Kleines Islam-Lexikon
Geschichte · Alltag · Kultur
Herausgegeben von
Ralf Elger
unter Mitarbeit von
Friederike Stolleis
C.H.Beck
Wie kaum eine andere Weltreligion prägt der Islam alle Lebensbereiche der Gläubigen. Trotzdem ist er kein einheitliches Gebilde. Im Laufe seiner über 1400-jährigen Geschichte haben sich verschiedene Glaubensrichtungen und regional unterschiedliche islamische Kulturen herausgebildet. Dieses Lexikon erklärt in mehr als 250 Artikeln knapp und anschaulich alle zentralen Begriffe der islamischen Religionsgeschichte von den Anfängen bis heute. Es beschreibt die wichtigsten muslimischen Gruppen in der westlichen Welt und orientiert über das Verhältnis der Muslime zu Musik und Theater, Familie und Sexualität, Ernährung und Kleidung. Von den Nomaden Zentralasiens bis zu türkischen Rappern in Deutschland, von den aktuellen Problemen islamischen Familienrechts bis zum Salafismus: Der Benutzer findet präzise und zuverlässige Information.
Ralf Elger ist Professor für Islamwissenschaft an der Universität Halle-Wittenberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zum modernen Orient und zur islamischen Literaturgeschichte.
Vorwort zur Neuausgabe
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Hinweise zu Transkription und Aussprache
Die Autorinnen und Autoren
An Informationen über den Islam herrscht in der deutschen Öffentlichkeit kein Mangel. Massenmedien berichten so gut wie täglich über politische Entwicklungen in islamischen Ländern und Muslime im Westen. Immer neue Bücher erscheinen, welche islamische Geschichte und Gegenwart behandeln. Manche Autoren schreiben in islamkritischer Absicht, andere wollen «Vorurteile über den Islam ausräumen» und seine positiven Seiten hervorheben. Das Internet fügt eine unüberschaubare Menge an Äußerungen hinzu. Angesichts dessen erschien es für dieses neu bearbeitete Lexikon nicht sinnvoll zu versuchen, mit dem ständigen Strom an aktuellen Informationen mitzuschwimmen. Stattdessen konzentriert es sich auf islamkundliche Grundbegriffe und stellt wichtige islamische Persönlichkeiten vor. Islamkunde, so wie sie dieses Lexikon versteht, ist nicht allein Religionskunde. Auch Kultur und Gesellschaft in muslimischen Ländern werden behandelt. Viele Artikel betreffen anthropologische Themen, die in allen menschlichen Gesellschaften eine Rolle spielen und hier im Lichte des Islams betrachtet werden.
ʿAbduh, Muḥammad (1849–1905), Journalist, Religions- und Rechtsgelehrter sowie Großmufti (→ Mufti) von Ägypten, Ideengeber und Symbolfigur des → Reformislam. ʿA. entstammte einer unterägypt. Bauernfamilie. Nach dem Besuch einer Koran- sowie einer weiterführenden Religionsschule kam er 1866 nach Kairo an die Azhar. Hier durchlebte er eine «mystische Phase», bevor ihn 1872 der Kontakt mit Jamāl ad-Dīn al→ Afghānī die traditionellen Lehrinhalte in einem neuen, reformist. Licht sehen ließ. Al-Afghānī war es auch, der ihn an die europäische Literatur in arab. Übersetzung heranführte. Angeregt durch seinen Lehrer und die Lektüre westlicher Bücher schärfte sich ʿA.s Blick für die aktuellen polit. und gesellschaftlichen Probleme Ägyptens. 1876 entschloss er sich, Journalist zu werden, allerdings nicht ohne seine Studien an der Azhar mit dem Titel eines ʿālim (arab. → «Gelehrte») abgeschlossen zu haben. Neben seiner journalist. Tätigkeit erteilte er Privatunterricht und arbeitete als Lehrer an der neugegründeten Hochschule dār alʿulūm (arab. «Haus der Wissenschaften»). Kurz nach dem Regierungsantritt Taufīqs (reg. 1879–1892) wurde ʿA. entlassen und in sein Heimatdorf geschickt. Doch schon 1880 konnte er nach Kairo zurückkehren, wo man ihn zum Herausgeber der offiziellen Regierungszeitung al-Waqāʾiʿ al-Miṣrīya («Die ägypt. Vorkommnisse») ernannte. Unter seiner Federführung entwickelte sich dieses Journal zu einem Sprachrohr reformist. Ideen, das die Befreiung der Muslime von europäischer Hegemonie und die gleichzeitige Erneuerung des Islams aus eigener Kraft propagierte. Da ʿA. während des nationalist. Aufstandes gegen die Regierung unter Führung von ʿUrābī Pasha 1882 für die Oppositionellen Partei ergriff, musste er Ende desselben Jahres Ägypten verlassen. Über Beirut kam er 1884 nach Paris. Hier traf er wieder auf al-Afghānī und gab mit ihm zusammen die reformist. Zeitschrift alʿUrwa al-wuthqā («Das stärkste Band») heraus. Nach Zwischenaufenthalten in Tunis und Beirut gelangte er 1889 schließlich wieder nach Kairo. Rasch fand er eine Anstellung als → Kadi. Eine große Ehre und Auszeichnung für ʿA. war seine Ernennung zum ägypt. Großmufti im Jahre 1899. Dieses Amt hatte er bis zu seinem Tode 1905 inne. Während dieser Zeit schrieb er eine Reihe von theolog., jurist. und philolog. Werken und begann, einen umfangreichen Korankommentar zu verfassen, der von seinem Schüler Rashīd → Riḍā in dessen Zeitschrift al-Manār («Der Leuchtturm») veröffentlicht wurde. Gerade diese späten Werke stießen bei vielen Gelehrten auf vehemente Ablehnung und riefen einen Sturm der Entrüstung hervor. ʿA.s Gedanken werden bis heute von vielen reformist. Intellektuellen rezipiert. Viele teilen seine Forderungen nach einer Reform der muslim. Religion durch die Rückkehr zum ursprünglichen Islam, nach Anerkennung der Rechte der Bevölkerung gegenüber ihren (oftmals autoritären) Regierungen und nach einer Befreiung der islam. Länder von dem erdrückenden europäischen Einfluss. Westliches Gedankengut und grundlegende muslim. Vorstellungen müssen – so ʿA. – verinnerlicht und zu einer Synthese verarbeitet werden. Letzten Endes war er ein Gelehrter, der seine Argumente theolog. untermauerte und sich dabei auf Ibn Taimīya (gest. 1328), Ibn Qayyim al-Jawzīya (gest. 1350) und al-Ghazzālī (gest. 1111) berief. ʿA.s Meinung nach sollte die Reinigung des verderbten Islams durch eine graduelle Reform im Sinne einer Transformation der inneren moral.-religiösen Einstellung und der Neugestaltung des Erziehungswesens und nicht durch eine gewaltsame polit. Umwälzung vollzogen werden. (→ Reformislam, → Fundamentalismus, → Revolution) Co
Lit.: Adams, C. C.: Islam and Modernism in Egypt. A Study of the Modern Reform Movement Inaugurated by Muhammad Abduh, 1933. – Enayat, H.: Modern Islamic Political Thought, 1982. – Kedourie, E.: Afghani and Abduh. An Essay on Religious Unbelief and Political Activism in Modern Islam, 1966. – Büssow, J.: «Re-imagining Islam in the period of the first modern globalization: Muhammad ʿAbduh and his Theology of unity», A global Middle East (2015), 273–320.
Abraham (arab. Ibrāhīm oder al-khalīl, «der Vertraute»), Stammvater Israels und Prophet, die nach → Moses am zweithäufigsten im → Koran erwähnte alttestamentliche Gestalt: Er erscheint als Prophet (Suren 57:26, 37:83ff.) und als «erster Muslim», auf den sich → Muḥammad bei seiner Polemik gegen die Juden beruft, weil A. nach islam. Verständnis als der «erste Monotheist» gilt; der Islam wird daher im Koran auch als «Glaubensgemeinschaft A.s» (Suren 3:67, 16:123) bezeichnet. A. diente Muḥammad als Beispiel für die Abkehr vom Polytheismus und den Exodus (→ Hijra-Motiv). Nach islam. Überlieferung errichtete A. die → Kaaba in Mekka; das (beabsichtigte) Opfer seines Sohnes Ismael (arab. Ismāʿīl) ist Vorbild für das Opferfest (arab. ʿīd al-aḍḥā) während der → Pilgerfahrt. Das Grab A.s wird bis heute in Hebron (arab. al-khalīl) verehrt. Schö
Lit.: Firestone, R.: Journeys in Holy Lands. The Evolution of the Abraham-Ishmael Legends in Islamic Exegesis, 1990. – Busse, H.: Art. «Abraham», The Encyclopaedia of Islam, THREE.
Adam, Stellvertreter Gottes auf Erden und erster Prophet. Der Koran berichtet von A.s Erschaffung und der Vertreibung aus dem Paradies. Im islam. Verständnis ergibt sich daraus keine Erbsünde (Sure 6:164). Die islam. Überlieferung (→ Hadith) kennt viele Legenden über A., und in der → Mystik spielt er eine große Rolle; in der Prophetologie wurde → Muḥammad mit A. gleichgesetzt. Schö
Lit.: Schöck, C.: Adam im Islam. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Sunna, 1993. – Tottoli, R.: Biblical prophets in the Qurʾān and Muslim literature, 2002.
Adonis. Syrisch-libanesischer Lyriker und Intellektueller, mit bürgerlichem Namen ʿAlī Aḥmad Saʿīd Isbar. Seit seiner Jugend fasziniert vom Mythos des Auferstehungsgottes Adonis, wählte er diesen als Pseudonym. Aufgewachsen in einer traditionellen alawitischen Familie aus der Stadt Qassabin in Nordsyrien, besuchte er ab 1944 eine französische Missionsschule in der Stadt Tartus und nahm 1950 an der Universität Damaskus das Studium auf. Wegen seiner Mitgliedschaft in der Partei «Parti Populaire Syrien» (PPS) musste er elf Monate im Gefängnis verbringen, da diese Partei für die Ermordung des damals sehr populären syrischen Armeeoffiziers ʿAdnān al-Mālikī verantwortlich gemacht wurde. In den Libanon ausgewandert, nahm Adonis im Jahr 1963 die libanesische Staatsbürgerschaft an. 1973 promovierte er an der Université Saint-Joseph in Beirut und lehrte dann an der libanesischen Universität in Beirut. 1985 wanderte er nach Frankreich aus. Seitdem lebt er abwechselnd in Paris und Beirut. Er erhielt Lehraufträge in Paris sowie an den Universitäten in Genf, Cambridge und Princeton und weilte 2001/02 als Gastmitglied am Wissenschaftskolleg in Berlin. Bereits im Alter von 17 Jahren trat er mit einem Lobgedicht auf den Präsidenten des unabhängigen Syrien Shukrī al-Quwatlī hervor. 1950 erschien sein erster Gedichtband «Die Erde sprach» mit epischen Gedichten im Geiste der PPS-Ideologie. In Beirut schrieb er wie viele seiner Zeitgenossen surrealistische Poesie. Seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts trat Adonis durch Prosagedichte und Freier-Vers-Dichtung hervor. Formal und inhaltlich wendet sich seine Dichtung von klassisch-arabischer Poesie ab und zeigt sich von abendländischer Dichtung inspiriert. Seine Gedichte verwenden mythische Gestalten und mystische Symbole. In seinen Prosaschriften kritisiert Adonis das arabische Kulturerbe und beschreibt den Islam als Hindernis für Modernisierung und Säkularisierung der Gesellschaft. Wegen seiner kritischen Haltung zum «Arabischen Frühling» und seiner Verteidigung des Assad-Regimes wird Adonis von etlichen arabischen Intellektuellen scharf kritisiert. Aus manchen seiner Äußerungen lässt sich eine Rechtfertigung der Gräueltaten des Assad-Regimes ablesen. Die USA und der Westen streben seiner Meinung nach eine Zerstörung Syriens an. AS
Lit.: Adonis: Ein Grab für New York: Gedichte 1965–1971, übersetzt und herausgegeben von Stefan Weidner, 2004. – Weidner, S.: … und sehnen uns nach einem neuen Gott … Poesie und Religion im Werk von Adonis, 2005.
Afghānī, Jamāl ad-Dīn al- (1838/39–1897), Schriftsteller, Redner und polit. Aktivist, der trotz der wenigen Werke, die er verfasste, ein vielbewunderter Vorreiter des → Reformislam und des → Panislamismus des 20. Jh. war. Der wohl in Iran geborene und mit großer Wahrscheinlichkeit schiit. erzogene A. erhielt seine erste Ausbildung an Schulen in Asadabad, Qazvin und Teheran. Anschließend begab er sich zu Studienzwecken zu den schiit. Schreinen im osman. Irak. Über Indien führte sein Weg dann in den 1860er Jahren nach Mekka, nach Persien und nach Afghanistan, von wo er jedoch 1868 aufgrund seiner polit. Aktivitäten ausgewiesen wurde. Ein Jahr später gelangte A. über Kairo nach Istanbul. Innerhalb kurzer Zeit fand er Zugang zu hohen Hofzirkeln und Reformerkreisen. Doch auch hier zwang man ihn, das Land zu verlassen, da er an der neugegründeten Universität Vorlesungen gehalten hatte, in denen er die Offenbarungslehren der rationalen Philosophie gleichstellte. Von 1871 bis 1879 hielt sich A. in Kairo auf. Er beteiligte sich aktiv an der Gründung von reformist. Zeitschriften und Geheimgesellschaften. Wichtig für die Entwicklung des Reformismus war seine Begegnung mit Muḥammad → ʿAbduh, ʿAbd Allāh an-Nadīm (1843–1896), Saʿd Zaghlūl (1858–1927) und Yaʿqūb Ṣanūʿ (1839–1912), den damals führenden ägypt. Intellektuellen. Schließlich wurde er wegen seines antibrit. polit. Engagements zur unerwünschten Person und musste Kairo den Rücken kehren. 1879 zog er nach Hyderabad in Indien. Als 1881/82 in Ägypten die ʿUrābī-Revolte ausbrach, residierte A. gerade in Paris, wo er zusammen mit Muḥammad ʿAbduh die panislam. Zeitschrift alʿUrwa al-wuthqā («Das stärkste Band») herausgab. Über Großbritannien und Persien verschlug es ihn in der Folgezeit nach Russland. Vergeblich versuchte er die russische Führung zum Krieg gegen die Briten zu überreden. 1890/91 kehrte er in den Iran zurück, um dort öffentlich gegen die wirtschaftlichen Zugeständnisse des Schahs an die Europäer zu agieren. Wieder wies man ihn aus, diesmal in den Irak. Doch auch dort sollte A. nicht lange bleiben: Nach einem Zwischenstopp in Großbritannien fand er sich auf Geheiß des osmanischen Sultans Abdülhamid (reg. 1876–1909) wieder in Istanbul ein. Als A.s Schüler Mīrzā Reza im Mai 1896 den persischen Herrscher Nāṣir ad-Dīn Shāh (reg. 1848–1896) ermordete, bezichtigten viele Zeitgenossen A. der geistigen Urheberschaft dieses Attentates. Nur kurze Zeit darauf starb er (1897). A.s Wirken war beeinflusst von panislam. und antikolonialist. Vorstellungen: Nur ein Zusammenschluss aller muslim. Länder könne den übermächtigen europäischen Einfluss in der islam. Welt zurückdrängen und die dort vorherrschende Dekadenz, Lethargie und Resignation beseitigen, wobei A. sich durchaus für einen gewalttätigen Umsturz der bestehenden islam. Regime aussprach. (→ Fundamentalismus, → Revolution) Co
Lit.: Keddie, N. R.: Sayyid Jamal al-Din «al-Afghani», 1972. – Ders.: An Islamic Response to Imperialism. Political and Religious Writings of Sayyid Jamal al-Din «al-Afghani», 1983. – Kedourie, E.: Afghani and ʿAbduh. An Essay on Religious Unbelief and Political Activism in Modern Islam, 1966.
Ahl-i Ḥaqq (pers., «Besitzer der Wahrheit»), Geheimreligion ohne kanon. Heilige Schrift, deren Anhänger hauptsächlich in Iran (Luristan, Kermanshah, Azerbaidschan) und in Irakisch-Kurdistan (Kirkuk, Sulaimaniye) zu finden sind. Lehren werden mündlich, häufig als Gedichte, an die Eingeweihten weitergegeben. Die Rezitatoren verfügen oftmals über verschriftlichte Sammlungen dieser Gedichte. Ihr Glaube an sieben aufeinander folgende Inkarnationen Gottes basiert offenbar auf dem geistigen Erbe der frühen extremen Schia. Bezüge lassen sich auch zum Zoroastrismus herstellen. Die Reinigung der Seele erfolgt durch Seelenwanderung. Nach sieben Zyklen göttlicher Manifestation soll der eschatolog. Retter in der Heimat der A. Ḥ. erscheinen. Eine dieser Inkarnationen, die von den vier Erzengeln begleitet werden, ist → ʿAlī ibn Abī Ṭālib. Von größerer Bedeutung als ʿAlī ist jedoch der Religionsstifter Sultan Suhāk (lebte wahrscheinlich im 15. Jh.). Ein weiblicher Geist ist Ramzbar, der als jungfräuliche Mutter der göttlichen Inkarnation verehrt wird. Die A. Ḥ. verteilen sich auf verschiedene ethnische, tribale und religiöse Untergruppen. Obwohl es an einer einheitlichen Organisation fehlt, sind die von Sultan Suhāk, dem eigentlichen Religionsstifter, eingeführten Institutionen und Riten für alle Angehörigen des Glaubens gültig. Pi-Ha
Lit.: Halm, H.: Art. «Ahl-e ḥaqq», Encyclopaedia Iranica, Bd. 1, 1982, 635–637. – Schmucker, W.: «Sekten und Sondergruppen», in Ende, W./Steinbach, U. (Hg.): Der Islam in der Gegenwart, 52.005, 723–725. – Bruinessen, M. van: Art. «Ahl-i Ḥaqq», The Encyclopaedia of Islam, THREE.
Aḥmadīya (Muslim Jamaat), sunnit. millenarist. Bewegung, gegründet 1889 im heutigen Pakistan von Mīrzā Ghulām Aḥmad (1835–1908). Eine göttliche Offenbarung eröffnete ihm nach eigenem Bekunden, dass er der Reformer seiner Zeit, der christliche Messias und der islam. → Mahdi, in einer Person sei. Die strittige Frage von Ghulām Aḥmads Prophetentum führte 1914 zur Spaltung der A. Trotz der Zurückweisung dieses Anspruchs durch Aḥmad selbst bestand eine Minderheit auf seinem Prophetentum. Ihre Haltung führte dazu, dass die pakistan. Regierung 1974 Gesetze zur Ausgrenzung der A. erließ, die zur Verfolgung beider Gruppen führten. Zudem wurde die A. auch von der Liga der islam. Welt aus der islam. Glaubensgemeinschaft ausgeschlossen. Seit 1984 ist es den Aḥmadīs in Pakistan unter Strafandrohung untersagt, sich selbst als Muslime zu bezeichnen und die islam. Gebote zu befolgen. Die Mehrheit der A.-Bewegung beruft sich auf dieselben kanon. Quellen wie die übrigen Muslime und erkennt die vier «rechtgeleiteten Kalifen» ebenso an wie die Gründer der vier sunnit. → Rechtsschulen, von denen sie den hanafit. Ritus bevorzugen. Ziel der A. ist die Verbreitung eines reformierten Islams mit friedlichen Mitteln. Die Zahl ihrer Anhänger beläuft sich auf etwa 1 Mio., die Hälfte von ihnen lebt auf dem Indischen Subkontinent. Weitere bedeutende Gemeinden finden sich in Indonesien sowie in West- und Ostafrika. Die erste Moschee in Deutschland wurde 1923 von der A. in Berlin errichtet, 1949 entstand die erste islam. Missionsstation für Westdeutschland. Den Status als Körperschaft öffentlichen Rechts erhielt die Gemeinschaft 2013 in Hessen, 2014 in Hamburg. Heute betreuen die Aḥmadīs ca. 35.000 Anhänger in der Bundesrepublik. Zentrale Einrichtung der A.-Muslim-Bewegung ist die Nūr-Moschee in Frankfurt. Pi-Ha
Lit.: Ahmed, M.: «Ahmadiya. Geschichte und Lehre», in Ders.u.a. (Hg.): Die Religionen der Menschheit, Bd. 25: Der Islam 3: Islamische Kultur, zeitgenössische Strömungen, Volksfrömmigkeit, 1990, 415–422. – Schmucker, W.: «Sekten und Sondergruppen», in Ende, W./Steinbach, U.: Der Islam in der Gegenwart, 52.005, 730–732. – Spuler-Stegemann, U.: Muslime in Deutschland. Nebeneinander oder Miteinander, 1998. – Wunn, I. und A. Herwig: «Die Ahmadiyya», in Wunn, I. (Hg.): Muslimische Gruppierungen in Deutschland – ein Handbuch, 2007, 151–165. – Lathan, A.: «Reform, Glauben und Entwicklung – die Herausforderungen für die Ahmadiyya-Gemeinde», in Reetz, D. (Hg.): Islam in Europa – religiöses Leben heute – ein Portrait ausgewählter islamischer Gruppen und Institutionen, 2010, 79–108.
Aischa (gest. 678), Tochter des ersten Kalifen Abū Bakr und dritte Frau → Muḥammads. Als seine Lieblingsfrau wird A. besonders von den → Sunniten verehrt, die ihre Rolle als Gegenspielerin Fāṭimas betonen. Nach Muḥammads Tod griff sie aktiv in die Politik ein und bekämpfte den vierten Kalifen → ʿAlī, unterlag aber in der sog. «Kamelschlacht» (656). Bis zu ihrem Tod lebte sie in Medina. Sch
ʿAlawiten, auch Nuṣairīya, synkretistische Religion mit Anlehnung an die Schia sowie vorislamischen iran. und christlichen Elementen. Weite Verbreitung in Westsyrien und im Südosten der Türkei (→ Aleviten). Gegründet wurde dieser Zweig der extremen → Schiiten Mitte des 9. Jh. im Irak durch Muḥammad ibn Nuṣair an-Namīrī (daher auch Nuṣairīs), der – gegen dessen Widerspruch – die göttliche Natur des zehnten schiit. → Imams ʿAlī al-Hādī verkündete und sich selbst zum Propheten erklärte. Die Entstehung der Religion der A. bleibt unklar. Die Doktrin der ʿA. ist eine mythische Lehre von der Entstehung der Welt, in der dem Vetter und Schwiegersohn des Propheten, dem ersten Imam der Schiiten, → ʿAlī ibn Abī Ṭālib, göttlicher Charakter verliehen wird. ʿA. glauben, dass die Gottheit sich in der Geschichte zyklisch als Trinität manifestiert. Diese Trinität inkarniert sich in der Form historischer oder mythischer Personen. Danach wurde die muslimische Ära durch den Zyklus von Muḥammad eröffnet: ʿAlī als «Essenz» – Muḥammad als «Name/Schleier» – Salmān der Perser als «Tor», durch welches der/die Gläubige das Mysterium der Gottheit erfährt. Zu den Messen der ʿA., deren Riten sich um die muhammedanische Trinität drehen, haben nur eingeweihte Männer Zugang. Frauen dürfen an religiösen Ritualen nicht teilnehmen, da sie als sündig gelten. Die Bestandteile des Glaubens der ʿA. werden nur den Eingeweihten vermittelt. Jedem Erwachsenen wird der Zugang zu den Eingeweihten ermöglicht, falls er Geheimhaltung schwört. Religiöse Pflichten beschränken sich auf allgemeine moralische Vorschriften. Die Gläubigen pilgern zu den Gräbern von alawitischen Heiligen. Verschiedene Feste unterschiedlicher Herkunft werden von den ʿA. begangen, darunter das pers. Neujahr, das christl. Weihnachten oder das islam. Fastenbrechen. In Syrien herrschen seit 1966 alawit. Offiziere bzw. mit Bashshār al-Asad der Sohn eines Offiziers. Während ein Teil der ʿA. in Syrien an seinem Glauben und den Ritualen festhält, geht ein anderer Teil im zwölferschiitischen Islam auf. Letztere Tendenz zeigte sich bereits während der französischen Mandatszeit (1922–1946), in der ein eigenes Territorium für die ʿA. ausgewiesen wurde. Einzelne zwölferschiitische Rechtsgelehrte fördern die Annäherung der ʿA. an die Schia bis heute. Pi-Ha
Lit.: Halm, H.: Art. «Nuṣairiyya», The Encyclopaedia of Islam, Second Edition. – Kadi, W.: Art. «ʿAlawī», Encyclopaedia Iranica, Bd. 1, 1983, 804–806. – Bar-Asher, M. M.: Art. «ʽAlawīs, classical doctrine»,The Encyclopaedia of Islam, THREE. – Mervin, S.: Art. «ʽAlawīs, contemporary developments», The Encyclopaedia of Islam, THREE.
Aleviten (osman. ʿalevī, «ʿAlī-Verehrer»), früher als Fremdbezeichnung auch kızılbaş (türk. «Rotkopf») genannt. Die A. leben v.a. in Zentralanatolien (Kayseri, Sivas, Divriği), seit der Landflucht in den 1950er Jahren aber auch in den großen Städten. Sie machen 15–30 % der türk. Bevölkerung aus. Ein Drittel ist kurdischsprachig. Die A. sind ursprünglich im 14./15. Jh. in Ostanatolien innerhalb der mystischen → Bruderschaft der Ṣafawīya entstanden. Als diese im 16. Jh. zur persischen Dynastie der Safawiden aufstieg, verloren die türk. Anhänger den Kontakt und entwickelten sich zu einer eigenständigen, esoter. und endogamen Glaubensgemeinschaft. Aufgrund schwerer Verfolgungen hielten die A. jahrhundertelang ihre Religion geheim. Sie haben kein einheitliches religiöses Dogma, verehren → ʿAlī und lehnen die → Fünf Säulen des Islams ab. Das bedeutendste Ritual ist die Versammlung der Gläubigen (türk. āyin-i cem), bei der Frauen teilnehmen und Alkohol getrunken wird. Seit 1950 begann die traditionelle Ordnung der A. zu zerfallen, so dass bis Ende der 1980er Jahre die religiösen und sozialen Strukturen weitgehend verloren waren. Seit den 1990er Jahren ist eine Revitalisierung der alevit. Gemeinschaft festzustellen. Ba
Lit.: Kehl-Bodrogi, K.: Die Kızılbaş/Aleviten. Untersuchungen über eine esoterische Glaubensgemeinschaft in Anatolien, 1988. – Vorhoff, K.: Zwischen Glaube, Nation und neuer Gemeinschaft. Alevitische Identität in der Türkei der Gegenwart, 1995. – Dies.: «Let’s Reclaim our History and Culture!». Imagining Alevi Community in Contemporary Turkey, Die Welt des Islam 38 (1998), 220–252.
ʿAlī (gest. 661), Vetter und Schwiegersohn → Muḥammads, mit dessen Tochter → Fāṭima er verheiratet war. A. war einer der ersten Anhänger → Muḥammads und später der vierte der sog. «rechtgeleiteten» Kalifen. Nach der Ermordung des dritten Kalifen ʿUthmān 656 wurde ʿA. zum Kalifen bestimmt, obwohl die Sippe ʿUthmāns (die → Dynastie der Umayyaden) ihm die Unterstützung von dessen Mörder vorwarf und den Gegenkalifen Muʿāwiya etablierte. Zum Konflikt mit Muʿāwiya kam es 657 bei Siffīn (am Euphrat), aus dem zwar kein Sieger hervorging, ʿA.s Anhängerschaft sich aber entzweite und Muʿāwiyas Position gestärkt wurde. Die Auseinandersetzung zwischen beiden Kalifen fand durch die Ermordung ʿA.s in Kufa ihr Ende. ʿA.s Mausoleum in Nadschaf ist eines der wichtigsten islam. Heiligtümer, sowohl für die → Schiiten – die «Parteigänger ʿA.s» (arab. shīʿat ʿA.) – als auch für die → Sunniten. Für die Schiiten gilt ʿA. als Stammvater der Imame; als «Begleiter Gottes» (arab. walī allāh) wurde seine Erwähnung ins schiit. → Glaubensbekenntnis aufgenommen. An der Person ʿA.s orientieren sich neben den Schiiten noch andere islam. Bewegungen, etwa die → ʿAlawiten, die sich durch eine gottähnliche Verehrung ʿA.s und die Leugnung seines Todes auszeichnen. Schö
Lit.: Halm, H.: Die Schia, 1988. – Bernheimer, T.: The ʿAlids. The First Family of Islam, 2013.
Alkohol. Muslimen ist nach allgemeiner Rechtsauffassung (→ Recht) der Genuss alkohol. Getränke unter Androhung einer → Körperstrafe verboten. Diese Auffassung stützt sich auf Sure 5:90f. des Korans, welche khamr (arab. «Wein») verbietet, ein Getränk, dessen Eigenschaften in Sure 16:69 gepriesen und das in Sure 27:44f. als Belohnung im Paradies ausgesetzt wird. Die Auslegung dessen, was als «Wein» im Sinne eines berauschenden Getränks gilt, hat in der Geschichte durchaus gewechselt. Mü
Allāh (arab. «der → Gott») → Gottesnamen
Almosen. An Bedürftige A. zu geben, gilt Muslimen allgemein als wohltätiges Handeln. Eine bestimmte Form des A. ist darüber hinaus rechtlich vorgeschrieben, die zakāt, eine der → Fünf Säulen (Grundpflichten) des Islams. Sie besteht in der jährlichen Abgabe eines bestimmten Teils, bei Edelmetallen z.B. eines Vierzigstels, des Vermögens. Oft wird die zakāt freiwillig geleistet, in manchen islam. Staaten aber auch als Steuer eingezogen. El
Amān (arab. «Schutz, Sicherheit»), spezieller Schutzstatus für Nichtmuslime, die sich nur zeitweise im → dār al-islām (Gebiet unter islam. Herrschaft) aufhalten. Der A. knüpft an den aus altarab. Gewohnheitsrecht bekannten, jiwār («Schutzrecht») genannten Status an, der Nicht-Stammesangehörigen auf Lebenszeit verliehen werden konnte. Grundlage des A.-Rechts ist Sure 6:9: «Und wenn einer von den Heiden dich um Schutz angeht, dann gewähre ihm Schutz, damit er das Wort Gottes hören kann.» Jeder Muslim, ob Mann oder Frau, selbst ein Sklave, konnte A. gewähren. Ganzen Gruppen oder Städten diesen Status zu verleihen, war → Imamen vorbehalten. A. konnte sowohl in Kriegs- als auch in Friedenszeiten gegeben werden. Der Schutzstatus war immer zeitlich begrenzt, der mustaʾmin (arab. «der den Schutz in Anspruch nimmt») mochte nach Ablauf der Zeit als schutzbefohlener → Schriftbesitzer weiter im islam. Bereich leben, konvertieren oder sich an einen anderen sicheren Ort begeben. Ein mustaʾmin genoss gewisse Persönlichkeits- und Eigentumsrechte und unterlag der Gerichtsbarkeit seiner Religionsgemeinschaft. Diplomat. Missionen genossen A., soweit sie als solche erkennbar waren. Aus A. entwickelten sich die imtiyāzāt (arab. «Konzessionen») für ausländ. Handelskolonien und Kaufleute im Osman. Reich. In der Moderne hat A. seine frühere Bedeutung verloren, da die traditionelle Teilung der Welt in dār al-islām und dār al-ḥarb («das Haus des Krieges», von den Muslimen zu erobern) weitgehend keinen Bestand mehr hat. Moderne Formen des A. finden sich aber noch z.B. in Oman, wo Ausländer durch einen einheim. Gewährsmann Aufenthaltsrechte erlangen können. Sz
Amulett. A. zur Abwehr des → Bösen Blicks und glückbringende Talismane sind im islam. Kulturkreis weit verbreitet. Häufig sind die stilisierte Hand der Prophetentochter → Fāṭima, kleine Koranexemplare oder blaue Perlen zu sehen. Bei den → Schiiten findet sich das Bild → ʿAlīs als Schmuck und Schutz. Bo
Lit.: Kriss, R./Kriss-Heinrich, H.: Volksglaube im Bereich des Islam. 2 Bde., 1960/62. – Schienerl, P. W.: Dämonenfurcht und böser Blick. Studien zum Amulettwesen, 1992.
Ankaraner Schule. Mehrere Nachwuchswissenschaftler der Universität Ankara schlossen sich Mitte der 1990er Jahre zur Ankaraner Schule (Ankara Okulu) zusammen, um ihre Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Koranexegese gemeinsam voranzutreiben und zu veröffentlichen. Sie folgten damit einigen Professoren an der theologischen Fakultät in Ankara, die 1949 nach dem Vorbild der Theologie und Religionswissenschaft an westlichen Universitäten gegründet worden war, darunter Mehmet Said Hatipoğlu und Hüseyin Atay. Die Fakultät in Ankara blieb bis in die 1980er Jahre hinein die einzige universitäre Ausbildungsstätte für Theologen in der Türkischen Republik und bildete somit einen Prototyp der modernen Hochschultheologie, wie sie heute an zahlreichen türkischen Universitäten besteht. Zentrale Figuren der A. S. waren um das Jahr 1998 Ömer Özsoy und Mehmet Paçacı. Paçacı hat in Schottland studiert und sich dort mit christlicher Theologie und Philosophiegeschichte befasst. Heute ist er Türkischer Botschafter im Vatikan, nach Stationen als Religionsattaché an der türkischen Botschaft in Washington und Leiter der Auslandsabteilung der türkischen Religionsbehörde (Diyanet İşleri Başkanlığı). Özsoy verbrachte bereits im Anschluss an seine Promotion zwei Jahre in Heidelberg (1991–1993), kam 2004 als Humboldtstipendiat nach Göttingen und bekleidet seit 2006 bis heute den zunächst von der türkischen Religionsbehörde finanzierten Stiftungslehrstuhl für islamische Theologie an der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Gemeinsam gaben Özsoy und Paçacı die Zeitschrift İslamiyāt heraus, die von 1998 bis 2007 vierteljährlich erschien und in der Türkei auch über Fachkreise hinaus Beachtung fand. Daneben erscheint seit 1995 die Reihe Ankara Okulu Yayınları, die inzwischen über 200 Bände umfasst. Nach der A. S. gilt wie für die Bibelexegese auch für die Koranauslegung, dass der Exeget sich seiner Subjektivität und seiner historischen Bedingtheit bewusst sein muss. Paçacı etwa veröffentlichte 1996 einen Aufsatz mit dem Titel Kurʾan ve ben ne kadar tarihseliz? (Der Koran und ich – wie geschichtlich sind wir?), in dem er die Frage der Zeitgebundenheit des Exegeten im Lichte der Hermeneutik Gadamers erörtert. In der Frage der Historizität der koranischen Offenbarung wiederum lehnt die A. S. sich eng an die Gedanken Fazlur Rahmans an. Dieser entwickelte eine Methodik der zeitgenössischen Koranexegese, die «double-movement-» oder «Zwei-Bewegungs-Theorie», nach der die Gebote des Korans nicht wortwörtlich, sondern in ihrem historischen Zusammenhang zu verstehen seien. Aus den konkreten Handlungsgeboten des koranischen Wortlauts seien die im damaligen historischen Kontext an die zeitgenössischen Adressaten gerichteten ethischen Prinzipien dieser Gebote zu extrahieren. Die offenbarten Gebote müssten im nächsten Schritt wiederum in diesen Prinzipien entsprechende, zeitgemäße Handlungsmaximen übertragen werden. So behalte der Koran seine überzeitliche Aktualität und entfalte über die wortwörtliche Bedeutung hinaus immer wieder neu seine Botschaft. Zwar gibt es weiterhin modernistisch oder reformistisch orientierte Koranexegeten an türkischen Universitäten wie etwa den sehr produktiven Mustafa Öztürk. Die A. S. jedoch hat sich in den Jahren 2007/2008 aufgrund innerer Differenzen, unterschiedlicher Karrierewege und anderer Ursachen wieder aufgelöst. KE
Lit.: Alter Text – Neuer Kontext. Koranhermeneutik in der Türkei heute. Ausgewählte Texte, übersetzt und kommentiert von Felix Körner SJ, 2015.
Apostasie, allgemein der Abfall von einer Religion, in der islam. Welt im 20. Jh. v.a. von Reformisten wie Abū al-Aʿlā al→ Maudūdī und Sayyid Quṭb theoret. verarbeitet. Ihrer Meinung nach haben sich die meisten muslim. Gesellschaften aufgrund des Einflusses und der Dominanz des Westens so weit von den idealen islam. Verhältnissen der Frühzeit entfernt, dass sie sich nun im Zustand des «Unglaubens» (arab. kufr), «Polytheismus» (arab. shirk) oder des Rückfalls in die vorislam. «Zeit der Unwissenheit und Ignoranz» (arab. jāhilīya) befänden. Alle Muslime, die weiterhin in dieser Situation verharrten, müsse man so behandeln, als ob sie vom Islam abgefallen seien. Noch bestehe allerdings die Möglichkeit der Wiedergutmachung durch individuelle Läuterung und das persönliche Engagement im Rahmen der reformist. Bewegung. (→ Reformislam) Co
Arabische Literatur. Bereits im 5. Jh. trat die → arab. Sprache als voll ausgebildete Literatursprache in Erscheinung. Die eng mit der beduin. Lebenswelt verbundene vorislam. Dichtung erhielt aufgrund ihrer Funktion als kollektives Gedächtnis der Araber und wertvolle Referenz in Fragen der Koranauslegung schon in der Frühzeit des Islams eine normierende Funktion und begründete so poet. Konventionen, an die selbst heutige Dichter zuweilen noch anknüpfen. Dazu gehört v.a. Formales. Die Gedichte behalten Metrum und Reim des ersten Verses über ihre ganze Länge – zuweilen mehr als 100 Verse – bei (man spricht von «Monometrik» bzw. «Monoreim»). Syntakt. und wichtigste gedankliche Einheit ist der Einzelvers («Molekularität»). Im Allgemeinen galten deshalb der Literaturkritik nicht ganze Gedichte, sondern jeweils nur einzelne «schöne» Verse als besonders gelungen. Auch ist aus diesem Grunde die Position des Einzelverses innerhalb der Versabfolge eines Gedichts, im Gegensatz zur Position des Wortes im Vers, recht variabel. Nicht selten sind Gedichte deshalb in mehreren Varianten überliefert. In vielen Fällen haben sich von einem einstigen Gedicht sogar nur einzelne Verse oder Versgruppen erhalten, weil die Tradenten nur diese für überlieferungswürdig befanden. Trotz der weitreichenden Selbständigkeit des Einzelverses haben sich aber auch – wenngleich zuweilen recht lose – Gattungsnormen für Aufbau und Inhalt des Gedichtganzen herausgebildet. Ein derart bestimmtes sehr verbreitetes Genre ist die schon aus vorislam. Zeit stammende Kaside (arab. qaṣīda). Der Typisierung des Gelehrten Ibn Qutaiba (gest. 889) zufolge besteht dieses polythemat. Langgedicht aus drei Teilen: 1. Liebeserinnerung mit Klage über den Verlust der Geliebten (Einleitung); 2. Aufbruch mit anschließender Reisebeschreibung, früher oft ein Wüstenritt; 3. der Hauptteil, in dem der Dichter einen Herrscher, Stamm oder sich selbst rühmt oder Gegner schmäht. Die im Laufe der Zeit klassisch gewordenen inhaltlichen und formalen Gattungskonventionen wurden freilich immer wieder neu gedeutet und das Genre so dem sich wandelnden Geschmack und veränderten Bedürfnissen angepasst. So kommt es, dass die Kaside auch heute noch von Dichtern und Hörern weithin sehr geschätzt wird. Ähnliches gilt für kürzere Gedichtformen wie etwa das Weingedicht oder das Ghasel (arab. ghazal, «Liebesgedicht»). – War der vorislam. Beduinendichter v.a. Dichter seines Stammes und der Wüste (erkennbar z.B. in den unter dem Namen Muʿallaqāt vereinten Kasiden des Imruʾ al-Qais, Zuhair, Labīd u.a., sowie in zahlreichen Gedichten der Ḥamāsa-Sammlung), so hat die Poesie der Folgezeit vielfach einen urbanen und höfischen Hintergrund (z.B. al-Mutanabbī, 915–965). Auch für die → Mystik wurde sie sehr bedeutend (z.B. Ibn al-Fāriḍ, gest. 1235; Ibn alʿArabī, 1165–1240), hier jedoch meist mit kürzeren Gattungen. Eine starke Rhetorisierung erfuhr die Poesie durch die muḥdath- (arab. «modernen») Dichter des 8./9. Jh. (Bashshār ibn Burd, 714–783; Abū Nuwās, gest. 814/15; Abū Tammām, gest. 845; Ibn al-Muʿtazz, 861–908). Charakterist. für deren badīʿ- (arab. «innovativen») Stil, ein Produkt der Verlagerung der ehemals beduin. Dichtung in die urbanen Zentren und an die neuen Herrscherhöfe, ist die Verwendung von vielfältigen, z.T. hochelaborierten Wort- und Sinnfiguren, von Zitat und Parodie. Sie bereiten die konzeptuelle Komplexität und Dichte eines später beliebten Concetto-Stils vor. – Bis zum 19. Jh. galt das Dichten, wie die Wissenschaften u.a. Künste, als erlern- und lehrbare, weil bestimmten Regeln unterworfene Fertigkeit. Davon zeugen zahlreiche Prosodie- und Rhetorik-Handbücher, deren bekanntestes von al-Jurjānī (gest. um 1080) stammt. Es kam nicht so sehr darauf an, etwas wirklich Neues zu schaffen, als vielmehr darauf, unter virtuoser und geistreicher Ausnutzung der kanonisierten Möglichkeiten Bekanntes überraschend neu erscheinen zu lassen. – Der Prosa wurde eine an die Poesie heranreichende Literarizität bis zum 19. Jh. – vom → Koran einmal abgesehen – allenfalls in stark rhetorisierten Formen wie dem hohen Kanzleistil der Hofsekretäre (arab. inshāʾ) oder der artifiziellen Reimprosa der Makame (arab. maqāma), einer Art anekdot. Picaro-Erzählung (al-Hamadhānī, 968–1008; al-Ḥarīrī, 1054–1122) zugebilligt. Ansonsten genoss sie nur dann Wertschätzung, wenn sie dem Ideal geistreich-humorvollen Zerstreuens, erbaulich-nützlichen Unterhaltens oder kultivierten Bildens und Lehrens genügte. Davon zeugt das sehr umfangreiche Schrifttum der «feinen Bildung» (arab. adab). Ein früher Vertreter war al-Jāḥiẓ (ca. 776–868/69), z.B. mit seinem Buch «Die Geizhälse». In späterer Zeit nimmt das adab-Schrifttum immer mehr enzyklopäd. Charakter an, so im Kitāb al-Aghānī («Buch der Lieder») von Abū al-Faraj al-Iṣfahānī (897–967) oder im Ṭauq al-ḥamāma («Halsband der Taube») von Ibn Ḥazm (994–1064). – Die seit alters mündlich tradierten Heldenepen, Darbietungen professioneller Geschichtenerzähler und Mimen oder auch das Schattenspiel waren als Literatur des «niederen Volkes» aus dem Kanon der «hohen» Literatur der gebildeten Elite ausgeschlossen. – Mit vielen jahrhundertealten dichter. Traditionen brach die a.L. erst in der zweiten Hälfte des 19. Jh. Dafür wurde besonders die von einem erstarkenden Bildungsbürgertum getragene Abkehr vom manierist. Ideal sprachlicher Gesuchtheit sowie die Auffassung vom Gedicht als einem natürlichen, lebendigen Organismus ausschlaggebend. Mit der Entwicklung hin zu mehr «Natürlichkeit» und mehr subjektivem Empfinden ging auch eine Aufwertung der einfacheren Prosa einher. Seither hat sich die a.L. zahlreiche neue Formen angeeignet, in der Dichtung besonders den Freien Vers (Badr Shākir as-Sayyāb, 1926–1964; Nāzik al-Malāʾika, geb. 1923; ʿAbd al-Wahhāb al-Bayyātī, geb. 1926), in der Prosa die Kurzgeschichte und den Roman. Auch das Drama/Theater konnte sich etablieren. Sozialhistor. lässt sich die Entwicklung der modernen a.L. als Geschichte einer durch die technischen Möglichkeiten des → Buchdrucks, die Entwicklungen im Verlagswesen und die Verbesserung der Bildungssituation bedingten Verbreiterung der Leserschichten verstehen. Ästhet.-stilist. ist es v.a. in der Prosa und Dramatik die Geschichte einer Angleichung an dominante globale Modelle. Anders als in der Poesie knüpfte man hier kaum an eigene epische und dramat. Traditionen an, da diese zur «niederen» Literatur gerechnet wurden. – Für die Entwicklung der Prosa und des Theaters lassen sich seit Ende des 19. Jh. grob folgende Strömungen beobachten: Eine belehrend-moralisierende Literatur, die dem Gemeinwohl Nutzen bringen sollte, wurde v.a. im 19. Jh., aber auch noch bis zum Ersten Weltkrieg verfasst. Hauptvertreter sind Jurjī Zaydān (1861–1914) und Salīm al-Bustānī (1848–1884). Für eine empfindsam-romantizist. Richtung (ca. 1900–1925) stehen Jubrān Khalīl Jubrān (1883–1931) und Muṣṭafā Luṭfī al-Manfalūṭī (1867–1924). Patriot.-sozialreformer. (1910–1930) waren die sog. «Neue Schule» in Ägypten, darunter Muḥammad Taymūr (1891/92–1921) und sein Bruder Maḥmūd (1894–1973), sowie in deren Folge Autoren wie Ṭāhā Ḥusayn (1889–1973) und Tawfīq al-Ḥakīm (1898/1902–1987). Seit den 1930ern entstand eine gesellschaftsanalyt.-chronist. Literatur (Nagīb → Maḥfūẓ; Yūsuf Idrīs, 1927–1991; Tawfīq Yūsuf ʿAwwād, 1911–1989). In den 1960er Jahren und besonders nach 1967 (Juni-Krieg, Niederlage des Nasserismus) begannen viele Autoren, sehr ideologie- und selbstkritisch zu schreiben (Laylā Baʿalbakkī, geb. 1934; al-Ṭayyib Ṣāliḥ, 1929–2009; Ṣunʿallāh Ibrāhīm, geb. 1937). Gleichzeitig entstand eine «Neue Sensitivität» (E. al-Kharrāṭ), der es um eine Neubegründung der Ästhetik und des Verhältnisses von Literatur zu Wahrheit und Wirklichkeit ging und die deshalb oft stark experimentelle Züge trug. Seither deckt die arab. Prosa das gesamte Spektrum postmodernen Schreibens ab, häufig auch mit spieler. Rückgriffen auf das alte Erbe, einschließlich der einst nicht zur «hohen» Literatur gerechneten volkstümlichen Heldenepen und → Tausendundeine Nacht (Yaḥyā aṭ-Ṭāhir ʿAbdallāh, 1938–1981; Jamāl al-Ghīṭānī, 1945–2015; Emīl Ḥabībī, 1921–1996; Zakariyyā Tāmir, geb. 1931). – Die Poesie durchlief ähnliche Phasen. Ende des 19. Jh. entstand ein «Neoklassizismus» (Aḥmad Shawqī, 1868–1932), die 1920/30er Jahre waren von der «Romantik» gekennzeichnet (Jubrān, die «Dīwān»-Schule, die «Apollo»-Gruppe), während sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine «sozialrealist.» littérature engagée entwickelte. Seit den 1960er Jahren ist wie in der Prosa eine Loslösung vom Realismus festzustellen. Insgesamt bietet die Poesie heute ein vielfältiges Bild: Kasiden im «klassischen» Stil stehen neben patriot. und sozial oder polit. engagierten kürzeren, häufig auch vertonten Strophengedichten (Amal Dunqul, 1940–1982; Maḥmūd Darwīsh, 1942–2008) sowie, auf der anderen Seite des Spektrums, den zuweilen «hermet.» wirkenden Schöpfungen der Vertreter eines poet. Ästhetizismus (→ Adonis, geb. 1930). Liebeslyrik in volksnaher einfacher Sprache (Nizār Qabbānī, 1923–1999) steht neben Philosophischem und Mystischem, hochsprachliche neben Dialekt-Dichtung. In der Umgangssprache verfasste Literatur findet dank der «demokratisierenden» Züge des Internets und der anti-autoritären Bestrebungen der jüngsten Zeit (Arab. Frühling) mittlerweile immer mehr Anhänger und weitere Verbreitung. – Kontrovers diskutiert wird die Frage, ob die von Arabern verfasste, selbst aber nicht arabophone Literatur, insbesondere die französischsprachige Literatur des Maghreb (Kateb Yacine, 1929–1989; Mohammed Dib, 1920–2003; Albert Memmi, geb. 1920; Tahar Ben Jelloun, geb. 1929; Assia Djebar, 1936–2015) oder die in der Sprache des Gastlandes verfassten Werke der zahlreichen Diaspora/Exil-Autoren (Amin Maalouf, geb. 1949; Rafik Schami, geb. 1946) zur a.L. gezählt werden sollen. – Sehr viele Werke sowohl der klassischen als auch der modernen a.L. liegen inzwischen in guter deutscher Übersetzung vor. Zur internationalen Bekanntheit der a.L. trug insbes. die Verleihung des Nobel-Preises für Literatur an den Ägypter Nagīb → Maḥfūẓ (1988) bei. Seit 2008 ist der sog. «Arabische Booker» (International Prize for Arabic Fiction, abgek. IPAF) bemüht, der a.L. einen Platz im globalisierten Literaturbetrieb zu schaffen und zu erhalten. Gu
Lit.: Gätje, H. (Hg.): Grundriß der arabischen Philologie, Bd. 2: Literaturwissenschaft, 1987. – Guth, S.: «Novel, Arabic», The Encyclopaedia of Islam, Three. – Heinrichs, W. u.a. (Hg.): Orientalisches Mittelalter, 1990. – Irwin, R. (Hg.): Night and Horses and the Desert. An Anthology of Classical Arabic Literature, 2000. – Keil, R. (Hg.): Hanīne. Prosa aus dem Maghreb, 1989. – The Cambridge History of Arabic Literature, Bde. 1–3 (1983, 1990, 1992). – Weidner, S. (Hg./Übers.): Die Farbe der Ferne. Moderne arabische Dichtung, 2000. – Website des IPAF: ‹www.arabicfiction.org›.
Arabische Schrift, zunächst Träger der → arab. Sprache, später auch anderer Literatursprachen (u.a. Persisch, Osmanisch) des islam. Raumes. Es handelt sich um eine linksläufige Konsonantenschrift mit 28 Buchstaben in der arab. Sprache, die für andere Sprachen z.T. erweitert und modifiziert wurde. Die a.S. gehört zum aramäischen Typus der nordsemit. Schriften. In der ältesten datierten arab. Inschrift von 512 liegen die Basisgrapheme bereits vor. Später erfolgten eine diakrit. Differenzierung, kalligraph. Weiterentwicklung und Systematisierung des Duktus (→ Kalligraphie). Schriftdiskussionen (Übernahme der Lateinschrift oder Modifizierung des arab. Alphabets) waren Bestandteil der Modernisierungskonzepte der islam. Welt im 19. und frühen 20. Jh. 1928 wurde in der Türkei das arab. durch das latein. Alphabet ersetzt. In den mittel- und zentralasiat. Sowjetrepubliken wurde die a.S. in den 1920er Jahren durch die Lateinschrift, 1940 vom kyrill. Alphabet abgelöst. Die a.S. bleibt vorherrschend für die Sprachen des nordafrikan., nah- und mittelöstlichen Raumes (Arabisch, Persisch, Kurdisch im Irak und in Iran, Urdu, einige Berbersprachen Nordafrikas) und in Teilen Zentralasiens (Dari, Paschtu, Uigurisch). Ha-Hi
Lit.:. Gründler, B.: The Development of the Arabic Scripts: From the Nabatean Era to the First Islamic Century, 1993. – Baldauf, I.: Schriftreform und Schriftwechsel bei den muslimischen Russland- und Sowjettürken (1850–1937), 1993. – Endress, G.: Die arabische Schrift, in Fischer, W. (Hg.): Grundriß der arabischen Philologie, 1982, 165–183. – Frings, A.: , 2007. – Lewis, G.: , 1999.