoss sichtlich den Blick auf ihren sich unter ihm windenden Körper.
Sie senkte die Lider, während sie mit klopfendem Herzen darauf wartete, seine Lippen zu spüren.
»Na, möchtest du, dass ich dich loslasse?«
Ihre Wangen röteten sich. »Nein, verdammt noch mal, nein, ich will nicht, dass du mich loslässt.«
»Okay.« Aufreizend langsam näherte er sich ihrem Gesicht und berührte fast unmerklich ihre Lippen, sodass sie nicht anders konnte, als sich ihm entgegenzustrecken, um mehr von seinem Mund zu erobern.
Sie erlebt die Szene wie einen Film vor ihrem inneren Auge, und plötzlich sieht ihr Romanheld Tom genauso aus wie der scheiß Fremde. Fuck! So was ist ihr ja noch nie passiert.
Versonnen blickt sie auf die drei Bücher, die sie auf dem schmalen Regal an der Wand wie Bilder nebeneinandergestellt hat. Sie kann stolz auf sich sein. Inzwischen arbeitet sie an ihrem vierten Liebesroman, dabei hat sie mit dem Schreiben erst begonnen, als sie nach Nordstrand gezogen ist. Die Lektüre eines Taschenbuches, das andere Gäste in dem Ferienhäuschen zurückgelassen hatten, hat sie auf die Idee gebracht, es selbst zu probieren. Der Debütroman war innerhalb von wenigen Wochen getippt, doch erst, nachdem sie sich via Internet Grundlagen des Romaneschreibens angeeignet und die Geschichte noch einmal gründlich überarbeitet hat, war er tatsächlich von einem Verlag veröffentlicht worden.
Anfangs lebte sie in Nordstrand von ihren knappen Ersparnissen. Mittlerweile sind ihre Einnahmen aus der Autorentätigkeit weit mehr als nur ein ausreichendes Einkommen. Die Summe auf ihrem Sparbuch wächst kontinuierlich. Das fühlt sich verdammt gut an.
Ihr Debütroman verkaufte sich ordentlich, das zweite Buch ziemlich gut und das dritte entwickelt sich zu einem Bestseller. Nun hat ihre Lektorin bereits gefragt, wann der nächste Roman zu erwarten sei.
Hanna liebt es, Geschichten zu erfinden. Kaum formuliert sie den ersten Satz eines Kapitels, schon ist sie mittendrin in der Handlung und raus aus der Realität. Es ist, als würde sie in ihrem eigenen Kinofilm die Hauptrolle spielen und faszinierende Szenen mit einem Traummann erleben … und jetzt poltert der fremde Arsch in ihre heile Romanwelt. Was für ein Mist!
Die Stunden vergehen. Hanna ist Moni und unsterblich in Tom verknallt. Sie will endlich eine heiße Liebesnacht mit ihm verbringen. Glücksgefühle fluten ihr Herz, sie ist erregt und feucht, so sehr lebt sie in ihrem Roman.
Es klingelt, und sie zuckt zusammen. Während des Schreibens auf dem hellen Monitor ist ihr nicht aufgefallen, dass es bereits dunkel geworden ist. Als sie das Licht einschaltet, bimmelt es zum zweiten Mal. »Ja doch!« Genervt reißt sie die Haustür auf.
»Guten Abend, ich hoffe, ich störe nicht.«
Augenblicklich verdreifacht sich der Takt ihres Herzschlages. Irritiert starrt sie ihn an. Noch gefangen in ihrem Roman hat sie als ihre Hauptdarstellerin Moni gerade erlebt, wie Tom ihr den BH ausgezogen und sie in einen Strudel der Erregung gerissen hat. Und dieser Tom sieht seit heute Nachmittag aus wie er, der Arsch!
»Doch, tun Sie, ich arbeite«, faucht sie. Warum hat sie aufgemacht, ohne vorher wie gewohnt durch den Spion zu sehen? So ein Mist!
»Sorry, hätte ich das gewusst, hätte ich es niemals gewagt, an Ihrer Tür zu klingeln.«
Hanna presst die Lippen zusammen. Mister Oberarsch kann sich seine Ironie an den Hut stecken. »Schon gut. Was wollen Sie?«, würgt sie hervor.
Er grinst. »Können Sie mir ein paar Kaffeeböhnchen leihen? Ich habe vergessen, welchen zu kaufen, und nun hat der Laden im Dorf zu.«
»Moment.« Sie läuft zum Küchentresen und greift nach der angefangenen Packung unten im Regal.
»Das ist nett«, hört sie ihn direkt hinter sich, zuckt zusammen und fährt herum.
Er lächelt, nein, er grinst … ätzend … spöttisch. »Sind Sie immer so schreckhaft?«
Ihr Magen verkrampft sich. Allein durch seine Körpergröße, die breiten Schultern und die gelassene Ruhe seiner Bewegungen dominiert er den Raum, er nimmt ihn in Besitz, und sie kommt sich in ihrem eigenen Wohnzimmer klein und ungelenk vor. »Betreten Sie immer uneingeladen fremder Leute Haus?«
Er legt den Zeigefinger an die Lippen und schüttelt den Kopf. »Seltsam, ich war sicher, Sie hätten mich hereingebeten.« Wieder dieses Grinsen.
Ruckartig hält sie ihm den Kaffee entgegen. »Hier, nehmen Sie und verschwinden Sie.«
Er hat es ganz offensichtlich nicht eilig, sieht sich ungeniert um, bevor er lässig nach der Packung greift. »Merci. Was arbeiten Sie?«
»Buchhaltungsservice.«
Er blickt noch einmal zu ihrem Computer und zurück zu ihr. »Aha … interessant.«
»Ich muss jetzt weitermachen, dringender Termin.«
Seine Mundwinkel zucken. »Dann will ich nicht länger stören. Danke für den Kaffee. Ich bringe morgen neuen vorbei.«
»Nicht nötig.« Sie begleitet ihn hinaus und schließt die Tür. Ihr Herzschlag rast. Was zum Teufel war das?
Kapitel 2
»Herrlich.« Entspannt lehnt sich Hanna zurück und streckt sich. Ihre Hauptdarsteller haben eine mehrseitige romantische Nacht verbracht und damit einen der ersten Höhepunkte des Romans erlebt. Sie fühlt Monis Glück im eigenen Körper, und nur langsam findet sie den Weg in die Realität. Seufzend starrt sie durch das Fenster auf das Meer. Mentales Erleben ist leider doch nicht so wie echtes Leben. Eine Liebesgeschichte wie die ihrer Protagonisten war ihr nie vergönnt und wird es auch nie sein.
Ganz automatisch legt sie eine Hand auf ihren Pullover und spürt darunter die Konturen der hässlichen Narbe, die von der Brust über das Schlüsselbein bis in die Halsseite hineinragt. Vier Jahre ist es her, dass Dennis versucht hat, sie zu erstechen, an diesem furchtbaren Abend in Hannover. Aufgeschreckt vom Lärm in ihrer Wohnung riefen die Nachbarn die Polizei. Das war Hannas Rettung. Dennis flüchtete, als das Martinshorn draußen lauter wurde, und sie brachte man ins Krankenhaus, wo die Wunde genäht wurde. Am nächsten Tag packte sie ihre Koffer und fuhr los, ein Aufbruch, der zum Beginn ihres neuen Lebens wurde. Unwillkürlich läuft ein fieses Schaudern ihren Rücken hinunter.
Sie braucht eine Pause und frische Luft. Der Sturm ist vorbei. Die Sonne strahlt von einem fast klaren Himmel. Sie öffnet die Terrassentür, tritt vor und atmet tief die salzige Seeluft ein, dann sieht sie ihn.
Fuck! Ihr Körper versteift sich. Was macht der Arsch da?
Sie springt zurück in das schützende Halbdunkel des Wohnzimmers und lugt angespannt hinaus. Der Fremde steht etwa dreißig Meter entfernt und richtet seine verfickte Kamera auf ihr Haus.
Augenblicklich ist die Panik da. Alles in ihr verkrampft sich, die Gedanken überschlagen sich. Was soll das? Weiß der Typ was? Hat er mit Dennis zu tun?
Sie schlägt sie die Terrassentür zu und beobachtet, wie er den Deich entlang weiterschlendert und dabei immer wieder in ihre Richtung sieht.
Hannas Kloß im Hals wächst. Ihre Knie zittern. Sie lässt sich auf den Stuhl vor ihren Schreibtisch sinken und klammert sich an der Tischkante fest. Der Gedanke, Dennis könnte sie ausfindig gemacht haben, raubt ihr den Atem, das Blut in ihren Adern gefriert.
Sie atmet tief durch. Ruhig bleiben, bestimmt ist er harmlos und wollte bloß die urigen Ferienhäuser fotografieren. Sie darf sich nicht verrückt machen. Unwillig schüttelt sie den Kopf. Nein, Dennis kann sie nicht gefunden haben. Den ganzen Sommer laufen Touris mit Fotoapparaten über den Deich, dann regt sie sich auch nicht auf. Sie wird keine Panik bekommen. Basta.
Es klingelt an der Haustür. Sie lugt durch den Spion und zuckt zurück. Der Fremde. Regungslos wartet sie, dass er abhaut. Andererseits, vermutlich hat er sie auf der Terrasse gesehen und wird erst recht misstrauisch, wenn sie sein Klingeln ignoriert. Verflucht! Sie ist ja paranoid! Entschlossen reißt sie die Tür auf.
»Jetzt störe ich Sie schon wieder.« Er lächelt mit diesem typischen selbstsicheren und gelassen Ausdruck, mit dem Typen wie er jede Frau ins Bett kriegen. Augenblicklich starten die Schmetterlinge in ihrem Bauch zu einem Rundflug. Wie sie das hasst! Sie presst die Lippen aufeinander und starrt ihn an.
Sein Blick wandert unverhohlen über ihren Körper. Seine Mundwinkel zucken.
»Ja, und?«
»Ich war spazieren, habe anscheinend meinen Schlüssel verloren und komme nicht mehr ins Haus.« Er zuckt mit den Schultern. »Das Handy liegt in der Küche, ich dachte, im Urlaub brauche ich es nicht.« Er neigt den Kopf und lächelt so schelmisch wie ein kleiner Junge, der genau weiß, dass erwachsene Frauen ihm nichts abschlagen können, weil er so süß ist. »Würden Sie für mich meinen Vermieter anrufen?«
Widerwillig nickt sie. »Kommen Sie rein.«
»Verzeihung … sagten Sie: Kommen Sie rein?«
»Ja.«
»Gut, ich wollte nur sichergehen, dass ich nicht …«
»Kommen Sie schon«, faucht sie, »Tür zu! Oder meinen Sie, ich heize zum Spaß?« Sie wendet sich um und marschiert vor ihm her hinein. Ihr Herz hämmert so laut, dass er es vermutlich hört und sich köstlich darüber amüsiert. In ihrem Rücken kribbelt es. Er soll gefälligst Abstand halten! Was, wenn er sie jetzt überfällt … Entschlossen drückt sie die Schultern zurück. Er ist ein harmloser Touri, verdammt.
Sie greift zum Telefon. Er bleibt im Türrahmen stehen, lehnt sich lässig gegen das Holz und lässt seine Blicke durch den Raum schweifen. Sie wählt und hofft inständig, dass er das Zittern ihrer Hände nicht bemerkt. Nach kurzem Klingeln hebt Hans Minsen ab. Sie schildert ihm das Problem, und er verspricht, gleich mit dem Ersatzschlüssel zu kommen.
Sie legt auf. »Er kommt. Wohnt nicht weit weg. Dürfte nicht mehr als fünfzehn Minuten dauern.«
»Danke.«
Angreifen will er sie definitiv nicht, das hätte er schon getan. Aber wieso die Fotos? »Ich habe Sie vor einer Stunde da draußen gesehen. Sie haben mein Haus fotografiert«, platzt es aus ihr heraus. Mit Argusaugen beobachtet sie sein Mienenspiel. Er fühlt sich anscheinend nicht ertappt, sondern schickt ein verflixt charmantes Lächeln direkt in ihren Unterleib. Wo lernen diese scheiß Typen das?
»Stimmt. Es ist wunderschön, der Garten, das urige Häuschen mit dem tief heruntergezogenen Dach und dahinter die hohen Bäume.« Er sieht ihr in die Augen und verzieht die Mundwinkel. Es macht ihm Spaß, sie zu irritieren. Mistarschbüffel.
Hanna strafft sich. »Kein Problem. Möchten Sie einen Kaffee?«
Wieso bietet sie ihm Kaffee an? Ist sie denn völlig bescheuert?
»Das Angebot ist sehr nett, aber Sie brauchen das nicht zu tun. Sie kennen mich ja gar nicht. Ich warte lieber draußen.« Sein Adamsapfel an seinem kräftigen Hals bewegt sich, und seine geschwungenen Lippen … Ihre Haut prickelt und ihre Brustwarzen werden hart.
Sein Blick streift den Computer. »Ich störe schon wieder.« Er nickt ihr zu und wendet sich Richtung Tür.
»Ich bin heute nicht in Eile«, platzt es aus ihr heraus. Sie dreht sich der Küchenecke zu und zeigt auf einen der Barhocker am Tresen. »Möchten Sie sich setzen? Zucker? Milch?«
»Einfach schwarz, bitte.«
Sie reicht ihm den Becher, holt vom Schreibtisch ihren eigenen und klappt dabei den Laptop zu.
»Bei Ihnen sieht es genauso aus wie bei mir drüben«, stellt er fest, als sie sich schräg neben ihn auf den anderen Hocker setzt.
»Ja, die Häuser in dieser Straße sind alle gleich eingerichtet. Meins war auch ein Ferienhaus, bevor ich es gekauft habe.«
Sein Blick fällt auf das schmale Regal mit ihren drei Romanen. Warum starrt er da so lange hin? Es sind Frauenromane, die interessieren einen Mann nicht.
Er sieht sie an, beugt sich vor, lehnt die Unterarme auf den Tresen, und der Hauch eines angenehmen Aftershaves steigt ihr in die Nase. Sein Blick wird so intensiv forschend, dass sie sich bis in den hintersten Winkel ihrer Seele durchschaut fühlt. Sie rückt unauffällig von ihm ab und hebt ihren Kaffeebecher an den Mund. Krampfhaft überlegt sie, was sie sagen könnte. Sie ist es nicht mehr gewohnt, Small Talk mit fremden Menschen zu halten, und je länger sie schweigen, desto unangenehmer wird ihr die Situation. Ihm scheint die Stille nichts auszumachen. Scheiß lässige Selbstsicherheit. Er sieht sie wieder an, seine Augen sind wie Röntgenstrahlen. »Ist irgendwas an mir nicht in Ordnung?«
Er stutzt kurz und grinst. »Hab ich Sie angestarrt?« Er hebt die Kamera. »Sorry. Das passiert mir manchmal, es liegt an meinem Beruf. Als Fotograf versucht man immer, in einem Gesicht zu lesen.«
Augenblicklich zieht sich ihr Magen zusammen. »Arbeiten Sie für eine Zeitung?«
»Für eine Presseagentur. Wir verkaufen fertige Artikel an Zeitschriften. Aber hier bin ich rein privat im Urlaub.«
Presse! Wenn sie nur das Wort hört, wird ihr speiübel. Er darf auf keinen Fall merken, dass sie nervös ist, dass würde seine Spürnase reizen. So sind diese Typen, wittern sie eine Story, werden sie unerbittlich. »An mir gibt’s nichts Besonderes.«
Das spöttische Lächeln mal wieder. »Soll ich Sie fragen, ob ich Sie fotografieren darf?«
»Nein.«
Er zwinkert. »Alle Frauen wollen von mir fotografiert werden, wenn sie erfahren, dass ich Fotograf bin.«
Sie öffnet den Mund, um eine deftige Antwort zu geben, da hört sie von Weitem den Motor eines Autos. »Das ist Herr Minsen mit Ihrem Schlüssel.«
Er nickt und steht auf. »Danke für den Kaffee.«
»Bitte.«
Endlich allein, spürt sie den Schweiß in ihren Handflächen. Wer ist dieser Typ? Leidet sie unter Verfolgungswahn, oder ist ihr Misstrauen angebracht? Hält sie einen harmlosen Urlauber für gefährlich, oder ist ihr Exmann ihr auf der Spur?
Ruhelos wandert sie in ihrem kleinen Häuschen auf und ab, überdenkt alle Begegnungen mit dem Fremden, was sie aber nicht weiterbringt.
Jetzt ist Schluss! Er ist harmlos. Sie sieht Gespenster, weil sie schon viel zu lange wie ein Eremit dahinvegetiert.
Kapitel 3
Simon liegt in seinem Ferienhaus quer über dem Bett. Der Kachelofen im Wohnraum bullert und verbreitet hochsommerliche Wärme. Neben ihm steht der eingeschaltete Laptop. Er hat begonnen, die Notizen seiner Recherchen zum Pseudonym Romy Scott zu verarbeiten. Was für ein glücklicher Zufall, dass er ausgerechnet dieses Haus gemietet und ihm genau die Person, die er suchte, eine Beule ins Auto gefahren hat.
Erst, nachdem er die Besitzerin des Dorfladens über die Frau in seinem Nachbarhaus ausgefragt hat, ist ihm der Verdacht gekommen, dass Hanna Winter die gesuchte Schriftstellerin sein könnte. Der Blick auf ihren Laptop stützte seine Vermutung. Außerdem noch die drei Bücher in ihrem Regal und ihre völlig unglaubwürdige Aussage, sie lebe von einem Buchhaltungsservice – mehr Hinweise braucht er nicht.
»So eine giftspuckende Furie schreibt also diesen Schund. Ob die überhaupt jemals mit einem Mann Sex hatte?«
Das Handy klingelt. »Vorfeld. – Hi Mike! Na, vermisst ihr mich in der Redaktion?«
»Nee, hier fehlst du niemandem, genieß deine Ferien. Wollte bloß mal wissen, wie es so läuft.«
»Hey, das ist hier kein Urlaub, sondern schwierige Recherche, und ich war erfolgreich. Die berühmte Romy Scott wohnt im Nachbarhaus.«
»Tatsächlich? Wie hast du das so schnell herausgefunden?«
»Zufall. Sie hat mir das Auto kaputt gefahren.«
Mike lacht. »Was hat sie?«
Gut gelaunt erzählt er von seinem ersten Zusammentreffen mit der gesuchten Autorin, und dass er danach bereits zweimal unter einem Vorwand bei ihr war, um sicherzugehen, an der richtigen Adresse gelandet zu sein.
»Und wie ist sie so?«
»Langweilig, hässliche Klamotten, strähnige Haare, nicht geschminkt, verklemmt, ständig nur schlecht gelaunt und unfreundlich. Wenn sie sich ein bisschen Mühe geben würde, könnte sie ganz hübsch aussehen, aber so …«
Mike lacht. »Du willst also nicht mit ihr flirten?«
»Weiß ich noch nicht. Im Moment recherchiere ich in ihrer Vergangenheit. Sie schreibt erst seit vier Jahren. Was war vorher? Im Internet findet man keine Hanna Winter – das ist ihr richtiger Name.«
»Ich kann für dich in den Zeitungsarchiven stöbern.«
»Ja, tu das. Ich beobachte sie in den nächsten Tagen, mache ein paar Fotos und schau mal ab und zu in ihren Briefkasten.«
*
Hanna geht spazieren, nein, sie marschiert im Stechschritt den Deich entlang. Sie findet keine Ruhe, seit der Arsch ihr Leben durcheinanderbringt.
Sie wählt den Weg, der an seinem Ferienhaus vorbeiführt. Sie will das nicht, aber wie magnetisch angezogen biegt sie in seine Richtung ab. Er hat ihren Hormonhaushalt durcheinandergebracht. Es kribbelt, sobald sein Gesicht vor ihren inneren Augen auftaucht, dabei ist er ein gefährlicher Pressetyp, der Kontakt zu ihm könnte sie ihr Leben kosten.
Sie erreicht das Haus und sieht sich, nervös auf der Unterlippe kauend, um. Sein Auto ist nicht da. Die Gelegenheit muss sie nutzen. Vorsichtig lugt sie durch das große Fenster der Terrassentür. Auf dem Küchentresen liegt die Kamera mit dem langen Objektiv. Daneben steht ein benutzter Kaffeebecher. Sie versucht, mehr zu erkennen, stößt gegen die Tür und merkt, dass sie nur angelehnt ist. Ihr Herz hämmert bis in den Hals hinein. Das ist die Chance, ein für alle Mal Klarheit zu bekommen.
Sachte zieht sie die Tür auf und tritt ein. Auf dem Couchtisch liegen ein paar Zeitschriften, und über einem Sessel hängt unordentlich ein Sweatshirt. In der Ecke entdeckt sie eine geöffnete Fototasche mit einer weiteren Kamera, diversen Objektiven und vielem Zubehör. Schleppt ein Fotograf seine vollständige Ausrüstung mit in den Urlaub? Wenigstens liegt nirgends eine Waffe rum, ein Auftragskiller, der sich als Pressefuzzi tarnt, ist er wohl nicht.
Okay. Sie wird nachsehen, was für Fotos er gemacht hat, und wenn sie da nicht drauf ist, sofort wieder verschwinden. Vorsichtig greift sie nach dem teuren Fotoapparat und fummelt an den Tasten rum, um sie einzuschalten.
»Suchen Sie etwas Bestimmtes?«
Zusammenzucken und sich Umdrehen passieren als eine Bewegung. Fassungslos starrt sie zu ihm auf. Er lehnt lässig in der Tür zum Schlafzimmer und hat die Arme vor der Brust verschränkt, vor einer nackten Brust.
»Die Tür war offen«, stößt sie hervor.
»Ach so, und das ist in diesem komischen Dorf hier eine Einladung zum Diebstahl, oder was?«
»Ich stehle nichts!«
»Nein, die Kamera ist Ihnen draußen entgegengelaufen und Sie haben ihr den Weg nach Hause gezeigt. Alles klar.« Seine Stimme trieft vor Ironie.
Hannas Wangen glühen. Sie will etwas entgegnen, doch als sie den Mund öffnet, hebt er schon eine Hand.
»Geben Sie her, bevor Sie sie noch fallen lassen.«
Sie kneift die Lippen zusammen und hält ihm den Fotoapparat entgegen. Ihre Finger zittern. Fuck! Er nimmt sie und dreht sie, kritisch begutachtend, in alle Richtungen.
»Keine Sorge, nichts passiert«, faucht sie und will hinauslaufen, aber der Arsch ist schneller. Gleichzeitig erreichen sie die Terrassentür. Ehe sie reagieren kann, hat er schon von hinten den freien Arm um ihre Taille gelegt. Seine Berührung und die lässige Kraft, gegen die sie nicht den Hauch einer Chance hat, jagen einen heißen Blitz durch ihren Körper. Mit einem Satz springt sie von ihm weg und steht mitten im Wohnraum. Ihr Herzschlag rast. »Was soll das? Lassen Sie mich gehen!«
Er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, scheint die Situation zu genießen. Betont langsam schließt er die Tür und legt die Kamera zurück auf den Tresen. »Ich hätte gern eine Erklärung.«
In ihrem Kopf brennen Sicherungen durch, sie stürzt sich auf ihn, hebt das Knie, um seine Weichteile zu treffen, und findet sich eine Sekunde später mit dem Rücken an seinem kräftigen Körper klebend wieder. Mit einem Arm umschlingt er ihre Rippen unter den Brüsten, die andere Hand liegt bedrohlich fest an ihrer Kehle. Sie keucht und strampelt, doch seine Umklammerung ist gnadenlos. Ihre Finger verkrampfen sich in seinem Arm, zerren daran, um ihren Hals zu befreien.
»Gib auf, verdammt!«
Ihr Körper versteift sich, sie beißt die Zähne zusammen.
»Lass meinen Arm los, wenn ich dir nicht wehtun soll«, befiehlt er, und seine Stimme klingt nicht freundlich. »Jetzt!«
Zitternd zwingt sie sich, ihm zu gehorchen.
»Okay, und nun die Wahrheit.«
»Sie haben mein Haus fotografiert, und ich wohne hier allein«, will sie fauchen, doch es klingt eher wie heiseres Wimmern. »Da ist es ja wohl berechtigt, dass ich wissen will, ob Sie wirklich ein normaler Urlauber sind.«
»Was sollte ich denn sonst sein?«
Sie presst die Lippen zusammen. Er wartet auf eine Antwort, doch was soll sie sagen, ohne etwas zu verraten? Sie spürt seinen Atem und die Bewegungen seiner Muskeln an ihrem Rücken und dieses Aftershave … Sie ist ihm ausgeliefert, und ihre verfluchte, verflixte, masochistische Ader vollführt einen Freudentanz. Sie ist feucht. Ihre Brustwarzen drücken sich hart gegen den Stoff des BHs, und das bringt sie näher an den Rand eines Panikanfalls als die Angst vor seiner journalistischen Spürnase.
»Bitte lass mich los«, wispert sie.
»Keine Angst, das mache ich, aber solltest du mich noch mal angreifen, werde ich sauer, klar?«
Sie schluckt. »Ja.«
Die Umklammerung löst sich. Mit einem schnellen Sprung flüchtet sie aus seiner Reichweite und dreht sich. Sie starrt ihm ins Gesicht. Der Arsch mustert sie so eindringlich, dass sie ihre Brüste mit den Händen verdecken will. Sie kann sich beherrschen, aber ihre rechte Hand greift in die Jackentasche und ertastet das Fläschchen mit dem Pfefferspray. Sein rechtes Auge zuckt.
Sie schaffte es nicht, seinem durchdringenden Blick standzuhalten. Er geht einen Schritt auf sie zu. »Nicht!« Panisch zerrt sie das Spray aus der Tasche und bedroht ihn damit.
Er bleibt stehen und runzelt ärgerlich die Stirn. »Das kann ja wohl nicht wahr sein!« Mit einem schnellen Griff hat er ihr das Fläschchen entwunden.
Ihre Beine beginnen zu zittern. Sie kann nicht mehr denken. Ihre Lunge zieht sich schmerzhaft zusammen. Sie schnappt nach Sauerstoff.
»Setz dich hin. Du bist ja ganz bleich, nicht dass du mir hier noch umkippst« Er weist in Richtung Sitzecke.
Hanna rührt sich nicht. Kalter Schweiß bildet sich auf ihrer Stirn, in ihren Ohren rauscht es, ihre Knie schmelzen wie heißes Kerzenwachs. Völlig planlos sucht sie Halt.
»Hinsetzen, hab ich gesagt!« Er springt vor und drückt sie auf einen Sessel. Kopfschüttelnd mustert er sie. »Erst aggressiv werden und dann vor Schreck eine Panikattacke kriegen. Nicht zu fassen!« Er atmet geräuschvoll aus. »Ich tu dir nichts. Schön atmen, klar? Tief ein und aus.«
Mit gerunzelter Stirn wirft er einen Blick auf die Spraydose, verdreht die Augen und lässt sie achtlos auf ihren Schoß fallen. Prüfend beobachtet er ihr Gesicht. »Geht’s wieder?«
Ihre Muskeln lösen sich aus der Erstarrung, Luft findet den Weg in ihre Lunge. Sie nickt ergeben und lehnt sich zurück. Als sie zu ihm aufsieht und ihr klar wird, dass sie ihm in jeder Hinsicht unterlegen ist, und er ihr trotzdem nichts antut, summt es so sehnsüchtig in ihrem Unterleib, wie sie es seit Jahren nicht erlebt hat. Sie will sich in seine Arme stürzen, damit er sie noch einmal so festhält. Sie will aufgeben und sich geborgen fühlen.
*
Simon betrachtet sie. Die Arroganz und die Verkniffenheit sind aus ihrer Körperhaltung verschwunden, stattdessen wirkt sie auf seltsame Art entspannt und starrt ihn an … sehnsüchtig? Das Wort kommt ihm in den Sinn und lässt seinen Schwanz zucken. Spinnt er? Er atmet tief durch.
»Okay. Ich tu dir nichts, und du tust mir nichts, sind wir uns da einig?«
Sie nickt und senkt den Kopf. »Ich war dumm, es tut mir leid.«
Er steht an den Schrank gelehnt da und überlegt, was er nun mit ihr anfängt. Die Frau ist ihm ein Rätsel, und dem will er unbedingt auf den Grund gehen. Er braucht ihr Vertrauen, dann findet er am einfachsten mehr über sie heraus. Ohne länger nachzudenken, greift er zur Kamera, schaltet sie ein und hält sie ihr hin. Er deutet auf den kleinen Knopf neben dem Display. »Auf den drücken, um zum nächsten Bild zu kommen.«
Deutlich überrascht zuckt Hannas Blick zu ihm hoch.
Er zwinkert, und zögernd nimmt sie die den Fotoapparat.
»Lass dir Zeit und zieh die Jacke aus. Kein Wunder, dass dir der Schweiß ausbricht, der Ofen heizt die Bude ein wie ein glühender Vulkan. Ich hole mal was zu trinken.«
*
Sie sieht ihm nach.
Er ist barfuß, trägt eine Jeans, und sein nackter Oberkörper ist … umwerfend sexy …
Die lästigen Schmetterlinge in ihrem Bauch schlagen vor Begeisterung Purzelbäume. So ein Mist! Schnell wendet sie den Blick ab, schält sich aus der Jacke und beginnt, die Fotos auf der Kamera zu sichten.
Als er mit Mineralwasser zurückkehrt, beachtet sie ihn nicht. Sie klickt von Bild zu Bild. Es sind alles Naturaufnahmen, Bäume, Blumen, das Meer bei Flut und das Watt bei Ebbe, einige Vögel, und von Weitem ist auch ihr Haus zu erkennen. Nachdem sie alles betrachtet hat, legt sie die Kamera vorsichtig auf den Tisch. »Das sind schöne Fotos. Tut mir leid, dass ich Sie verdächtigt habe.«
Er hält ihr ein Glas entgegen. »Trink.«
Sie gehorcht und weicht seinem Blick aus.
Als sie aufschaut, lächelt er schief. »Irgendwie war unser Kennenlernen etwas unglücklich. Ich schlage vor, wir fangen noch mal von vorn an. Ich heiße Simon, bin zweiundvierzig Jahre alt, wohne in Münster, seit Kurzem ziemlich frisch getrennt. Und«, er zwinkert, »Freunde duze ich in der Regel. Einverstanden?«
Sein Lächeln lässt warme, cremige Feuchtigkeit in ihr Höschen tropfen, und schon wieder prickelt die Haut am ganzen Körper. Das ist so peinlich. Unwillkürlich kneift sie die Knie zusammen.
Sie senkt den Kopf und hofft inständig, er merkt ihr nichts an. »Hanna«, krächzt sie, räuspert sich und greift schnell erneut zum Glas. »Ich tu das auch … ähm … duzen, meine ich … Freunde.«
»Okay, Hanna, was willst du von mir wissen?«
Sie überlegt fieberhaft. Was soll sie fragen, ohne zu viel von sich zu verraten? »Warum machst du um diese Jahreszeit hier Urlaub?«
»Meine Frau hat sich vor vier Monaten von mir getrennt. Ich wollte raus, suchte Einsamkeit, und ich mag diese Landschaft. Und du? Warum lebst du hier?«
Hanna zögert. Dass er Gegenfragen stellt, war ihre Befürchtung und gefällt ihr ganz und gar nicht. »Ich war ebenfalls eigentlich nur zum Urlaub hier und bin geblieben.« Sie lächelt nervös und zuckt mit den Schultern. »War auch nach der Trennung von meinem Mann.«
Er grinst. »Dann scheint dieses Nest wohl Scheidungsopfer anzuziehen.«
Sie muss glucksen, und ihr Blick fällt auf die große Kameratasche. »Sieht so aus. Warum hast du so viel Ausrüstung dabei?«
»Berufskrankheit. Vielleicht kann ich das eine oder andere Bild als Postkarte verkaufen. Wie lange lebst du hier schon allein?«
»Vier Jahre.«
»Wird das nicht langweilig?«
»Nein, ich mag die Einsamkeit.«
»Wo hast du vorher gewohnt?«
Ihre inneren Alarmglocken schrillen. »Ich muss gehen. Danke für das Wasser und noch mal … Entschuldigung. So was«, sie deutet zur Terrassentür, »mache ich eigentlich nicht.«
Eilig schlüpft sie in ihre Jacke, steckt die Spraydose in die Tasche und läuft zum Eingang.
Er steht ebenfalls auf und folgt ihr.