Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-13798-3
ISBN E-Book 978-3-688-10812-1
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-10812-1
Diese Geschichte ist erfunden. Ich habe sie mir eines Tages auf der Terrasse des Mirage über den Herkulesgrotten in Tanger ausgedacht. Mein Freund A. hatte mir ein Strandhaus zur Verfügung gestellt, damit ich mich etwas ausruhen und vielleicht auch schreiben könnte. An der unendlichen Weite eines Strands, an dem die Wellen des Atlantischen Ozeans zerschellen, in dieser Sand- und Schaumwüste wurde innerhalb weniger Monate ein Palast hochgezogen. Ich weiß nicht, wer ihn besitzt. Die Leute munkeln, es sei das Badehäuschen eines fernen Prinzen, der das Meer und die Stille dieser Gegend liebt. Andere wieder schreiben das Gebäude einem griechischen Reeder zu, der das Mittelmeer nicht mehr erträgt und diesen Ort ausgesucht hat, um seinen Lebensabend zu verbringen, vor allem aber, um der Justiz seines Landes zu entkommen.
Hier ist das Meer blau. Das Meer ist grün. Sein Schaumhaar glänzt weiß. Gegenüber hat das Badehäuschen des Prinzen oder Reeders die Farbe des Sandes angenommen. Es ist keineswegs häßlich. Es ist nur befremdlich wie diese Geschichte, die ich eines Abends erfand, als ich im Radio einer Sängerin lauschte. Gerüchte besagen inzwischen, es gehe dabei um eine Sängerin oder Tänzerin, die wirklich gelebt habe. Ich habe nicht versucht, das zu überprüfen. Die Leute lieben es, Geschichten zu erzählen und sich etwas auszumalen. Dies ist nur eine von vielen Geschichten.
Niemand soll sich mit einer der Personen hier identifizieren. Jede Fiktion ist ein Diebstahl an der Wirklichkeit, und manchmal kehrt sie dahin zurück und vermischt sich damit. Neulich erwähnte eine nahöstliche Zeitung das Verschwinden einer ägyptischen Schauspielerin. Eine andere Zeitschrift ließ durchblicken, jene Dame habe alles nur erfunden, um ins Gespräch zu kommen.
Diese Geschichte geschah vor einigen Jahren, als unser Land seine Tore offenherzig Besuchern eines ganz bestimmten Schlages öffnete: Männern, die aus weit entlegenen Teilen der arabischen Wüste kamen, um sich einige heiße Nächte zu gönnen. Schlaflose Nächte, in denen Alkoholfahnen die glasigen Blicke jener Männer verschleierten, die gewöhnlich ihre hervorstehenden Bäuche streichelten oder ihre spärlichen Bärtchen in einem von Mattigkeit gebräunten Gesicht glattstrichen. Sie setzten sich nicht gerne hin, sondern räkelten sich lieber in großen Satinkissen. Sie verschmähten Ledersofas; manche hockten sich an den Rand und ließen sich dann auf die dicken Wollteppiche gleiten. Sie machten es sich gemütlich, erteilten wortlos Befehle, mit den Händen oder Augen. Die Diener kannten die Bedeutung jedes Zeichens, es war nicht schwierig: Der zum Mund erhobene Daumen bestellte Getränke, eine kurze, fegende Bewegung der offenen Hand bedeutete den Musikern zu spielen, dieselbe Geste in umgekehrter Richtung ließ die Musik verstummen, der in Richtung Kulissen ausgestreckte Finger hieß die Tänzerinnen eintreten, ein der versteckten Tür zugewandtes Auge verlangte nach der Sängerin, usw.
Wenn sie sprachen, murmelten sie sich unverständliche Worte zu. Sie benutzten einen bei manchen Beduinenstämmen üblichen Dialekt. Weder Diener noch Musiker sollten etwas verstehen. Sie hatten ihren eigenen Kode. Doch hinter diesen Worten spürten alle Arroganz, Verachtung und das Verlangen nach sinnloser Demütigung. Die Diener verrichteten schweigend ihre Arbeit. Sie wußten, daß sie es mit besonderen Gästen zu tun hatten. Für sie war es eine Arbeit jede eine andere, außer daß die Ansprüche dieser neureichen Beduinen unerträglich waren. Die Gläser mußten ständig gefüllt sein, die Eisstückchen rund und nicht viereckig. Manche verlangten sie herzförmig. Die entkernten Oliven mußten aus Spanien kommen, in Metalldosen. Der Käse mußte aus Frankreich oder besser noch Holland stammen. Sie mochten das traditionelle Brot nicht und zogen die libanesischen Fladen vor. Die Kellner kannten diese Launen und richteten sich danach.
Liebten sie die Musik oder nur die Körper der Tänzerinnen? Zogen sie Sakinas Stimme allem anderen vor? Sakina war eine große Sängerin. Sie stammte aus einer mittellosen Familie und trat selten in einem solchen Rahmen auf. Ihr Vater begleitete sie immer. Er war pensionierter Lehrer und spielte die Flöte im Orchester. Ihre Soloeinlagen entlockten den auf den Kissen liegenden Männern, die Whisky wie Zitronenlimonade hinuntertranken, nostalgische Seufzer. Sie brüllten «Allah!» und «Oh, meine Nacht! Oh, mein Leben!». Sobald Sakina auftrat, stellten sie ihre Gläser ab und hauchten ihr aus der Handfläche Küsse zu.
Sakina war groß und hatte einen leichten Silberblick, was sie noch anziehender machte. Ihr langes schwarzes Haar fiel bis zum Po; sie spielte damit, wenn sie sich neigte, um den Schmelz der Stimme zu verstärken. Sie trug Kaftane aus feinem Stoff, die ihren Busen zur Geltung brachten. Sittsam enthüllte sie nichts und sah ihr Publikum nie an. Wenn sie sang, schien sie mit zum Himmel erhobenen Augen und dem Unbekannten entgegengereckten Armen in eine andere Welt zu flüchten. Diese Haltung gefiel den Männern sehr. Sie zahlten viel, um sie zu hören. Ihre Stimme erinnerte an Ismahan und an Oum Kalsoum. Sie verfügte über beide Register und hatte dadurch eine außerordentliche Stimme. Für sie war das ein Geschenk Gottes. Sie war gläubig, verrichtete jeden Tag ihre Gebete, trank keinen Alkohol und schminkte sich kaum. Manche nannten sie Lalla Sakina, als sei etwas Heiliges an ihr. Ihre Bewunderer schätzten ihre Zurückhaltung, ihre Scheu, die sie von allen anderen arabischen Sängerinnen unterschieden. Die Presse respektierte sie. Sie löste nie Skandale aus. Über ihr Privatleben war wenig bekannt. Man wußte, daß sie ledig war und sich weigerte, über ihre Familie oder ihre Pläne zu sprechen, wie es sonst allgemein bei Schallplatten- oder Kinostars üblich ist.
Sakina war schön und gelassen. Sie schüchterte alle ein, die versuchten, sie zu verführen, und wies ihre Annäherungsversuche elegant und bestimmt zurück.
An jenem Abend trug sie weiß und blau. Sie legte nur wenig Schmuck an und hielt wie Oum Kalsoum einen weißen Schal in der rechten Hand. Sie hatte nur ein einziges Lied gesungen, Tausendundeine Nacht, und dabei mehrmals den gleichen Refrain mit veränderter Stimme und wechselndem Rhythmus wiederholt. Die bereits betrunkenen Beduinen schrien und forderten ein Da Capo des letzten Teils. Sie kam dem mit Anmut nach. Das Lied handelte von leeren und vollen Gläsern, von Trunkenheit, von auf die Erde gesunkenen Sternen und langen, aus Träumen gewebten Nächten. Es ließ die Phantasie endlos schweifen.
Sakinas Gesten waren sparsam und angedeutet. Ihr Körper bewegte sich nur wenig. Alles war in der Stimme. Reine Erotik, die allein die Vorstellungskraft beflügelte, die Beduinen konnten kaum noch an sich halten. Manche stießen orgiastische Schreie aus. Es hatte etwas Anstößiges, auch Provozierendes. Wie immer gab sich Sakina erhaben gleichmütig. Sie kannte ihr Publikum.
Das Lied hatte mehr als eine Stunde gedauert. Sakina war erschöpft. Sie verneigte sich vor ihren Zuhörern und zog sich in ihre Loge zurück, wo ihr Vater sie kurz aufsuchte. Als sie sich danach abschminkte, klopfte es an der Tür.
Sie machte auf. Ein Diener reichte ihr einen riesigen, zellophanumwickelten Blumenstrauß, hinter dem sie sein Gesicht kaum noch sehen konnte. Er sagte: «Vom Scheik.» Sakina hielt den Kellner zurück und fragte ihn in vertraulichem Ton:
«Wer ist es? Welcher?»
«Der Häßlichste und Reichste von allen … der kleine Füllige mit dem Ziegenbart. Man sagt, er sei ein Prinz. Er soll Analphabet sein, aber großzügig … Spiel nicht die Stolze. Er ist bösartig und mächtig. Gott befohlen, Lalla Sakina!»
Wenige Minuten später kam der gleiche Kellner zurück. «Er bittet dich zu sich in den Salon. Keine Angst, er ist nicht allein. Ich glaube, er will dir nur Komplimente machen. Sei vernünftig! Achtung, diese Leute sind zu allem fähig. Nichts kann sie aufhalten. Die Petrodollars geben ihnen alle Rechte.»
Auf dem Weg zum Salon kreuzte sie ihren Vater. Er sah müde und verstimmt aus und sagte:
«Denk nach. Ich vertraue dir. Was für ein Beruf! Was muß man nicht alles tun, um in diesen Krisenzeiten zu überleben!»
Sakina trug ein schlichtes schwarzes Kleid und eine kleine, unechte Perlenkette. Sie trat ein und deutete eine Art Verbeugung an, um den Scheik und seine um ihn gescharten Gefolgsleute und Freunde zu begrüßen. In einer Hand hielt er ein großes Glas Whisky, in der anderen eine Gebetskette. Ohne sich zu bewegen, bedeutete er Sakina näher zu treten und sagte:
«Du singst gut, meine Liebe. Deine Stimme läßt mich erschauern. Ich muß sie oft hören und vor allem dich dabei sehen.»
«Danke, Herr! Sie schmeicheln mir. Mit Ihrer Erlaubnis möchte ich mich zurückziehen.»
«Nein! Ich erlaube es nicht. (Er brach in schallendes Gelächter aus.) Was ich Ihnen zu sagen habe, ist wichtig. Seien Sie nicht in Eile. Wir haben die ganze Nacht, um darüber zu reden. Trinken Sie etwas: Orangensaft oder Cola.»
«Nein, danke. Ich muß nach Hause. Mein Vater erwartet mich.»
«Dein Vater ist schon weg. Es bedurfte nur einiger Scheine, und schon verschwand er. Du wirst doch dem Scheik den Abend nicht verderben wollen! Komm her zu mir. Was ich zu sagen habe, möchte ich in dein entzückendes Ohr flüstern.»
Eine Hand schob sie sanft, bis sie neben den Scheik sank. Er nahm ihre Hand, zog sie zu sich, streichelte ihre Taille und murmelte ihr ins Ohr:
«Du wirst meine Frau werden, meine Kleine …»
Sie sprang auf und rief:
«Schämen Sie sich, Sie alter Bock. Sie denken, Sie könnten alles kaufen, Dinge, Körper, Karrieren, Würde … Doch Sie sind abscheulich! Ihre Augen sind glasig, und Ihr Wanst ist voller Laster. Sie haben es sich angewöhnt, in dieses Land zu kommen und unsere jungfräulichen Leiber zu vergewaltigen. Dann kehren Sie in Ihre Wüste zurück, den Kopf voll Musik und Schreie. Jetzt wollen Sie auch noch ganz legal genießen, Sie wollen Frischfleisch in Ihren Koffern mitnehmen. Ich sage nein und verachte Sie. Ich spucke auf Sie und Ihr verrottetes Vermögen!»
Sie spuckte tatsächlich und ging ihres Weges. Zwei Männer, wahrscheinlich Leibwächter, versuchten, sie mit Gewalt zurückzuhalten, doch sie schlug um sich. Der Scheik blieb gelassen und bedeutete ihnen, sie gehen zu lassen. Einige seiner Gefolgsleute warfen sich vor ihm auf die Knie, um anstelle der Dreisten um Verzeihung zu bitten. Der Scheik lachte schallend und bedeutete, man solle sein Glas nachfüllen. Drei kurvenreiche junge Frauen eilten herbei und scharten sich um ihn. Es waren drei kaum bekleidete Tänzerinnen. Er strich mit der Hand über ihre üppigen Brüste. Der Scheik wirkte glücklich, als habe er den Zwischenfall bereits vergessen, auch wenn ihm eine solche Weigerung noch nie widerfahren war. Tief innen mußte es ihn schmerzen. Er war es nicht gewöhnt, weder öffentlich noch privat, beschimpft zu werden. In seinem Land hätte man der dreisten Frau die Zunge abgeschnitten. Hier fühlte er sich trotz aller Willkommensbezeugungen nicht zu Hause. Er verbrachte die Nacht mit den drei Tänzerinnen, die ihn eigentlich verachteten und nur an das Geld dachten, das sie ihm abnehmen könnten. Er wußte das und verlangte, daß sie ihn mit ihren Fußballen massierten. Eine nach der anderen traten sie auf ihm herum, während er Lustseufzer ausstieß. Dann schlief er ein. Die drei Frauen wußten nicht, an wen sie sich wegen der Bezahlung wenden sollten. Ein Mann kam, beschimpfte und verjagte sie. Sie bekamen Angst und gingen, nicht ohne dem Mann lange und schreckliche Schmerzen sowie einen baldigen Tod gewünscht zu haben.
Am nächsten Tag verließen der Scheik und sein Gefolge das Land an Bord seines Privatjets. Während des Fluges sprach er keinen Ton. Seine Gefolgsleute waren beunruhigt. Er verlangte nach einer Weltkarte, suchte darauf das Land, das sie gerade verlassen hatten, nahm einen roten Filzstift und strich es mit einem Kreuz durch. Die Männer sahen sich an. Das Land und seine Vergnügungen waren von der Landkarte gestrichen. Sein Name durfte im Palast nicht mehr genannt, seine Küche nicht mehr gegessen und seine Musik nicht mehr gespielt werden. Es war zum Verschwinden verdammt. Das war sein Wille und Urteil. Noch nie hatte jemand es gewagt, diesen Mann zu demütigen, ihn, der so mächtig und großzügig war. Er würde den Zwischenfall nicht einmal den Behörden melden. Das wäre ja bereits ein Schritt zur Versöhnung. Keine Art von Entschuldigung konnte das Übel ungeschehen machen, das ihm die Sängerin zugefügt hatte.
Sakina war stolz auf sich und beschloß, nicht mehr in Privathäusern zu singen. Sie hatte ihrem Vater erzählt, was sich im Palast des Scheiks zugetragen hatte, und hatte einige harte Worte ihm gegenüber gebraucht. Der Vater war sehr verlegen. Er hatte eine Entschuldigung gestammelt: «Ich wußte ja nicht … Ich hätte bei dir bleiben sollen …»
Die Zeit verstrich, und der Zwischenfall im Palast geriet in Vergessenheit. Sakina flog nach London und nahm eine Platte mit ihren beliebtesten Liedern auf. Beim ersten Mal begleitete sie ihr Vater und kümmerte sich aufmerksam um sie. Beim zweiten Mal reiste sie mit ihrer Mutter. Die Aufnahmen dauerten fast einen Monat. Sie nutzte die Zeit, um London anzusehen und Landsleute zu treffen, die dort studierten oder arbeiteten. Das Konsulat ihres Landes organisierte einen Cocktailempfang zur Feier ihres Besuchs. Arabische und englische Musiker kamen sie begrüßen. Die BBC lud sie ein, in einer Sendung a cappella zu singen. Die Leute entdeckten die Kraft und Schönheit ihrer Stimme. Die Presse lobte sie in den höchsten Tönen. Sakina war glücklich. Ihr fehlte nur noch ein Mann zum Lieben. Der Zufall zögerte nicht, ihn ihr zu bescheren.
Er hieß Fawaz und war schön, elegant, jung, kultiviert und sehr diskret. Seine Eltern waren während des Bürgerkriegs aus dem Libanon geflüchtet und hatten sich in London niedergelassen. Fawaz war vier Jahre älter als Sakina und verliebte sich heftig, zuerst in ihre Stimme, dann in ihr Gesicht. Er sah sie zum ersten Mal beim Cocktail des Konsulats. Er beobachtete sie den ganzen Abend lang und bat schließlich seinen Freund, den Generalkonsul, sie ihm vorzustellen. Fawaz hatte etwas von einem englischen Gentleman: Er küßte ihre Hand, verbeugte sich kurz vor ihrer Mutter, pries ihre schöne Stimme mit sehr feinsinnigen Worten. So war Fawaz: gut erzogen, galant und von großer moralischer und physischer Eleganz. Er beherrschte mehrere Sprachen, zog klassische Musik und Literatur Videos und Alkohol vor. Er war sehr beschäftigt und bat Sakina dennoch, ihn zur Vernissage einer Impressionistenausstellung zu begleiten. Sakina bemerkte, daß er sehr viele Leute kannte. Die Leute grüßten ihn respektvoll, manche nahmen ihn zur Seite, um über Geschäfte zu sprechen. Er entschuldigte sich dafür dauernd bei ihr. Sie war entzückt, Manet und Renoir zu entdecken … und glücklich, in so guter Gesellschaft zu sein. Einige Tage später fragte er Sakinas Mutter, ob sie ihm erlaubte, ihre Tochter zum Abendessen einzuladen. Sakina hatte eine Verpflichtung, schlug ihm aber vor, Ende der Woche nach Abschluß ihrer Aufnahmen mit ihm auszugehen. In der Zwischenzeit stellte er ihr einen Wagen mit einem britischen Fahrer zur Verfügung, falls sie Besichtigungen oder Einkäufe machen wollte. Alles war perfekt. Vielleicht zu perfekt. Man trifft sehr selten auf einen so vornehmen, zuvorkommenden und verbindlichen Mann. An ihrem ersten gemeinsamen Abend war Fawaz ungeduldig und in seltsamer Stimmung. Sakina fragte ihn, ob alles in Ordnung sei. Er antwortete, er sei traurig, denn er fühle das Ende ihres Besuchs herannahen. Tatsächlich hatte Sakina in London nichts mehr zu erledigen und schickte sich an, nach Hause zu fliegen. Fawaz nahm ihre Hände und führte sie an seine Lippen. Er sagte: «Ich bin traurig, weil Sie abreisen müssen. Ich war so unvorsichtig, mich an Ihr Gesicht, Ihr Lächeln, Ihre heitere, schöne, sanfte Anwesenheit zu gewöhnen. Ich denke an Sie, schließe die Augen und sehe Sie noch schöner, näher, aber immer unerreichbar vor mir. Ihre Stimme versetzt mich in meine Kindheit zurück, in jene Unschuld, die noch Ihren Blick prägt. Ich spreche mit gesenkten Augen zu Ihnen, denn ich bin verlegen. Ich würde Ihnen so gerne die reinen Dinge in meinem Herzen mitteilen, die tiefen Gefühle, die mich ins Leben zurückholen. Doch Ihr Schweigen ängstigt mich. Habe ich Sie behelligt? Entschuldigen Sie diesen Ausbruch, es hat mich überwältigt. Ich bin ein einsamer Mann. Ich arbeite hart und habe nur einen Traum: eine Frau mit Ihren Augen, Ihrer Stimme, Ihrer Schönheit und auch Ihrer Güte zu treffen. Ich träume und liefere Ihnen meine Utopie aus. Ich weiß, Sie sind ein guter Mensch, eine zurückhaltende, sehr vornehme Frau und eine außerordentliche Künstlerin. Ich wäre überglücklich, wenn meine Gefühle ein Echo, selbst nur ein kleines, bei Ihnen hervorrufen könnten. Ich verlange nichts von Ihnen. Ich bitte Sie nur, an meine Gefühle zu glauben, sie zu achten und ihnen einen kleinen Platz in Ihrem Herzen, in Ihrem Leben einzuräumen. Antworten Sie nicht sofort. Gönnen Sie meinen Worten Zeit, sich einen Weg zu bahnen. Sobald ich Sie erblickte, wußte ich, daß Sie mein Leben verwandeln würden. Ich hätte Distanz wahren müssen, woanders hinsehen, mich in meine Geschäfte, in Zahlen, Verträge stürzen, in möglichst weit von Liebe entfernte Dinge. Doch ich habe nachgegeben. Ist das meine Schuld? Ich glaubte, in Ihren Augen einen Funken Einverständnis zu erkennen. Mein Land ist zerstört. Ich will nicht mehr dorthin zurück. Ich suche eine Wahlheimat. In England arbeite ich. Ihr Land ist schön. Für mich ist es ein Libanon ohne Angst, ein Libanon mit friedvollem Herzen. Ihr Land könnte meines werden, falls Ihre Gefühle mir gegenüber das zulassen. Mein Schicksal liegt in Ihrer Hand. Sagen Sie nichts. Nicht jetzt gleich. Lassen Sie mich zu Ende sprechen. Meine Absichten sind ernsthaft. Ich bin achtundzwanzig, habe eine glänzende Stellung und will eine Familie gründen. Sagt unsere Religion nicht, daß ein Mann erst ein Mann ist, wenn er unter Achtung von Moral und Tugend eine Familie gründet? Ich bin ein guter Moslem, glaube an Gott und seine Propheten. Ich gehe nicht immer in die Moschee, doch im Herzen bin ich ein Moslem. Natürlich lüge ich auch mal, kleine Lügen, die für den Gang der Geschäfte notwendig sind, das ist die Regel, denn wer immer die Wahrheit sagt, erreicht nichts. Ich liebe Kinder. Doch das ist kein Fehler. Ich betreibe gerne Sport, Fußball ist meine Leidenschaft. Während eines Spiels darf man mich nicht stören. Mein anderer Fehler ist gewichtig, und falls Sie damit leben können, gäbe es kein Hindernis mehr: Ich bin so wahnsinnig, Sie zu lieben. Ich habe viel nachgedacht, ich habe meine Worte gemessen und abgewogen, ich bin in Sie verliebt und weiß im Grunde meines Herzens, daß es fürs Leben ist, für immer. Ich verlange nicht, daß Sie mir sofort glauben. Ich lasse Sie nach Hause zurückfahren, und wenn Sie es sich überlegt haben, setzen Sie sich mit mir in Kontakt, und ich werde kommen. Ab jetzt hängt alles von Ihnen ab. Ich bin ein einfacher, diskreter Mensch. Unterziehen wir uns der Prüfung einer Trennung. Wenn die Abwesenheit des anderen zu schwer zu ertragen ist, brechen wir die Prüfung ab und sehen uns wieder. Allein die Zeit kann meine Gefühle bezeugen. Nun bitte ich Sie, mich zu entschuldigen. Ich habe einen Monolog gehalten. Habe zuviel gesprochen. Ich fühle mich etwas erleichtert. Ich werde heute nacht gut schlafen, denn seit dreißig Tagen bin ich schlaflos. Ich habe unentwegt an Sie gedacht und das Bedürfnis, Sie zu sehen, wurde so stark, daß ich nicht, mehr schlafen konnte. Dies ist mein Antrag. Er ist romantisch, aber wahr. Ich verspreche Ihnen, während unserer Trennung werde ich auch nicht eines Ihrer Lieder hören, um die Entwicklung meiner Gefühle nicht zu beeinflussen. Ich werde warten. Ich warte bereits. Auf ein Wort, einen Satz, einen Brief, auch wenn er kurz ist. Ich bitte Sie, melden Sie sich …»
Er hauchte einen Kuß auf ihre Hände und erhob sich, um sie nach Hause zu begleiten. Sakina war bewegt. Sie hätte am liebsten geweint, hielt sich aber zurück. Einen so schönen Antrag hatte sie noch nie gehört. Sie fragte sich, ob arabische Männer einer solchen Empfindsamkeit fähig seien. Sie hatte geglaubt, das gäbe es nur in Kitschromanen und melodramatischen Liebesschnulzen. Als sie am Hotel ankamen, stieg Fawaz aus dem Auto, küßte ihr die Hand und bat um Erlaubnis, sie am nächsten Tag zum Flughafen begleiten zu dürfen. Sie sagte ihm, die Plattenfirma kümmere sich darum und sie möge keinen Abschied an Bahnhöfen und Flughäfen. Er gab ihr seine Karte und schrieb seine private Telefonnummer und Adresse dazu. «Mit dieser Nummer können Sie mich jederzeit und überall erreichen!»
Sie tat die ganze Nacht kein Auge zu. Immer wieder hörte sie ganze Sätze aus Fawaz’ Antrag, hörte seine sanfte Stimme. Sein bewegtes Gesicht tauchte vor ihr auf. Sie war schon erobert und wollte in seinen Armen sein, ihren Kopf an seiner Schulter, wie in einem Liebesfilm im Regen und Nebel Hand in Hand mit ihm durch die Londoner Straßen wandern. Sie liebte Klischees und genoß sie in ihren einsamen Augenblicken. Sehnte sie sich nach diesem Mann? Sie träumte von seinem nackten Oberkörper, von seinen Muskeln, seinen Händen in ihrem Haar. In ihrer Phantasie zog sie den Geliebten aus und wagte nicht, sich vorzustellen, wie sie mit ihm schlief. Sie strich über ihre Brüste. Sie waren hart, geschwollen vor Lust. Sie stand auf, duschte und packte ihre Koffer. Einen Augenblick lang war sie versucht, die Privatnummer anzurufen, nahm sich aber dann zusammen.
Zu Hause empfing sie ein prachtvoller Rosenstrauß mit den Worten: Mit diesen Rosen heiße ich Sie zu Hause willkommen, F.
Sakina führte ein ruhiges, einfaches Leben. Mit ihren Eltern lebte sie in einer kleinen Wohnung in der Stadtmitte, wo Tag und Nacht lärmendes Leben herrschte. Sie war daran gewöhnt, sich die Ohren mit Wachs zu verstopfen, und las lieber, als daß sie Musik hörte. Sie liebte die Romane von Guy des Cars wie die meisten Mädchen ihrer Generation. (Sie fand dort kitschig verbrämte Lebensgeschichten vor und wußte zwar, daß es keine große Literatur war, wollte aber keinesfalls das neueste Buch dieses Autors verpassen.) Ihr Vater versuchte oft, sie zum Lesen der Klassiker zu bewegen, hatte damit aber kein Glück. Sie lebte in einer Seifenblase mit ihren romantischen Kleinmädchenträumen. Gleichzeitig haßte sie die Prasserei, die Verschwendungssucht und den neureichen Luxus der Emire aus den Golfstaaten, die in ihrem Land verkehrten, seit das vom Krieg zerstörte Beirut ihnen nichts mehr bieten konnte. Als gute Moslimin fand sie, «diese Leute» seien vom Geld, vom Laster und von der Willfährigkeit ihrer Parasiten verdorben. Sie hatte nur auf Drängen ihres Vaters vor dem Emir gesungen. Man hatte ihr versichert, alles werde problemlos ablaufen. Doch jetzt war diese Geschichte vergessen, ein neuer Hoffnungsschimmer zeichnete sich für die kleine Sängerin mit der Goldkehle, die würdige Nachfolgerin Oum Kalsoums, am Horizont ab. So sah es jedenfalls Herr Achrami, ihr Gesangslehrer, der früher in Oum Kalsoums Orchester gespielt hatte und mit Sakina an ihrer Stimme arbeitete. Der alte Achrami war klein, dürr und elegant. Er trug eine Brille und einen roten Tarbusch. Mit seinen ägyptischen Witzen brachte er sie zum Lachen. Er hatte ihr auch abgeraten, vor den Emiren zu singen, und ein marokkanisches Sprichwort zitiert: «Was versteht der Esel schon vom Ingwer?» Diese Antipathie gegen die Leute aus den Golfstaaten war sehr weit verbreitet. Nur Leute, die mit ihnen Geschäfte machten oder von ihren Ausschweifungen profitierten, schwiegen, wenn von ihnen die Rede war. Sie rühmten sie nicht, hielten sich aber im Hintergrund, um sie nicht kritisieren oder verteidigen zu müssen.
Sakinas Zimmer war vollgepflastert mit Porträts ihrer Lieblingssänger und -sängerinnen: Oum Kalsoum natürlich, Mohamed Abdel Wahab, den sie über Herrn Achrami kennengelernt hatte, Fayrouz, Ismahane, die schöne, göttliche Ismahane mit ihrem klaren, geheimnisvollen Blick, die jung durch einen Autounfall ums Leben gekommen war, Abdel Halim Hafez, von der Krankheit abgemagert auf einem seiner letzten Fotos, Edith Piaf, Maria Callas, dann eine Reihe italienischer Sänger. Sie befestigte daneben ein von einem Pakistani auf der Straße aufgenommenes Polaroidfoto von Fawaz, der sich zu ihr beugte, wie um ihr etwas zu erklären. Quer darüber klebte sie eine getrocknete Blume und verfiel dann in Tagträume. Sie sah sich entführt vom schönen Märchenprinzen, der ihr Liebesschwüre ins Ohr flüsterte. Sie sah sich gleichzeitig lachen und weinen. Das Leben war ein Traum und der Traum nur eine Nachahmung des Lebens. Es fiel ihr überhaupt nicht schwer, Roman und Leben miteinander zu verwechseln und an die Erlösung durch Liebe zu glauben. Sie machte große Fortschritte in ihrer Arbeit mit Achrami. Ihre Stimme gewann an Umfang. Sie konnte zum richtigen Zeitpunkt absetzen und die Stimmlage wechseln. Vorher hatte sie das instinktiv getan. Jetzt kannte sie die verschiedenen Tonhöhen besser und beherrschte sie gut. Sie war professioneller geworden. Die in London eingespielte Platte war veröffentlicht worden. Sie erhielt Verehrerbriefe. Der feinsinnigste und intelligenteste trug Fawaz Unterschrift: Wie ein Traum im Traum versetzt uns Ihre Stimme jenseits der Ufer von Leidenschaft und Glück. Ich konnte nicht widerstehen; ich gestehe, Ihnen lange gelauscht zu haben. Verzeihen Sie diese Schwäche. Unser Abkommen gilt weiter. Bis bald, F.